Inhalt

VGH München, Beschluss v. 20.06.2023 – 2 ZB 22.231
Titel:

Abgelehnte Baugenehmigung für Ersatzbau

Normenketten:
BauGB § 34
BauNVO § 22
Leitsätze:
1. Ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme kann grundsätzlich vorliegen, wenn ein Vorhaben zwar in jeder Hinsicht den aus seiner Umgebung hervorgehenden Rahmen wahrt, sich aber gleichwohl in seine Umgebung nicht einfügt, weil das Vorhaben es an der gebotenen Rücksicht auf die sonstige, also vor allem auf die in seiner unmittelbaren Nähe vorhandene Bebauung fehlen lässt. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
2. Drittschutz wird gewährt, wenn in qualifizierter und individualisierter Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist. (Rn. 6) (redaktioneller Leitsatz)
3. Bei einem Doppelhaus werden die benachbarten Grundeigentümer durch den wechselseitigen Verzicht auf seitliche Grenzabstände an der gemeinsamen Grundstücksgrenze bauplanungsrechtlich in ein Verhältnis des gegenseitigen Interessenausgleichs eingebunden, sodass ihre Baufreiheit zugleich erweitert und beschränkt wird; diese enge Wechselbeziehung, die jeden Grundeigentümer zugleich begünstigt und belastet, begründet ein nachbarliches Austauschverhältnis und legt dem Bauherrn eine Rücksichtnahmeverpflichtung dergestalt auf, das nicht einseitig aufgehoben oder aus dem Gleichgewicht gebracht werden darf. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Gebot der Rücksichtnahme, Abbruch einer Doppelhaushälfte, Nicht grenzständiges Mehrfamilienhaus als Ersatzbau, Baugenehmigung, Abbruch, Drittschutz, Rücksichtnahmegebot, Grenzabstand, Ersatzabau, Doppelhaus, Mehrfamilienhaus, Wechselbeziehung
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 08.11.2021 – M 8 K 19.6197
Fundstelle:
BeckRS 2023, 17204

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 50.000, – Euro festgesetzt.

Gründe

1
Der Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg. Die von der Klägerin geltend gemachten Berufungszulassungsgründe der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) und der besonderen rechtlichen oder tatsächlichen Schwierigkeit (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) liegen nicht vor.
2
1. Das Urteil des Verwaltungsgerichts begegnet im Rahmen des dargelegten Zulassungsvorbringens keinen ernstlichen Zweifeln an seiner Richtigkeit im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
3
Mit dem Verwaltungsgericht geht der Senat davon aus, dass die Klägerin keinen Anspruch auf die beantragte Baugenehmigung für den Neubau eines freistehenden Mehrfamilienhauses hat, das anstelle der bestehenden Doppelhaushälfte errichtet werden soll. Der diesen Bauantrag ablehnende Bescheid der Beklagten vom 12. November 2019 ist rechtmäßig und verletzt sie nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
4
Das Verwaltungsgericht hat seine ablehnende Entscheidung unter anderem tragend darauf gestützt, dass das streitgegenständliche Bauvorhaben gegen das Gebot der Rücksichtnahme verstößt. Diese Auffassung teilt der Senat.
5
Die beiden Gebäude auf den Grundstücken W.straße 25 und 27 bilden eine bauliche Einheit. Es wurden hier zwei Gebäudehälften in wechselseitig verträglicher und abgestimmter Weise an der gemeinsamen Grundstücksgrenze aneinandergebaut (vgl. BVerwG, B.v. 17.08.2011 – 4 B 25.11 – juris Rn. 5), so dass sie einen Gesamtbaukörper bilden und sich das Gesamtgebäude als bauliche Einheit darstellt. Es handelt sich daher vorliegend – dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig – um ein sog. Doppelhaus i.S.d. § 22 Abs. 2 Satz 1 BauNVO, wonach in der offenen Bauweise die Gebäude mit seitlichem Grenzabstand als Einzelhäuser, Doppelhäuser oder Hausgruppen errichtet werden. Nur als Gesamtgebäude hat dieses einen „seitlichen Grenzabstand“, also einen Grenzabstand vor den äußeren Seitenwänden (vgl. BVerwG, U.v. 24.2.2000 – 4 C 12.98 – juris Rn. 18).
6
Um das verfahrensgegenständliche Bauvorhaben, ein freistehendes Mehrfamilienhaus, verwirklichen zu können, muss die auf dem Grundstück W.straße 27 errichtete Gebäudehälfte abgerissen werden. Die Gebäudehälfte auf der W.straße 25 stünde danach einseitig auf der Grundstücksgrenze. Eine solche einseitige Aufhebung des Doppelhauses verstößt gegen das Gebot der Rücksichtnahme. Ein Verstoß gegen das Gebot der Rücksichtnahme kann grundsätzlich vorliegen, wenn ein Vorhaben zwar in jeder Hinsicht den aus seiner Umgebung hervorgehenden Rahmen wahrt, sich aber gleichwohl in seine Umgebung nicht einfügt, weil das Vorhaben es an der gebotenen Rücksicht auf die sonstige, also vor allem auf die in seiner unmittelbaren Nähe vorhandene Bebauung fehlen lässt (vgl. BVerwG, U.v. 5.12.2013 – 4 C 5.12 – juris Rn. 21). Drittschutz wird gewährt, wenn in qualifizierter und individualisierter Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist (vgl. BVerwG, U.v. 13.3.1981 – 4 C 1.78 – juris Rn. 35).
7
Nach der auch vom Erstgericht in Bezug genommenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Begriff des Doppelhauses (vgl. BVerwG, U.v. 24.2.2000 – 4 C 12.98 – juris Rn. 21) werden die benachbarten Grundeigentümer durch den wechselseitigen Verzicht auf seitliche Grenzabstände an der gemeinsamen Grundstücksgrenze bauplanungsrechtlich in ein Verhältnis des gegenseitigen Interessenausgleichs eingebunden. Ihre Baufreiheit wird zugleich erweitert und beschränkt. Durch die Möglichkeit des Grenzanbaus wird die bauliche Nutzbarkeit der (häufig schmalen) Grundstücke erhöht. Das wird durch den Verlust seitlicher Grenzabstände an der gemeinsamen Grenze, die Freiflächen schaffen und dem Wohnfrieden dienen, „erkauft“ (vgl. BVerwG, U.v. 5.12.2013 – 4 C 5.12 – juris Rn. 22). Diese enge Wechselbeziehung, die jeden Grundeigentümer zugleich begünstigt und belastet, begründet ein nachbarliches Austauschverhältnis und legt dem Bauherrn eine Rücksichtnahmeverpflichtung dergestalt auf, das nicht einseitig aufgehoben oder aus dem Gleichgewicht gebracht werden darf (vgl. BVerwG, U.v. 24.2.2000 – 4 C 12.98 – juris Rn. 21).
8
So liegt der Fall hier: Durch das verfahrensgegenständliche Bauvorhaben, das nicht an der Grenze, sondern unter Einhaltung der gesetzlichen Abstandsflächen errichtet werden soll, hebt die Bauherrin einseitig die zwischen den benachbarten Grundstückseigentümern begründete Schicksalsgemeinschaft auf. Zutreffend hat das Verwaltungsgericht hierzu ausgeführt, dass das nachbarliche Austauschverhältnis durch die vorgesehene einseitige Auflösung der Schicksalsgemeinschaft in einem Maße aus dem Gleichgewicht gebracht werden würde, das deutlich über das hinausgeht, was ein nicht auf die andere Haushälfte abgestimmter Anbau mit sich bringe. Der Nachbar, der hierdurch in seiner Rechtsstellung erheblich betroffen werde, bedürfe des Schutzes gegen eine einseitige Auflösung der Schicksalsgemeinschaft und könne nicht darauf verwiesen werden, er könne (auch) ein freistehendes Gebäude unter Wahrung der gesetzlichen Abstandsflächen errichten.
9
Mit den hiergegen erhobenen Einwänden dringt die Klägerin nicht durch. Soweit sie argumentiert, dass in der näheren Umgebung zumindest auch eine halboffene Bauweise vorherrsche und daher – anders als bei einer offenen Bauweise – der Abbruch einer Gebäudehälfte keinen einseitigen Ausbruch aus der Schicksalsgemeinschaft darstelle, weswegen auch die Zustimmung des grenzständigen Nachbarn hierzu nicht erforderlich sei, überzeugt dies nicht. Das Rücksichtnahmegebot in seiner besonderen Ausprägung bei Doppelhäusern oder Hausgruppen greift im hier zu entscheidenden Fall unabhängig von der ansonsten im Quartier möglicherweise auch vorhandenen Bauweise allein bereits deshalb ein, weil es sich bei dem Altbestand auf dem Baugrundstück unstreitig um einen Teil eines Doppelhauses handelt.
10
In Anbetracht der obigen Ausführungen kommt es auf den Vortrag der Klägerin zur Frage des Einfügens nach § 34 Abs. 1 BauGB im Hinblick auf das Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise der prägenden Umgebung sowie auf den Umgriff des prägenden Bereichs nicht an.
11
2. Der weiter geltend gemachte Zulassungsgrund nach § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO liegt ebenfalls nicht vor. Besondere tatsächliche oder rechtlichen Schwierigkeiten im Sinne dieser Vorschrift sind nur bei erheblich über dem Durchschnitt liegender Komplexität anzunehmen. Dies ist hier nicht der Fall. Auf die Abgrenzung der näheren Umgebung hinsichtlich des Maßes der baulichen Nutzung sowie hinsichtlich der Frage der offenen oder halboffenen Bauweise kommt es vorliegend bereits deswegen nicht an, da das Bauvorhaben – wie oben ausgeführt – bereits wegen des Verstoßes gegen das Gebot der Rücksichtnahme nicht genehmigungsfähig ist, und dies unabhängig davon, welche Bauweise im Zeitpunkt der Bauantragstellung in dem Gebiet prägend ist. Unabhängig davon wäre auch die Abgrenzung der prägenden Umgebung nicht von überdurchschnittlicher, das normale Maß übersteigender Schwierigkeit (vgl. BayVGH, B.v. 28.6.1999 – 19 ZB 97.1557 – juris Rn. 10). Der Rechtsstreit ist im tatsächlichen Bereich vielmehr überschaubar. Auch im rechtlichen Sinne liegt eine besondere Schwierigkeit nicht in der Frage, ob ein Bauherr gegen das Gebot der Rücksichtnahme verstößt, wenn er einseitig aus der durch ein Doppelhaus gebildeten Schicksalsgemeinschaft ausbricht. Diese Frage ist höchstrichterlich geklärt. Auf die Darlegungen unter Ziffer 1 wird verwiesen.
12
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
13
4. Die Streitwertentscheidung folgt aus §§ 47, 52 Abs. 1 GKG Koehl Dr. B2. Dr. N.