Inhalt

VGH München, Beschluss v. 04.10.2023 – 4 C 23.1580
Titel:

fiktive Terminsgebühr für eine im Gerichtsbescheid vollumfänglich obsiegende Partei

Normenketten:
VwGO § 84 Abs. 1 S. 1, Abs. 2
RVGVV Nr. 3104 Abs. 1 Nr. 2
Leitsatz:
Dass eine vollumfänglich obsiegende Partei durch den Gerichtsbescheid nicht beschwert ist, hat nicht zur Folge, dass ihr Antrag auf mündliche Verhandlung im Beschlusswege als unzulässig abgelehnt werden könnte. Ihr steht deshalb ein Anspruch auf eine Terminsgebühr nach Nr. 3104 Abs. 1 Nr. 2 VV RVG zu. (Rn. 9 – 10) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Erinnerung gegen Kostenfestsetzungsbeschluss, Terminsgebühr bei Entscheidung durch Gerichtsbescheid, Statthaftigkeit des Antrags auf mündliche Verhandlung, Unbeachtlichkeit der fehlenden Beschwer der obsiegenden Partei, Terminsgebühr
Vorinstanz:
VG Augsburg, Beschluss vom 17.08.2023 – Au 3 M 22.1703
Fundstellen:
JurBüro 2024, 24
DVBl 2024, 254
BayVBl 2024, 102
BeckRS 2023, 29904
LSK 2023, 29904

Tenor

1. Nr. 1 des Kostenfestsetzungsbeschlusses der Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 1. August 2023 und der Beschluss des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 17. August 2023 werden abgeändert. Die der Antragstellerin zu erstattenden Aufwendungen werden auf 1.710,46 Euro festgesetzt.
2. Die Antragsgegner tragen die Kosten des Erinnerungs- und des Beschwerdeverfahrens.

Gründe

I.
1
Die Beteiligten streiten über die Erstattungsfähigkeit einer (fiktiven) Terminsgebühr.
2
Das unter dem Aktenzeichen Au 3 K 22.81 geführte Hauptsacheverfahren wurde vom Verwaltungsgericht mit Gerichtsbescheid vom 24. Mai 2022 beendet und die Klage wurde abgewiesen. Die Kosten des Verfahrens wurden den damaligen Klägern und jetzigen Antragsgegnern auferlegt. Der Gerichtsbescheid erwuchs in Rechtskraft; keiner der Beteiligten beantragte die Zulassung der Berufung oder die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
3
Mit Kostenfestsetzungsbeschluss vom 1. August 2023 setzte die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle die erstattungsfähigen Kosten der damaligen Beklagten und jetzigen Antragstellerin ohne die von ihr geforderte fiktive Terminsgebühr fest und führte zur Begründung aus, der Gebührentatbestand nach Nr. 3104 Abs. 1 Nr. 2 VV-RVG sei nicht gegeben, weil sie vollumfänglich obsiegt habe und daher keinen zulässigen Antrag auf mündliche Verhandlung habe stellen können.
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Gegen diese Entscheidung wandte sich die Antragstellerin mit der Erinnerung, die das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 17. August 2023 zurückgewiesen hat.
5
Mit der hiergegen eingelegten Beschwerde verfolgt die Antragstellerin das Festsetzungsbegehren weiter.
6
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten verwiesen.
II.
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1. Die gemäß § 146 Abs. 1 und 3, § 147 Abs. 1 VwGO zulässige Beschwerde ist begründet. Entgegen der vom Verwaltungsgericht vertretenen Rechtsauffassung ist der Kostenfestsetzungsbeschluss vom 1. August 2023 rechtswidrig, soweit er die beantragte fiktive Terminsgebühr nicht zum Ansatz gebracht hat.
8
Nach Nr. 3104 Abs. 1 Nr. 2 VV RVG entsteht die Terminsgebühr auch dann, wenn nach § 84 Abs. 1 Satz 1 VwGO durch Gerichtsbescheid entschieden wird und eine mündliche Verhandlung beantragt werden kann. Danach hat der Vertreter der Antragstellerin und früheren Beklagten einen Anspruch auf die fiktive Terminsgebühr, weil das Verwaltungsgericht über die Klage durch Gerichtsbescheid entschieden hat und jeder der Beteiligten gemäß § 84 Abs. 2 Nr. 2 VwGO dagegen innerhalb eines Monats nach Zustellung des Gerichtsbescheids die Zulassung der Berufung oder mündliche Verhandlung hätte beantragen können.
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Dem steht nicht entgegen, dass Nr. 3104 Abs. 1 Nr. 2 VV RVG durch das am 1. August 2013 in Kraft getretene Zweite Gesetz zur Modernisierung des Kostenrechts vom 23. Juli 2013 (BGBl I S. 2586) nach dem gesetzgeberischen Willen eine Einschränkung erfahren sollte. Während nach der früheren Fassung der Bestimmung die fiktive Terminsgebühr in allen Verfahren anfiel, in denen ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entschieden wurde, besteht nunmehr die zusätzliche Voraussetzung, dass „eine mündliche Verhandlung beantragt werden kann“. Dies hat aber entgegen einer verbreiteten Auffassung (vgl. BayVGH, B.v. 9.8.2022 – 7 C 22.928 – NVwZ-RR 2022, 971 Rn. 10 ff.; B.v. 24.10.2018 – 5 C 18.1932 – juris Rn. 10 ff.; NdsOVG, B.v. 16.8.2018 – 2 OA 1541/17 – NVwZ-RR 2019, 85 = juris Rn. 10 ff., jeweils m.w.N.) bei einer im Gerichtsbescheid vollumfänglich obsiegenden Partei nicht zur Folge, dass ihr kein Anspruch auf eine Terminsgebühr nach Nr. 3104 Abs. 1 Nr. 2 VV RVG zustünde, weil sie mangels Beschwer keinen zulässigen Antrag auf mündliche Verhandlung habe stellen können.
10
Nr. 3104 Abs. 1 Nr. 2 VV RVG knüpft mit dem Begriff „kann“ an die Statthaftigkeit eines Antrags auf mündliche Verhandlung an (vgl. BayVGH, B.v. 27.2.2020 – 8 C 18.1889 – BayVBl 2020, 638 Rn. 14; VG Meiningen, B.v. 26.1.2023 – 8 S 334/22 Me – juris Rn. 25 m.w.N.); diese Voraussetzung liegt hier zweifelsfrei vor. Dass eine vollumfänglich obsiegende Partei durch den Gerichtsbescheid nicht beschwert ist, hat nicht zur Folge, dass ihr Antrag auf mündliche Verhandlung im Beschlusswege als unzulässig abgelehnt werden könnte. Zwar könnte der Beschleunigungs- und Entlastungszweck des § 84 Abs. 2 VwGO dafür sprechen, dass eine Prozesspartei nicht mit einem offensichtlich unzulässigen Antrag das Gericht zu einer mündlichen Verhandlung zwingen kann. Gleichwohl muss – nicht zuletzt mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 Satz 1 EMRK – auch in solchen Fällen wie in jedem anderen Klageverfahren durch Urteil entschieden werden (vgl. Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 84 Rn. 21 m.w.N.). Da § 84 Abs. 2 VwGO keinen Verwerfungsbeschluss vorsieht, müssen mangels spezieller gesetzlicher Grundlage die allgemeinen prozessrechtlichen Regeln gelten, zumal die Prüfung der Zulässigkeit eines Antrags auf mündliche Verhandlung durchaus schwierige Fragen aufwerfen kann, die im Kostenfestsetzungsverfahren nicht geklärt werden können (BayVGH, B.v. 27.2.2020, a.a.O., Rn. 18 f.; vgl. ausführlich VG Meiningen, a.a.O., Rn. 25 ff.).
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Erinnerungs- und das Beschwerdeverfahren sind gerichtsgebührenfrei, weil das GKG keinen entsprechenden Gebührentatbestand enthält. Nach Ziffer 5502 des Kostenverzeichnisses (Anlage 1 zu § 3 Abs. 2 GKG) fällt nur bei einer (ggf. lediglich teilweise) erfolglosen Beschwerde eine Gerichtsgebühr an.
12
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).