Inhalt

VGH München, Beschluss v. 16.08.2023 – 3 ZB 23.30036
Titel:

rechtmäßiger Widerruf eines Abschiebeverbots (Asyl- Nigeria)

Normenketten:
AufenthG § 60 Abs. 5
AsylG § 73c Abs. 2 (idF bis zum 31.12.2022)
Leitsatz:
Es gibt keinen Rechtssatz, wonach ab einer bestimmten Anzahl minderjähriger Kinder das Existenzminimum einer alleinerziehenden Mutter in Nigeria nicht mehr gewahrt werden kann. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylrecht Nigeria, Widerruf eines Abschiebeverbots, Widerrufsvoraussetzungen, alleinerziehende Mutter mit drei Kleinkindern, bestehende Schwangerschaft, Existenzsicherung in Nigeria, Widerruf eines Abschiebungsverbots, Nigeria, alleinerziehende Mutter, Existenzsicherung
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 30.11.2022 – M 15 K 20.31789
Fundstelle:
BeckRS 2023, 22056

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Kläger tragen die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

1
Der Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg. Die geltend gemachten Zulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG, nicht mehr: AsylVfG) und der Verletzung rechtlichen Gehörs (§ 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO) liegen nicht vor bzw. sind schon nicht hinreichend dargelegt (§ 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG).
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1. Die Berufung ist nicht wegen der geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung zuzulassen. Die Darlegung der rechtsgrundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) verlangt, dass eine konkrete Tatsachen- oder Rechtsfrage formuliert und aufgezeigt wird, weshalb die Frage im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Fortentwicklung des Rechts klärungsbedürftig und klärungsfähig, insbesondere entscheidungserheblich, ist; ferner, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung dieser Frage besteht. Hieran fehlt es vorliegend.
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1.1 Die Kläger formulieren als grundsätzlich zu klärende Fragen:
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„a.) Ist bei einem Widerruf nicht eine Bindung an die vorhergehende Entscheidung (Feststellung eines Abschiebungsverbotes als alleinerziehende mit damals noch zwei Kindern) gegeben, wenn sich hinsichtlich der zu prüfenden neuen Umstände (Alleinerziehend und jetzt vier Kinder) die gleichen Tatsachenfeststellungen ergeben, wie bei der ursprünglichen Feststellung (Abschiebeverbot, weil Alleinerziehende nicht in der Lage, den Lebensunterhalt nach Rückkehr zu sichern)?
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b.) Ist bei der Prüfung der Frage, ob eine arbeitsfähige, junge und gesunde Alleinerziehende in der Lage sein wird, für sich und ihre Kinder den Lebensunterhalt zu erwirtschaften, nicht ein erheblicher Unterschied zu machen, ob nur drei anstatt vier Kinder existenziell abzusichern sind
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und ist bei der Prüfung dieser Frage nicht auch ein Unterschied zu machen, ob ob nicht eines der Kinder sich noch im Babyalter befindet?
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Bei der Frage a.) gehe es darum, ob eine vorangegangene, später widerrufene Entscheidung „Bindungswirkung“ hinsichtlich ihrer Begründung entfalte, bei Frage b.) darum, ob ein zusätzliches „Kind/…Baby…nicht eine völlig andere Einzelfallentscheidung“ nach sich ziehe. Beide Fragen habe das Verwaltungsgericht nicht geprüft und wäre andernfalls nach ihrer Beantwortung zu einer anderen Beurteilung der Frage der Existenzsicherung einer alleinerziehenden Mutter gekommen.
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1.2 Soweit die Kläger mit ihrem in Frageform gefassten Vortrag die materiellrechtliche Richtigkeit der Widerrufsentscheidung rügen, werfen sie damit keine der Grundsatzrüge zugänglichen klärungsbedürftigen Fragen auf. Mit der Grundsatzrüge kann nicht geltend gemacht werden, dass die angegriffene Entscheidung unter bestimmten, vom Verwaltungsgericht nicht geteilten Annahmen anders ausgefallen wäre oder ausfallen hätte können. Ob die Voraussetzungen eines Abschiebeverbots nach § 60 Abs. 5 AsylG vorliegen oder nicht, bleibt einer nach sämtlichen maßgeblichen Umständen des Einzelfalls anzustellenden Betrachtung vorbehalten. Dabei stellt die Anzahl der von einer alleinerziehenden Mutter zu versorgenden unterhaltsberechtigten Kinder im Hinblick auf das im Heimatland zu sichernde Existenzminimum ein beachtliches Kriterium dar, ohne dass deswegen die weiteren, konkret zu erwartenden Lebensumstände im Heimatland ausgeblendet werden dürften. Eine Klärungsbedürftigkeit besteht nicht. Einen Rechtssatz, wonach ab einer bestimmten Anzahl minderjähriger Kinder das Existenzminimum einer alleinerziehenden Mutter in Nigeria nicht mehr gewahrt werden kann, gibt es nicht.
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Dementsprechend betrachtet das angefochtene Urteil (UA Rn. 20) sämtliche Einzelfallumstände. Im Übrigen übersehen die aufgeworfenen Fragen, dass die Klägerin zu 1 im maßgeblichen Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keine vierfache, sondern eine dreifache, wenn auch erneut schwangere Mutter war, und sich ihr drittes, am ... 2019 geborenes und am Verfahren nicht beteiligtes Kind nicht mehr im Babyalter befand.
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1.3 Soweit die Kläger die Frage aufwerfen, ob der mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 2. Juni 2020 widerrufenen Feststellung des Abschiebeverbots (Bescheid des Bundesamts v. 31.5.2017) nicht eine „Bindungswirkung“ dergestalt zukomme, dass ein Widerruf nach den aktuellen Verhältnissen angesichts des dritten und eines weiteren zu erwartenden Kindes der (nach wie vor alleinerziehenden) Klägerin zu 1 erst recht ausscheide, sind damit keine grundsätzlichen, bislang ungeklärten Rechtsfragen verbunden.
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Die Beklagte ist im Widerrufsbescheid vom 2. Juni 2020 davon ausgegangen, dass die Klägerin zu 1 mit ihrem Lebensgefährten, dem Vater des Klägers zu 3 und des dritten Kindes, als Familie zusammenlebt und er daher als ausreisepflichtigen nigerianischer Staatsangehöriger mit den Klägern nach Nigeria zurückkehren werde. Es sei daher davon auszugehen, dass er zur Existenzsicherung der Familie auch in Nigeria beitragen werde. Das Verwaltungsgericht ist demgegenüber im Rahmen einer hypothetischen Rückkehrprognose zu der Auffassung gelangt, dass die Klägerin zu 1 seit September 2020 von ihrem Lebensgefährten getrennt lebe und daher von einer gemeinsamen Rückkehr nicht ausgegangen werden könne. Gleichwohl hat es angenommen, dass die Klägerin zu 1 für sich und ihre (nunmehr) drei Kinder den Lebensunterhalt in Nigeria erwirtschaften könne und hat insoweit verschiedene Überlegungen angestellt.
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Gemäß § 73c Abs. 2 AsylG a.F. ist ein festgestelltes Abschiebungsverbot zwingend zu widerrufen, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen aufgrund einer dauerhaft geänderten Sachlage nicht mehr gegeben sind; erst wenn also eine geänderte Grundlage für die Gefahrenprognose bei dem Abschiebeverbot besteht, ist zu prüfen, ob nicht aus anderen Gründen Abschiebungsschutz zu gewähren ist (BVerwG, U.v. 29.9.2011 – 10 C 24.10 – juris Rn. 15-17 zu § 73 Abs. 3 AsylVfG). Das Verwaltungsgericht hat zwar diese Zusammenhänge in abstrakter Weise dargestellt (UA Nr. 16, 17), jedoch versäumt, die dem maßgeblichen Abschiebeverbot nach dem Bescheid des Bundesamts vom 31. Mai 2017 zugrundeliegenden tatsächlichen Feststellungen zu benennen und daraufhin zu untersuchen, ob sie sich in tatsächlicher Hinsicht verändert haben. In diesem Zusammenhang wäre zu überlegen gewesen, ob nicht das Hinzutreten eines dritten, im Jahr 2019 geborenen Kleinkindes der zudem schwangeren Klägerin zu 1 die damalige Gefahrenprognose eher verstärkt als widerlegt. Der Klägerin zu 1 als alleinerziehender Mutter und ihren (damals) zwei Kleinkindern wurde aufgrund ihrer besonderen Situation ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Nigeria zuerkannt, weil ihr und ihren beiden Kindern dort eine wirtschaftliche Extremgefahr drohe (vgl. i. Einzelnen: Besch. des Bundesamts v. 31.5.2017, Seite 5, 6). Das Verwaltungsgericht befasst sich nicht mit der geforderten „beachtlichen Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse“; nur wenn eine solche zu bejahen ist, ist in einem zweiten Schritt zu prüfen, ob nationaler Abschiebungsschutz aus anderen Gründen besteht. Das Verwaltungsgericht prüft hingegen die abschiebungsrechtliche Situation so, wie es für ein Verpflichtungsbegehren auf (erstmalige) Zuerkennung eines Abschiebeverbots geboten gewesen wäre, und stellt nicht in Rechnung, dass mit der vorliegenden Anfechtungsklage die Aufhebung einer bestandskräftig zuerkannten Rechtsposition mit der Begründung, es liege keine erhebliche und dauerhafte Verhinderung der ursprünglichen Sachlage vor, abgewehrt werden soll.
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Allerdings wird auch vor diesem rechtlichen Hintergrund eine klärungsbedürftige Grundsatzfrage, über die im Rahmen eines Berufungsverfahrens zu entscheiden wäre, nicht aufgeworfen. Denn der soeben dargestellte rechtliche Zusammenhang ist durch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt. Sie wird auch vom Verwaltungsgericht nicht infrage gestellt. Eine möglicherweise unrichtige Umsetzung im einzelnen Falle ändert nichts daran, dass ein Bedürfnis nach einer obergerichtlichen Entscheidung nicht besteht.
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2. Die Berufung ist auch nicht im Hinblick auf die Verfahrensrüge („§ 78 Abs. 3 AsylVfG“), mit der das Vorliegen einer „das rechtliche Gehör der Kläger verletzenden Überraschungsentscheidung“ geltend gemacht wird, zuzulassen.
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Die Kläger tragen vor, es sei überraschend, dass das Gericht den in der mündlichen Verhandlung bekannt gegebenen Umstand einer im dritten Monat bestehenden Schwangerschaft der Klägerin zu 1 nicht berücksichtigt habe. Außerdem sei nicht gewürdigt worden, dass ihr bereits einmal vom Bundesamt unter Berücksichtigung nahezu gleicher sozialer Verhältnisse ein Abschiebungsverbot zuerkannt worden sei. Mit einem derartigen Ergebnis habe auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter unter Beachtung der von ihm zu verlangenden Sorgfalt nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht rechnen müssen.
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Damit ist ein nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO beachtlicher Verfahrensfehler in Form einer Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs infolge einer Überraschungsentscheidung nicht schlüssig vorgetragen. Eine solche ist nur dann anzunehmen, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten oder sonst hervorgetretenen rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der die Beteiligten nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens auch unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchten, und die Beteiligten sich dazu nicht äußern konnten (stRspr, vgl. BVerwG, B.v. 27.7.2015 – 9 B 33.15 – juris Rn. 8).
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Die Annahme im angefochtenen Urteil, Abschiebungsverbote hinsichtlich Nigeria seien für die Klägerin zu 1 und ihre drei Kinder – ohne Berücksichtigung der bestehenden Schwangerschaft – zu prüfen, bedeutet keine Überraschungsentscheidung im soeben dargestellten Sinn. Denn ausweislich der Niederschrift über die mündliche Verhandlung am 28. November 2022 wurde der Umstand, dass die Klägerin zu 1 im vierten Monat schwanger war, thematisiert, ohne dass damit bereits eine Entscheidung über die Berücksichtigung des noch ungeborenen Kindes im Rahmen der Frage der Existenzsicherung im Urteil verbunden war. Eine unzulässige Überraschungsentscheidung liegt nicht vor, wenn das Gericht Tatsachen, zu denen sich die Kläger äußern konnten, in einer Weise würdigt, die nicht ihren subjektiven Erwartungen entspricht.
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Das Verwaltungsgericht war insbesondere auch nicht verpflichtet, die ihm obliegende abschließende Sachverhalts- und Beweiswürdigung vorab mit den Beteiligten in der mündlichen Verhandlung zu erörtern. Materiellrechtlich ist im Übrigen maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse derjenige der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG), zu welchem die Klägerin zu 1 jedenfalls dreifache Mutter war. Schließlich vermag auch der Hinweis auf den (widerrufenen) Bescheid vom 31. Mai 2017 eine Überraschungsentscheidung nicht zu begründen, denn im vorliegenden Verfahren bildeten gerade seine Aufhebung und deren rechtliche Voraussetzungen den Streitgegenstand. Ohne Bedeutung für die Frage, ob eine Überraschungsentscheidung vorliegt, ist ihre inhaltliche Richtigkeit.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.
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Mit dieser gemäß § 80 AsylG unanfechtbaren Entscheidung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 78 Abs. 5 Satz 2 AsylG).