Inhalt

VGH München, Beschluss v. 19.09.2023 – 15 CS 23.1207
Titel:

Keine Berufung des Nachbarn auf Verletzung von Abstandsflächen nach Treu und Glauben

Normenketten:
BGB § 242
BayBO Art. 6 Abs. 6 S. 1 Nr. 3
Leitsatz:
Maßgeblich dafür, dass sich ein Nachbar nach Treu und Glauben analog § 242 BGB nicht auf eine Verletzung der Abstandsflächen berufen kann, ist allein, dass der klagende Nachbar den jetzt erforderlichen Grenzabstand nicht einhält. Unerheblich ist demnach, ob er Bestandschutz genießt oder sich rechtmäßig verhält. (Rn. 14 – 15) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nachbarklage, Erteilung von Abweichungen von den Abstandsflächen, Unzulässige Rechtsausübung bei Verstoß gegen Abstandsflächen durch die Antragstellerin, Unbestimmtheit der Baugenehmigung, Treu und Glauben, Bestandsschutz
Vorinstanz:
VG Regensburg, Beschluss vom 26.06.2023 – RO 2 S 23.979
Fundstelle:
BeckRS 2023, 26239

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragstellerin hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu tragen.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 7.500,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin begehrt die Abänderung des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichts Regensburg vom 26. Juni 2023 und die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage, mit der sie sich als Nachbarin gegen Baugenehmigungsbescheide für den Neubau von drei Mehrfamilienhäusern und Sanierung zweier Bestandsgebäude wendet.
2
Gegen den der Beigeladenen erteilten Baugenehmigungsbescheid vom 21. März 2022 erhob die Antragstellerin am 7. April 2022 Klage unter dem Aktenzeichen RO 2 K 22.1118, über die noch nicht entschieden ist.
3
Mit Bescheid vom 1. Dezember 2022 erteilte die Antragsgegnerin der Beigeladenen einen Bescheid für eine Änderung der Baugenehmigung vom 21. März 2022. Hiergegen wurde kein Rechtsbehelf eingelegt.
4
Am 9. Mai 2023 erging ein Ergänzungsbescheid an die Beigeladene.
5
Am 31. Mai 2023 beantragte die Antragstellerin Eilrechtsschutz und erweiterte ihren Antrag und ihre Klage auch auf den Ergänzungsbescheid vom 9. Mai 2023.
6
Mit Beschluss vom 26. Juni 2023 lehnte das Verwaltungsgericht Regensburg den Eilantrag der Antragstellerin ab. Es sei davon auszugehen, dass der erhobenen Anfechtungsklage keine Erfolgsaussichten zukämen. Insbesondere verstieße das streitgegenständliche Vorhaben im Hinblick auf den Neubau 1 voraussichtlich nicht gegen die Regelungen des Abstandsflächenrechts. Es seien jedenfalls die Voraussetzungen einer Abweichung nach Art. 63 Abs. 1 BayBO erfüllt. Im Hinblick auf die Außentreppe sei keine Verletzung des bauplanungsrechtlichen Gebots der Rücksichtnahme gegeben. Die Nutzung einer Außentreppe stelle sich grundsätzlich als lärmneutral dar. Auch aus der geltend gemachten unzumutbaren Einsichtsmöglichkeit ergebe sich keine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme. Schließlich sei auch nicht von einer nachbarrechtlich relevanten Unbestimmtheit der Genehmigung auszugehen. So sei die erhobene Anfechtungsklage nicht bereits deshalb voraussichtlich erfolgreich, weil derzeit die genaue Genehmigungslage gewisse Unklarheiten aufweise. Soweit die in der Ursprungsgenehmigung verzeichneten Standorte tatsächlich so mit dem Konzept der Änderungsgenehmigung nicht vereinbar seien, wäre dies ein Problem der tatsächlichen Bauausführung der Bauherrin und keine Frage der nachbarrechtlich relevanten Rechtmäßigkeit der streitgegenständlichen Genehmigung. Eine Nichtigkeit der Genehmigungslage sei durch die widersprüchlichen Darstellungen in den Plänen im Hinblick auf die Standorte der Luftwärmepumpen noch nicht gegeben. Zudem sei auch im Hinblick auf die Luftwärmepumpen nicht von einer Verletzung des bauplanungsrechtlichen Gebots der Rücksichtnahme auszugehen, etwaige Unsicherheiten im Hinblick auf die Gebietseinstufung führten allenfalls zu offenen Erfolgsaussichten.
7
Mit der Beschwerde verfolgt die Antragstellerin ihr Rechtsschutzziel weiter und beantragt,
8
den Beschluss des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 26. Juni 2023 abzuändern und die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage vom 7. April 2022 gegen den Bescheid vom 21. März 2022 in Gestalt des Ergänzungsbescheids vom 9. Mai 2023 anzuordnen.
9
Die Antragsgegnerin und die Beigeladene treten dem Vorbringen entgegen und beantragen jeweils,
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die Beschwerde zurückzuweisen.
11
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten im Klage- und Eilverfahren in beiden Instanzen und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
12
Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Aus den im Beschwerdeverfahren vorgetragenen Gründen, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Sätze 1 und 6 VwGO), ergibt sich nicht, dass der Beschluss des Verwaltungsgerichts aufzuheben oder abzuändern wäre. Die vorzunehmende Abwägung der gegenseitigen Interessen geht demnach zulasten der Antragstellerin aus.
13
1. Das Verwaltungsgericht hat im Ergebnis zu Recht die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 21. März 2022 in Gestalt des Ergänzungsbescheids vom 9. Mai 2023 nicht angeordnet, da die Klage keine Erfolgsaussichten haben dürfte, weil die streitgegenständlichen Bescheide rechtmäßig sein und die Antragstellerin nicht in ihren Rechten verletzen dürften.
14
a) Im Rahmen der hier gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung der Erfolgsaussichten spricht einiges dafür, dass sich, wie das Verwaltungsgericht auf S. 26 seines Beschlusses angedeutet hat, die Antragstellerin nach Treu und Glauben analog § 242 BGB nicht auf eine Verletzung der Abstandsflächen durch das streitgegenständliche Vorhaben berufen kann. Nach den vorgelegten Behördenakten, Plänen und Lichtbildern (vgl. Bl. 241 ff. der Genehmigungsakten mit den Plänen zum Baugenehmigungsbescheid vom 3.8.2005 der … … … … … Az.: …*) dürfte die Antragstellerin die Abstandsflächen selbst durch eine über 9 m lange Mauer und Lamellenkonstruktion an der Grundstücksgrenze zum streitgegenständlichen Vorhaben verletzen. Aus dem Plan der Bauvorlage vom 3. November 2021 (Ansichten und Schnitte Neubau 1 und 2 Lageplan), der mit Bescheid vom 1. Dezember 2022 genehmigt wurde, ist ersichtlich, dass schon die Mauer ca. 4 m hoch ist. Die Lamellenkonstruktion darüber ist mehr als 2 m hoch.
15
Maßgeblich ist allein, dass der klagende Nachbar den jetzt erforderlichen Grenzabstand nicht einhält. Unerheblich ist demnach, ob die Antragstellerin Bestandschutz genießt oder ob die Antragstellerin sich rechtmäßig verhält (vgl. BayVGH, B.v. 2.5.2023, 2 ZB 22.2484 – juris Rn. 7; BayVGH, B.v. 11.8.2023, 15 ZB 22.1617 – juris Rn. 12). Voraussetzung dafür, dass ein Nachbar sich nach Treu und Glauben gegenüber einer Baugenehmigung nicht auf die Verletzung einer nachbarschützenden Vorschrift berufen kann, ist, dass die beidseitigen Abweichungen etwa gleichgewichtig sind und nicht zu schlechthin, untragbaren, als Missstand zu qualifizierenden Verhältnissen führen (BayVGH, B.v. 2.5.2023, 2 ZB 22.2484 – juris Rn. 8; BayVGH, B.v. 11.8.2023, 15 ZB 22.1617 – juris Rn. 15).
16
Wenn man der Auffassung wäre, die Außentreppe würde Abstandsflächen auslösen, da, anders als die Beigeladene meint, Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Nr. 3 BayBO nicht einschlägig ist, ist hier offensichtlich, dass die Abstandsflächenabweichung der Antragstellerin eindeutig größer ist als eine durch die Außentreppe ausgelöste Abstandsfläche von 1,52 qm durch die Beigeladene. Daher kommt es auf die von der Antragstellerin aufgeworfene Frage, ob eine Abweichung zu Recht erteilt wurde, nicht an.
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b) Die Antragstellerin ist weiter der Auffassung, dass die Baugenehmigung im Hinblick auf die Standorte der Wärmepumpen zu unbestimmt sei. Dies trifft jedoch nicht zu.
18
Zwar sind in den Plänen der Genehmigung vom 21. März 2022 und der Änderungsgenehmigung vom 1. Dezember 2022 die Wärmepumpen an anderen Stellen eingezeichnet (vgl. Pläne Grundriss Ebene 0 ECLI:M:1000), jedoch geht aus dem Tenor unter I. des Genehmigungsbescheides vom 1. Dezember 2022 hervor: „Die Baugenehmigung vom 21. März 2022 gilt weiter, sofern diese im Einzelnen nicht durch diese Änderungsgenehmigung aufgehoben bzw. abgeändert wird. Gegenstand dieser Änderung sind folgende Maßnahmen: Entfall der Tiefgarage, Herstellen von 4 Garagenstellplätzen im Erdgeschoss des Neubaus 1 mit Entfall einer Wohneinheit, Herstellen eines Carsharing-Stellplatzes im Innenhof, weitere geringfügige Grundrissänderung, Erstellung von insgesamt 21 Wohneinheiten.“ Im Plan Grundriss Ebene 0 sind die Änderungen mit roten „Wolken“ eingezeichnet. Um die Wärmepumpen wurde keine derartige rote „Wolke“ gezeichnet. Demnach sollte der Standort, auch wenn er in diesem Plan anders eingezeichnet ist, durch die Genehmigung vom 1. Dezember 2022 nicht verändert werden, zumal auch hinsichtlich der Maßnahmen, die geändert werden sollen, die Wärmepumpen nicht erwähnt werden.
19
Im Tenor unter 1. der Genehmigung vom 9. Mai 2023 wurde der Bescheid vom 21. März 2022 wie folgt ergänzt: Die folgenden mit Genehmigungsvermerk vom 9. Mai 2023 versehenen Unterlagen werden nachträglich zum Bestandteil der Baugenehmigung erklärt: Stellungnahme der … … … vom 21.12.2020, Stellungnahme der … … … vom 16.12.2022, Negativattest Tonhaltigkeit der … … … … vom 23.12.2020 und Identifikationserklärung der … … … … vom 19.11.2020. Es wurden zudem Auflagen zu den Wärmepumpen ergänzt. Geänderte Baupläne gibt es hinsichtlich der Wärmepumpen demnach nicht. Vielmehr ist in den Skizzen der Stellungnahme der … … … vom 21. Dezember 2020 erkennbar, dass die zwei Wärmepumpen an den Standorten stehen, die auch in dem am 21. März 2022 genehmigten Bauplan Grundriss Ebene 0 ECLI:M:1000 eingezeichnet sind.
20
Daher gelten die ursprünglichen Standorte in der Genehmigung vom 21. März 2022 als genehmigt. Die Baugenehmigung ist demnach nicht unbestimmt. Aber selbst wenn die Baugenehmigung insoweit zu unbestimmt wäre und insoweit offene Erfolgsaussichten bestünden, ist das Verwaltungsgericht zu Recht davon ausgegangen, dass die Interessenabwägung zugunsten der Fortführung der Bauarbeiten der Beigeladenen ausfällt, da es technische Möglichkeiten zur Problembehebung geben dürfte.
21
c) Hinsichtlich einer Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme aufgrund von Lärmbelästigungen und Einsichtsmöglichkeiten durch die Außentreppe kommt die Antragstellerin ihrer Darlegungslast nicht nach. Ohne sich insoweit substantiiert mit den Ausführungen des Verwaltungsgerichts auseinander zu setzen, genügt die bloße Behauptung einer solchen Verletzung des Rücksichtnahmegebotes nicht. Nachdem die Standorte der Wärmepumpen, anders als von der Antragstellerin ausgeführt, nicht unbestimmt sind, geht auch der Vorwurf, es liege eine Verletzung des Rücksichtnahmegebotes aufgrund der Wärmepumpen vor, fehl. Die Antragstellerin konnte auch keine nachvollziehbaren Gründe vorbringen, weswegen eine Interessenabwägung zu ihren Gunsten getroffen werden sollte.
22
2. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO. Da die Beigeladene im Beschwerdeverfahren einen eigenen Antrag gestellt hat und damit auch ein Kostenrisiko übernommen hat (vgl. § 154 Abs. 3 VwGO), entspricht es der Billigkeit, dass diese ihre außergerichtlichen Kosten erstattet erhält (§ 162 Abs. 3 VwGO).
23
3. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG i.V.m. Nr. 1.5, 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013. Sie folgt der Festsetzung des Verwaltungsgerichts, gegen die keine Einwendungen erhoben wurden.
24
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).