Inhalt

VGH München, Beschluss v. 11.09.2023 – 13a ZB 23.30618
Titel:

Erfolgloser Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung in einem asylrechtlichen Verfahren (Türkei)

Normenkette:
AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 1
Leitsatz:
Sind Angaben des Ausländers zu seinem individuellen Verfolgungsschicksal nicht glaubhaft, sind abstrakte Fragen zur Bedrohungslage nicht entscheidungserheblich, weshalb sie nicht die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung rechtfertigen können, auch wenn das Verwaltungsgericht hilfsweise auf diese Fragen eingegangen ist. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylrecht Türkei, Grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache, Klärungsbedürftigkeit, Klärungsfähigkeit, Verfahrensmangel (verneint), Anspruch auf rechtliches Gehör, Zurückweisung verspäteten Vorbringens, Wahrunterstellung des klägerischen Vortrags, Berufung, Zulassung, grundsätzliche Bedeutung, Entscheidungserheblichkeit
Vorinstanz:
VG Augsburg, Urteil vom 21.06.2023 – Au 3 K 22.31188
Fundstelle:
BeckRS 2023, 26234

Tenor

I. Der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 21. Juni 2023 – Au 3 K 22.31188 – wird abgelehnt.
II. Die Kläger haben die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

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Der Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Augsburg vom 21. Juni 2023 bleibt ohne Erfolg. Gründe nach § 78 Abs. 3 AsylG, aus denen die Berufung zuzulassen ist, sind nicht dargelegt.
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Zur Begründung ihres Zulassungsantrags tragen die Kläger zunächst vor, die Rechtssache habe grundsätzliche Bedeutung (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG). Es sei obergerichtlich die grundsätzliche Frage zu klären,
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„ob eine vorverfolgt aus der Türkei ausgereiste Alevitin, die eine mehrjährige CHP-Mitgliedschaft hat, und auf zahlreichen Demonstrationen aktiv war, wegen Präsidialbeleidigung ein Strafverfahren gegen sie eingeleitet wurde, aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit diskriminiert und verfolgt wurde, entlassen wurde, im Fall ihrer Rückkehr in die Türkei aufgrund dieses Agierens, hinreichend sicher von politischer Verfolgung und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ist. Die Frage der Präsidialbeleidigung, die in letzter Zeit in zahlreichen Fällen zu verhandeln ist, bedarf der grundsätzlichen Klärung.“
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Die Kläger haben insoweit zur Begründung erklärt, der Klägerin zu 1), Mutter des volljährigen Klägers zu 2), sei aufgrund ihrer freien Meinungsäußerung der Prozess gemacht worden, sie habe über Twitter Präsident Erdogan als Dieb und Mörder bezeichnet. Präsidialbeleidigungen würden in der Türkei zum Anlass genommen, politisch aktive Menschen als Gegner mundtot zu machen. Dies gelte auch für politisch aktive Aleviten. Ihr drohe bei Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung in Form der Einleitung eines Strafverfahrens wegen Präsidentenbeleidigung. Sie sei in der Türkei eine aktive politische Bürgerin gewesen und auf der Seite der Menschen gestanden, die mehr Bürger- und Freiheitsrechte verlangten. Sie habe an mehreren Veranstaltungen teilgenommen, um gegen das Unterdrückungs- und Verbotsregime in der Türkei vorzugehen. Dies habe sie in ihrer gewerkschaftlichen Arbeit und als Mitglied der CHP getan. Ergänzend haben die Kläger umfangreich zur politischen Situation in der Türkei nach dem Putschversuch im Jahr 2016 vorgetragen, insbesondere mit Blick auf die HDP und PKK und Menschen, die als deren Unterstützer angesehen würden. Es bestehe für sie eine verfolgungsrelevante Rückkehrgefährdung. Das Erstgericht habe sich weiter nicht mit der Thematik einer möglichen Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Fall ihrer Rückkehr in die Türkei auseinandergesetzt und sich nicht ausreichend mit den grundsätzlichen Fragen der Präsidialbeleidigung befasst, die schon in Anlehnung an ein EGMR-Urteil vom 19. Oktober 2021 (Az. 42048/19) zu einer unverhältnismäßigen Strafverfolgung führe.
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Der Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) setzt voraus, dass die im Zulassungsantrag dargelegte konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war, ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und ihr eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 124 Rn. 36). Die Grundsatzfrage muss nach Maßgabe des Verwaltungsgerichtsurteils rechtlich aufgearbeitet sein. Dies erfordert regelmäßig eine Durchdringung der Materie und eine Auseinandersetzung mit den Erwägungen des Verwaltungsgerichts (vgl. BayVGH, B.v. 24.1.2019 – 13a ZB 19.30070 – juris Rn. 5; B.v. 21.12.2018 – 13a ZB 17.31203 – juris Rn. 4; B.v. 13.8.2013 – 13a ZB 12.30470 – juris Rn. 4 m.w.N.).
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Hiervon ausgehend kommt eine Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung nicht in Betracht.
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Soweit mit der Frage eine Gruppenverfolgung alevitischer Religionszugehöriger in der Türkei thematisiert werden sollte, sind die Darlegungsanforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG nicht erfüllt. Denn die Klägerin setzt sich schon nicht hinreichend mit den Erwägungen des Verwaltungsgerichts (UA Rn. 30ff.) auseinander (vgl. zu den Darlegungsvoraussetzungen bei einer auf tatsächliche Anhaltspunkte gestützten Grundsatzrüge: BayVGH, B.v. 4.4.2019 – 13a ZB 18.30490 – juris Rn. 6 m.w.N.; OVG Saarl, B.v. 8.5.2019 – 2 A 166/19 – juris Rn. 13; OVG NW, B.v. 18.2.2019 – 13 A 4738/18.A – juris Rn. 5). Relevante Erkenntnismittel, welche die diesbezügliche Bewertung des Verwaltungsgerichts in Frage stellen würden, werden nicht genannt. Von einer Durchdringung der Materie kann keine Rede sein.
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Die konkret aufgeworfene Frage der Behandlung vorverfolgter alevitischer Religionszugehöriger mit mehrjähriger CHP-Mitgliedschaft bei Rückkehr in die Türkei wäre im Berufungsverfahren nicht klärungsfähig (vgl. hierzu Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 124 Rn. 37). Sie war für das Verwaltungsgericht bereits nicht entscheidungserheblich. Denn dieses ist in seinem Urteil vom 21. Juni 2023 mit ausführlicher Begründung zu dem Ergebnis gelangt, dass die Angaben der Klägerin zu 1) zu ihrem individuellen Verfolgungsschicksal insgesamt unglaubhaft, widersprüchlich, unsubstantiiert und zum Teil gesteigert seien (UA Rn. 35ff.) und hat bereits deshalb eine individuelle flüchtlingsrelevante Verfolgung verneint. Lediglich hilfsweise hat das Verwaltungsgericht auch bei Wahrunterstellung des Vortrags eine flüchtlingsrelevante Verfolgung nicht erkennen können (UA Rn 41, 42). Die von den Klägern aufgeworfene Frage ist überdies ersichtlich vom Einzelfall abhängig und einer allgemeinen Klärung nicht zugänglich.
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Soweit schließlich die Frage der Strafverfolgung wegen Präsidentenbeleidigung nach Art. 299 tStGB angesprochen wird, setzen sich die Kläger wiederum nicht hinreichend mit den Erwägungen des Verwaltungsgerichts auseinander (UA Rn. 43ff.). Die Frage ist zudem in der obergerichtlichen Rechtsprechung geklärt und mithin nicht klärungsbedürftig (vgl. umfassend BayVGH, B.v. 9.2.2023 – 13a ZB 22.30152 – juris Rn. 8ff.).
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Letztlich stellen die Kläger mit dem Zulassungsantrag die Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts in Frage. Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils nach § 78 Abs. 3 AsylG keinen Grund für die Zulassung der Berufung darstellen (vgl. BayVGH, B.v. 8.2.2019 – 13a ZB 18.31906 – juris Rn. 4; B.v. 29.6.2018 – 9 ZB 18.31509 – juris Rn. 9; B.v. 17.5.2018 – 20 ZB 18.31049 – juris Rn. 3).
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Weiter machen die Kläger geltend, die Berufung sei zuzulassen, weil ihnen das rechtliche Gehör versagt worden sei (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO). Das Verwaltungsgericht habe von ihnen vorgelegte Unterlagen als verspätetes Vorbringen gewertet und sich mit deren Inhalt und dem Sachvortrag nicht ausreichend auseinandergesetzt. Die Klägerin zu 1) habe Unterlagen in türkischer Sprache vorgelegt und Zeit benötigt, diese in die deutsche Sprache übersetzen zu lassen, damit ihr nicht der Einwand der deutschen Gerichtssprache entgegengehalten werde. Der Prozessbevollmächtigte habe die Verlegung des Termins zur mündlichen Verhandlung beantragt, um Zeit für die Anfertigung der erforderlichen Übersetzung zu gewinnen. Diesem Ansinnen sei das Gericht jedoch nicht nachgekommen.
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Das rechtliche Gehör als prozessuales Grundrecht sichert den Parteien ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können, insbesondere, dass sie mit ihren Ausführungen und Anträgen gehört werden (BVerfG, B.v. 30.4.2003 – 1 PBvU 1/02 – BVerfGE 107, 395/409 = NJW 2003, 1924; BayVGH, B.v. 14.3.2018 – 13a ZB 18.30454 – juris Rn. 5). Es gewährleistet im Sinn der Wahrung eines verfassungsrechtlich gebotenen Mindestmaßes, dass ein Kläger die Möglichkeit haben muss, sich im Prozess mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten zu behaupten (BVerfG, B.v. 21.4.1982 – 2 BvR 810/81 – BVerfGE 60, 305/310). Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Gerichte von ihnen entgegengenommenes Parteivorbringen zur Kenntnis genommen und in Erwägung gezogen haben. Sie sind dabei nicht verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu befassen. Deshalb müssen, damit ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG festgestellt werden kann, im Einzelfall besondere Umstände deutlich machen, dass tatsächliches Vorbringen entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder doch bei der Entscheidung nicht erwogen worden ist. Wird die Gehörsrüge hierauf gestützt, bedarf es der Darlegung, welches Vorbringen das Gericht nicht zur Kenntnis genommen oder nicht in Erwägung gezogen hat und unter welchem denkbaren Gesichtspunkt das nicht zur Kenntnis genommene oder nicht erwogene Vorbringen für die Entscheidung hätte von Bedeutung sein können (BVerfG, B.v. 25.9.2020 – 2 BvR 854/20 – juris Rn. 26 m.w.N.; BVerwG, B.v. 2.5.2017 – 5 B 75.15 D – juris Rn. 11; B.v. 24.2.2016 – 3 B 57/15 u.a. – juris Rn. 2; U.v. 18.12.2014 – 4 C 35.13 – NVwZ 2015, 656, juris Rn. 42; BayVGH, B.v. 8.10.2018 – 15 ZB 18.31366 – juris Rn. 3 m.w.N.; B.v. 30.10.2018 – 13a ZB 17.31034 – juris Rn. 15 m.w.N.).
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Hieran gemessen ist vorliegend kein Gehörsverstoß erkennbar. Ein solcher ergibt sich zunächst nicht aus der Ablehnung des Verlegungsantrags. Das Verwaltungsgericht hat den im Schriftsatz vom 13. Juni 2023 im Zusammenhang mit der Vorlage der weiteren Unterlagen enthaltenen Antrag der Kläger auf Verlegung des Termins zur mündlichen Verhandlung vom 20. Juni 2023 mit Beschluss vom 16. Juni 2023 abgelehnt, weil es keinen erheblichen Grund nach § 173 VwGO i.V.m. § 227 Abs. 1 Satz 1 ZPO gesehen hat (Blatt 67 der Gerichtsakten des Erstverfahrens). Es sei schon nicht vorgetragen, dass die Klägerin oder ihr Bevollmächtigter nicht zur mündlichen Verhandlung erscheinen könnten. Zudem sei davon auszugehen, dass die ergänzend vorgelegten Unterlagen aus dem Strafverfahren der Klägerin zu 1) verspätet seien. Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass eine verfahrensfehlerhafte Ablehnung eines Verlegungsantrags für sich keinen Zulassungsgrund nach § 78 Abs. 3 AsylG darstellt. Die Berufung ist nach § 78 Abs. 3 AsylG nicht bei jedem Verfahrensmangel zuzulassen, § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG spricht vielmehr nur die in § 138 VwGO genannten Verfahrensmängel an. Hierzu gehört ein fehlerhaft abgelehnter Verlegungsantrag nur dann, wenn er zu einer Verletzung des rechtlichen Gehörs führt (§ 138 Nr. 3 VwGO). Dass vorliegend durch die Ablehnung des Verlegungsantrags durch das Verwaltungsgericht der Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör verkürzt worden wäre, ist jedoch nicht erkennbar. Die Kläger waren im Termin zur mündlichen Verhandlung jeweils mit ihrem Bevollmächtigten anwesend und wurden umfassend angehört.
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Ein Gehörsverstoß ist auch nicht mit Blick auf eine Zurückweisung der mit dem klägerischen Schriftsatz vom 13. Juni 2023 ergänzend vorgelegten türkischsprachigen Auszüge aus der türkischen Ermittlungsakte anzunehmen. Ungeachtet des Umstands, dass das Verwaltungsgericht die Vorlage der Unterlagen als verspätet ansah (vgl. Beschluss vom 16. Juni 2023 Rn. 3; UA Rn. 51) hat es gleichwohl den behaupteten Inhalt dieser Unterlagen zur Kenntnis genommen. Insbesondere hat sich das Verwaltungsgericht auch die dem Ermittlungsverfahren zu Grunde liegende Twitter-Nachricht und den Tatvorwurf von der anwesenden Dolmetscherin in der mündlichen Verhandlung übersetzen lassen (vgl. S. 8 des Sitzungsprotokolls) und in der Entscheidung berücksichtigt. Es ist dabei jedoch zu dem Ergebnis gelangt, dass selbst bei Wahrunterstellung des klägerischen Vortrags zum Inhalt der vorgelegten Unterlagen eine Flüchtlingseigenschaft nicht begründet wäre (vgl. UA Rn. 52). Ein Gehörsverstoß lässt sich bereits aus diesem Grund nicht feststellen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.