Titel:
Erfolglose Klage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis
Normenkette:
AufenthG § 5 Abs. 1, § 10 Abs. 3, § 25 Abs. 5, § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, § 54 Abs. 2
Leitsatz:
Die Nichtmitwirkung bei der Passbeschaffung begründet ein Ausweisungsinteresse, das auch nach der späteren Passvorlage generalpräventiv fortwirken kann. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Aufenthaltserlaubnis, Familiennachzug, Nigeria, Visum, Titelerteilungssperre, Ausweisungsinteresse, fehlende Mitwirkung bei Passbeschaffung
Fundstelle:
BeckRS 2023, 42873
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Tatbestand
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Die Klägerin begehrt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis.
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1. Die Klägerin ist am ... 1986 geboren und nigerianische Staatsangehörige. Sie reiste am 3. Mai 2017 ins Bundesgebiet ein.
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Am 26. Mai 2017 stellte sie einen Asylantrag. Mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 18. Juli 2017 wurde der Antrag abgelehnt. Das Verwaltungsgericht München wies die hiergegen erhobene Klage ab (U.v. 11. Februar 2020 – M 27 K 17.46334). Ein Antrag auf Zulassung der Berufung wurde nicht gestellt. Seit dem 18. März 2020 ist die Klägerin im Besitz von Duldungen, zunächst wegen fehlender Reisedokumente, ab 28. Juli 2020 wegen Geburt ihrer Tochter.
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Am ... 2019 wurde in W. die Tochter der Klägerin geboren. Der Vater – der die Vaterschaft am 26. Juli 2019 anerkannte – war bereits zu diesem Zeitpunkt im Besitz einer Niederlassungserlaubnis. Das Kind ist somit deutsche Staatsangehörige. Die Eltern haben am 26. Juli 2019 eine gemeinsame Sorgeerklärung abgegeben. Der Klägerin wurden danach zweimal Erlaubnisse zum vorübergehenden Verlassen des Bereichs der räumlichen Beschränkung erteilt, um den Vater des Kindes für einige Tage zu besuchen.
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Wegen ihrer ursprünglichen Angabe bei der Einreise, keine Ausweisdokumente zu haben, wurde die Klägerin erstmals mit Schreiben vom 2. Juni 2020, ihr zugegangen am 4. Juni 2020, zur Mitwirkung bei der Passbeschaffung aufgefordert. Sie solle bis zum 21. Juli 2020 einen Pass oder Passersatz bzw. Nachweise vorlegen, die ihre Bemühungen um ein solches Dokument belegen. Daraufhin legte sie einen am 20. März 2017 ausgestellten nigerianischen Reisepass vor, der bis zum 19. März 2022 gültig war.
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Am 14. Oktober 2020, eingegangen am 28. Oktober 2020, beantragte die Klägerin beim Beklagten wegen der deutschen Staatsangehörigkeit ihres Kindes eine Aufenthaltserlaubnis. Das Verfahren wurde während eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens gegen die Klägerin zunächst ruhend gestellt. Mit Schreiben vom 15. September 2022, eingegangen am 20. September 2022, teilte die Staatsanwaltschaft Traunstein die Einstellung des Strafverfahrens mit.
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Mit Schreiben vom 8. Dezember 2021, der Klägerin am 20. Dezember 2021 zugegangen, wies der Beklagte die Klägerin darauf hin, dass die Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG nicht vorlägen. Sie wurde zur Rücknahme des Antrags oder zur Stellungnahme bis spätestens 10. Januar 2022 aufgefordert. Mit Schreiben vom 12. September 2022 wurde eine erneute Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 30. September 2022 gegeben.
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Mit an ihren Bevollmächtigten gerichteten Schreiben vom 18. August 2022 und vom 12. September 2022 wurde die Klägerin darauf hingewiesen, dass ihr zwischenzeitlich abgelaufener Reisepass unverzüglich, spätestens bis zum 30. September 2022 zu verlängern sei bzw. ihre Mitwirkung nachgewiesen werden müsse, um negative Konsequenzen abzuwenden. Am 26. Oktober 2022 bat der Klägerbevollmächtigte um Übersendung des abgelaufenen Reisepasses, um die Verlängerung zu betreiben. Die Klägerin habe erst zu diesem Zeitpunkt von der ursprünglichen Aufforderung Kenntnis erlangt. Am 9. November 2022 bat die Sachbearbeiterin der Regierung von ... per E-Mail um Mitteilung eines Botschaftstermins zur Passverlängerung. Sodann werde sie den Reisepass versenden. Mit Schreiben vom 20. November 2022, zugegangen am 5. Dezember 2022, bat die Klägerin erneut persönlich um Übersendung ihres Reisepasses. Am 23. März 2023 legte die Klägerin schließlich einen verlängerten Reisepass vor.
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2. Mit Bescheid vom 8. November 2022, dem Klägerbevollmächtigten am 10. November 2022 zugestellt, lehnte der Beklagte den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ab.
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Zur Begründung wurde ausgeführt, der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen stehe bereits die Sperrwirkung gemäß § 10 Abs. 3 AufenthG entgegen. Ein gesetzlicher Anspruch auf die begehrte Aufenthaltserlaubnis bestehe nicht. Zwar lägen die besonderen Erteilungsvoraussetzungen des § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG vor. Jedoch seien die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nach § 5 AufenthG nicht gegeben. Denn die Klägerin sei entgegen § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG nicht mehr im Besitz eines gültigen Reisepasses. Es bestehe außerdem ein Ausweisungsinteresse gemäß §§ 5 Abs. 1 Nr. 2, 54 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. b AufenthG. Denn angesichts ihrer vereinzelten oder geringfügigen Verstöße gegen Mitwirkungspflichten sei die Klägerin mit Schreiben vom 18. August 2022 zur Passbeschaffung aufgefordert und auf mögliche Konsequenzen hingewiesen worden. Die Klägerin habe weder einen Reisepass vorgelegt noch ihre Bemühungen um einen solchen nachgewiesen. Es sei auch nicht gerechtfertigt, von dieser Regelerteilungsvoraussetzung abzuweichen. Es handele sich nicht um einen atypischen Fall, sondern vielmehr um eine allein der Klägerin zuzurechnende Verletzung der Mitwirkungspflichten. Zudem sei die Klägerin entgegen § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG nicht mit dem erforderlichen Visum eingereist. Die nachträgliche Einholung des erforderlichen Visums stelle auch keine bloße Förmlichkeit dar. Eine Ausnahmeregelung gemäß § 39 AufenthV liege nicht vor. Insbesondere besitze die Klägerin keine Aufenthaltsgestattung i.S.d. § 39 Satz 1 Nr. 4 AufenthV. Diese sei mit bestandskräftiger Beendigung ihres Asylverfahrens am 27. März 2020 gemäß § 67 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 AsylG erloschen. Den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis habe sie aber erst am 28. Oktober 2020 gestellt. § 39 Satz. 1 Nr. 5 AufenthV sei nur anwendbar, wenn ein geduldeter Ausländer ein Kind bekomme, nicht aber, wenn die Duldung erst nach der Geburt erteilt werde. Die Ausreise zur Nachholung des Visumverfahrens sei auch mit Blick auf Art. 6 GG zumutbar. Währenddessen könne der Vater das Kind betreuen. Bei entsprechender Vorbereitung (Einholung einer Vorabzustimmung, Urkundenüberprüfung von Deutschland aus) betrage die Dauer der Visumnachholung nach Auskunft des Deutschen Generalkonsulates in L. vom 22. September 2022 lediglich einen Monat. Dies stelle einen zumutbaren Zeitrahmen dar und führe auch bei kleinen Kindern zu keiner unzumutbaren Beeinträchtigung des Kindeswohls. Dass der Lebensunterhalt der Klägerin derzeit nicht gesichert sei, mindere nicht deren Rückkehrwahrscheinlichkeit. Ein Absehen im Ermessenswege sei nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG zwar möglich. Allerdings würde ein solches Abweichen keinen gebundenen Anspruch auf die begehrte Erlaubnis begründen, sodass die Sperre des § 10 Abs. 3 AufenthG entgegen stünde.
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Weiterhin seien auch die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG nicht erfüllt. Eine Ausreise sei nicht aus tatsächlichen Gründen unmöglich. Es sei der Klägerin zumutbar, einen gültigen Reisepass zu beschaffen. Die Ausreise sei auch nicht aus rechtlichen Gründen aufgrund des deutschen Kindes unmöglich. Die zu erwartende Trennungszeit sei zumutbar. Zwar habe die Klägerin eine schützenswerte Beziehung zu ihrem Kind. Nach Auskunft des Deutschen Generalkonsulates in L. vom 22. September 2022 dauere das Visumverfahren aber maximal sechs Monate und könne bei Vorbereitung von Deutschland aus auf einen Monat verkürzt werden. Darauf müsse die Klägerin hinwirken, sodass eine Dauer von einem Monat zu prognostizieren sei. Bis zu ihrem Termin für die Visumbeantragung in Nigeria könne ihr eine Duldung ausgestellt werden. Während der einmonatigen Abwesenheit könne der Vater des Kindes, der ebenfalls das Sorgerecht ausübe, die Betreuung übernehmen. Kontakt zum Kind könne sie während dieser Zeit durch moderne Kommunikationsmittel halten. Dies sei angesichts des Alters des Kindes möglich. Zudem fehle es hier ebenfalls an allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen. Der Lebensunterhalt sei entgegen § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG nicht gesichert. Zudem fehle es entgegen § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 an einem Visum. Die Voraussetzungen, um von diesem Erfordernis gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG abzuweichen, lägen nicht vor. Insofern wurden die Ausführungen zur Zumutbarkeit des Visumverfahrens wiederholt und vertieft. Auch nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG sehe der Beklagte in Abwägung mit den Interessen der Klägerin nicht von den allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen ab. Insbesondere sei aufgrund ihres bisherigen Werdegangs nicht zu erwarten, dass die Klägerin und ihre Familie in absehbarer Zeit dauerhaft unabhängig von Sozialleistungen leben könnten, sodass nicht von § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG abgewichen werde. Von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG werde nicht abgewichen, da ein besonderes Interesse an der Erfüllung von Mitwirkungspflichten bestehe. Von § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG werde nicht abgewichen, weil die Erfüllung der Passpflicht wichtigen sicherheitspolitischen Belangen diene und von der Klägerin unschwer zu leisten sei. Von § 5 Abs. 2 AufenthG werde angesichts der zumutbaren Dauer des Visumverfahrens nicht abgewichen.
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Sonstige Anspruchsgrundlagen, nach denen ein Aufenthaltstitel erteilt werden könnte, seien nicht ersichtlich.
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3. Gegen diesen Bescheid ließ die Klägerin am 9. Dezember 2022, bei Gericht am selben Tag eingegangen, durch ihren Bevollmächtigten Klage erheben und beantragen,
Unter Aufhebung des Bescheides vom 08.11.2022 wird der Beklagte verpflichtet, der Klägerin eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen; hilfsweise wird der Beklagte verpflichtet, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.
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Zur Begründung ließ die Klägerin ausführen, die Aufenthaltserlaubnis stütze sich auf die Geburt des deutschen Kindes. Sie kümmere sich derzeit um die Passbeschaffung. Es sei nicht möglich, das Kind während eines Visumverfahrens durch seinen Vater betreuen zu lassen. Dieser habe kein Interesse am gemeinsamen Kind und sehe es trotz der Sorgeerklärung nie. Für das Kind sei er eine „fremde Person“. Zudem könne sich das deutsche Kind der Klägerin auf Art. 20 AEUV berufen. Die Unionsbürgerschaft des minderjährigen Kindes könne seiner Mutter nach der Rechtsprechung des EuGH grundsätzlich ein Aufenthaltsrecht vermitteln. Dies gelte vor allem dann, wenn die Versagung eines Aufenthaltsrechts für die Eltern das Kind an der Wahrnehmung des Kernbestands seiner unionsbürgerlichen Rechte hindere, indem dieses faktisch gezwungen wäre, mit seinen Eltern die Union zu verlassen. Da die Klägerin sich allein um das Kind kümmere, wäre das während des Visumverfahrens der Fall.
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4. Der Beklagte beantragt,
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Zur Begründung wurden die im Bescheid genannten Gründe wiederholt und vertieft. Ergänzend wurde vorgetragen, am 23. März 2023 habe die Klägerin einen neuen Reisepass vorgelegt. Zudem bestehe für die Klägerin kein Anspruch aus Art. 20 AEUV. Dieser könne nur ganz ausnahmsweise bestehen und erfordere ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis zwischen Mutter und Tochter. Eine solche affektive Abhängigkeit könne bestehen, wenn allein die Drittstaatsangehörige das Sorgerecht tatsächlich ausübe oder allein mit dem Kind zusammenlebe. Dies werde bei der Klägerin auch nicht in Abrede gestellt. Auch beim Anspruch aus Art. 20 AEUV sei aber die Dauer der zu erwartenden Trennungszeit zu berücksichtigen. Durch die nur vorübergehende Abwesenheit der Klägerin von ca. einem Monat würde ihre Tochter nicht de facto gezwungen, das Bundesgebiet zu verlassen. Während dieser Zeit könne die Tochter beim Vater bleiben, der auch das Sorgerecht habe. Der Klägerin sei mehrfach eine Besuchserlaubnis zum Besuch beim Vater ausgestellt worden. Auch das Sozialamt habe bestätigt, dass die Klägerin den Vater nach eigener Aussage immer wieder besuche. Dieser zahle auch Unterhalt. Der fehlende Umgang sei daher als Schutzbehauptung einzuordnen.
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5. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts sowie der vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Der Bescheid des Beklagten vom 8. November 2022 ist rechtmäßig und verletzt sie nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
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1. Ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG kommt nicht in Betracht.
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a) Das Gericht hat zwar keinen Anlass, daran zu zweifeln, dass die besonderen Erteilungsvoraussetzungen gegeben sind, insbesondere in Bezug auf die familiäre Lebensgemeinschaft zwischen der Klägerin und ihrer Tochter.
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Auch ihre Passpflicht nach §§ 3, 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG als allgemeine Erteilungsvoraussetzung erfüllt die Klägerin mittlerweile wieder. Sie hat am 23. März 2023 nach vorheriger Aufforderung einen verlängerten Reisepass vorgelegt.
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b) Nach unanfechtbarer Ablehnung des Asylantrags der Klägerin greift allerdings die Titelerteilungssperre des § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG. Eine Ausnahme davon nach § 10 Abs. 3 Satz 3 Alt. 1 AufenthG kommt nicht in Betracht. Hierfür wäre ein gesetzlicher Anspruch auf einen Aufenthaltstitel erforderlich, wofür die Ermessensreduzierung auf Null nicht genügt (BayVGH, B.v. 16.3.2020 – 10 CE 20.326 – juris Rn. 17 m.w.N.; Maor in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand: 1.7.2023, § 10 AufenthG Rn. 11). Demnach ist es erforderlich, dass neben den besonderen auch sämtliche allgemeine Erteilungsvoraussetzungen für den begehrten Aufenthaltstitel gegeben sind.
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Das ist nicht der Fall. Es besteht ein Ausweisungsinteresse i.S.d. § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG (aa) und die Klägerin ist nicht mit dem gemäß § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG vorgesehenen Visum eingereist (bb).
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aa) Das Ausweisungsinteresse wegen fehlender Mitwirkung bei der Passbeschaffung ergibt sich aus § 54 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. b AufenthG. Daher fehlt es an der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG.
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§ 48 Abs. 3 AufenthG setzt Mitwirkungspflichten bei der Verlängerung eines abgelaufenen Passes fest. Die Nichtmitwirkung bei der Passbeschaffung begründet ein Ausweisungsinteresse, das auch nach der späteren Passvorlage generalpräventiv fortwirken kann (vgl. Maor in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand: 1.10.2023, § 5 AufenthG Rn. 11a). Der Beklagte hat die Klägerin am 18. August 2022 und erneut am 12. September 2022 auf die Notwendigkeit der Verlängerung ihres abgelaufenen Reisepasses hingewiesen und zum Nachweis ihrer Mitwirkung bis 30. September 2022 aufgefordert. Dem Schreiben war ein Hinweis auf die negativen Rechtsfolgen einer Verletzung der Mitwirkungspflicht i.S.d. § 54 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. b AufenthG beigefügt. Der Klägerbevollmächtigte bat jedoch erst am 26. Oktober 2022 um Übersendung des abgelaufenen Reisepasses. Am 23. März 2023 wurde schließlich der verlängerte Pass vorgelegt.
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Zwar drängt sich ein Abweichen von der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung des fehlenden Ausweisungsinteresses nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG hier geradezu auf. Denn die in der Aufforderung zur Mitwirkung an der Passverlängerung mit Belehrung über die Rechtsfolgen gesetzte Frist nach § 54 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. b AufenthG wurde lediglich um knapp einen Monat überschritten, bis die Klägerin am 26. Oktober 2022 um Übersendung des Reisepasses bitten und somit erstmals ihre Mitwirkung erkennen ließ. Bei solchen bagatellartigen Verstößen liegt die Zulassung einer Ausnahme nahe (Maor in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand: 1.10.2023, § 5 AufenthG Rn. 20l). Ein gesetzlicher Anspruch i.S.d. § 10 Abs. 3 Satz 3 Alt. 1 AufenthG liegt damit aber nicht vor.
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bb) Zudem fehlt es an der Einreise mit einem Visum als allgemeiner Erteilungsaussetzung gemäß § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG.
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Es liegt auch kein Fall des § 39 AufenthV vor, der das Visumserfordernis tatbestandlich entbehrlich machen könnte.
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Insbesondere ist § 39 Satz 1 Nr. 4 AufenthV nicht einschlägig, weil die Aufenthaltsgestattung der Klägerin angesichts des Urteils des Verwaltungsgerichts München vom 11. Februar 2020 (Az. M 27 K 17.46334) bereits nach § 67 Abs. 1 Nr. 6 AsylG erloschen war, bevor sie am 14. Oktober 2020, dem Beklagten zugegangen am 20. Oktober 2020, eine Aufenthaltserlaubnis beantragte. Der Anwendungsbereich von § 39 S. 1 Nr. 4 AufenthV ist daher schon gar nicht eröffnet, ohne dass es auf das Vorliegen der weiteren Voraussetzungen ankäme (BayVGH, B.v. 7.1.2013 – 10 CE 13.36 – juris Rn. 15, Engels/Bongard in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Stand: 15.10.2023, § 39 AufenthV Rn. 13).
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Auch § 39 Satz 1 Nr. 5 AufenthV ist nicht einschlägig. Die Vorschrift gilt nicht in Fällen, in denen eine Duldung nach § 60a Abs. 2 AufenthG – wie hier – erst nach Geburt eines Kindes erteilt wird. Sie bezieht sich allein auf Fälle, in denen die Duldung bei Geburt des Kindes bereits vorliegt (BayVGH, B.v. 30.7.2021 – 19 ZB 21.738 – juris Rn. 32). Es muss sich also um eine verfahrensunabhängige Duldung handeln. Die Nachholung des Visumverfahrens ist daher tatbestandlich vorgesehen.
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Zwar könnte gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG von dieser allgemeinen Erteilungsvoraussetzung abgesehen werden, wenn die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung erfüllt sind oder es aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, das Visumverfahren nachzuholen.
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Dem steht allerdings wiederum die Sperrwirkung des § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG entgehen. Denn bei § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG handelt es sich um eine Ermessensvorschrift; ein Anspruch aufgrund einer Ermessensvorschrift ist im Hinblick auf die Titelerteilungssperre des § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG jedoch nicht ausreichend.
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2. Ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis resultiert auch nicht aus § 25 Abs. 5 AufenthG. Zwar greift bei einem solchen humanitären Aufenthaltstitel nicht die Sperrwirkung des § 10 Abs. 3 Satz 1 AufenthG. Eine rechtliche oder tatsächliche Unmöglichkeit der Ausreise als besondere Erteilungsvoraussetzung im Rahmen des § 25 Abs. 5 AufenthG liegt allerdings nicht vor.
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a) § 25 Abs. 5 AufenthG ist im vorliegenden Fall prinzipiell anwendbar und nicht von §§ 27 ff. AufenthG verdrängt (BayVGH, U.v. 7.12.2021 – 10 BV 21.1821 – BeckRS 2021, 44425 Rn. 24 ff.). Ein Spezialitätsverhältnis besteht insofern nicht, weil die beiden Aufenthaltstitel ganz unterschiedliche Rechtsverhältnisse vermitteln.
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b) Die Tatbestandsvoraussetzungen liegen aber nicht vor. Insbesondere ist die Nachholung des Visumverfahrens mit dem verfassungsrechtlichen Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1 und 2 GG bzw. Art. 8 Abs. 1 EMRK vereinbar und deshalb rechtlich zumutbar. Der Klägerin ist eine freiwillige Ausreise möglich. Nachdem die Voraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG, abgesehen vom Visumverfahren und vom Ausweisungsinteresse wegen Verstoßes gegen Mitwirkungspflichten, im Übrigen vorliegen, ist diesbezüglich von einer nur temporären Trennung von Mutter und Tochter auszugehen. Nach dem vorübergehenden Verlassen des Bundesgebiets für die Nachholung des Visumverfahrens wird die Klägerin mit einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG zurückkehren können. Ein Ausreisehindernis liegt daher auch unter Berücksichtigung der grundrechtlich geschützten Beziehung zu ihrer deutschen Tochter nicht vor.
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c) Die Verletzung von Mitwirkungspflichten nach § 48 Abs. 3 AufenthG bei der Verlängerung des Reisepasses kann dabei dem Familiennachzug nicht nach §§ 5 Abs. 1 Nr. 2, 54 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. b AufenthG entgegengehalten werden und verlängert die Trennungszeit deshalb nicht. Denn die weitere Verzögerung nach Fristsetzung i.S.d. § 54 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. b AufenthG war ausgesprochen gering (vgl. o.). Eine Ablehnung des Antrags aus diesem Grund wäre angesichts der Geringfügigkeit des Verstoßes und dem dagegen abzuwägenden Schutzgut der familiären Gemeinschaft zwischen der Klägerin und ihrer Tochter i.S.d. Art. 6 Abs. 1 GG unverhältnismäßig, ein Festhalten an der Regelerteilungsvoraussetzung unzumutbar (vgl. Maor in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand: 1.10.2023, § 5 AufenthG Rn. 20 f.). Davon geht auch der Beklagte auf Seite 10 des Bescheids implizit aus. Überdies wird die Bedeutung dieses Verstoßes durch Zeitablauf weiter abgenommen haben, wenn die Klägerin in Nigeria das Visumverfahren nachholen und eine Aufenthaltserlaubnis beantragen wird.
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d) Die Klägerin kann auch in Anbracht der verfassungsrechtlich geschützten Rechtspositionen ihrer Tochter und ihrer selbst in zumutbarer Weise auf die Durchführung des Visumverfahrens verwiesen werden. Art. 6 GG vermittelt keinen unmittelbaren Anspruch auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet. Die Ausländerbehörden sind aber auf der Grundlage der in Art. 6 GG enthaltenen wertentscheidenden Grundsatznorm dazu verpflichtet, bei ihren aufenthaltsbeendenden Entscheidungen stets die familiären Bindungen des Ausländers an im Bundesgebiet berechtigt lebende Personen angemessen zu berücksichtigen (BVerfG, B.v. 9.1.2009 – 2 BvR 1064/08 – juris Rn. 14).
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Für die Beurteilung der Schutzwürdigkeit der familiären Gemeinschaft und der Zumutbarkeit einer (vorübergehenden) Trennung sowie der Möglichkeit, über Briefe, Telefonate und Besuche auch aus dem Ausland Kontakt zu halten, spielt das Alter des Kindes eine wesentliche Rolle (vgl. BVerfG, B.v. 8.12.2005 – 2 BvR 1001/04 – juris Rn. 37; BayVGH, B.v. 7.6.2019 – 19 CE 18.1597 – juris Rn. 22).
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Zudem bedarf es zur Beurteilung der Zumutbarkeit der Trennung der Klägerin von ihrer Tochter von Verfassungs wegen einer Begründung, warum insofern eine lediglich vorübergehende und keine dauerhafte Trennung in Aussicht steht (BVerfG, B.v. 9.12.2021 – 2 BvR 1333/21 – juris LS 2c). In jedem Fall bedarf es einer Prognose der voraussichtlichen Trennungszeit (BayVGH, U.v. 7.12.2021 – 10 BV 21.1821 – juris Rn. 38).
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Diesbezüglich muss die Dauer des Visumverfahrens absehbar und insbesondere auch geklärt sein, ob die grundsätzliche Möglichkeit zum Familiennachzug besteht (BayVGH, U.v. 7.12.2021 – 10 BV 21.1821 – juris Rn. 40 m.w.N.; OVG SH, B.v. 3.1.2022 – 4 MB 68/21 – juris).
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Gemessen an diesen Grundsätzen ist die durch die Nachholung des Visumverfahrens in Nigeria bedingte vorübergehende Trennung der Klägerin bzw. ihrer Tochter zumutbar. Es bestehen keine Zweifel an der grundsätzlichen Möglichkeit eines Familiennachzugs (s.o.). Die Klägerin hat nach der Einreise ohne das erforderliche Visum und nach erfolglosem Abschluss des Asylverfahrens grundsätzlich ein Sichtvermerksverfahren im Heimatland durchzuführen, um einen asylunabhängigen Aufenthaltstitel zu erlangen. Insofern steht lediglich eine vorübergehende Trennung von der Tochter im Raum. Dem Gericht ist dabei auch eine Prognose darüber möglich, welcher Trennungszeitraum zu erwarten ist (BVerfG, B.v. 22.12.2021 – 2 BvR 1432/21 – BeckRS 2021, 43185 Rn. 44):
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Für die Nachholung des Visumverfahrens ist von einer ca. vierwöchigen Trennung von Mutter und Tochter auszugehen. Dies beruht auf einer am 9. November 2023 erteilten Auskunft des Generalkonsulats L.. Demnach betrage die Wartezeit auf einen Termin derzeit ca. zwei Jahre. Währenddessen könne von Deutschland aus die Urkundenüberprüfung betrieben werden. Mit einer Vorabzustimmung der zuständigen Ausländerbehörde betrage die Bearbeitungszeit vor Ort dann durchschnittlich vier Wochen. Angesichts des klaren Sachverhalts, der bei Nachholung des Visumverfahrens die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen deutlich anzeigt, wird die Klägerin keine Schwierigkeiten haben, eine solche Vorabzustimmung zu erlangen. In den zwei Jahren Wartezeit ab Registrierung eines Termins beim Generalkonsulat L. kann die Klägerin sodann die Urkundenüberprüfung betreiben. Zum Zeitpunkt der vierwöchigen Trennung wird die derzeit vier Jahre alte Tochter der Klägerin voraussichtlich sechs Jahre alt sein und als Schulkind via Telefon und Internet mit ihrer Mutter Kontakt halten können.
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Zudem kann die Tochter während dieser vier Wochen vom sorgeberechtigten Vater betreut werden. In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin vorgetragen, auch wenn sie vom Vater in M. getrennt lebe, bemühe sie sich, den Kontakt zwischen Vater und Tochter telefonisch aufrecht zu erhalten. Im August 2023 habe der Vater das Kind bereits einmal für zehn Tage mit zu sich nach M. genommen, sie habe in dieser Zeit den Kontakt via Video-Call gehalten. Dass – wie die Klägerbevollmächtigte in der mündlichen Verhandlung ausführte – eine solche Betreuung durch den Vater mit organisatorischen Schwierigkeiten verbunden sein wird, hindert die Zumutbarkeit des Visumverfahrens nicht. Zwar erschweren die Wohnung des Vaters in einer WG, die in zwei Jahren eintretende Schulpflicht der Tochter und die Grenzen des Urlaubsanspruchs des Vaters die Organisation der Betreuung während der Abwesenheit der Klägerin. Diese überwindbaren Hindernisse machen eine Nachholung des Visumverfahrens der Klägerin aber nicht unzumutbar. Die dann voraussichtlich sechsjährige Tochter wird die vorübergehende Trennung von ihrer Mutter verarbeiten können und nicht als endgültigen Verlust erfahren. Insbesondere war es ihr bereits im Alter von vier Jahren möglich, während eines zehntägigen Besuchs beim Vater mit ihrer Mutter per Video-Call Kontakt zu halten.
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Es kann daher offen bleiben, ob die Lebensgemeinschaft zwischen der Klägerin und ihrer Tochter auch nach den Wertungen des deutschen Rechts nur in Deutschland verwirklicht werden kann und der Tochter ein vorübergehendes Verlassen der Bundesrepublik unzumutbar ist (zu diesem Kriterium BayVGH, B.v. 4.5.2020 – 10 ZB 20.666 – juris Rn. 14; zur Rechtsprechung des EuGH, die ein solches Kriterium für die Unionsbürgerschaft aufstellt, s.u. 3.). Denn zwar ist es so, dass hier die gesamte Familie (zumindest auch) die nigerianische Staatsangehörigkeit hat. Selbst wenn man allerdings unterstellte, dass der Tochter der Klägerin wegen ihrer (auch) deutschen Staatsangehörigkeit ein Verlassen des Bundesgebiets während des Visumverfahrens ihrer Mutter unzumutbar ist, ließe sich das Verfahren mit Betreuung durch den Vater unter Verbleib des Kindes im Bundesgebiet zumutbar organisieren.
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Dabei ist darauf hinzuweisen, dass im vorliegenden Verfahren nicht die Aufenthaltsbeendigung der (geduldeten) Klägerin in Rede steht, sondern Gegenstand die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach freiwilliger Ausreise zur Nachholung des Visumverfahrens ist. Insofern kann für die Prognose der vorübergehenden Trennungszeiten von der Mitwirkung der Klägerin am Visumverfahren ausgegangen werden.
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Vor diesem Hintergrund überwiegt das öffentliche Interesse an der Beachtung des Visumverfahrens die schutzwürdigen Interessen der Klägerin und ihrer deutschen Tochter. Der Klägerin kann zugemutet werden, sich für das Sichtvermerkverfahren freiwillig in ihr Heimatland zu begeben. In diesem Zusammenhang ist auch zu beachten, dass das Interesse der Bundesrepublik, dass das Visumverfahren nachgeholt wird und die hierfür erforderlichen Maßnahmen durchgeführt werden, im Hinblick auf eine mögliche negative Vorbildwirkung des Falls für andere Ausländer besonders schwer wiegt.
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Der Umstand, dass die Klägerin eine vorübergehende Trennung von ihrer Tochter für die Dauer des Visumverfahrens hinnehmen muss, steht daher auch bei Berücksichtigung des Schutzgehalts aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK der Zumutbarkeit des Visumverfahrens nicht entgegen.
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Ein Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 5 AufenthG ist der Klägerin daher nicht zu erteilen.
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3. Der Klägerin steht auch kein von ihrer Tochter, die deutsche Staatsangehörige und damit Unionsbürgerin ist, abgeleitetes Recht auf Aufenthalt auf Grundlage des europäischen Primärrechts aus Art. 20 AEUV zu.
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aa) Art. 20 Abs. 1 AEUV verleiht jeder Person, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt, den Status eines Unionsbürgers. Dieser umfasst nach Art. 20 Abs. 2 Satz 2 a), Art. 21 AEUV das Recht, sich im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats frei zu bewegen und aufzuhalten. Nach der Rechtsprechung des EuGH verbietet Art. 20 AEUV weiter ausnahmsweise bei Vorliegen ganz besonderer Sachverhalte nationale Maßnahmen gegen Drittstaatsangehörige, die ihrerseits dazu führen, dass einem Unionsbürger der tatsächliche Genuss des Kernbestands derjenigen Rechte verwehrt wird, die ihm seine Unionsbürgerschaft verleihen. Die Vertragsbestimmungen verleihen Drittstaatsangehörigen indes keine eigenen Rechte, sondern sind aus dem Recht des Unionsbürgers abgeleitet (BayVGH, B.v. 4.5.2020 – 10 ZB 20.666 – juris Rn. 21; EuGH, U.v. 8.5.2018, C-82/16 – ECLI:ECLI:EU:C:2018:308 – K.A. Rn. 49 f. m.w.N.).
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Insbesondere für minderjährige Unionsbürger folgt aus Art. 20 AEUV ein Verbot von nationalen Maßnahmen gegen einen Drittstaatsangehörigen, die bewirken, dass sich der minderjährige Unionsbürger rechtlich oder faktisch gezwungen sieht, das Unionsgebiet (mit dem Drittstaatsangehörigen) zu verlassen. Verhindert werden soll eine Situation, in der der Unionsbürger für sich keine andere Wahl sieht, als einem Drittstaatsangehörigen, vom dem er rechtlich, wirtschaftlich und affektiv abhängig ist, bei der Ausreise zu folgen bzw. sich zu ihm ins Ausland zu begeben und deshalb das Unionsgebiet zu verlassen. Eine solche Feststellung muss sämtliche Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung des Kindeswohls zugrunde legen, insbesondere das Alter des Kindes, seine körperliche und emotionale Entwicklung, den Grad seiner affektiven Bindungen und das Risiko, das mit der Trennung für das innere Gleichgewicht des Kindes verbunden wäre. Dabei ist auch die Dauer einer zu erwartenden Trennung des Kindes vom drittstaatsangehörigen Elternteil zu berücksichtigen. Der Unionsbürger darf nicht „de facto“ gezwungen werden, das Unionsgebiet zu verlassen. Unerheblich ist, ob er sein Recht auf Freizügigkeit zuvor bereits ausgeübt hat (vgl. zum Ganzen OVG LSA, B.v. 21.9.2022 – 2 M 68/22 – juris Rn. 10 f. m.w.N.; BayVGH, B.v. 4.5.2020 – 10 ZB 20.666 – juris Rn. 21; EuGH, U.v. 8.5.2018, C-82/16 – ECLI:ECLI:EU:C:2018:308 – K.A., Rn. 51 f. m.w.N.).
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Dabei erkennt auch der Europäische Gerichtshof sowohl die Dauer der Trennungszeit (EuGH, U.v. 8.5.2018, C-82/16 – ECLI:ECLI:EU:C:2018:308 – K.A. Rn. 56, 58) als auch die Betreuung durch den anderen Elternteil (EuGH, U.v. 10.5.2017, C-133/15 – ECLI:ECLI:EU:C:2017:354 – Chavez-Vilchez, Rn. 72) als Argumente gegen einen solchen faktischen Zwang an.
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bb) Gemessen daran kann die Klägerin kein Aufenthaltsrecht aus Art. 20 AEUV herleiten.
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Das Gericht hat zwar keinen Zweifel daran, dass Mutter und Tochter affektiv eng aneinander gebunden sind. Dies bedeutet jedoch nicht, dass das Kind einem de-facto-Zwang ausgesetzt wäre, das Unionsgebiet zu verlassen, wenn die Klägerin auf die Durchführung des Visumverfahrens verwiesen wird. Denn mit vier Wochen Abwesenheit steht lediglich eine kurze, verlässlich zu bestimmende Trennung von Mutter und Tochter im Raum. Während dieser Zeit kann die Tochter in zumutbarer Weise von ihrem Vater betreut werden, der gemeinsam mit der Mutter eine Sorgeerklärung abgegeben hat und bereits vor wenigen Monaten eine zehntägige Betreuung übernommen hat.
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4. Andere Rechtsgrundlagen, aus denen sich eine Aufenthaltserlaubnis der Klägerin ergeben könnte, sind nicht ersichtlich. Insbesondere hat die Klägerin trotz entsprechender Hinweise des Beklagten keine Chancen-Aufenthaltserlaubnis nach § 104c AufenthG beantragt, das einzuholende Bekenntnis nach § 104c Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG liegt nicht vor.
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Die Klage war daher abzuweisen.
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6. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, die vorläufige Vollstreckbarkeit derselben beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.