Titel:
Ausweisung, Türkischer Staatsangehöriger, Gewaltdelikt, Wiederholungsgefahr, Kinder deutscher Staatsangehörigkeit
Normenketten:
AufenthG § 53
AufenthG § 54 Abs. 1 Nr. 1
AufenthG § 55 Abs. 1 Nr. 1
Schlagworte:
Ausweisung, Türkischer Staatsangehöriger, Gewaltdelikt, Wiederholungsgefahr, Kinder deutscher Staatsangehörigkeit
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 08.11.2022 – 10 ZB 22.1875
Fundstelle:
BeckRS 2022, 58698
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Der am … geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Er hat fünf ältere Geschwister und vier Halbgeschwister. Seine Eltern trennten sich, als er drei Jahre alt war. Der Kläger hat in der Türkei das Gymnasium abgeschlossen und anschließend ein …- und …studium begonnen, das er im Jahr 1999 abgebrochen hat. Danach war er eineinhalb Jahre beim Militär. Nach Abschluss des Militärdienstes übernahm er die Leitung eines …geschäfts.
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Am … … 2004 heiratete der Kläger in der Türkei eine deutsche Staatsangehörige und reiste am 24. September 2004 mit einem Visum zum Familiennachzug in das Bundesgebiet ein, wo ihm am 11. Oktober 2004 eine bis 11. Oktober 2007 befristete Aufenthaltserlaubnis erteilt wurde. Danach erhielt der Kläger eine Niederlassungserlaubnis.
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Die Ehe wurde im Jahr 2017 geschieden. Aus der Ehe sind zwei Kinder deutscher Staatsangehörigkeit, geboren am … … 2008 und … … 2015, hervorgegangen. Sie leben bei ihrer Mutter in … Der Kläger war bis zu seiner Festnahme am … Juli 2019 unter der Adresse seiner geschiedenen Ehefrau gemeldet, ohne jedoch nach den Feststellungen im Strafverfahren tatsächlich dort wohnhaft gewesen zu sein.
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Von 2006 bis 2008 war der Kläger hauptsächlich in geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen bei verschiedenen Firmen in der … tätig. Danach war er bis 2010 bei der … angestellt. Von 2010 bis 2014 war er selbständig tätig und arbeitete danach in der Gastronomie. Nach einer Phase der Arbeitslosigkeit im Jahr 2017 war er bei verschiedenen Firmen als …- und …lieferant tätig.
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Der Kläger konsumierte hin und wieder Alkohol und Kokain.
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Strafrechtlich ist der Kläger im Bundesgebiet wie folgt in Erscheinung getreten:
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1. Amtsgericht … vom … Juli 2013, vorsätzlicher Gebrauch eines nicht mehr haftpflichtversicherten Fahrzeugs auf öffentlichen Straßen, 25 Tagessätze.
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2. Amtsgericht … vom … September 2014, Vorenthalten und Veruntreuen von Arbeitsentgelt in 12 tatmehrheitlichen Fällen, 25 Tagessätze.
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3. Amtsgericht … vom … Februar 2016, vorsätzliche Insolvenzverschleppung in Tatmehrheit mit vorsätzlichem Bankrott in Tatmehrheit mit vorsätzlicher Verletzung der Buchführungspflicht in zwei Fällen, 130 Tagessätze.
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Hintergrund war, dass der Kläger Geschäftsführer der Firma … … GmbH war,
die spätestens seit 18. August 2014 zahlungsunfähig war. Trotzdem unterließ er es, unverzüglich, spätestens jedoch innerhalb von drei Wochen für die von ihm vertretene GmbH Insolvenzantrag zu stellen. Ferner kam der Kläger der Verpflichtung, die Bilanz über das Vermögen der Gesellschaft zu erstellen, für die Geschäftsjahre ab 2012 nicht nach. Schließlich entsprach die Buchführung auch nicht den Grundsätzen einer ordnungsgemäßen Buchführung, da sie den geforderten klaren Überblick über die Geschäftsvorfälle und die Lage des Unternehmens nicht ermöglicht hat.
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4. Amtsgericht … vom … Juni 2017, vorsätzliches Anordnen oder Zulassen des Fahrens ohne Fahrerlaubnis, 60 Tagessätze.
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5. Amtsgericht … vom … März 2018, vier sachlich zusammentreffende Vergehen der Steuerhinterziehung, in zwei Fällen davon rechtlich zusammentreffend mit je zwei weiteren Vergehen der Steuerhinterziehung, 300 Tagessätze unter Einbeziehung der Entscheidung vom … Februar 2016.
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Hintergrund war, dass der Kläger zu eigenen Gunsten Steuern in Höhe von 25.026,58 Euro und zugunsten der … … GmbH in Höhe von 10.949,81 Euro verkürzt hat.
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Der Kläger wurde mit Schreiben der Beklagten vom 1. Juni 2018 ausländerrechtlich verwarnt.
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6. In einem Ermittlungsverfahren wegen Trunkenheit im Verkehr wurde mit Verfügung der Staatsanwaltschaft München I vom … Januar 2020 von der Verfolgung gemäß § 154 Abs. 1 StPO abgesehen.
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7. Landgericht München I vom … August 2020, gefährliche Körperverletzung, 4 Jahre 6 Monate Freiheitsstrafe.
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Hintergrund war, dass sich der Kläger am … Juli 2019 mit drei Personen gegen 22:00 Uhr in einem Lokal traf, um dort zu essen und Alkohol zu konsumieren. Gegen 3:00 Uhr am … Juli 2019 begab sich der Kläger mit zwei der Damen zu einem anderen Lokal, an dessen Tür er von T. und dann auch vom später Geschädigten abgewiesen wurde. Der Kläger reagierte ungehalten, verließ letztlich jedoch den Eingangsbereich des Lokals. Um 5:15 Uhr rief der Kläger den S. an, der sich im Lokal befand, und beschwerte sich über den verwehrten Einlass. Um 5:22 Uhr rief der später Geschädigte beim Kläger an und versuchte, ihn zu beschwichtigen. Nachdem ihm das nicht gelang, forderte er ihn auf, ins Lokal zu kommen, um die Sache zu klären. Der Kläger fuhr daraufhin mit seinem Pkw zum Lokal. Dort angekommen steckte er sich ein Messer mit einer feststehenden Klinge von 10 cm Länge, das sich in einer schwarzen Scheide befand, in die hintere linke Hosentasche. Sodann kam er gegen 5:35 Uhr in das Lokal und fragte nach dem Geschädigten. Auf dem Treppenabgang in das Untergeschoss zu den Toiletten traf der Kläger auf den Geschädigten. Es kam zu einer verbalen Auseinandersetzung mit gegenseitigen Schubsereien. Die Auseinandersetzung verlagerte sich schließlich in den Bereich der Küche des Lokals. Der S. sah die Messerscheide in der Hosentasche des Klägers und rief laut „Messer“, um die anderen Anwesenden zu warnen. Der Kläger zog das mitgeführte Messer aus der Hosentasche und griff den Geschädigten damit an, der nach einem Fleischerbeil griff. K. und S., die die Auseinandersetzung beobachtet hatten, kamen dem Geschädigten zu Hilfe. K. hielt die messerführende Hand des Klägers fest, während S. versuchte, dem Kläger durch Öffnen der einzelnen Finger das Messer zu entwinden, was ihm jedoch nicht gelang. Der Geschädigte hielt das Fleischerbeil in Höhe seines Halses, um sich zu schützen, bevor der S. das Fleischerbeil an sich nahm. Der Kläger stach währenddessen mindestens viermal auf den Kopf, den Hals und den Oberkörper des Geschädigten ein, wobei er den Tod des Geschädigten zumindest billigend in Kauf nahm. Als der Kläger das Blut am Geschädigten bemerkte, sagte er zu K. und S., sie könnten ihn jetzt loslassen. Er hatte das Messer noch in der Hand, stach jedoch nicht weiter auf den Geschädigten ein. Er warf das Messer in einen Ablageschacht und die Messerscheide in einen Mülleimer. Danach verließ er die Küche und wartete auf das Eintreffen der Polizei. Beim Verlassen des Lokals äußerte er gegenüber dem S. in türkischer Sprache, er solle gegenüber der Polizei angeben, dass er (der Kläger) mit dem Küchenbeil angegriffen worden sei, sonst würde er auch ihn „ficken“. Zugunsten des Klägers wurde berücksichtigt, dass er nur bedingten Vorsatz hatte, sich entschuldigt und angegeben hat, dass er seine Tat bereue, er durch den Konsum von Alkohol enthemmt war und aus einer emotionalen Situation heraus handelte. Der Geschädigte hatte zuletzt kein Strafverfolgungsinteresse mehr. Zulasten des Klägers wurden die erheblichen Verletzungen und die psychischen Folgen der Tat für den Geschädigten, der noch Monate nach der Tat unter Schlafstörungen litt, die Verwirklichung von zwei Tatbeständen, nämlich § 224 Abs. 1 Nr. 2 und 5 StGB, sowie die Drohung des Klägers gegenüber dem S. berücksichtigt.
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Der Kläger wurde in dieser Sache am … Juli 2019 festgenommen und befindet sich seither in Haft. Laut polizeilichen Vermerken wurde der Kläger nach seiner Festnahme im Wachraum zunehmend aggressiver und schrie herum, dass er sich ungerecht behandelt fühle. Er zeigte sich in hohem Maße aggressiv und uneinsichtig. Bei Eröffnung des Tatvorwurfs äußerte er, er sei sich keiner Schuld bewusst; er selbst sei doch Geschädigter, da er zwei Kratzer erlitten habe. Auch gab er an, dass er es den anderen noch zeigen werde.
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In der Haftanstalt des Polizeipräsidiums München erklärte der Kläger, dass er von hinten von dem Geschädigten am Hals umklammert worden sei und dieser ihm ein großes Messer an den Hals gehalten habe. Er habe sodann ein herumliegendes Messer genommen und versucht, den Geschädigten zu stechen. Er habe ihn aber nur leicht getroffen. Er habe sich wehren wollen. Im Rahmen der Beschuldigtenvernehmung am 7. August 2019 erklärte der Kläger, er sei von dem Geschädigten mit einem Küchenbeil angegriffen worden und habe darauf reagiert, indem er sein mitgeführtes Messer in die Hand genommen und sich gegen diesen Angriff gewehrt habe. In der Akte befinden sich zwei Briefe des Klägers aus der Untersuchungshaft an seinen Sohn und Präsident Erdogan. In letzterem führt er u.a. aus, er sitze seit zehn Monaten als Unschuldiger in dieser Hölle, getrennt von seinen Kindern. Der Präsident solle den Nachweis, dass er unschuldig sei, ans Tageslicht bringen. Er sei nur infolge einer Schlägerei hierher geraten, als er ein wenig alkoholisiert gewesen sei.
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Bei einer Zeugenvernehmung am … … 2019 erklärte die ehemalige Verlobte des Klägers u.a., dass der Kläger, als sie mit ihm Schluss gemacht habe, in ihrer Abwesenheit ihre ganze Wohnung komplett demoliert habe. Er habe komplett das Mobiliar zerschlagen, Polster aufgeschlitzt, Tapeten aufgeschlitzt etc. Sie habe sich komplett neu einrichten müssen. In diesem Zusammenhang habe sie natürlich auch große Angst vor ihm gehabt. Das habe sich bis heute nicht geändert. Geschlagen habe er sie nie. Er habe eigentlich grundsätzlich immer ein Messer dabei.
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Der Kläger wurde mit Schreiben vom 21. April 2021 zur beabsichtigten Ausweisung angehört. Eine Äußerung erfolgte nicht. Die geschiedene Ehefrau des Klägers führte mit Schreiben vom … Mai 2021 im Wesentlichen aus, dass zwischen dem Kläger und ihr aufgrund der gemeinsamen Kinder ein freundschaftliches Verhältnis bestehe. Bis zur Inhaftierung sei der Kläger an der Erziehung der Kinder beteiligt gewesen. Bis zum Antritt der Freiheitsstrafe habe er monatlich regelmäßig Kindesunterhalt überwiesen. Das Sorgerecht hätten sie sich geteilt. Sie sorge dafür, dass die Kinder den Kläger nach Möglichkeit persönlich sehen können, indem sie ihn in der Haft besuchten und zusätzlich in regelmäßigen Abständen telefonierten. Sie könne nicht behaupten, dass sich der Kläger nicht um die gemeinsamen Kinder gekümmert hätte. Wo immer sich die Möglichkeit ergeben habe, habe er den Kontakt mit den Kindern gepflegt und ein Verhältnis aufgebaut, welches er trotz der Inhaftierung weiterhin pflege.
22
Nach dem Führungsbericht der JVA … … … vom 18. Mai 2021 wurde der Kläger seit 30. September 2020 in der … zur Arbeit eingesetzt. Von den Bediensteten dort werde er als ruhig, diszipliniert, gut gelaunt und respektvoll beschrieben. Sie charakterisierten ihn als sachlich, frei und offen. Sein Verhalten gegenüber den Werkbediensteten werde als aufgeschlossen, freundlich und höflich beurteilt. Bei seinen Mitgefangenen zeige er sich hilfsbereit und kameradschaftlich. Zusätzlich übe er einen guten Einfluss auf diese aus. An seinem Arbeitsplatz herrsche Ordnung und Sauberkeit. Er bringe eine sehr gute Arbeitsleistung und sei beständig fleißig und sorgfältig. Auf der Abteilung werde er als beherrschter, ruhiger, sachlicher und friedlicher Gefangener wahrgenommen, der höflich und ruhig auftrete. Er erkenne die Autorität des Anstaltspersonals an und verhalte sich verträglich und gesellig. Seinen Haftraum halte er in sauberem Zustand. Sein vollzugliches Verhalten habe bisher keinen Anlass zur disziplinarischen Beanstandung gegeben. Allerdings sei er in der Voranstalt mit sieben Tagen Arrest geahndet worden, da er unerlaubt ein Handy im Besitz gehabt und mit diesem telefoniert habe. Zusätzlich habe er noch ein weiteres Mal verwarnt werden müssen, da er die Briefkontrolle umgangen habe. Privatbesuche erhalte der Kläger von der geschiedenen Ehegattin und dem gemeinsamen Sohn. Zusätzlich führe er mit der Exfrau fernmündliche Gespräche. Er habe vier Geschwister, die in der Türkei leben. Für den Fall einer Rückkehr in die Türkei habe er keine Anschrift. Nach seinen Angaben könne er jetzt zu seiner geschiedenen Ehegattin zurückkehren. Der Kläger sei als selbständiger …- und …-Großhändler tätig. Die Firma werde derzeit durch einen Partner geführt. Nach Haftentlassung werde der Kläger die Geschäfte wieder selbst übernehmen. Eine Rückkehr in die Türkei stelle nach eigenen Angaben des Klägers kein Problem dar, da er sein Geschäft auch von der Türkei aus betreiben könne. Die Tat werde von hiesiger Seite als schwerwiegende Straftat gegen Leib und Leben eingestuft. Das Indikationsgespräch am 27. Oktober 2020 habe allerdings ergeben, dass eine sozialtherapeutische Behandlungsmaßnahme für Gewaltstraftäter nach derzeitigem Kenntnisstand nicht zwingend erforderlich sei. Zur Aufarbeitung der Tat und deren Hintergründe erscheine die Teilnahme an der Gewalt-PräventionsGruppe ausreichend. Der Kläger habe sich hierfür beworben und könne daran ggf. im Lauf des Jahres 2021 teilnehmen. Das Gericht sei der Auffassung gefolgt, dass der Kläger keine behandlungsbedürftige Suchtproblematik habe. Zur abschließenden Klärung sollte er sich an die externe Suchtberatung wenden. Dieser Aufforderung sei er nachgekommen. Weitere Maßnahmen seien seitens der externen Suchtberatung nicht geplant. Inwieweit eine Aufarbeitung seiner deliktursächlichen Defizite erfolgen werde, bleibe abzuwarten. Bisher zeige er sich jedoch behandlungsbereit.
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Mit Bescheid vom 17. Juni 2021 wurde der Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen (Nr. 1 des Bescheids) und gegen ihn ein Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen, das unter der Bedingung der nachgewiesenen Straf-, Drogen- und Alkoholfreiheit auf sechs Jahre, andernfalls auf acht Jahre befristet wurde (Nr. 2 des Bescheids). Die Abschiebung aus der Haft in die Türkei wurde angekündigt. Für den Fall der vorherigen Haftentlassung wurde dem Kläger unter Gewährung einer Ausreisefrist von vier Wochen nach Haftentlassung und Vollziehbarkeit der Ausreisefrist die Abschiebung in die Türkei oder in einen anderen Staat angedroht, in den der Kläger einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist (Nr. 3 des Bescheids).
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährde, werde ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergebe, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Den besonderen Schutz des § 53 Abs. 3 AufenthG könne der Kläger nicht geltend machen. Er habe nach der Einreise bis 31. Juli 2010 überwiegend in geringfügigen Beschäftigungen gearbeitet. Allenfalls vom 1. Februar 2008 bis 31. Juli 2010 sei er durchgehend beschäftigt gewesen. Ab 1. August 2010 sei er selbständig tätig gewesen. Ab dem 1. Juni 2014 bis 31. August 2017 habe er in einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis gestanden, habe aber zeitweise Leistungen der Bundesagentur für Arbeit bezogen. Erst vom 1. November 2017 bis 29. Oktober 2018 habe er wieder in einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis gestanden, wobei er erneut vom 23. März bis 22. Juli 2018 Leistungen der Bundesagentur für Arbeit bezogen habe. Vom 30. Oktober 2018 bis 31. Januar 2019 befänden sich keine Eintragungen über ein Beschäftigungsverhältnis im Rentenversicherungsverlauf. Vom 1. Februar 2019 bis 31. März 2019 habe er wieder in einem Beschäftigungsverhältnis gestanden; vom 1. April 2019 bis zur Festnahme am 21. Juli 2019 befänden sich keine Nachweise einer Beschäftigung im Rentenversicherungsverlauf. Demnach habe zwar seine Beschäftigungszeit vom 1. Juni 2008 bis 31. Mai 2010 sowie vom 1. November 2017 bis 29. Oktober 2018 mehr als ein Jahr betragen. Danach habe er seine Beschäftigung jedoch in Zeiträumen von weniger als einem Jahr gewechselt bzw. nicht gearbeitet, ohne dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stehen. Ein Wechsel des Arbeitgebers führe jedoch dazu, dass die Jahresfrist des Art. 6 Abs. 1 Spiegelstrich 1 ARB 1/80 neu zu laufen beginne. Ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht ergebe sich somit nicht. Durch den Aufenthalt des Klägers werde die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet. Dies ergebe sich sowohl aus spezialpräventiven als auch aus generalpräventiven Gründen. Vom Kläger gehe nach wie vor eine Wiederholungsgefahr aus. Der Kläger habe Straftaten begangen, die das Strafgericht zum Anlass genommen habe, eine Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten zu verhängen. Eine strafgerichtliche Verurteilung zu einer so hohen Freiheitsstrafe sei auch hinreichender Gradmesser des im Rahmen des Verwaltungsrechts bestehenden Bedürfnisses vorbeugender Schutzmaßnahmen. Der Kläger habe sich aus Ärger darüber, dass er nicht in ein Lokal eingelassen worden sei, dazu hinreißen lassen, einen Mann mit einem Messer zu verletzen. Obwohl er den Bereich des Lokals bereits verlassen hatte, sei er nach wie vor so ungehalten gewesen und anschließend wieder an die Örtlichkeit zurückgekehrt. Er hätte zu diesem Zeitpunkt jede Möglichkeit gehabt, sich zurückzuziehen und die Angelegenheit auf sich beruhen zu lassen. Er sei jedoch alkoholisiert mit dem Pkw zum Lokal gefahren und habe sich mit einem Messer bewaffnet. Dieses habe er nach einer verbalen Auseinandersetzung mit dem Geschädigten gezogen. Letztendlich sei es vermutlich nur den Zeugen zu verdanken, dass der Geschädigte nicht schwerer verletzt worden sei, da diese versucht hätten, ihm das Messer aus der Hand zu entwinden. Gerade Verletzungen mit einem Messer im Halsbereich könnten zu lebensgefährlichen Verletzungen führen, an denen die geschädigte Person innerhalb kürzester Zeit versterben könne. Dies habe den Kläger aber nicht davon abgehalten, aus gekränkter Ehre heraus auf den Geschädigten einzustechen. Aufgrund des an den Tag gelegten Verhaltens bestehe die konkrete Gefahr, dass der Kläger auch nach der Entlassung aus der Haft erneut aus gekränktem Ehrgefühl heraus schwere Gewaltstraftaten begehe. Dies ergebe sich auch aus seinem Verhalten nach der Festnahme. Er habe sich gegenüber den Beamten in hohem Maße aggressiv und uneinsichtig gezeigt. Bei Eröffnung des Tatvorwurfs habe er geäußert, sich keiner Schuld bewusst zu sein. Er selbst wäre der Geschädigte. Auch habe er erklärt, er werde es den anderen noch zeigen. Zudem habe er bei der Festnahme in Anwesenheit der Polizeibeamten einen Zeugen bedroht, um diesen zur Falschaussage zu bewegen. Zudem sei er erheblich alkoholisiert gewesen. Auch diese massive Alkoholisierung erhöhe die Gefahr weiterer schwerer Gewaltstraftaten nach der Haftentlassung. Offenbar könne der Kläger unter Alkoholeinfluss seine Aggressionen nicht kontrollieren und neige zu schweren Gewaltausbrüchen. Es sei gesehen worden, dass von der externen Suchtberatung keine Suchtproblematik beim Kläger festgestellt worden sei. Dies ändere jedoch nichts an der Beurteilung der Sachlage, da auch ohne behandlungsbedürftige Suchtproblematik die Gefahr bestehe, dass der Kläger Alkohol im Übermaß zu sich nehme und erneut gewalttätig werde. An der Gefahr weiterer Gewaltdelikte ändere auch die Tatsache nichts, dass sich der Kläger erstmals für lange Zeit in Haft befinde und sich dort gut führe. Es sei durchaus nachvollziehbar, dass er im Rahmen der Inhaftierung sämtliche angebotenen Maßnahmen annehme, schon um eine frühzeitige Entlassung zu bewirken. Ob er es auch nach der Haft in seinem normalen Umfeld schaffe, sich langfristig straffrei zu halten, sei sehr fraglich. Zu dieser Einschätzung komme die Beklagte auch aufgrund der polizeilichen Ermittlungen. So habe z.B. eine ehemalige Freundin erklärt, dass der Kläger deren komplette Wohnung zerstört hätte, als sie mit ihm Schluss gemacht habe. Der Kläger habe Polster und Tapeten aufgeschlitzt und das Mobiliar zerschlagen. Zudem sei auch zu sehen, dass er offenbar bis zur Hauptverhandlung die Tat geleugnet habe und sogar aus der Haft heraus einen Brief an Präsident Erdogan verfasst und erklärt habe, er befinde sich seit zehn Monaten unschuldig in Haft. Hieraus werde noch einmal seine Einstellung zur begangenen Straftat und zur deutschen Rechtsordnung mehr als deutlich. Anstatt von Anfang an Verantwortung für seine Tat zu tragen, habe er versucht, Zeugen zu manipulieren und sich selbst als Opfer darzustellen. Erst im Rahmen der Hauptverhandlung habe er sich entschuldigt. Ob diese Entschuldigung von ehrlicher Reue und Schuldeinsicht getragen sei, sei aufgrund des vorangegangenen Verhaltens fraglich. Es habe sich auch nicht um eine Beziehungstat gehandelt. Der Kläger könne jederzeit wieder in ähnliche Situationen geraten, in denen er sich in seiner Ehre gekränkt fühle und deshalb zu massiver Gewalt greife. Darüber hinaus handele es sich auch nicht um die erste Verurteilung des Klägers. Er sei bereits mehrmals zu teilweise empfindlichen Geldstrafen verurteilt und auch von der Ausländerbehörde im Jahr 2018 auf die ausländerrechtlichen Folgen hingewiesen worden. Auch wenn diese Vorverurteilungen vorrangig wegen Vermögensdelikten ausgesprochen und somit nicht einschlägig seien, zeige das Gesamtbild noch einmal die Unbelehrbarkeit und Gleichgültigkeit des Klägers dem geltenden Recht gegenüber deutlich. Ergänzend sei erwähnt, dass es bei verurteilten Gewaltstraftätern auch gerechtfertigt sei, an die Wahrscheinlichkeit weiterer Straftaten nur geringe Anforderungen zu stellen. Unabhängig davon sei die Ausweisung auch aus generalpräventiven Gründen gerechtfertigt. Bei den vom Kläger begangenen vorsätzlichen Straftaten, insbesondere gefährliche Körperverletzung, bestehe ein erhebliches öffentliches Interesse, andere Ausländer davon abzuhalten, vergleichbare Verstöße zu begehen. Die begangenen Straftaten richteten sich gegen besonders wichtige Schutzgüter, nämlich Leben, Gesundheit und körperliche Unversehrtheit. Diese nähmen in der Hierarchie der in den Grundrechten enthaltenen Werteordnung einen hohen Rang ein. Die konsequente Ausweisungspraxis sei tatsächlich geeignet, Ausländer von entsprechenden Straftaten abzuhalten. Die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen führe dazu, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise die Bleibeinteressen des Klägers überwiege. Das Ausweisungsinteresse wiege besonders schwer, da der Kläger wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt worden sei (§ 54 Abs. 1 Nr. 1 und 1a AufenthG). Auch das Bleibeinteresse wiege besonders schwer, da der Kläger eine Niederlassungserlaubnis besitze und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten habe und zudem sorgeberechtigter Vater von zwei deutschen Kindern sei (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 und 4 AufenthG). Die persönlichen Interessen würden insbesondere von Art. 8 EMRK, Art. 6 GG und Art. 7 GrCh geschützt. Die Ausweisung entspreche Art. 8 Abs. 2 EMRK, da sie gesetzlich vorgesehen sei, ein legitimes Ziel (Verteidigung der öffentlichen Ordnung und Verhinderung von Straftaten) verfolge und in einer demokratischen Gemeinschaft notwendig sei, um dieses Ziel zu erreichen. Nach ständiger Rechtsprechung des EGMR komme es darauf an, ob die Abschiebung ein ausgewogenes Gleichgewicht der betroffenen Interessen schaffe. Hierfür sei vor allem von Bedeutung, ob der Ausländer über soziale Bindungen zu seinem Herkunftsland verfüge, welche Bindungen er im Gastland habe und ob die Ausweisung wegen Straftaten erheblicher Schwere einem dringenden sozialen Bedürfnis entspreche. Der Kläger sei im Jahre 2004 im Alter von 27 Jahren im Rahmen des Familiennachzugs zu seiner deutschen Ehefrau in das Bundesgebiet eingereist und lebe somit seit 17 Jahren hier. Die Ehe sei im Jahr 2017 geschieden worden. Aus ihr seien zwei deutsche Kinder hervorgegangen, die bei der Mutter lebten. Nach Angaben der Kindsmutter hätten sie das gemeinsame Sorgerecht. Seit ca. 2017 lebe der Kläger von seiner Familie getrennt, habe sich jedoch nicht umgemeldet. Er verstehe die deutsche Sprache, spreche aber nur gebrochen Deutsch.
Gearbeitet habe der Kläger bei oftmals wechselnden Arbeitgebern in der … Teilweise sei er selbständig gewesen, zeitweise sei er auch in der Gastronomie tätig gewesen. Die Beklagte verkenne nicht, dass sich der Kläger bereits seit vielen Jahren im Bundesgebiet aufhalte. Dennoch habe letztlich eine Integration in die Gesellschaft der Bundesrepublik nicht stattgefunden. Integration beruhe nicht nur auf quantitativen, sondern auch auf qualitativen Gesichtspunkten. Der Kläger habe zuletzt unangemeldet in einer Wohngemeinschaft in … gelebt. Sein Name sei nicht am Briefkasten der Wohnadresse angebracht gewesen. Letztlich habe er als wohnsitzlos gegolten. Vom 1. April bis zu seiner Festnahme am 21. Juli 2019 sei er ohne Arbeit und auch nicht arbeitssuchend gemeldet gewesen. Hieraus werde deutlich, dass er sich trotz seines Aufenthalts von 15 Jahren bis zu seiner Festnahme letztlich weder beruflich noch sozial habe integrieren können. Es müsse und könne ihm zugemutet werden, sich wieder in der Türkei einzugliedern und sein Leben dort weiterzuführen. Er sei ein arbeitsfähiger 44-jähriger Mann und könne auch in der Türkei eine berufliche Tätigkeit ausüben. Da er offenbar keine Berufsausbildung habe, könne er in der Türkei wie auch in Deutschland nur für Aushilfstätigkeiten eingesetzt werden. Zudem habe er auch vor seiner Übersiedelung nach Deutschland in der Türkei gearbeitet und sei Leiter eines Geschäfts für … gewesen. Darüber hinaus habe er die meiste Zeit seines Lebens im Land seiner Staatsangehörigkeit verbracht und sei erst im Alter von 27 Jahren in das Bundesgebiet eingereist. Die Lebensgewohnheiten seien ihm ebenso geläufig wie die türkische Sprache. Zudem lebten seine Geschwister nach wie vor in der Türkei. Zu mindestens zweien habe er auch Kontakt, da sie eine Besuchserlaubnis beantragt hätten. Selbst bei Würdigung des langen Aufenthalts im Bundesgebiet gegenüber einer womöglich ungesicherten Situation im Heimatland träfen ihn die Folgen der Aufenthaltsbeendigung zwar schwer, aber nicht unverhältnismäßig. Eine besondere Härte, die außer Verhältnis zu dem beabsichtigten Zweck, nämlich der Verhinderung weiterer schwerer Gewaltstraftaten stehe, sei nicht ersichtlich. In Anbetracht des Umstands, dass er nicht davor zurückgeschreckt habe, aus gekränktem Ehrgefühl heraus mehrfach mit einem Messer auf einen Mann einzustechen, entspreche die Verhinderung weiterer Gewaltdelikte einem besonders dringenden sozialen Bedürfnis. Leben und Gesundheit seien die höchsten Güter des Rechtssystems und lösten entsprechende staatliche Schutzpflichten aus. Da der Kläger Vater zweier minderjähriger deutscher Kinder sei, sei Art. 6 GG berücksichtigt worden. Es sei maßgeblich auf die Sicht der Kinder abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung die Kinder zu ihrem Wohl angewiesen seien. Der Kläger lebe seit 2017 nicht mehr mit den Kindern in familiärer Lebensgemeinschaft. Die Kindsmutter habe erklärt, dass er sich dennoch an der Erziehung der Kinder beteilige und Kindesunterhalt bezahlt habe. Es sei somit davon auszugehen, dass bis zur Festnahme eine Beistandsgemeinschaft vorgelegen habe.
Zudem sei er von seinem älteren Sohn bereits mehrmals in der JVA besucht worden. Zu sehen sei, dass es für die Kinder optimal wäre, beide Elternteile als Ansprechpartner um sich zu haben, zumal der Kläger offensichtlich eine gute Bindung zu seinen Kindern aufgebaut habe. Trotz seiner Verantwortung als Vater habe er vor seiner Festnahme aber mehrere Monate nicht gearbeitet und keinen Unterhalt bezahlt. Zudem habe er unangemeldet in einer Wohngemeinschaft gelebt. Offensichtlich habe er in den letzten Monaten seine Pflichten seinen Kindern gegenüber vernachlässigt. Auch die Tatsache, dass er sich nicht um eine Wohnung gekümmert habe, in der ihn die Kinder auch hätten besuchen können, zeige, dass ihm seine Verantwortung als Vater offenbar nicht gänzlich bewusst gewesen sei. Die Kinder hätten sich seit 2017 letztendlich daran gewöhnt, ohne den Vater bei der Mutter zu leben und den Kläger nur gelegentlich zu treffen. Diese Art der Kontaktpflege könne er auch aus der Haft heraus betreiben. Zudem bestehe die Möglichkeit von Briefen und Telefonaten. Es könne und müsse dem Kläger und seinen Kindern aufgrund der massiven Delinquenz des Klägers zugemutet werden, den Kontakt nach der Haftentlassung zeitweise vom Ausland her zu pflegen, durch Briefe, Telefonate, gelegentliche Besuche und über moderne Kommunikationsmittel. Dies stelle zwar für die Kinder eine Härte dar, eine außergewöhnliche Härte sei aber nicht erkennbar. Bis zur Haftentlassung seien die Kinder 16 bzw. neun Jahre alt und könnten den Kläger auch in der Türkei besuchen. Auch während der Inhaftierung seien sie auf diese Art der Kontaktpflege angewiesen. Die Ausweisung sei die geeignete, erforderliche und angemessene Maßnahme, um den beabsichtigten Zweck durchzusetzen. Mit einem anderen, milderen Mittel sei der Zweck nicht zu erreichen. Wegen des Gewichts der gefährdeten Rechtsgüter (körperliche Unversehrtheit, Leben und Gesundheit), der festgestellten hohen Wiederholungsgefahr und den generalpräventiven Erwägungen werde auch im Hinblick auf die familiären und persönlichen Bindungen des Klägers im Bundesgebiet (langer Aufenthalt, deutsche Kinder) ein Zeitraum von sechs Jahren für erforderlich gehalten, um dem hohen Gefahrenpotenzial Rechnung tragen zu können. Bedingung sei, dass keine neuen Ausweisungsgründe verwirklicht werden sowie Drogen- und Alkoholfreiheit nachgewiesen werde. Sollte die Bedingung nicht erfüllt werden, werde das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf acht Jahre befristet. Unter erneuter Berücksichtigung der öffentlichen und privaten Interessen erscheine eine Verlängerung der Grundfrist um zwei Jahre geeignet, erforderlich und angemessen.
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Mit Schriftsatz vom … Juli 2021, bei Gericht am selben Tag eingegangen, hat die Bevollmächtigte des Klägers Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München erhoben und beantragt,
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den Bescheid der Beklagten vom 17. Juni 2021 aufzuheben.
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Mit Schriftsatz vom 26. Juli 2021 hat die Beklagte beantragt,
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Im Führungsbericht vom 3. März 2022 führt die JVA … … … aus, der natürlich und beherrscht auftretende Kläger werde von den Bediensteten als aufmerksam und gutwillig beschrieben. Sein Auftreten sei friedlich und freundlich. Den Mitgefangenen gegenüber zeige er sich als verträglich und vorsichtig. Er spreche gutes Deutsch. Das vollzugliche Verhalten sei bisher beanstandungsfrei gewesen; er sei nicht disziplinarisch in Erscheinung getreten. Er habe, soweit die coronabedingten Sonderregelungen es zuließen, monatlich Besuch von seiner ehemaligen Gattin mit jeweils einem der gemeinsamen Kinder erhalten. Insbesondere zu seinem 14 Jahre alten Sohn, aber auch zu der sechsjährigen Tochter habe er eine enge Beziehung. Mit der Exfrau pflege er ein sehr gutes freundschaftliches Verhältnis. Bis einschließlich Februar 2021 habe er einmal pro Monat ein Telefonat mit seiner Exfrau/den Kindern geführt, von März 2021 bis Februar 2022 hätten weitere vier Telefonate stattgefunden. Neben dem telefonischen Kontakt pflege er laut eigener Aussage die Beziehung zur Familie auch auf postalischem Weg. Zudem unterhalte er auf diesem Weg auch Kontakt zu seiner in der Türkei lebenden Herkunftsfamilie und verschiedenen in Deutschland lebenden Freunden. Insgesamt habe der Kläger im Gespräch ausdrücklich die gute Beziehung zu seinen Kindern und auch zur Mutter der Kinder betont. Das Schlimmste im Fall der Abschiebung wäre die Trennung von diesen. Von Seiten der externen Suchtberatung seien keine weiteren Maßnahmen geplant. Um seine Gewaltproblematik zu behandeln, habe der Kläger vom 24. Oktober 2021 bis 3. Februar 2022 in der hiesigen Gewaltpräventionsgruppe mit sehr großem Erfolg teilgenommen. Hierbei sei er sehr gut in der Lage gewesen zu erkennen, welche Entscheidungen zur letztendlichen Tatsituation geführt hätten. Dementsprechend sei ihm auch sehr gut möglich gewesen, Konsequenzen für sein künftiges Handeln zu entwickeln. Er habe sich sehr gut mit seinen Problemen auseinandergesetzt und von der Gruppenmaßnahme stark profitieren können. Laut eigener Aussage könne er nach Haftentlassung vorübergehend bei seiner Exfrau und den Kindern einziehen. Des Weiteren liege ein Schreiben eines Freundes vor, in dem er dem Kläger im Fall einer vorzeitigen Entlassung sowohl eine Vollzeitstelle im Unternehmen „… … GbR“ als auch eine Wohnmöglichkeit bestätige. Der Kläger bereue seine Straftat. Er habe während seiner Haftzeit verstanden, was wirklich im Leben zähle und wolle sich von nun an auf seine Familie konzentrieren. Anhand der Tatsache, dass keine Suchtmittelabhängigkeit vorliege, die Gewaltproblematik mit Erfolg bearbeitet worden sei, ein gesicherter Arbeitsplatz und Wohnraum zur Verfügung stehe sowie ein stabiler Kontakt zu der in Deutschland lebenden Kindsmutter und den gemeinsamen Kindern bestehe, könne eine günstige Sozialprognose gestellt werden.
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Mit Schriftsatz vom … März 2022 teilte die Klägerbevollmächtigte mit, der Kläger könne nach Haftentlassung unmittelbar in ein Arbeitsverhältnis eintreten und würde von dort auch eine Unterkunft gestellt bekommen. Er habe ein sehr inniges Verhältnis zu seinen Kindern und ein freundschaftliches Verhältnis zu deren Mutter. Vor der Inhaftierung habe er zwar nicht mit den Kindern in einem Haushalt gelebt. Die Kinder hätten ihn aber jedes zweite Wochenende in seiner Wohnung besucht und auch bei ihm übernachtet. Zu der damaligen Lebensgefährtin des Klägers hätten sie ein gutes Verhältnis gehabt. Insofern seien die Ausführungen im angefochtenen Bescheid unzutreffend. Der Kläger sei stets ein fürsorglicher und verantwortungsvoller Vater gewesen.
31
Beigefügt war ein Aktenvermerk zur Teilnahme an der Gewaltpräventionsgruppe vom 9. Februar 2022, wonach der Kläger an allen Sitzungen teilgenommen habe, dem Gruppenverlauf sehr aufmerksam und stets konzentriert gefolgt sei und sich durch sehr gute Wortbeiträge beteiligt habe. Die Hausaufgaben habe er stets zuverlässig erledigt. Der Kläger habe seine Biografie und sein Delikt vollumfänglich und zur vollsten Zufriedenheit bearbeitet. Er habe die volle Verantwortung für sein Handeln übernommen und sei in der Lage gewesen, dieses aus allen Blickwinkeln zu reflektieren. Hierbei sei er sehr gut in der Lage gewesen zu erkennen, welche Entscheidungen zur letztendlichen Tatsituation geführt hätten. Dementsprechend sei es ihm auch sehr gut möglich gewesen, Konsequenzen für sein zukünftiges Handeln zu entwickeln. Das erhaltene Feedback habe er sehr gut annehmen und die gelernten Sachverhalte anwenden und umsetzen können. Er habe durch sein Verhalten in der Gruppe und im Haftalltag gezeigt, dass er Konfliktsituationen gut einschätzen und vermeiden könne. In Konfliktsituationen habe er ruhig und angemessen reagiert. Er habe sich sehr gut mit seinen Problemen auseinandergesetzt und von der Gruppenmaßnahme stark profitieren können. Weiter war ein Schreiben der … … GbR vom 8. Februar 2022 über eine unbefristete Anstellung und Wohnmöglichkeit beigefügt sowie ein Schreiben der Exfrau des Klägers vom … Februar 2022, in dem sie ausführt, dass ihre Kinder unter der Inhaftierung des Klägers stark litten. Die Tochter habe den Kläger erst vor einer Woche das erste Mal besuchen können. Davor habe sie sich immer gewehrt, weil sie nicht habe wahrhaben können, dass er nicht mit ihr zusammen Zeit verbringen könne und sie ihn dort zurücklassen müsse. Vor allem in der Schule sei zu erkennen, dass sie ihren Vater sehr vermisse. Sie habe mehrfach gefragt, wann denn ihr Vater sie von der Schule abholen könne. Manchmal erwache sie nachts aus dem Schlaf und frage, ob sie ihren Vater kontaktieren könne. Beim gemeinsamen Sohn sei die Sehnsucht sogar noch wesentlich größer, da er in der Pubertät sei und ihm die männliche Bezugsperson fehle. Die vorzeitige Entlassung des Klägers würde auch sie finanziell und psychisch stark entlasten, da sie dann die Möglichkeit hätte, die Kinder vom Kläger beaufsichtigen zu lassen und ihre Stunden in der Arbeit zu erhöhen. Trotz ihrer Scheidung habe sie mit dem Kläger ein sehr angenehmes und freundschaftliches Verhältnis. Sie und ihre Kinder würden den Kläger sicherlich nach Entlassung mental stärken und davon abhalten, wieder straffällig zu werden.
32
Mit Schriftsatz vom … März 2022 führte die Klägerbevollmächtigte weiter aus, beim Kläger bestehe ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 und 4 AufenthG. Er habe zwei in … lebende deutsche Kinder. Auch die Kindsmutter sei deutsche Staatsangehörige. Der Kläger habe ein sehr inniges Verhältnis zu seinen Kindern, die ihn auch in der Haft regelmäßig besucht hätten. Vor seiner Inhaftierung habe er regelmäßig sein Umgangsrecht mit seinen Kindern ausgeübt. Sie hätten jedes zweite Wochenende bei ihm verbracht. Insofern seien die Ausführungen im Bescheid unzutreffend. Der Kläger sei stets auch seinen Unterhaltspflichten, sogar in überobligatorischer Weise, nachgekommen. Das Wohl der Kinder sei bei einer dauerhaften Ausreise des Klägers stark gefährdet. In Haft hätten die Kinder die Möglichkeit, ihren Vater in regelmäßigen Abständen zu besuchen. Dies würde im Fall einer Ausreise des Klägers nicht möglich sein. Die Kinder seien schulpflichtig und könnten allenfalls in den Schulferien ihren Vater besuchen. Jedoch sei die Kindsmutter trotz türkischer Abstammung nicht gewillt, jeden Urlaub in der Türkei zu verbringen. Schon früher habe die Kindsmutter verschiedene Länder bereist. Dies wolle sie auch fortan so handhaben. Insbesondere die Tochter sei noch zu klein, um ohne die Mutter zu verreisen. Den Kindern sei es auch nicht zuzumuten, dem Kläger in dessen Heimatstaat zu folgen. Sie könnten auch nicht darauf verwiesen werden, fernmündlich Kontakt zu ihrem Vater halten zu können. Kinder bräuchten körperliche Nähe, Zuwendung und Fürsorge. Diese könne nicht über eine Distanz von mehreren 1000 km vermittelt werden. Zwangsläufig führe dies zur Entfremdung der Kinder vom Vater. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung käme bei Vorliegen schwerwiegender Gründe, die nach früher geltendem Recht eine Regel- oder Ermessensausweisung rechtfertigen konnten, bei gebotener Abwägung eines besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses mit einem besonders schwerwiegenden Bleibeinteresse eines Ausländers, der mit einem minderjährigen deutschen Kind in familiärer Lebensgemeinschaft zusammenlebe, eine Ausweisung in Betracht, wenn nur durch eine Ausweisung schwerwiegende Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung vermieden werden könnten. Derartige schwerwiegenden Gefahren seien beim Kläger ausweislich der vorgelegten Berichte der JVA nicht mehr feststellbar. Der Kläger habe sich intensiv mit seiner Tat auseinandergesetzt und trage die volle Verantwortung hierfür. Er bereue sie zutiefst und habe auch die Ursachen für sein damaliges Fehlverhalten erkannt. Der Kläger stelle gegenwärtig keine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar. Bemerkenswert sei, dass die Beklagte ihren Bescheid auch ausdrücklich auf generalpräventive Erwägungen und Gründe stütze. Indessen sei eine generalpräventive Ausweisung in derartigen Fällen nicht zulässig (VGH BW vom 23.10.2012 – 11 S 1470/11). In Fällen, in denen eine schutzwürdige Beziehung zwischen dem ausländischen Vater und dem deutschen minderjährigen Kind nur in Deutschland stattfinden könne, weil dem Kind wegen der Beziehung zur Mutter das Verlassen der Bundesrepublik nicht zugemutet werden könne, gehe die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, regelmäßig einwanderungspolitischen Belangen vor.
33
In der von der Beklagten am 23. März 2022 übermittelten Restakte ist unter anderem eine Stellungnahme der JVA … … … vom 14. Februar 2022 zur Strafaussetzung zur Bewährung gemäß § 57 Abs. 1 StGB sowie zum Absehen von der weiteren Vollstreckung gemäß § 456a StPO enthalten. Darin wird ausgeführt, der Kläger sei seit 30. September 2020 im …betrieb zur Arbeit eingestellt gewesen. Seit Juli 2021 befinde er sich allerdings im Krankenstand. Von den Bediensteten werde er als natürlich, beherrscht, aufmerksam und gutwillig charakterisiert. Seinen Haftraum halte er sauber und gepflegt. Gegenüber Bediensteten verhalte er sich höflich, freundlich und anständig, gegenüber Mitgefangenen vorsichtig und verträglich. Zu seiner Strafe habe er sich gegenüber dem Stationspersonal bisher nicht geäußert. Er führe sich bislang beanstandungsfrei, in der Voranstalt habe im August 2020 wegen unerlaubten Handybesitzes ein siebentägiger Arrest angeordnet werden müssen. Er empfange regelmäßige Besuche seiner geschiedenen Ehefrau und seiner Kinder. Mit der ehemaligen Ehegattin führe er zudem regelmäßige Telefonate. Er habe nach der Haft einen festen Wohnsitz in … und einen Arbeitsplatz in … in Aussicht. Nachweise lägen der Vollzugsbehörde nicht vor. Das Indikationsgespräch am 27. Oktober 2020 habe ergeben, dass eine sozialtherapeutische Behandlungsmaßnahme für Gewaltstraftäter nicht zwingend erforderlich sei. Zur Aufarbeitung der Tat und deren Hintergründen erscheine die Teilnahme an der Gewaltpräventionsgruppe ausreichend. Der Kläger habe vom 24. Oktober bis 2. November 2021 sowie am 1., 2. und 3. Februar 2022 an der Gruppe teilgenommen. Laut Aktenvermerk der Mitarbeiter des psychologischen Dienstes und des Sozialdienstes, die diese Gruppe durchführten, sei er dem Gruppenverlauf aufmerksam und stets konzentriert gefolgt und habe sich durch sehr gute Wortbeiträge beteiligt. Die Hausaufgaben habe er stets zuverlässig erledigt. Seine Biografie und sein Delikt habe er im Verlauf vollumfänglich zur vollsten Zufriedenheit der beiden Gruppenleiterinnen bearbeitet. Er habe die volle Verantwortung für sein Handeln übernommen. Es sei ihm möglich gewesen zu erkennen, welche Entscheidungen zur Tatsituation geführt hätten und er habe diesbezüglich Konsequenzen für sein künftiges Handeln entwickeln können. In der Gesamtschau habe er sich sehr gut mit seinen Problemen auseinandergesetzt und von der Gruppenmaßnahme stark profitieren können. Eine Suchtproblematik scheine nicht vorzuliegen. Von Seiten der Suchtberatung seien keine weiteren Maßnahmen geplant. Dem Kläger könne von hiesiger Seite derzeit keine günstige Legal- und Sozialprognose gestellt werden bzw. bestünden hieran durchaus Zweifel, die nach gefestigter Rechtsprechung zulasten des Klägers gingen. Zwar verkenne die Vollzugsbehörde nicht, dass es sich beim Kläger um einen Erstverbüßer handele, bei dem allgemein eine Vermutung dafürspreche, dass der Vollzug seine Wirkung nicht verfehlt habe und dies der Begehung neuer Straftaten entgegenwirke. Demgegenüber seien die mehrfachen, wenn auch nicht einschlägigen Vorstrafen, der schwerwiegende Disziplinarverstoß in der Voranstalt, der undurchsichtige soziale Empfangsraum, die noch nicht abschließend geklärte ausländerrechtliche Situation sowie die schwerwiegende Gewalttat negativ zu berücksichtigen. Zwar werde zugunsten des Klägers berücksichtigt, dass er die Gewaltpräventionsgruppe absolviert habe und von dieser Maßnahme habe profitieren können. Eine Entlassung ohne gesicherte Entlassungsperspektive sei aus hiesiger Sicht jedoch ein erheblicher Risikofaktor. Eine Strafaussetzung zur Bewährung werde deshalb nicht befürwortet. Vielmehr solle die Rückführung des Klägers in sein Heimatland schnellstmöglich angestrebt werden. Es werde darauf hingewiesen, dass die JVA bereits im März 2021 eine Überstellung des Klägers in sein Heimatland zur weiteren Strafvollstreckung befürwortet habe.
34
In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger im Wesentlichen ausgeführt, am … … 2017 sei die Trennung von seiner Exfrau erfolgt. Er sei ausgezogen und habe eine Wohnung am … bewohnt. 2019 habe er wieder drei Monate bei seiner Exfrau gewohnt und danach bis zu seiner Inhaftierung einen Monat in einer WG. Nach der Trennung von seiner Exfrau habe er seine Kinder täglich gesehen. Seine Exfrau besuche ihn regelmäßig jeden Monat in der Haft mit seinem Sohn. Seine Tochter habe seine Exfrau erst zweimal mitgebracht, um sie nicht zu verschrecken. Besuche in der JVA seien ebenso wie Telefonate einmal im Monat möglich. Vor seiner Inhaftierung habe er die Kinder alle zwei Wochen über das Wochenende zu sich geholt. Er habe 220.000 EUR Schulden aus seiner Geschäftstätigkeit sowie aus dem Gerichtsverfahren. Er verhalte sich in der JVA ruhig. Das könne jeder Angestellte bestätigen. Einen Herrn E., den Entwurfsverfasser der Stellungnahme der JVA vom 14. Februar 2022, kenne er nicht. Seine Firma habe ca. zehn Angestellte gehabt und einen Umsatz von 500.000 EUR monatlich gemacht. Er wolle keine Insolvenz anmelden, sondern seine Schulden zurückzahlen. In der JVA sei er in der … tätig gewesen, bis er einen Arbeitsunfall erlitten habe. Zu der Schuldeinsicht sei er erst in der Strafhaft gekommen. Zuvor habe er gedacht, er bekomme möglicherweise Bewährung und der andere sei ja auch mit schuld. Es sei zutreffend, dass er die Wohnung, in der er mit seiner Verlobten gewohnt habe, verwüstet habe, nachdem sich diese von ihm getrennt habe. Deshalb habe er an dem Gewaltpräventionsprogramm teilgenommen. Die geschiedene Ehefrau des Klägers erklärte im Wesentlichen, der Kläger sei im Jahr 2015 aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen. Zu dieser Zeit hätten sie sich getrennt. Am … … 2017 sei die Scheidung erfolgt. Nach der Trennung habe der Kläger die Kinder alle zwei Wochen über das Wochenende zu sich genommen. Er sei aber auch fast täglich bei ihnen gewesen. Sie hätten gemeinsam zu Abend gegessen oder Ausflüge gemacht. Er sei ein guter Vater und die Kinder hingen sehr an ihm. Sie hätten den Kläger auch regelmäßig in der JVA besucht. Nur ihre Tochter sei erst zweimal in der JVA gewesen, da sie dort Angst habe. Bis zur Inhaftierung habe der Kläger Unterhaltszahlungen geleistet, soweit er etwas gehabt habe. Ihr gegenüber sei der Kläger nie gewalttätig geworden. Sollte er die angebotene Wohnmöglichkeit nicht wahrnehmen können, sei er auch bei ihr willkommen. Sie wolle den Kläger nach Haftentlassung in die Kinderbetreuung und -erziehung einbinden. Der Kläger bereue die Tat, über die inneren Vorgänge beim Kläger könne sie jedoch nichts sagen. Er habe vor der Tat Alkohol getrunken, was während ihrer Ehe kein Thema gewesen sei. Vor der Inhaftierung habe sie einen Antrag auf Unterhaltsvorschuss gestellt.
35
Der Beklagtenvertreter hat die Frist in Nr. 2 Satz 2 des streitgegenständlichen Bescheids auf vier Jahre und die Frist Nr. 2 Satz 4 auf sechs Jahre verkürzt.
36
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichts- und Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
37
1. Die zulässige Klage ist unbegründet.
38
Der Bescheid der Beklagten vom 17. Juni 2021 in der Gestalt, die er in der mündlichen Verhandlung gefunden hat, ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
39
a) Die in Nr. 1 des streitgegenständlichen Bescheids verfügte Ausweisung ist rechtmäßig.
40
Maßgeblicher Zeitpunkt zur rechtlichen Überprüfung der Ausweisung sowie der weiteren durch die Beklagte getroffenen Entscheidungen ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. nur BVerwG, U.v. 30.7.2013 – 1 C 9.12 – juris Rn. 8; U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – juris Rn. 12).
41
Nach § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.
42
Dem Kläger kommt ein erhöhter Ausweisungsschutz nach § 53 Abs. 3, 3a, 3b und 4 AufenthG nicht zu, da er keiner der dort genannten Personengruppen angehört. Insbesondere steht dem Kläger angesichts seiner mehrjährigen selbständigen Tätigkeit sowie seiner im Anschluss daran häufigen Arbeitgeberwechsel kein Aufenthaltsrecht nach dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG/Türkei über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) zu. Auf die zutreffenden Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid wird insofern Bezug genommen.
43
Vom Kläger geht eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung aus. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose hinsichtlich der Wiederholungsgefahr zu treffen, ohne dass sie an die Feststellungen der Strafgerichte rechtlich gebunden sind (vgl. zum Erfordernis etwa BVerwG, U.v. 26.2.2002 – 1 C 21/00 – juris Rn. 22). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Tat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeitdes Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. Für die Feststellung der entscheidungserheblichen Wiederholungsgefahr gilt ein differenzierender Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wonach an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18). Der Rang des bedrohten Rechtsguts bestimmt dabei die mögliche Schadenshöhe, wobei jedoch keine zu geringen Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts gestellt werden dürfen (BVerwG, U.v. 10.7.2012, a.a.O.). Bei schweren Gewaltstrafen sind keine hohen Anforderungen an die Wiederholungsgefahr zu stellen. Zwar reicht die nur entfernte Möglichkeit der erneuten Tatbegehung nicht. Erforderlich, aber auch ausreichend für die Begründung eines spezialpräventiven Ausweisungsinteresses ist in solchen Fällen, dass eine Wiederholung ernsthaft droht (vgl. OVG Bremen, B. v. 12.3.2020 – 2 B 19/20 – juris).
44
Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe geht vom Kläger eine erhebliche Wiederholungsgefahr aus. Sein persönliches Verhalten stellt gegenwärtig eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung dar, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Die der Ausweisungsentscheidung und der Verurteilung des Landgerichts München I vom … August 2020 zu Grunde liegende Straftat (gefährliche Körperverletzung) ist schwerwiegend. Der Schutz der Bevölkerung vor Körperverletzungsdelikten stellt ein Grundinteresse der Gesellschaft dar. Die betroffenen Schutzgüter des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit nehmen in der Hierarchie der in den Grundrechten enthaltenen Wertordnung einen sehr hohen Rang ein und lösen staatliche Schutzpflichten aus. Zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung besteht unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände eine erhebliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass vom Kläger die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten, insbesondere im Bereich der Körperverletzungsdelikte, ausgeht. Der Kläger hat wegen eines nichtigen Anlasses, nämlich des verwehrten Einlasses in ein Lokal, mit zumindest bedingtem Tötungsvorsatz mindestens viermal mit einem Messer mit 10 cm Klingenlänge auf Kopf, Hals und Oberkörper des Geschädigten eingestochen. Dass der Geschädigte hierbei nicht noch schwerwiegendere körperliche Verletzungen davongetragen hat oder gar getötet wurde, war reiner Zufall. Eine derartige Überreaktion auf den verweigerten Einlass in ein Lokal lässt sich nur mit einem leicht verletzbaren Ehrgefühl einhergehend mit einem hohen Aggressionspotenzial des Klägers erklären, der offensichtlich die Zurückweisung, zumal in Begleitung zweier Damen, nicht verwinden konnte. Hervorzuheben ist bei der Tatbegehung, dass der Kläger nicht vor dem Hintergrund aufwallender Gefühle im Affekt handelte, sondern sich zunächst von dem Lokal entfernte, um erst 2 ½ h später mit einem Messer zum Lokal zurückzukehren und zur Tat zu schreiten. Dass der Kläger bei Verletzung seines Ehrgefühls ein erhebliches Aggressionspotenzial in sich trägt, zeigt nicht zuletzt auch die Verwüstung der Wohnung seiner ehemaligen Verlobten, nachdem sich diese von ihm getrennt hat. Eine Situation, in der sich der Kläger in seiner Ehre gekränkt fühlt, kann auch in Zukunft jederzeit wieder auftreten, zumal bei einer derart niedrigen Schwelle wie dem verweigerten Einlass in eine Lokalität. Auch eine alkoholbedingte Enthemmung, die hierbei verstärkend wirkt, kann trotz Ausschlusses einer Suchterkrankung auch bei „normalem“ Alkoholkonsum jederzeit wieder eintreten. Zwar ist der Kläger Erstverbüßer und hat sich in Haft bis auf einen siebentägigen Arrest wegen Verstoßes gegen das Handyverbot und einer Verwarnung wegen Umgehung der Briefkontrolle gut geführt. Auch wurde eine sozialtherapeutische Behandlungsmaßnahme für Gewalttäter bei dem erstmalig mit einem Gewaltdelikt in Erscheinung getretenen Kläger für nicht zwingend erforderlich erachtet, sondern lediglich die Teilnahme an der Gewaltpräventionsgruppe, die der Kläger mittlerweile absolviert hat und bei der ihm von Seiten der Leiter der Gewaltpräventionsgruppe ein sehr guter Erfolg und eine positive Sozialprognose attestiert wurde. Die konkrete Wiederholungsgefahr kann jedoch frühestens dann entfallen, wenn der Kläger die mit dem erfolgreichen Abschluss der Gewaltpräventionsgruppe verbundene Erwartung künftigen straffreien Verhaltens auch außerhalb des geschützten Rahmens des Strafvollzugs glaubhaft gemacht hat. Dies gilt angesichts des bislang zwar einmaligen, aber besonders schwerwiegenden Gewaltdelikts umso mehr, als auch die JVA … zu durchaus unterschiedlichen Einschätzungen des Klägers gelangt, wie sich aus der Stellungnahme vom 14. Februar 2022 ergibt, in der dem Kläger entgegen der Stellungnahme vom 14. Februar 2022 gerade keine positive Legal- und Sozialprognose gestellt wird. Zudem ist zu berücksichtigen, dass der Kläger bis zur strafgerichtlichen Hauptverhandlung keine Verantwortung für seine Tat übernommen hat. Stattdessen hat er versucht, durch falsche Angaben eine Notwehrsituation vorzutäuschen und ist sogar nicht einmal davor zurückgeschreckt, einen Zeugen zu bedrohen, um ihn zu einer entsprechenden Falschaussage zu veranlassen. Noch nach zehn Monaten Untersuchungshaft hat er einen Brief an den türkischen Präsidenten Erdogan verfasst, indem er sich als unschuldig bezeichnet. Dass der Kläger, wie er in der mündlichen Verhandlung angegeben hat, nach seiner Verurteilung in der Strafhaft zur Schuldeinsicht gekommen sei, überzeugt angesichts des Verhaltens des Klägers in der über einjährigen Untersuchungshaft wenig, zumal er im Widerspruch zu seinen Angaben Reue bereits in der strafgerichtlichen Hauptverhandlung und damit vor der Verurteilung bekundet und sich entschuldigt hat. Angesichts der widersprüchlichen Angaben des Klägers liegt insoweit die Annahme nahe, dass dies aus rein taktischen Gründen erfolgt ist, um vor dem Hintergrund des Verfahrensstandes eine möglichst milde Strafe zu erhalten. Angesichts dessen vermag es das Gericht auch nicht auszuschließen, dass der intelligente Kläger durch sein angepasstes Verhalten in der Haft und der Gewaltpräventionsgruppe lediglich eine vorzeitige Entlassung erzielen möchte. Eine nach wie vor bestehende Wiederholungsgefahr entfällt auch nicht aufgrund der von einem Freund angebotenen Wohn- und Erwerbsmöglichkeit nach der Haft. Zwar wird dem Kläger damit eine Wiedereingliederung erleichtert. Der Kläger hat jedoch bis auf einen Monat in einer WG stets über eine eigene Wohnung verfügt und war auch überwiegend im …- und …handel beschäftigt, wo er nach Haftentlassung wieder tätig werden will. Diese positiven Faktoren haben ihn jedoch nicht von der Begehung der schwerwiegenden Gewalttat abgehalten, nachdem der Kläger nicht aus materieller Not heraus, sondern aufgrund seines verletzten Ehrgefühls und seines Aggressionspotenzials gehandelt hat. Auch die Beziehung zu seiner geschiedenen Ehefrau und seinen Kindern hat ihn von der Tatbegehung nicht abhalten können. Schließlich legt auch das Verhalten des Klägers in der Vergangenheit, aus dem hinsichtlich der Wiederholungsgefahr Rückschlüsse zu ziehen sind, eine hohe Rückfallgefahr nahe: So ist der Kläger vor seiner Verurteilung wegen gefährlicher Körperverletzung seit 2013 bereits sechsmal – zwar nicht einschlägig, aber mit ständig steigender Delinquenz – strafrechtlich in Erscheinung getreten, insbesondere wegen Verkehrsdelikten bzw. im Zusammenhang mit seiner selbständigen Tätigkeit, und wurde zu Geldstrafen in Höhe von insgesamt 410 Tagessätzen verurteilt. Weder die fünf strafrechtlichen Verurteilungen zu z.T. hohen Geldstrafen noch die ausländerrechtliche Verwarnung vom Juni 2018 konnten den Kläger davon abhalten, nur ein Jahr nach der Verwarnung ein massives Gewaltdelikt zu begehen.
45
Abgesehen davon bestehen auch erhebliche generalpräventive Gründe für die Ausweisung. § 53 Abs. 1 AufenthG verlangt nach seinem Wortlaut nur, dass der weitere „Aufenthalt“ des Ausländers eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung darstellt. Vom weiteren Aufenthalt eines Ausländers kann auch dann eine solche Gefahr ausgehen, wenn von ihm selbst keine (Wiederholungs-)Gefahr mehr ausgeht, im Fall des Unterbleibens einer ausländerrechtlichen Reaktion auf sein Fehlverhalten andere Ausländer aber nicht wirksam davon abgehalten werden, vergleichbare Verstöße zu begehen. Diese Auslegung des Wortlauts wird systematisch durch § 53 Abs. 3 ff. AufenthG, die ausdrücklich für bestimmte ausländerrechtlich privilegierte Personengruppen verlangen, dass das „persönliche Verhalten des Betroffenen“ eine schwerwiegende Gefahr darstellt, sowie die Gesetzgebungsgeschichte (BTDrs. 18/4097 S. 49) bestätigt. Auch aus weiteren Regelungen des Aufenthaltsgesetzes, z.B. § 54 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a AufenthG, ergibt sich, dass es generalpräventive Ausweisungsinteressen berücksichtigt sehen will (vgl. BVerwG, U.v. 9.5.2019 – 1 C 21.18 – BeckRS 2019, 16744 Rn. 17). Dem Gedanken der Generalprävention liegt zugrunde, dass ein besonderes Bedürfnis besteht, durch die Ausweisung andere Ausländer von Taten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten. Erforderlich ist regelmäßig, dass eine Ausweisungspraxis, die an die Begehung ähnlicher Taten anknüpft, geeignet ist, auf potentielle weitere Täter abschreckend zu wirken. Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass die Heranziehung generalpräventiver Gründe bei einer Ausweisungsentscheidung verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist, wenn der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet wird (vgl. BVerfG, B.v. 21.3.1985 – 2 BvR 1642/83; B.v. 17.1.1979 – 1 BvR 241/77; B.v. 10.8.2007 – 2 BvR 535/06; B.v. 22.8.2000 – 2 BvR 1363/2000 – juris). Es liegt vorliegend im öffentlichen Interesse, das vom Kläger begangene Gewaltdelikt mit dem Mittel der Ausweisung zu bekämpfen, um auf diese Weise andere Ausländer von der Nachahmung eines solchen Verhaltens abzuschrecken. Es soll anderen Ausländern vor Augen geführt werden, dass eine derartige Straftat mit der Aufenthaltsbeendigung und mit einem damit einhergehenden Aufenthaltsverbot bedacht werden. Diesem Zweck wird durch eine einheitlich verlässliche Verwaltungspraxis der Ausländerbehörden Rechnung getragen.
46
Generalpräventive Aspekte können entgegen der Auffassung der Klagepartei auch Berücksichtigung finden. Die zitierte Rechtsprechung des VGH Baden-Württemberg vom 23. Oktober 2012 zu § 56 AufenthG a.F. (Az: 11 S 1470/11) besagt lediglich, dass bei einem Ausländer, der in familiärer Lebensgemeinschaft mit seiner deutschen Ehefrau und seinen minderjährigen deutschen Kindern lebt, allein generalpräventive Gründe in der Regel nicht den Eingriff in Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK rechtfertigen. Abgesehen davon, dass der Beschluss zu einer bereits überholten Rechtslage erging, ist weder der zugrundeliegende Sachverhalt eines bereits entlassenen und mit seiner Familie zusammenlebenden Ausländers vergleichbar noch wird die Ausweisung im vorliegenden Fall allein auf generalpräventive Gründe gestützt (s.o.).
47
Die bei Vorliegen einer tatbestandsmäßigen Gefährdungslage i.S.d. § 53 Abs. 1 AufenthG zu treffende Abwägung ergibt, dass das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse des Klägers überwiegt.
48
§ 53 AufenthG gestaltet die Ausweisung als Ergebnis einer umfassenden, ergeb- nisoffenen Abwägung aller Umstände des Einzelfalls unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aus. Sofern das öffentliche Interesse an der Ausreise das Interesse des Ausländers am Verbleib im Bundesgebiet überwiegt, ist die Ausweisung rechtmäßig. In die Abwägung nach § 53 Abs. 1 AufenthG sind die in §§ 54, 55 AufenthG vorgesehenen Ausweisungs- und Bleibeinteressen mit der im Gesetz vorgenommenen grundsätzlichen Gewichtung einzubeziehen. Neben den dort explizit aufgeführten Interessen sind aber noch weitere, nicht ausdrücklich benannte sonstige Bleibe- oder Ausweisungsinteressen denkbar. Die Katalogisierung in den §§ 54, 55 AufenthG schließt die Berücksichtigung weiterer Umstände nicht aus (BT-Drs. 18/4097, S. 49). Nach § 53 Abs. 2 AufenthG sind bei der Abwägung nach den Umständen des Einzelfalles insbesondere die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen des Ausländers im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen. Die Aufzählung der in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Kriterien ist aber nicht abschließend (BT-Drs. 18/4097, S. 50). Es sind für die Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der Ausweisung maßgeblich auch die Kriterien des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte heranzuziehen (vgl. nur EGMR, U.v. 18.10.2006 – Üner, Nr. 46410/99 – juris; EGMR, U.v. 2.8.2001 – Boultif, Nr. 54273/00 – InfAuslR 2001, 476-481). Hiernach sind vor allem die Art und die Schwere der vom Ausländer begangenen Straftaten, die Dauer des Aufenthaltes in dem Land, aus dem er ausgewiesen werden soll, die seit der Begehung der Straftat verstrichene Zeit und das seitherige Verhalten des Ausländers, die Staatsangehörigkeit der betroffenen Personen, die familiäre Situation des Ausländers, ob zu de Familie Kinder gehören und welches Alter diese haben, sowie die Ernsthaftigkeit der Schwierigkeiten, welche die Familienangehörigen voraussichtlich in dem Staat ausgesetzt wären, in den der Ausländer ausgewiesen werden soll, die Belange und das Wohl der Kinder und die Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Zielland zu berücksichtigen (VG Oldenburg, U.v. 11.1.2016 – 11 A 892/15 – juris Rn. 24).
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Im Fall des Klägers besteht ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse i.S.d. § 54 Abs. 1 Nr. 1 und 1a Buchst. b) AufenthG, da er mit Urteil des Landgerichts München vom … August 2020 wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren und 6 Monaten verurteilt wurde.
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Dem besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse steht ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 und 4 AufenthG gegenüber, da der Kläger eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat und sein Sorgerecht für seine minderjährigen Kinder deutscher Staatsangehörigkeit ausübt.
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Bei der nach § 53 Abs. 1 AufenthG erforderlichen Abwägung zwischen Ausweisungs- und Bleibeinteresse überwiegt bei Berücksichtigung der in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Kriterien sowie aller sonstigen Umstände im Fall des Klägers das öffentliche Interesse an der Ausreise sein Bleibeinteresse. Die Ausweisung ist angesichts der Gesamtumstände und unter Berücksichtigung der Anforderungen der Art. 6 GG und Art. 8 EMRK nicht unverhältnismäßig.
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Nach Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens. Die Behörde darf nach Art. 8 Abs. 2 EMRK in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Da Art. 8 Abs. 2 EMRK eindeutig Ausnahmen von den in Art. 8 Abs. 1 EMRK zugesicherten Rechten vorsieht, kann aus Art. 8 Abs. 1 EMRK kein absolutes Recht auf Nichtausweisung abgeleitet werden (Bauer in Bergmann/Dienelt, AuslR, 11. Aufl. 2016, Vor §§ 53-56 Rn. 96 ff.). Vielmehr bedarf es einer einzelfallbezogenen Verhältnismäßigkeitsprüfung, in die sämtliche Aspekte des Einzelfalls einzustellen sind.
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Nach der wertentscheidenden Grundsatznorm des Art. 6 Abs. 1 und 2 GG hat der Staat die Pflicht, die Familie zu schützen und zu fördern. Jedoch ergibt sich auch hieraus kein unmittelbarer Anspruch auf Aufenthalt (vgl. nur BVerfG, B.v. 9.1.2009 – 2 BvR 1064/08 – juris Rn. 14). Vielmehr verpflichtet Art. 6 Abs. 1 und 2 GG die Ausländerbehörde wie auch die Gerichte, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des Klägers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen bei der Entscheidung zu berücksichtigen (BVerfG, B.v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – juris – Rn. 16; BVerfG, B.v. 9.1.2009 – 2 BvR 1064/08 – juris Rn. 14). Insofern beanspruchen die oben zu Art. 8 EMRK genannten Kriterien auch Geltung für die Beantwortung der Frage, ob der vorliegende Eingriff verhältnismäßig im Sinne von Art. 6 GG, Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 20 Abs. 3 GG ist.
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Der Kläger ist trotz seines mittlerweile 18-jährigen Aufenthalts im Bundesgebiet nicht derart irreversibel in die deutschen Lebensverhältnisse eingefügt, dass ihm ein Leben im Staat seiner Staatsangehörigkeit unzumutbar wäre. Der Kläger ist in der Türkei geboren und aufgewachsen, hat dort das Gymnasium abgeschlossen und war beruflich als Leiter eines …-geschäfts tätig. Erst im Jahre 2004 im Alter von 27 Jahren ist er in das Bundesgebiet eingereist. Den Kläger erwarten somit im Fall einer Rückkehr in die Türkei weder sprachliche noch kulturelle Hürden, so dass ihm insoweit eine Reintegration problemlos möglich sein wird. Hinsichtlich der wirtschaftlichen Integration im Bundesgebiet ist zu berücksichtigen, dass der Kläger – trotz des vorgelegten Stellenangebots – über keine gesicherte berufliche Position verfügt. Der Kläger hat keine Berufsausbildung abgeschlossen und war trotz seines langjährigen Aufenthalts nie wirklich langfristig beschäftigt, sondern – hauptsächlich im Bereich des …- und …-handels – bei ständig wechselnden Arbeitgebern, teils in nur geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen, tätig. Im Zusammenhang mit seiner Selbständigkeit wurde er sogar wiederholt straffällig. Der Kläger wird sich in seinem Heimatland, zumal angesichts seiner deutschen Sprachkenntnisse, eine neue Existenz aufbauen und für sich selbst sorgen können, wie er das bereits vor seiner Einreise nach Deutschland getan hat. Nach eigenen Angaben kann er insbesondere im …- und …-handel auch von der Türkei aus tätig werden. Überdies leben auch die vier Geschwister des Klägers in der Türkei, die ihn ggf. zusätzlich unterstützen können.
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Die Ehe des Klägers ist mittlerweile geschieden. Zwar hat der Kläger noch guten Kontakt zu seiner Exfrau. Diesen kann er aber auch von der Türkei aus über Fernkommunikationsmittel und Besuche aufrechterhalten.
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Die Ausweisung ist auch unter Berücksichtigung der Beziehung des Klägers zu seinen minderjährigen deutschen Kindern mit Art. 6 GG und Art. 8 EMRK vereinbar. Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalles geboten, bei der auf der einen Seite die familiären Bindungen zu berücksichtigen sind, auf der anderen Seite aber auch die sonstigen Umstände des Einzelfalles. Bzgl. der Beziehung zu seinen Kindern ist nicht nur auf das Elternrecht des Klägers, sondern auch auf die Sicht der Kinder abzustellen und zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist (vgl. BVerfG, B.v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – juris). In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt des Kindes zu seinen Eltern und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in der Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dienen und das Kind beide Elternteile braucht. Ein hohes, gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechendes Gewicht haben die Folgen einer vorübergehenden Trennung insbesondere, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt (BVerfG, B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris; vgl. auch B.v. 22.5.2018 – 2 BvR 941/18 – juris Rn. 8). Ein solcher Fall ist hier aber nicht gegeben. Die Kinder des Klägers sind mittlerweile sieben bzw. 13 Jahre alt und damit alt genug, um zu verstehen, dass die Trennung vom Vater nur vorübergehender Natur ist. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass der Kläger seit 2015 nicht mehr in häuslicher Gemeinschaft mit seinen Kindern lebt. Zwar hat er auch nach der Trennung von seiner Exfrau den regelmäßigen Kontakt zu seinen Kindern aufrechterhalten und sein Personensorgerecht ausgeübt. Seit 21. Juli 2019 befindet sich der Kläger jedoch in Haft, wo er seither von seinem 13jährigen Sohn ca. einmal monatlich, von seiner siebenjährigen Tochter erst zweimal besucht wurde. Seit seiner Inhaftierung und damit bereits nahezu drei Jahre ist für die Kinder die Trennung vom Kläger bzw. der nur in größeren Abständen stattfindende kurze Besuchs- bzw. fernmündliche Kontakt daher gelebte Realität, so dass auch ein längerer Auslandsaufenthalt für die Kinder keine grundlegende Umwälzung ihrer bisherigen Lebensbedingungen bewirkt. Die Kinder sind in einem Alter, indem der Kontakt auch von der Türkei aus durch die verschiedenartigen Formen moderner Kommunikation aufrechterhalten werden kann. Ob die Mutter der Kinder ihre Urlaube in der Türkei verbringen will, um den Kindern den Besuch beim Kläger zu ermöglichen, kann dahinstehen. Es liegt in der Verantwortung der Eltern, den Schaden für die Kinder möglichst gering zu halten. Abgesehen davon können Kinder in diesem Alter auch schon ohne ihre Eltern unter besonderer Aufsicht des Bordpersonals allein mit dem Flugzeug verreisen. Überdies besteht die Möglichkeit der Beantragung von Betretenserlaubnissen (§ 11 Abs. 8 AufenthG) zum Zweck des Besuchs der Kinder. Schließlich ist bei den Umständen des Einzelfalls auch zu berücksichtigen, dass den Kläger weder die Beziehung zu seinem Sohn davon abgehalten hat, straffällig zu werden, noch die Geburt seiner Tochter im Jahr 2015 zu der Einsicht gebracht hat, künftig ein straffreies Leben zu führen. Vielmehr hat er im Jahr 2018 mit einer massiven Gewalttat seine bislang schwerste Straftat begangen.
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Vor diesem Hintergrund, unter Berücksichtigung der Schwere der vom Kläger zuletzt begangenen Gewalttat und der von ihm ausgehenden Wiederholungsgefahr fällt die nach § 53 Abs. 1, Abs. 2 AufenthG zu treffende Gesamtabwägung zu Lasten des Klägers aus. Das Ausweisungsinteresse überwiegt das Bleibeinteresse. Die Ausweisung steht auch mit Art. 8 EMRK im Einklang, da sie gesetzlich vorgesehen ist (§ 53 Abs. 1 AufenthG) und einen in dieser Bestimmung aufgeführten legitimen Zweck, nämlich die Verteidigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und die Verhinderung von Straftaten, verfolgt. Die Ausweisung ist die geeignete, erforderliche und angemessene Maßnahme, um den beabsichtigten Zweck durchzusetzen. Durch ein anderes, milderes Mittel kann der mit ihr verfolgte Zweck vorliegend nicht erreicht werden. Im Ergebnis ist die Ausweisung des Klägers daher verhältnismäßig und rechtmäßig und zur Wahrung des mit ihr verfolgten Interesses unerlässlich.
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b) Die Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbots beruht auf § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG.
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Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist nach § 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG von Amts wegen zu befristen. Nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist über die Länge der Frist nach Ermessen zu entscheiden. Sie darf gemäß § 11 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Abs. 5 AufenthG fünf Jahre nur überschreiten, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Die Frist soll in diesem Fall zehn Jahre nicht überschreiten. Bei der Bestimmung der Länge der Frist sind in einem ersten Schritt das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen; es bedarf einer prognostischen Einschätzung im Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. In einem zweiten Schritt ist die so ermittelte Frist an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen und den Vorgaben aus Art. 8 EMRK, zu überprüfen und gegebenenfalls zu verkürzen; dieses normative Korrektiv bietet den Ausländerbehörden und den Gerichten ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen zu begrenzen (vgl. BayVGH, U.v. 25.8.2015 – 10 B 13.715 – juris Rn. 56). Diese vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Grundsätze (BVerwG, U.v. 14.5.2013 – 1 C 13.12- juris Rn. 32; U.v. 13.12.2012 – 1 C 14/12 – InfAuslR 2013, 141 Rn. 13 ff.; U.v. 14.5.2013 – 1 C 13/12 – NVwZ-RR 2013, 778 Rn. 32 f.) gelten auch im Rahmen der geänderten Fassung des § 11 AufenthG fort (BayVGH, B.v. 13.5.2016 – 10 ZB 15.492 – juris Rn. 4; BayVGH, U.v. 28.6.2016 – 10 B 15.1854 – Rn. 50).
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Gemessen an diesen Vorgaben ist eine Befristung auf zuletzt vier Jahre unter der Bedingung der Straf-, Drogen- und Alkoholfreiheit, andernfalls auf sechs Jahre nicht zu beanstanden. Ermessensfehler im Sinne von § 114 VwGO sind nicht ersichtlich.
Die in § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG genannte Höchstfrist ist vorliegend bedeutungslos, weil der Kläger aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen wurde. Die behördliche Entscheidung hält sich in dem von § 11 Abs. 5 AufenthG festgelegten Rahmen. Die Beklagte hat zutreffend das Gewicht des Ausweisungsgrundes und den mit der Ausweisung verfolgten Zweck sowie die persönlichen Interessen des Klägers im Rahmen ihres Ermessens berücksichtigt und eine Frist im mittleren Bereich des zur Verfügung stehenden Rahmens bestimmt. Angesichts des Gewichts der gefährdeten Rechtsgüter Leib und Leben sowie der erheblichen Wiederholungsgefahr wäre – ohne Berücksichtigung der familiären und persönlichen Bindungen des Klägers im Bundesgebiet – auch eine höher bemessene Frist zur Erreichung des Zwecks der Aufenthaltsbeendigung gerechtfertigt. Da sich die Frist aber an den verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen der Art. 6 GG und Art. 8 EMRK messen lassen muss, ist unter Berücksichtigung der familiären und persönlichen Bindungen des Klägers, insbesondere zu seinen beiden minderjährigen Kindern, eine Frist von vier Jahren unter o.g. Bedingungen, anderenfalls von sechs Jahren, nicht zu beanstanden. Gegebenenfalls bestehende besondere Härten können durch die Ausnahmegenehmigung nach § 11 Abs. 8 AufenthG gemildert werden.
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c) Die Abschiebung unmittelbar aus der Haft ergibt sich aus § 58 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Nr. 1 AufenthG. In diesem Fall bedarf es keiner Fristsetzung nach § 59 Abs. 1 AufenthG. Die dem Kläger zur freiwilligen Ausreise gesetzte Frist für den Fall, dass er vor Durchführung der Abschiebung aus der Haft entlassen wird, entspricht § 59 Abs. 1 AufenthG
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
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3. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2, Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).