Inhalt

LG München I, Beschluss v. 15.03.2023 – 14 T 3233/23
Titel:

Vollstreckungsschutzantrag, Künftige Nutzungsentschädigung, Keine Nutzungsentschädigung, Sofortige Beschwerde, Fortsetzung der Zwangsvollstreckung, Vorläufige Einstellung der Zwangsvollstreckung, Zwangsvollstreckungsmaßnahme, Drohende Zwangsvollstreckung, Durchführung der Zwangsvollstreckung, Angehörige des Schuldners, Insolventer Schuldner, Vollstreckungsgericht, Sittenwidrige Härte, Elektronisches Dokument, Vollstreckungsmaßnahmen, Zwangsräumung, Räumungsvollstreckung, Wert des Beschwerdeverfahrens, Sittenwidrigkeit, Gläubigerinteressen

Schlagwort:
Räumungsvollstreckung
Vorinstanz:
AG München, Beschluss vom 13.03.2023 – 1533 M 36105/23
Fundstellen:
BeckRS 2023, 47736
LSK 2023, 47736
ZMR 2024, 383

Tenor

1. Die sofortige Beschwerde der Schuldner gegen den Beschluss des Amtsgerichts München vom 13.03.2023, Az. 1533 M 36105/23, wird zurückgewiesen.
2. Die Schuldner tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
3. Die Gerichtsvollzieherin wird angewiesen, zum Räumungstermin einen Arzt/eine Ärztin hinzuzuziehen, zumindest aber die Verfügbarkeit sofortiger ärztlicher Unterstützung sicherzustellen.
4. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.
5. Der Wert des Beschwerdeverfahrens wird auf 6.975,00 € festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Schuldner sind aufgrund eines rechtskräftigen Titels des Amtsgerichts München vom 15.12.2022, Az. 412 C 13345/22 zur Räumung und Herausgabe der von ihnen innegehaltenen Villa auf dem Anwesen … verpflichtet. Da sie ihrer Räumungs- und Herausgabeverpflichtung nicht freiwillig nachkamen, leitete die Gläubigerin die Zwangsvollstreckung ein. Termin zur Zwangsräumung ist auf den 15.03.2023, 10.00 Uhr bestimmt.
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Mit Datum vom 09.03.2023 stellte die Schuldnerpartei Antrag nach § 765 a Abs. 1 ZPO. Mit Beschluss vom 10.03.2023 stellte das Amtsgericht München – Vollstreckungsgericht – hierauf die Zwangsvollstreckung aus Ziffer I und II des Räumungstitels einstweilen bis 01.05.2023 ein.
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Hiergegen wandte sich die Gläubigerin mit dem Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde. Dieser half das Amtsgericht mit Beschluss vom 13.03.2023 ab und hob den gläubigerseits angegriffenen Beschluss vom 10.03.2023 auf.
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Die Schuldner wiederum wenden sich nunmehr mit ihrer sofortigen Beschwerde vom 13.03.2023 gegen den vorgenannten Beschluss des Amtsgerichts München – Vollstreckungsgericht – vom 13.03.2023, mit welchem auf die sofortige Beschwerde der Gläubigerseite hin der Beschluss vom 10.03.2023 aufgehoben worden ist.
5
Mit weiterem Beschluss vom 13.03.2023 hat das Erstgericht der sofortigen Beschwerde der Schuldner nicht abgeholfen. Es ist Aktenvorlage bei dem Beschwerdegericht verfügt worden.
II.
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Die gemäß §§ 793, 567 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO grundsätzlich statthafte und auch im Übrigen zulässige sofortige Beschwerde der Schuldner erweist sich als unbegründet.
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Das Amtsgericht München hat mit Beschluss vom 13.03.2023 zuletzt zu Recht entschieden, dass dem Vollstreckungsschutzantrag der Schuldner kein Erfolg beschieden und die Zwangsvollstreckung auch nicht bis 01.05.2023 einstweilen einzustellen ist.
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Das Vollstreckungsgericht kann wegen ganz besonderer Umstände Maßnahmen nach § 765 a ZPO treffen, wenn die konkrete Zwangsvollstreckungsmaßnahme (hier die drohende Zwangsräumung) für die Schuldnerpartei oder einen mit in den Räumlichkeiten wohnenden Angehörigen eine Härte bedeutet, die mit den guten Sitten nicht zu vereinbaren ist. Anzuwenden ist § 765 a ZPO nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen, nämlich nur dann, wenn im Einzelfall die drohende Vollstreckungsmaßnahme und das Vorgehen des Gläubigers zu einem schlechthin untragbaren Ergebnis führen würde (vgl. Zöller/Seidel § 765 a ZPO Rn. 5). Mit Härten, die jede Zwangsvollstreckung mit sich bringt, muss der Schuldner sich grundsätzlich abfinden. Für die Anwendung des § 765 a ZPO genügen daher weder allgemeine wirtschaftliche Erwägungen noch soziale Gesichtspunkte. Des gilt auch bei einem drohenden Verlust der Wohnung. Vollstreckungsschutz nach § 765 a ZPO kann daher nur gewährt werden, wenn die vorzunehmende Abwägung eindeutig zugunsten des Schuldners ausfällt (vgl. Schmidt-Futterer/Lehmann-Richter § 765 a ZPO Rn. 12).
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Die Zwangsvollstreckung muss daher für den Schuldner unter voller Würdigung des Schutzbedürfnisses der Gläubigerpartei eine sittenwidrige Härte darstellen. Hierbei sind Verschuldensfragen auf Seiten von Gläubiger oder Schuldner grundsätzlich nicht zu prüfen, können allerdings bei der Interessenabwägung eine Rolle spielen. In Zweifelsfällen gebührt den Interessen des Gläubigers stets der Vorrang. Denn der Gläubiger hat gemäß Art. 19 Abs. 4 GG einen verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch auf wirksamen Rechtsschutz (BGH NZM 2010, 836, 837). Ihm dürfen nicht die Aufgaben überbürdet werden, die aufgrund des Sozialstaatsprinzips dem Staat und damit der Allgemeinheit obliegen. Vielmehr ist es Aufgabe des Staates, das Eigentumsrecht des Gläubigers zu wahren, titulierte Ansprüche notfalls mit Zwang durchzusetzen und dem Gläubiger zu seinem Recht zu verhelfen (BGH NZM 2010, 836, 837). Hieraus folgt, dass nicht jede Vollstreckungsmaßnahme, die für den Schuldner eine unbillige Härte bedeutet, die Anwendung von Vollstreckungsschutzmaßnahmen nach § 765 a ZPO rechtfertigt. Die Vollstreckung macht vielmehr erst an der Grenze der Sittenwidrigkeit halt (HK-ZV/Bendtsen § 765 a ZPO Rn. 35).
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Vorliegend bestehen bereits erhebliche Zweifel an der Zulässigkeit des Antrags nach § 765 a Abs. 1 ZPO, da die insoweit maßgebliche Frist nicht eingehalten ist.
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Dies kann jedoch letztlich dahinstehen, da das Erstgericht jedenfalls zu Recht die materiell-rechtlichen Voraussetzungen eines erfolgreichen Vollstreckungsschutzantrags verneint hat.
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Im Hinblick auf den Vortrag der Schuldner kann Vollstreckungsschutz unter Abwägung aller Umstände und unter Einbeziehung der Interessen der Gläubigerin vorliegend unter keinen Umständen bewilligt werden:
Hierzu im Einzelnen:
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1. Obdachlosigkeit kann zwar grundsätzlich für die Schuldnerseite eine sittenwidrige Härte darstellen, jedoch haben die Sicherheitsbehörden für die Unterbringung der Schuldner in einer Ersatzwohnung zu sorgen. Die Unterbringung in einer Obdachlosenunterkunft muss die Schuldnerseite im Allgemeinen hinnehmen. Sie rechtfertigt die vorläufige Einstellung der Zwangsvollstreckung daher im Regelfall nicht (Schmidt-Futterer/Lehmann-Richter § 765 a ZPO Rn. 25; BeckOK MietR Zwangsvollstreckung Rn. 175).
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Der Schuldner zu 1) lebt augenscheinlich ohnehin nicht (mehr) in der verfahrensgegenständlichen Villa, sondern in … Hierauf kommt es aber nicht maßgeblich an. Da die Schuldnerseite bis zum heutigen Tage nämlich massive Miet- und Nutzungsentschädigungsrückstände von nahezu 50.000,00 € hat auflaufen lassen, weil sie seit Mai 2022 keinerlei Miete bzw. Nutzungsentschädigung mehr bezahlt, ist dem Interesse der Gläubigerseite in diesem Kontext der Vorrang gegenüber dem Besitzschutzinteresse der Schuldner einzuräumen.
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Vollstreckungsschutz kann dem Schuldner grundsätzlich nicht gewährt werden, wenn er die künftige Nutzungsentschädigung gemäß § 546 a BGB nicht bezahlen kann und/oder will (vgl. Schmidt-Futterer/Lehmann-Richter § 765 a ZPO Rn. 23).
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So verhält es sich hier.
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Die Kaution stellt freilich entgegen der Meinung der Schuldner schon betragsmäßig keine auch nur ansatzweise ausreichende Sicherheit zugunsten der Gläubigerin dar. Hinzu kommt, dass diese auch dazu dient, etwaige weitere Ansprüche der Gläubigerseite (z.B. Schadensersatzansprüche wegen Beschädigung der Mietsache) abzusichern.
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Die von der Schuldnerseite vorgelegte Bestätigung eines Herrn … vom 14.03.2023, wonach dieser die Nutzungsentschädigung für die Monate März und April 2023 an die Vermieterin zahlen werde, sobald „der sofortigen Beschwerde der Schuldner abgeholfen“ worden sei, ist in diesem Zusammenhang unzureichend, zumal mit dieser Erklärung erhebliche, unzumutbare Unsicherheiten zum Nachteil der Gläubigerseite verbunden sind. Die Gläubigerin braucht sich hier nicht auf eine – zumal von einer Bedingung abhängige – Zahlungsankündigung eines (ihr ggf. sogar unbekannten) Dritten verweisen zu lassen.
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Es ist zudem festzuhalten, dass es der Schuldnerseite trotz ausdrücklicher Ankündigung in der Beschwerdebegründung bislang gerade nicht gelungen ist, die bis zum 01.05.2023 noch anfallende Nutzungsentschädigung durch einen Dritten vorab überweisen zu lassen. Die Nutzungsentschädigung für März 2023 ist längst fällig.
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Auch dies weckt erhebliche Zweifel an der Zahlungsfähigkeit und -willigkeit der Schuldnerseite.
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2. Ein mehrfacher Umzug und hieraus resultierende doppelte Umzugskosten können im Einzelfall ebenfalls eine vorläufige Einstellung der Zwangsvollstreckung rechtfertigen (vgl. Zöller/Seidel § 765 a Rn. 12). Eine sittenwidrige Härte liegt aber nur dann vor, wenn Ersatzwohnraum tatsächlich und kurzfristig zur Verfügung steht.
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Vorliegend hat die Schuldnerseite zwar ab 01.05.2023 einen – von der Gläubigerseite mit beachtlicher Begründung angezweifelten – Mietvertrag vorgelegt. Indes wird weiterhin keine Nutzungsentschädigung gezahlt, weshalb es bereits bis zum behaupteten Anschlussmietverhältnis zu einer Schadensvertiefung zum Nachteil der Gläubigerin in Höhe von weiteren ca. 7.000,00 € kommen würde. Dies ist der Gläubigerseite nicht mehr zumutbar. In der Tat ist auch nicht nachvollziehbar, warum die Schuldnerseite nicht zumindest den Betrag der für das Ersatzobjekt geschuldeten Miete (1.800,00 €) als anteilige Nutzungsentschädigung an die Gläubigerseite gezahlt hat und zahlt.
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3. Ohne Erfolg beruft sich die Schuldnerpartei schließlich auf den Gesundheitszustand der Schuldnerin zu 2).
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a) Was die von der Beschwerde thematisierte Suizidproblematik angeht, ist zunächst auszuführen, dass für eine Anordnung des Gerichts nach § 765 a ZPO psychische Belastungen des Schuldners, die durch die Zwangsräumung hervorgerufen werden (könnten), grundsätzlich nicht ausreichen (BGH, Beschl. v. 02.12.2010 – V ZB 124/10, NJW-RR 2011, 419). Die Annahme einer sittenwidrigen Härte kommt jedoch dann in Betracht, wenn im Falle der Räumung die Selbsttötung des Schuldners ernsthaft zu befürchten steht (vgl. BVerfG, Beschl. v. 15.05.2019 – 2 BvR 2425/18, NJW 2019, 2012; Beschl. v. 29.07.2014 – 2 BvR 1400/14, NJW-RR 2014, 1290; BGH, Beschl. v. 28.01.2016 – V ZB 115/15, NJW-RR 2016, 336; Beschl. v. 30.09.2010 – V ZB 199/09, WuM 2011, 122; Schmidt-Futterer/Lehmann-Richter § 765 a ZPO Rn. 17). Denn das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verpflichtet auch die Vollstreckungsgerichte, bei der Auslegung und Anwendung der vollstreckungsrechtlichen Verfahrensvorschriften den Wertentscheidungen des Grundgesetzes Rechnung zu tragen und die einem Schuldner in der Zwangsvollstreckung gewährleisteten Grundrechte zu berücksichtigen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn ein schwerwiegender Eingriff in das Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG konkret zu besorgen ist und eine an dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit orientierte Abwägung zwischen den widerstreitenden, grundrechtlich geschützten Interessen der an der Vollstreckung Beteiligten zu einem Vorrang der Belange des Schuldners führt (BVerfG, Beschl. v. 08.08.2019 – 2 BvR 305/19, NJW 2019, 2995; BVerfG, Beschl. v. 15.05.2019 – 2 BvR 2425/18; NJW 2019, 2012; BVerfG, Beschl. v. 21.11.2012 – 2 BvR 1858/12, NJW 2013, 290). Unzureichend ist dagegen, wenn die Suizidgedanken nur vorgespiegelt sind oder die Gefahr einer Selbsttötung lediglich so vage im Raum steht, dass von einer Verwirklichung nicht ernsthaft ausgegangen werden kann (BGH, Beschl. v. 07.10.2010 – V ZB 82/10, NJW-RR 2011, 421). Nicht erforderlich ist insoweit der Nachweis, dass es bei der Fortsetzung der Zwangsvollstreckung tatsächlich zu einer Selbsttötung kommen wird (BGH, Beschl. v. 16.12.2010 – V ZB 215/09, NJW-RR 2011, 423).
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Zur Frage, ob im Einzelfall eine konkrete Suizidgefährdung vorliegt, ist eine durch Tatsachen zu untermauernde Prognoseentscheidung zu treffen (BVerfG, Beschl. v. 25.02.2014 – 2 BvR 2457/13, NZM 2014, 347 in Bezug auf eine Räumungsschuldnerin, bei welcher der Gutachter lebenslange endogene Depressionen mit stark selbstzerstörerischer Ausprägung diagnostiziert hatte; die Schuldnerin war deswegen schon 14 Mal in stationären psychiatrischen Behandlungen).
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Der Schuldner hat insoweit jedoch substantiiert vorzutragen, dass – gerade aufgrund der drohenden Zwangsvollstreckung – eine konkrete Suizidgefahr besteht. Mit Blick auf die Bedeutung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG dürfen an die Darlegungslast des Schuldners aber keine überzogenen Anforderungen gestellt werden (Schmidt-Futterer/Lehmann-Richter § 765 a ZPO Rn. 17; BeckOK MietR/Fleindl BGB Zwangsvollstreckung Rn. 168). Der Schuldner hat diejenigen Tatsachen vorzutragen, auf die er den Vollstreckungsschutzantrag stützt. Das Gericht hat den Sachvortrag sodann sorgfältig zu würdigen (BGH, Beschl. v. 16.12.2010 – V ZB 215/09, WuM 2011, 568; BGH, Beschl. v. 30.09.2010 – V ZB 199/09, WuM 2011, 122; BGH, Beschl. v. 07.10.2010 – V ZB 82/10, NJW-RR 2011, 421).
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Hinreichende Anhaltspunkte für eine solche konkrete Suizidgefahr bestehen hiernach nicht.
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Insoweit gilt grundsätzlich:
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Ergeben sich aus einem fachärztlichen Attest hinreichende Anhaltspunkte für eine konkrete Suizidalität des Schuldners, hat das Vollstreckungsgericht auf Antrag des Schuldners oder von Amts wegen ein medizinisches Sachverständigengutachten zu erholen. Allerdings kann auch die Stellungnahme eines Allgemeinmediziners – also nicht ausschließlich diejenige eines Facharztes für Neurologie und Psychiatrie – zur Darlegung des Krankheitsbildes des Schuldners ausreichen (BGH, Beschl. v. 02.12.2010 – V ZB 124/10, NZM 2011, 167).
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In Bezug auf den vorliegenden Fall ist insoweit auszuführen:
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Das schuldnerseits vorgelegte Attest des Praktischen Arztes, Allgemeinmedizin, Sportmedizin … vom 14.03.2023 stellt für eine solche Annahme jedenfalls keine hinreichend tragfähige Grundlage dar, Der Einholung eines Sachverständigengutachtens bedarf es mithin nicht.
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So verweist das Attest zunächst nur allgemein darauf, dass die Schuldnerin zu 2) sich in hausärztlicher Betreuung befinde und sich die Depression der Schuldnerin „deutlich verschlechtert“ habe, „mit manischen Zügen“. Eine Räumung „aus ihrem gewohnten Lebensbereich“ bedeute „eine zusätzliche Verschärfung der aktuellen psychischen Situation“; sie sei „gefährlich“, da die Schuldnerin durchaus glaubhafte „suizidale Äusserungen getätigt“ habe. Eine Räumung sei daher „unter psychotherapeutischer Begleitung“ bis „zum 01.05.2023 aufzuschieben, da sich dann eine neue Wohnmöglichkeit ergibt“.
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Eine nähere Begründung für diese pauschal anmutende ärztliche Einschätzung lässt das Attest des Allgemein- und Sportmediziners indes vermissen. Die faktische Grundlage der Mutmaßungen ist nicht ersichtlich, eine medizinische Begründung fehlt. Im Übrigen ist festzuhalten, dass der Arzt augenscheinlich nicht grundsätzlich von einer Räumungsunfähigkeit der Schuldnerin zu 2) ausgeht, zumal er primär lediglich für einen (kurzfristigen) Aufschub der Räumung bis 01.05.2023 plädiert, da sich ab diesem Zeitpunkt eine „neue Wohnmöglichkeit“ ergebe. Dabei wird offenbar auch verkannt, dass eine andere „Wohnmöglichkeit“ umgehend – und nicht erst am 01.05.2023 – von der zuständigen Behörde zur Verfügung gestellt werden wird. Die angeratene „psychotherapeutischer Begleitung“ kann überdies bei realitätsnaher Betrachtung auch außerhalb der bisher angemieteten Räumlichkeiten gewährleistet werden.
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Nach alledem kann sich die Beschwerde nicht mit Erfolg auf eine derartige (zumal konkrete) Gefahr eines Suizid(versuchs) seitens der Schuldnerin zu 2) berufen.
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b) Eine konkrete Gefahr für das Leben oder die Gesundheit eines Schuldners – welche die Annahme einer sittenwidrigen Härte rechtfertigt – kann indes auch ohne Suizidgefahr vorliegen. Eine physische oder psychische Belastung des Schuldners (oder eines Angehörigen des Schuldners) steht einer Zwangsvollstreckung aber erst dann entgegen, wenn hierdurch im Einzelfall ein schwerwiegender Eingriff in die körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) droht (BGH, Beschl. v. 02.12.2010 – V ZB 124/10, NZM 2011, 167). Allerdings reicht die Behauptung einer schweren oder gar lebensbedrohlichen Erkrankung des Schuldners für sich alleine nicht aus, wenn durch die drohende Zwangsräumung eine weitere Verschlechterung des Gesundheitszustandes nicht zu befürchten ist (BGH, Beschl. v. 02.12.2010 – V ZB 124/10, NZM 2011, 167 – für eine Krebserkrankung der Ehefrau des Schuldners). Eine Maßnahme nach § 765 a ZPO ist daher in diesem Kontext nur dann gerechtfertigt, wenn gerade durch die drohende Zwangsräumung eine erhebliche Verschlechterung des gesundheitlichen Zustandes des Schuldners (oder eines Angehörigen) zu befürchten steht.
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Dies ist vorliegend nicht der Fall.
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Dem vorgelegten Attest sind auch keine tragfähigen, hinreichend konkreten Hinweise darauf zu entnehmen, dass die geplante Räumung mit ausreichender Wahrscheinlichkeit den Eintritt oder die Verschlimmerung gravierender physischer Erkrankungen, eine Beschleunigung des gesundheitlichen Verfalls oder eine Verkürzung der Lebenserwartung nach sich ziehen könne.
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4. Ergänzend wird auf die zutreffenden Ausführungen des Erstgerichts im angefochtenen Beschluss sowie in der Nichtabhilfeentscheidung Bezug genommen.
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5. Festzuhalten ist damit, dass dem Vorbringen der Schuldner – unabhängig von den Interessen der Gläubigerseite – schon keine Härte i.S.d. § 765 a ZPO entnommen werden kann.
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6. Ginge man – wie nicht – von einer Härte aus, wären die Voraussetzungen eines erfolgreichen Antrags nach § 765 a Abs. 1 ZPO gleichwohl nicht erfüllt.
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Denn die Zwangsvollstreckungsmaßnahme muss für den Schuldner nach § 765 a Abs. 1 S. 1 ZPO „unter voller Würdigung des Schutzbedürfnisses des Gläubigers“ eine sittenwidrige Härte darstellen. Das Schutzbedürfnis des Gläubigers ist also in jedem Fall zu berücksichtigen und kann ein solches Gewicht erlangen, dass es eine Vollstreckungsschutzmaßnahme ausschließt. Dabei darf insbesondere nicht außer Acht bleiben, dass sich auch der Gläubiger auf Grundrechte berufen kann. Denn ist sein Räumungstitel nicht durchsetzbar, wird sein Grundrecht auf Schutz seines Eigentums (Art. 14 Abs. 1 GG) und auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) beeinträchtigt. Dem Gläubiger dürfen keine Aufgaben überbürdet werden, die nach dem Sozialstaatsprinzip dem Staat und damit der Allgemeinheit obliegen (BGH, Beschl. v. 21.01.2016 – I ZB 12/15, NZM 2016, 567; BGH, Beschl. v. 15.07.2010 – V ZB 1/10, NJW-RR 2010, 1649). Vielmehr ist es Aufgabe des Staates, das Eigentumsrecht des Gläubigers zu wahren, titulierte Ansprüche notfalls mit Zwang durchzusetzen und dem Gläubiger zu seinem Recht zu verhelfen (BGH, a.a.O.). Hieraus folgt, dass nicht jede Vollstreckungsmaßnahme, die für den Schuldner eine unbillige Härte bedeutet, Vollstreckungsschutz nach § 765 a ZPO rechtfertigt. Die Vollstreckung macht vielmehr erst an der Grenze der Sittenwidrigkeit Halt (LG München I, Beschl. v. 13.02.2019 – 14 T 16334/18, NZM 2019, 794; BeckOK MietR/Fleindl BGB, Zwangsvollstreckung Rn. 160).
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Die Grenze der Sittenwidrigkeit wäre hier aber nicht erreicht.
43
Das Vollstreckungsgericht muss, wie aufgezeigt, in seine abwägende Entscheidung die jeweils tangierten Grundrechte einfließen und erkennen lassen, wie diese im Einzelfall gewichtet wurden (BVerfG, Beschl. v. 06.07.2016 – 2 BvR 548/16, WuM 2016, 729; Beschl. v. 19.02.2014 – 2 BvR 2455/12, NZM 2014, 346; Beschl. v. 25.02.2014 – 2 BvR 2457/13, NZM 2014, 347; BGH, Beschl. v. 21.01.2016 – I ZB 12/15, WuM 2016, 233).
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Bei der vorzunehmenden Interessenabwägung wird regelmäßig in erheblichem Maße im Rahmen der Gläubigerinteressen zu berücksichtigen sein, dass die Zahlung der Nutzungsentschädigung nach § 546 a BGB nicht oder nicht mehr sichergestellt ist.
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Dies ist hier offenkundig der Fall. Denn der wohl zahlungsunfähige, insolvente Schuldner zu 1) kommt seinen laufenden Zahlungspflichten nach § 546 a BGB unstreitig seit nahezu einem Jahr in massiver Weise nicht mehr nach. Auch seitens der Schuldnerin zu 2) erfolgen offenbar keinerlei Zahlungen.
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Die Gläubigerin braucht die höchst konkrete Gefahr einer weiteren finanziellen Schädigung in diesem Lichte nicht weiter hinzunehmen.
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7. Es bleibt nach alledem festzuhalten, dass das Erstgericht die Voraussetzungen des § 765 a Abs. 1 ZPO vorliegend zu Recht verneint hat.
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Nach alledem ist die sofortige Beschwerde der Schuldner als unbegründet zurückzuweisen.
III.
49
In Ansehung der behaupteten psychischen Beeinträchtigungen der Schuldnerin zu 2) besteht indes zumindest hinreichende Veranlassung, die Entscheidung mit einer Auflage zu verbinden.
50
Zur Räumung wird vorsorglich ein Arzt/eine Ärztin hinzuzuziehen, zumindest aber die Verfügbarkeit sofortiger ärztlicher Unterstützung seitens der zuständigen Gerichtsvollzieherin sicherzustellen sein.
51
In Bezug auf die Art und Weise der Durchführung der Zwangsvollstreckung kommen als Vorgaben insbesondere die Hinzuziehung eines Arztes/Notarztes, eines Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie oder eines Mitarbeiters der zuständigen Ordnungsbehörde bei der Räumung in Betracht. Es handelt sich hierbei um Auflagen, die zwar in § 765 a ZPO keine ausdrückliche Erwähnung finden, als Minus zur Möglichkeit der Einstellung der Zwangsvollstreckung aber gleichwohl grundsätzlich zulässig sind (Gaul, JZ 2013, 1081).
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Die Auflagen können mit diesbezüglichen Anweisungen an den Gerichtsvollzieher – dem für die Räumungsvollstreckung zuständigen Vollstreckungsorgan – verbunden werden (BGH, Beschl. v. 24.11.2005 – V ZB 24/05, NJW 2006, 508).
53
Von dieser Möglichkeit macht das Beschwerdegericht vorliegend Gebrauch.
IV.
54
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO. Den Streitwert hat das Beschwerdegericht in Anwendung des § 47 Abs. 1 GKG mit dem Gegenwert der Nutzungsentschädigung für die Dauer von 1 1/2 Monaten (bis 01.05.2023) bemessen.