Titel:
An Milchviehbetrieb heranrückende Wohnbebauung
Normenkette:
BImSchG § 3 Abs. 1
Leitsätze:
1. Eine heranrückende Wohnbebauung verletzt gegenüber einem bestehenden emittierenden Betrieb das Gebot der Rücksichtnahme, wenn ihr Hinzutreten die rechtlichen Rahmenbedingungen, unter denen der Betrieb arbeiten muss, gegenüber der vorher gegebenen Lage verschlechtert. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn der Betrieb durch die hinzutretende Bebauung mit nachträglichen Auflagen rechnen muss. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
2. Künftigen Entwicklungen eines Betriebs, die im vorhandenen baulichen Bestand noch keinen Niederschlag gefunden haben, unterliegen keiner Rücksichtnahmepflicht. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Gebot der Rücksichtnahme, Heranrückende Wohnbebauung, Nachbarklage, Schädliche Umwelteinwirkungen, faktisches Dorfgebiet, unzumutbare Geruchsbelastungen, Erweiterungsabsichten
Fundstelle:
BeckRS 2023, 31274
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
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Die Beteiligten streiten über eine der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für zwei Mehrfamilienhäuser.
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Der Kläger ist Eigentümer des Grundstücks FlNr. 665 Gem. F. …, auf welchem er einen Milchviehbetrieb führt. Die Beigeladene ist Eigentümerin des unmittelbar östlich angrenzenden Grundstücks FlNr. 655 Gem. F. … (Vorhabengrundstück). Ein Bebauungsplan besteht nicht.
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Mit Bescheid vom … Oktober 2019 erteilte der Beklagte der Beigeladenen einen Vorbescheid für den Neubau von zwei Wohnhäusern mitsamt Tiefgarage und Stellplätzen auf dem Vorhabengrundstück. Dies ist Gegenstand des Verfahrens M 1 K 19.5740, in welchem der Kläger die Aufhebung des Vorbescheids begehrt. Im Auftrag der Beigeladenen führte die Firma H. … & Partner Sachverständige PartG mbB im dortigen Verwaltungsverfahren eine geruchstechnische Untersuchung durch. Unter dem … Juli 2019 wurde ein immissionsschutztechnisches Gutachten gefertigt, das die Geruchsimmissionen der Anlage prognostizierte und beurteilte. Das Gutachten kommt zu dem Ergebnis (6.2, Seite 18 des Gutachtens), dass aufgrund der ausreichenden Abstände zu den geplanten Wohnhäusern an den geplanten Nutzungen keine schädlichen Umwelteinwirkungen in Form erheblicher Belästigungen im Sinne des § 3 BImSchG durch Geruchsimmissionen und keine Einschränkungen der landwirtschaftlichen Betriebe durch das Heranrücken schutzbedürftiger Nutzungen zu erwarten seien.
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Unter dem … Juli 2020 beantragte die Beigeladene die Erteilung einer Baugenehmigung zum Neubau zweier Mehrfamilienhäuser mit zuletzt insgesamt 15 Wohneinheiten und Tiefgarage auf dem Vorhabengrundstück. Beide Baukörper sollen ca. 23,0 m lang sein, der südliche Baukörper soll 14,25 m breit sein, der nördliche 11,75 m. Sie sollen eine Geschossigkeit von II + D aufweisen, die geplante Wandhöhe beträgt 6,50 m.
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Unter dem … August 2020 beantragte der Kläger einen Vorbescheid für den Umbau des bestehenden Anbindestalls und den Neubau eines Milchviehstalls sowie zum Abriss des bestehenden Stadels.
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Mit Beschluss vom 8. September 2020 erteilte die Gemeinde ihr Einvernehmen zu dem Vorhaben.
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Mit streitgegenständlichem Bescheid vom … Januar 2021, dem Kläger zugestellt am … Januar 2021, erteilte der Beklagte der Beigeladenen die begehrte Baugenehmigung.
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Mit am 15. Februar 2021 bei Gericht eingegangenem Schriftsatz seines Bevollmächtigten beantragt der Kläger,
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die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zur Errichtung zweier Mehrfamilienhäuser mit je 8 WE + TG auf dem Grundstück FlNr. 655 Gem. F. …, gemäß Bescheid Landratsamt R. …, Aktenzeichen: … / E. …, vom …01.2021, zugestellt am …01.2021, aufzuheben.
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Ferner suchte er Eilrechtschutz (M 1 SN 21.799). Der Kläger sei Vollerwerbslandwirt. In der bestehenden Stallung sei ein Viehbestand von 86,40 GV untergebracht. Es stehe an, den Betrieb von Anbindehaltung auf einen Laufstall mit Freilauf umzustellen. Hierfür seien eine Erweiterung und ein Anbau an den bestehenden Stall erforderlich. Ferner sei der Viehbestand aufzustocken, geplant sei ein Bestand von mindestens 110 GV. Das streitgegenständliche Vorhaben würde schädlichen Immissionen ausgesetzt. Dem Gutachten sei fälschlicherweise ein Viehbestand von 83,20 GV statt 86,40 GV zugrunde gelegt worden. Damit sei von einem rechnerisch größeren Geruchsschwellenabstand auszugehen. Weiterhin sei nicht beachtet worden, dass vor dem südlichsten Teil der landwirtschaftlichen Hofstelle eine Mistlege sowie Jungvieh- und Kälberiglus vorgelagert seien. Das Gutachten berücksichtige zudem nicht den Einfluss der Winde aus Westen. Die Immissionen würden durch den Wind von dem Stallgebäude zu dem Bauvorhaben getragen. Das Vorhaben sei zudem Lärmimmissionen ausgesetzt, da die Stallarbeit und Fütterung täglich mit Traktoren und dem motorisierten Futterwagen erledigt würde. Darüber hinaus bewirtschafte der Kläger auch forstwirtschaftliche Flächen. Im Zuge dessen komme es regelmäßig zu Brennholzarbeiten an der Hofstelle, wobei neben der Kreissäge auch Motorsägen zum Einsatz kämen. Auf jeden Fall sei das Vorhaben in naher Zukunft erheblichen schädlichen Immissionsbelastungen durch den Stallumbau bzw. die Stallerweiterung ausgesetzt. Zwar rücke die Bebauung dadurch nicht näher an das Bauvorhaben heran. Es ergebe sich jedoch eine weitergehende Immissionsbelastung durch die Aufstockung des Viehbestands auf 110 GV, insbesondere aber durch den Freilauf und die vorgesehenen Futtertische. Eine Entwicklung des klägerischen Betriebs werde durch das Vorhaben zumindest erheblich eingeschränkt.
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Der Beklagte beantragt,
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Eine Verletzung drittschützender Rechtspositionen sei nicht zu besorgen. Eine Beeinträchtigung des Gebots der Rücksichtnahme sei nicht gegeben. Das immissionsschutztechnische Gutachten vom … Juli 2019 belege nachvollziehbar, dass das streitgegenständliche Bauvorhaben keinen unzumutbaren Geruchsimmissionen ausgesetzt werde. Dies werde durch die Lage des Vorhabens außerhalb der grünen Kreise markiert. Die vom Bevollmächtigten des Klägers vorgetragene marginale Änderung der Tierplatzzahlen wirke sich nicht signifikant auf die Situation aus. Das Thema Lärm sei aus fachtechnischer Sicht nicht einschlägig. Nach Ziffer 1c der Technischen Anleitung zum Schutz gegen Lärm (TA Lärm) seien nicht nach BImSchG genehmigungsbedürftige landwirtschaftliche Anlagen – wie die des Klägers – von der Anwendung der TA Lärm ausgenommen. Die Lärmimmissionen der Landwirtschaft wie die Fahrbewegungen der Traktoren, Stallarbeit, Fütterung etc. seien irrelevant und könnten nicht zu schädlichen Umwelteinwirkungen führen.
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Der Beigeladene beantragt,
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Das Gutachten stelle fest, dass mit unzumutbaren, nachbarunverträglichen Immissionen nicht zu rechnen sei. Hinsichtlich der morgendlichen Beeinträchtigung für die Wohnnachbarschaft sei zu berücksichtigen, dass sich bereits heute in unmittelbarer Nähe des landwirtschaftlichen Betriebs Wohnnutzungen befänden. Ein Betrieb in der Nachtzeit zwischen 5:00 Uhr und 6:00 Uhr morgens sei schon aus diesem Grunde unzulässig. Für den Betrieb zur Tagzeit sei wegen des Charakters als Dorfgebiet ein Immissionsrichtwert von 60 dB(A) anzunehmen, der durch einen landwirtschaftlichen Betrieb nicht überschritten werde. Eine Rücksichtnahmepflicht auf bestehende Planungen in der Nachbarschaft bestehe nur dann, wenn diese zumindest beantragt und insofern konkretisiert wurden. Der genehmigte Vorbescheid der Beigeladenen gehe dem bislang nicht genehmigten Vorbescheid des Klägers zeitlich voraus, sodass die spätere Planung den Bestandsschutz genehmigter Planungen zu berücksichtigen habe.
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Mit Schriftsatz vom 28. Juni 2021 ergänzte der Klägerbevollmächtigte seine Ausführungen. Der aktuelle Gesamtviehbestand belaufe sich auf 87,3 GV, bestehend aus 52 Kühen zu je 1,2 GV, 5 Stück Jungvieh zu je 1,2 GV, 18 Stück Jungvieh zu je 0,7 GV und 21 Kälbern zu je 0,3 GV. Daraufhin beauftragte die Beigeladene die Firma H. … & Partner Sachverständige PartG mbB erneut damit, ein immissionsschutztechnisches Gutachten zur Prognose anlagenbezogener Geruchsimmissionen unter Zugrundelegung dieses Gesamtviehbestands zu erstellen. Auch das überarbeitete Gutachten vom … Juli 2021 – das 18 Stück Jungvieh zu je 0,6 GV anstelle von 0,7 GV annimmt – geht davon aus, dass mit der Einhaltung des Mindestabstandes nach der Abstandsregelung des Bayerischen Arbeitskreises „Immissionsschutz in der Landwirtschaft“ an den geplanten Gebäuden mit schädlichen Umwelteinwirkungen nicht zu rechnen sei (Ziffer 6.1, Seite 17 des Gutachtens).
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Mit Beschluss vom 26. Oktober 2021 lehnte das Gericht den Eilantrag im Verfahren M 1 SN 21.798 ab. Die dagegen gerichtete Beschwerde zum Bayerischen Verwaltungsgerichtshof (1 CS 21.2866) wies dieser mit Beschluss vom 21. Januar 2022 zurück.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- und Behördenakte, auch im Eilverfahren M 1 SN 21.799, sowie die Niederschrift über die mündliche Verhandlung am 17. Oktober 2023 verwiesen.
Entscheidungsgründe
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I. Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg. Die angefochtene Baugenehmigung vom … Januar 2021 verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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Im Rahmen von Rechtsbehelfen Dritter können sich diese nur dann erfolgreich gegen eine Baugenehmigung zur Wehr setzen, wenn diese rechtswidrig ist und die Rechtswidrigkeit auch auf der Verletzung von Normen beruht, die gerade dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind (BayVGH, B.v. 24.3.2009 – 14 CS 08.3017 – juris Rn. 20).
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Das Vorhaben verletzt nicht das sich im faktischen Dorfgebiet gem. § 5 BauNVO aus § 34 Abs. 2 BauGB i.V.m. § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO ergebende Gebot der Rücksichtnahme gegenüber dem Kläger. Es wird zulasten des Nachbarn verletzt, wenn durch das geplante Vorhaben die Nutzung des Nachbargrundstücks unzumutbar beeinträchtigt wird, also unter Berücksichtigung der Schutzwürdigkeit der Betroffenen, der Intensität der Beeinträchtigung und der wechselseitigen Interessen das Maß dessen überschritten wird, was der Nachbar billigerweise hinnehmen muss. Zur Bestimmung der Grenze der Zumutbarkeit von Umwelteinwirkungen ist grundsätzlich auf die Begriffsbestimmungen des Immissionsschutzrechts (§ 3 Abs. 1 BImSchG) und auf dessen materiell-rechtliche Maßstäbe (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 22 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG) zurückzugreifen. Eine heranrückende Wohnbebauung verletzt gegenüber einem bestehenden emittierenden Betrieb das Gebot der Rücksichtnahme, wenn ihr Hinzutreten die rechtlichen Rahmenbedingungen, unter denen der Betrieb arbeiten muss, gegenüber der vorher gegebenen Lage verschlechtert. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn der Betrieb durch die hinzutretende Bebauung mit nachträglichen Auflagen rechnen muss (BayVGH, B.v. 21.1.2022 – 1 CS 21.2866 – juris Rn. 14 m.w.N.).
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Das Wohnbauvorhaben der Beigeladenen setzt sich nicht unzumutbaren Geruchsbelastungen des Klägers aus, sodass der Betrieb des Klägers keine Einschränkungen zu befürchten hat. Diesbezüglich wird zunächst auf die den Beteiligten bekannten Entscheidungen im zugehörigen Eil-, sowie Beschwerdeverfahren verwiesen (M 1 SN 21.799, 1 CS 21.2866). Von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe konnte insoweit abgesehen werden, § 117 Abs. 5 VwGO analog.
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Soweit der Klägerbevollmächtigte in der mündlichen Verhandlung (erneut) vorträgt, dass die den eingeholten Geruchsgutachten zugrunde gelegten Großvieheinheiten – nunmehr seien 86,6 GV anstelle von 85,5 GV anzusetzen – unzutreffend seien, handelt es sich um Ausführungen, die bereits Gegenstand des Verfahrens M 1 SN 21.799 sowie des anschließenden Beschwerdeverfahrens 1 CS 21.2866 waren. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof führt insoweit aus, dass selbst bei einer Unterschreitung des grünen Mindestabstands zwischen den geplanten Wohnnutzungen und dem landwirtschaftlichen Betrieb des Antragstellers keine schädlichen Umwelteinwirkungen vorliegen, weil die südlich an das Grundstück des Klägers angrenzende Rinderhaltung den grünen Mindestabstand zu den geplanten Wohnhäusern einhält und daher maximal eine mittlere Zusatzbelastung zu erwarten ist (BayVGH, B.v. 21.1.2022 a.a.O. Rn. 15). Damit bezieht sich der BayVGH auf die Nr. 2a) der o.g. Abstandsregelung für Rinderhaltungen. In den vorliegenden Gutachten sind auch die Nebeneinrichtungen betrachtet worden, soweit sie nach der Abstandsregelung von Bedeutung sind.
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Auch die Befürchtung des Klägers, dass aufgrund seiner Erweiterungsabsichten in Zukunft mit höheren Emissionen zu rechnen sei, wurde bereits vollumfänglich im Rahmen des Eil-, sowie des Beschwerdeverfahrens rechtlich gewürdigt. Die künftigen Entwicklungen des klägerischen Betriebs haben im vorhandenen baulichen Bestand noch keinen Niederschlag gefunden, sodass sie keiner Rücksichtnahmepflicht unterliegen (BayVGH, B.v. 21.1.2022 a.a.O. Rn. 16). Im für die Anfechtungsklage maßgeblichen Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung hatte der Kläger lediglich einen Vorbescheidsantrag gestellt. Nach den Angaben der Klagepartei in der mündlichen Verhandlung wurde über diesen noch nicht entschieden, es wurde dabei noch bis in die jüngste Vergangenheit hinein umgeplant.
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Nach alledem war die Klage abzuweisen.
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II. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO. Es entsprach der Billigkeit, dass der Kläger auch die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen trägt, weil diese einen Antrag gestellt und sich somit einem Prozessrisiko ausgesetzt hat.
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III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 709 ZPO.