Titel:
Haftungsinanspruchnahme für Umsatzsteuerschulden
Normenketten:
AO § 34, § 35, § 69, § 71
EStG § 3c Abs. 2, § 9 Abs. 1 S. 1, § 11 Abs. 2 S. 1, § 17, § 19 Abs. 1 S. 1 Nr. 1
StPO § 111b, § 111c
FGO § 100 Abs. 2 S. 1,§ 115 Abs. 2 Nr. 1, § 135 Abs. 1
Leitsatz:
Der Begriff der Anschaffungskosten zur Wahrung des Nettoprinzips ist weit auszulegen, um in dem durch § 17 Abs. 2 EStG gesteckten Rahmen möglichst solche Aufwendungen zu erfassen, die auch bei Mitunternehmern zu berücksichtigen wären. (Rn. 35) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagwort:
Werbungskosten
Rechtsmittelinstanzen:
BFH München vom -- – VI R 22/22
BFH München, Beschluss vom 22.09.2023 – IX R 29/22
Weiterführende Hinweise:
Revision zugelassen
Fundstellen:
EFG 2023, 1447
StEd 2023, 531
GmbH-Stpr 2024, 91
BeckRS 2022, 47575
LSK 2022, 47575
Tenor
1. Der Einkommensteuerbescheid 2015 vom 18.01.2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 10.09.2020 wird dahingehend abgeändert, dass die Einkommensteuer auf xx € festgesetzt wird.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Die Kosten des Verfahrens haben die Kläger zu tragen.
3. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
1
Streitig ist, ob die Klägerin durch ihre Haftungsinanspruchnahme für Umsatzsteuerschulden der Fa. B GmbH, deren Gesellschafterin (30%) und Geschäftsführerin sie war, dem Veranlagungszeitraum 2015 zuzurechnende, den Gesamtbetrag der Einkünfte mindernde Ausgaben getätigt hat.
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Die Kläger sind Ehegatten und wurden für das Streitjahr 2015 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Beide erzielten Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit.
3
Die Klägerin war vom 02.04.2014 bis 19.02.2015 bei der Firma Fa. B GmbH mit Sitz in 1 als Geschäftsführerin beschäftigt.
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Für das Streitjahr wurde zunächst keine Einkommensteuererklärung abgegeben.
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Am 02.10.2015 wurde bei der Firma Fa. B GmbH mit einer Fahndungsprüfung begonnen, die mit Ermittlungsbericht vom 15.12.2017 abgeschlossen wurde. Im Rahmen der Ermittlungen wurden folgende Sachverhalte festgestellt:
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Die Fa. B GmbH wurde am 26.02.2014 von der Zeugin Frau B gegründet, die Klägerin als Geschäftsführerin bestellt und dies auch entsprechend im Handelsregister eingetragen. Die Tätigkeit als Geschäftsführerin endete zum 19.02.2015.
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Bei der Durchsuchung konnten in den Wohnräumen der Klägerin ein DIN A 4 Schreibheft sowie ein kleines Notizbuch sichergestellt werden, aus denen neben chinesischen Schriftzeichen auch Tagesdaten ersichtlich waren. Nach erfolgter Übersetzung konnte aus Sicht der Fahndungsprüfung festgestellt werden, dass es sich bei den Notizen um tägliche Aufzeichnungen der Bar- und EC-Karten-Zahlungen, der verkauften und erhaltenen Gutscheine sowie um Zusammenstellungen von Lohnzahlungen und Wareneinkäufen handelte. Ein Vergleich der vorliegenden EC-Karten-Abrechnungen mit den handschriftlichen Aufzeichnungen der Klägerin ergab, dass diese übereinstimmten. Ebenso wurden die handschriftlichen Aufzeichnungen mit den verkauften Gutscheinen lt. Reservierungsbuch 2014 verglichen. Auch hier ergab sich zur Überzeugung der Fahndungsprüfung, dass die Summe der verkauften Gutscheine pro Tag mit den Tagesaufzeichnungen übereinstimmte. Weiterhin wurde festgestellt, dass die Klägerin in Besitz des „Chef-Passworts“ für die Registrierkasse war. Die Ermittlungen der Steuerfahndung ergaben zudem, dass sich die Geschäftspartnerin und die Klägerin im Zuge der Gründung gemeinsam an der GmbH beteiligt hatten und zwar im Verhältnis 30% (Klägerin) und 70% (Frau B). Außerdem wurde ein in chinesischer Sprache verfasstes Schriftstück vom 22.01.2015 mit der Übersetzung „Heute erhält A2 Hundertfünfzigtausend Euro (150.000,00 €) von B.“ vorgefunden. Dieses Schriftstück wurde von der Klägerin unterzeichnet. Sie bestritt jedoch zunächst den Erhalt des Geldes. Aus einem Schriftstück, das ebenfalls in den Wohnräumen der Klägerin aufgefunden wurde, ergab sich nach Ansicht der Fahndungsprüfung, dass am 19.02.2015 die Zusammenarbeit der Klägerin und der Geschäftspartnerin endete. Das Schriftstück trägt die Überschrift „Vereinbarung für Desinvestition“ und ist von beiden, also auch von der Klägerin unterzeichnet. Daraus geht hervor, dass die Klägerin und die Geschäftspartnerin am 1. April 2014 zusammen die Fa. B, 1 gekauft und betrieben haben. Der Anteil der Klägerin betrage 30%. Dieser Anteil solle an die Geschäftspartnerin verkauft werden, eine Anzahlung in Höhe von 50.000 € sei am 14.01.2015 fällig.
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Bei Durchsuchung des Schließfaches der Klägerin am 02.10.2015 wurde Bargeld in Höhe von 232.350 € aufgefunden. Das Schließfach wurde ausweislich der vorliegenden Niederschrift über die Versiegelung eines Schließfaches noch am selben Tag im Beisein der Klägerin versiegelt.
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Aus den bei der Klägerin vorgefundenen handschriftlichen Aufzeichnungen der erzielten Erlöse ergab sich zur Überzeugung der Fahndungsprüfung, dass die Klägerin an einigen Tagen eine Verteilung des am Tagesende übrig gebliebenen Bargeldbetrags im Verhältnis 70% / 30% vorgenommen hatte. Bei manchen Beträgen waren handschriftliche Vermerke wie „verteilt“ oder „verteilt Inventur“ erkennbar. Insgesamt ermittelte die Fahndung Beträge für die Monate April 2014 bis Dezember 2014 in Höhe von 257.996,80 € (30% = 77.399,04 €) und für Januar 2015 in Höhe von 91.052 € (30% = 27.315,60 €). Diese Beträge wurden dem Bericht über die Außenprüfung vom 04.12.2017 zugrunde gelegt.
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Mit Haftungsbescheid des Finanzamtes 1 vom 03.11.2015 wurde die Klägerin als Geschäftsführerin für die Verkürzung der Umsatzsteuerschulden der Fa. B GmbH in Höhe von 170.684,30 € gemäß §§ 69, 71 Abgabenordnung (AO) in Anspruch genommen. Ausweislich der angeführten Begründung des Haftungsbescheides erfolgte die Inanspruchnahme der Klägerin infolge der als GmbH-Geschäftsführerin begangenen Pflichtverletzung. Die Klägerin wurde aufgefordert, den Betrag durch Überweisung oder Einzahlung auf ein Konto des Finanzamtes zu begleichen. Ausweislich der vom Finanzamt 1 vorgelegten Einzahlungsquittungen hat die Klägerin am 19.04.2016 einen Betrag von 7.742,34 € und einen Betrag von 154.657,66 € (zusammen: 162.400 €) auf das Konto des Finanzamtes 1 eingezahlt.
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Aufgrund der Feststellungen im Steuerstrafverfahren erließ das beklagte Finanzamt am 18.01.2018 erstmalig einen Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2015, in dem es die Feststellungen der Fahndungsprüfung übernahm.
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Gegen diesen Bescheid haben die Kläger Einspruch eingelegt und zur Begründung vorgetragen, die Klägerin sei trotz ihrer Eigenschaft als Geschäftsführerin lediglich als Bedienung tätig und zu keiner Zeit selbst an der Fa. B GmbH beteiligt gewesen. Sie sei zu keinem Zeitpunkt mit den steuerlichen und finanziellen Angelegenheiten der Gesellschaft betraut gewesen. Sie habe weder die Umsatzsteuervoranmeldungen für die Gesellschaft eingereicht noch einen umfassenden Kassenzugriff gehabt. Die laut Fahndungsprüfung festgestellten Gewinnausschüttungen habe sie nie erhalten.
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Das Einspruchsverfahren verlief erfolglos; mit Einspruchsentscheidung vom 10.09.2020 wurden die Einsprüche als unbegründet zurückgewiesen.
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Zur Begründung führte das Finanzamt aus, die Klägerin sei nach den Feststellungen der Fahndungsprüfung an der Fa. B GmbH beteiligt gewesen und als Geschäftsführerin zur Aufzeichnung und Erfassung der zutreffenden Einnahmen in der Buchführung verpflichtet gewesen. Die Eintragungen in dem von der Klägerin geführten Schreibheft und im Notizbuch spiegelten die korrekten Umsätze wider, da die Beträge mit den täglichen EC-Karten-Abrechnungen und Mitschriften über die verkauften Gutscheine übereingestimmt hätten. Außerdem habe die Klägerin durch den Besitz des „Chef-Passworts“ für die Registrierkasse auf die tatsächlichen Einnahmen zugreifen und die festgestellten Erlösverkürzungen bewirken können. Der Verbleib des Geldes scheine ebenfalls geklärt, da bei Durchsuchung des Schließfaches der Klägerin Bargeld in Höhe von 232.350 € aufgefunden worden sei. Die Gesellschafter-Stellung ergebe sich bereits aus dem schriftlichen Vertrag vom 22.01.2015 mit Unterschrift der Klägerin. Hier sei das Beteiligungsverhältnis klar genannt worden. Dass das tatsächliche Beteiligungsverhältnis 70% / 30% betragen habe, werde auch durch die bei der Klägerin vorgefundenen handschriftlichen Aufzeichnungen der erzielten Erlöse bestätigt.
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Hiergegen hat der Prozessbevollmächtigte Klage erhoben und zur Begründung im Wesentlichen Folgendes vorgetragen:
16
Die Klägerin sei unstreitig vom 26.02.2014 bis zum 19.02.2015 Geschäftsführerin der Fa. B GmbH gewesen, an der sie auch zu 30% beteiligt gewesen sei. Ihre Tätigkeit habe im Januar 2015 geendet. Der Gewinn aus der Gesellschaft sei so aufgeteilt worden, dass die Geschäftspartnerin zu Beginn eines jeden Monats die Tageseinnahmen aus dem Restaurant vollständig vereinnahmt und hiervon die laufenden Kosten wie Miete, Löhne, Lieferanten, Strom usw. bestritten habe. Die Klägerin habe hieraus einen monatlich unterschiedlichen Betrag entsprechend ihrer Beteiligungsquote erhalten. Allerdings habe das Finanzamt versäumt, den Verlust der Klägerin aus der Veräußerung der GmbH-Beteiligung an die Geschäftspartnerin zu berücksichtigen. Die Klägerin habe für ihre Beteiligung an der Fa. B GmbH einen Betrag von 150.000 € aufgewendet und bei ihrem Ausscheiden diesen Betrag auch zurückerhalten. Hierbei seien vom Finanzamt aber weder die Aufwendungen der Klägerin für den Erwerb dieses Anteils noch nachträgliche Anschaffungskosten oder weitere Veräußerungskosten berücksichtigt worden. Der Klägerin seien für vorbereitende Treffen in 2 zur notariellen Beurkundung des Anteilserwerbs Aufwendungen in Höhe von 139,80 € entstanden. Zudem habe die Klägerin aufgrund des an sie ergangenen Umsatzsteuerhaftungsbescheides vom 03.11.2015 für die Gesellschaft Umsatzsteuer in Höhe von 170.684,30 € gezahlt. Diese Zahlung sei als Aufwendung der Klägerin bei Anschaffung und Veräußerung des Geschäftsanteils im Rahmen der Einkünfte aus Gewerbebetrieb im Streitjahr 2015 zu berücksichtigen bzw. als Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit. Das Finanzamt habe diesen Verlust bislang nicht berücksichtigt. Die Frage der Berücksichtigung der Aufwendungen sei auch nicht Gegenstand des im Strafverfahren gegen die Klägerin ergangenen Urteils des Amtsgerichts 3 vom 13.10.2020 gewesen.
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Im Klageverfahren hat der Prozessbevollmächtigte ergänzend vorgetragen, dass das Schließfach der Klägerin bei der Sparkasse 1 bereits am 02.10.2015 vom Finanzamt versiegelt worden sei und die Klägerin somit keinen Zugriff mehr gehabt habe. Im Jahr 2016 sei das Geld dann auf ein Konto des Finanzamts bei der Sparkasse einbezahlt worden und damit zur Erfüllung der Haftungsschuld aus dem Haftungsbescheid wegen Umsatzsteuer vom 03.11.2015 verwendet worden. Hierzu sei die Klägerin mit den Vollziehungsbeamten zum Schließfach gegangen und man habe das Geld gezählt und die Klägerin habe dieses anschließend auf das Konto des Finanzamtes einbezahlt. Aus Sicht der Klägerseite sei damit die Zahlung dem Jahr 2015 zuzuordnen, da mit der Versiegelung des Schließfaches die Verfügungsbefugnis der Klägerin schon im Jahr 2015 entfallen sei.
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Der Prozessbevollmächtigte beantragt,
den Einkommensteuerbescheid 2015 vom 18.01.2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 10.09.2020 dahingehend abzuändern, dass die Einkommensteuer 2015 unter Berücksichtigung der Inanspruchnahme der Klägerin als GmbH-Geschäftsführerin für Umsatzsteuerhaftung in Höhe von 170.684,30 € als Werbungskosten bei deren Einkünften aus nichtselbständiger Tätigkeiten,
hilfsweise als nachträgliche Anschaffungskosten für die Anteile an der Fa. B GmbH im Rahmen der Ermittlung des Veräußerungsgewinns gem. § 17 Abs. 2 und § 3c Abs. 2 EStG herabgesetzt wird.
19
Das Finanzamt beantragt,
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Im Klageverfahren hat dies ergänzend vorgetragen, dass der Klägerin nur solche Einnahmen zugerechnet worden seien, welche sie nach den Feststellungen der Fahndungsprüfung auch tatsächlich erhalten habe. Hierzu seien die handschriftlichen Aufzeichnungen der Klägerin zugrunde gelegt worden, in denen Beträge mit „verteilt“ oder „verteilt Inventur“ gekennzeichnet gewesen seien. Es sei lediglich eine Zurechnung von Bargeldbeträgen als verdeckte Gewinnausschüttung erfolgt, die eindeutig als „verteilt“ gekennzeichnet gewesen seien. In den Monaten April, Juni und Oktober 2014 hätten keine Aufzeichnungen über verdeckte Gewinnausschüttungen vorgelegen. Eine Schätzung für diese Monate sei zu Gunsten der Klägerin nicht erfolgt.
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Das Finanzamt habe über die Höhe des Veräußerungserlöses und der Anschaffungskosten der GmbH-Beteiligung der Klägerin bislang noch nicht entschieden. Zum Anteilserwerb seien bislang keine Unterlagen, Verträge etc. vorgelegt worden, aus denen hervorgehe, welchen Betrag die Klägerin für ihren Anteil aufgewendet habe. Die Behauptung der Klägerin, sie habe 150.000 € aufgewendet, um sich zu 30% an der GmbH zu beteiligen, sei bislang nicht nachgewiesen worden. Zwar habe die Steuerfahndung ein in chinesischer Sprache verfasstes Schriftstück vom 22.01.2015 mit der Übersetzung „Heute erhält A2 [Klägerin] Hundertfünfzigtausend Euro (150.000,00 €) von B.“ vorgefunden, welches die Klägerin unterschrieben habe.
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Bisher habe die Klägerin den Erhalt des Geldes jedoch bestritten. Da die Zusammenarbeit der Klägerin mit ihrer Geschäftspartnerin zum 19.02.2015 geendet habe, sei nicht unwahrscheinlich, dass es sich zumindest teilweise um die Bezahlung des Gesellschaftsanteils i.H.v. 30% von Frau B an die Klägerin gehandelt habe. Diesen Verkauf habe die Klägerin auch mit ihrer Unterschrift auf einer von der Steuerfahndung gefundenen Vereinbarung mit Frau B bestätigt. Eine Geldübergabe am 14.01.2015 habe im Rahmen der Fahndungsprüfung nicht festgestellt werden können. Der Geschäftsanteil sei offensichtlich am 22.01.2015 an die Klägerin in bar übergeben worden. Im Rahmen der Durchsuchung sei auch das Schließfach der Klägerin durchsucht und Bargeld in Höhe von 232.350 € aufgefunden worden, was auf die Übergabe des Bargeldes am 22.01.2015 an die Klägerin schließen lasse.
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Allerdings hätten bisher keine weitergehenden Erkenntnisse darüber vorgelegen, ob der an die Klägerin übergebene Betrag von 150.000 € dem Wert des Geschäftsanteils zum Zeitpunkt des Austritts der Klägerin aus der GmbH entsprochen habe. Die Zahlungen aufgrund des Haftungsbescheids vom 03.11.2015 stünden in keinem Zusammenhang mit dem Gesellschafter-Verhältnis bei der Fa. B GmbH, da diese Inanspruchnahme auf der Tätigkeit der Klägerin als Geschäftsführerin der GmbH basiert habe und nicht durch das Gesellschaftsverhältnis begründet worden sei. Die geleisteten Zahlungen seien demnach nicht als Betriebsausgaben bei den Einkünften aus Gewerbebetrieb im Rahmen von § 17 EStG zu berücksichtigen. Aus den vorliegenden Einzahlungsquittungen des Finanzamtes 1 ergebe sich, dass die Umsatzsteuer-Haftungsschulden in Höhe von 154.657 € und Säumniszuschläge hierzu in Höhe von 7.742 € erst am 19.04.2016 eingezahlt worden seien.
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Dem Gericht liegen die Akten des gegen die Klägerin und ihre Geschäftspartnerin vor dem Amtsgericht 3 unter dem Aktenzeichen xx geführten Strafverfahrens vor. Aus dem Urteil des Schöffengerichts vom 13.10.2020 ergibt sich, dass die Klägerin mit ihrer Geschäftspartnerin mündlich eine Beteiligung der Klägerin an der GmbH in Höhe von 30% vereinbart hatte. Die Klägerin und ihre Geschäftspartnerin führten das Restaurant gemeinsam. Mit Gesellschafterbeschluss vom 19.02.2015 berief die Geschäftspartnerin die Klägerin als Geschäftsführerin der GmbH ab und bestellte einen neuen Geschäftsführer. Der Geschäftsführerwechsel wurde am 10.03.2015 in das Handelsregister eingetragen. Die Klägerin und ihre Geschäftspartnerin erfassten nicht alle Umsätze aus dem Restaurantbetrieb in der Registrierkasse und verkürzten auch die Einkäufe entsprechend, um ein auffälliges Missverhältnis zwischen Einkäufen und Erlösen zu vermeiden. Als Geschäftsführerin gab die Klägerin für die GmbH monatlich elektronische Umsatzsteuer-Voranmeldungen ab, in der sie nur die Umsätze gemäß der unvollständigen Buchhaltung zugrunde legte. Der Sachverhalt stehe fest aufgrund der umfassenden Geständnisse der Klägerin und ihrer Geschäftspartnerin, welche sich mit dem übrigen Akteninhalt deckten.
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Wegen des weiteren Vorbringens wird auf die Schriftsätze der Beteiligten, den Inhalt der Akten sowie auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 20.10.2022 verwiesen.
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Das Gericht hat zum Erwerb und zur Veräußerung des Anteils der Klägerin an der Fa. B GmbH durch Vernehmung von Frau B als Zeugin Beweis erhoben; wegen der Aussage der Zeugin wird auf die Niederschrift vom 20.10.2022 verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist teilweise begründet.
28
Im angefochtenen Einkommensteuerbescheid 2015 sind Aufwendungen der Klägerin für ein vorbereitendes Treffen in 2 anlässlich des Erwerbs des Anteils von 30% an der Fa. B GmbH in Höhe von 139,80 € als Anschaffungskosten im Rahmen der im Streitjahr erfolgten Anteilsveräußerung unter Berücksichtigung des Teileinkünfteverfahrens steuermindernd zu berücksichtigen.
29
Im Übrigen ist die Klage abzuweisen.
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Soweit die Klägerin die Minderung des Gesamtbetrags der Einkünfte im Streitjahr um 170.684,30 € infolge der Haftungsinanspruchnahme als GmbH-Geschäftsführerin für Umsatzsteuerschulden der Fa. B GmbH begehrt, ist die Klage unbegründet, da der im Jahr 2016 geleistete Haftungsbetrag von 162.400 € mangels Abflusses im Streitjahr weder als Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit berücksichtigt werden kann noch mangels Zurechnung zu den Einkünften aus § 17 EStG den Veräußerungsverlust aus der Veräußerung der Beteiligung der Klägerin an der Fa. B GmbH im Streitjahr erhöht.
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1. Die Aufwendungen der Klägerin in Höhe von 139,80 € für ein vorbereitendes Treffen anlässlich des Erwerbs eines Anteils an der Fa. B GmbH sind im Rahmen der Veräußerung ihres Anteils im Streitjahr als Anschaffungskosten gemäß § 17 Abs. 2 Satz 1 EStG i.V.m. § 3c Abs. 2 EStG zu berücksichtigen.
32
a) Nach § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG gehört zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb auch der Gewinn/Verlust aus der Veräußerung von Anteilen an einer Kapitalgesellschaft, wenn der Veräußerer innerhalb der letzten fünf Jahre am Kapital der Gesellschaft unmittelbar oder mittelbar zu mindestens 1 Prozent beteiligt war.
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b) Zur Überzeugung des erkennenden Senats war die Klägerin im Jahr 2014 und im Streitjahr an der Fa. B GmbH zu 30%, und damit Wesentlich im Sinne von § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG, beteiligt. Dies ergibt sich zum einen aus der zwischen der Klägerin und der Zeugin Frau B geschlossenen „Vereinbarung für Desinvestition“ aus dem Jahr 2015, die von einem Anteil von 30% der Klägerin an der Fa. B GmbH ausgeht, den übereinstimmenden Ausführungen der Klägerin und der Zeugin Frau B in der mündlichen Verhandlung, der Aufteilung der Gewinne der Fa. B GmbH im Verhältnis von 30% Klägerin und 70% Zeugin Frau B sowie den Feststellungen der Steuerfahndung und des Schöffengerichts 3 vom 13.10.2020. Auch die Beteiligten gehen übereinstimmend von einer solchen Beteiligung aus.
34
Die Klägerin hat ihren Anteil zur Überzeugung des erkennenden Senats am 22.01.2015 an die Zeugin Frau B veräußert und im Gegenzug den Veräußerungspreis von 150.000 € von der Zeugin bekommen. Dafür spricht zum einen das von der Klägerin unterschriebene Dokument vom 22.01.2015 „Heute erhält A2 Hundertfünfzigtausend Euro (150.000 €)“ sowie der übereinstimmende Vortrag der Klägerin und der Zeugin Frau B in der mündlichen Verhandlung, dass diese (die Klägerin) 150.000 € in bar für die Veräußerung des Anteils von der Zeugin Frau B erhalten habe. Weiterhin spricht dafür, dass bei Durchsuchung des Schließfaches der Klägerin am 02.10.2015 ein Bargeldbestand von 232.350 € vorgefunden wurde, der zur Überzeugung des Senates auch aus der Anteilsveräußerung stammt.
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c) Nach § 17 Abs. 2 Satz 1 EStG ist der Veräußerungsgewinn im Sinne des Absatzes 1 der Betrag, um den der Veräußerungspreis nach Abzug der Veräußerungskosten die Anschaffungskosten übersteigt. Unter Anschaffungskosten sind alle Aufwendungen zu verstehen, die geleistet werden, um die Anteile zu erwerben. Dabei ist der Begriff der Anschaffungskosten zur Wahrung des Nettoprinzips weit auszulegen, um in dem durch § 17 Abs. 2 EStG gesteckten Rahmen möglichst solche Aufwendungen zu erfassen, die auch bei Mitunternehmern zu berücksichtigen wären (vgl. Weber-Greller, Schmidt ESt-Kommentar, 39. Aufl. 2020, § 17, Rz. 156). Hierzu zählen auch vorweggenommene Anschaffungskosten.
36
d) Im Rahmen der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin ausgeführt, dass sie anlässlich des Erwerbs ihrer Beteiligung einmal nach 2 gefahren sei, um sich mit der Zeugin Frau B zu treffen. Die angefallenen Aufwendungen in Höhe von 139,80 € sind zwischen den Beteiligten unstreitig. Auch der Senat geht von einem Treffen der Klägerin mit der Zeugin Frau B im Vorfeld des Anteilserwerbs aus und hält die Höhe der Aufwendungen für glaubhaft.
37
e) Weiterhin hat die Klägerin zur Überzeugung des Senats 150.000 € für den Erwerb eines Anteils von 30% an der Fa. B GmbH aufgewendet, die als Anschaffungskosten ihrer Beteiligung nach § 17 Abs. 2 Satz 1 EStG zu berücksichtigen sind. Zwar konnte eine direkte Zahlung der Klägerin an die Zeugin Frau B nicht nachgewiesen werden, allerdings wurde ein Betrag von umgerechnet 150.000 € von den Eltern der Klägerin auf deren Veranlassung und in Absprache mit der Zeugin Frau B an den vorherigen Besitzer des Restaurants überwiesen, wie die Klägerin in der mündlichen Verhandlung nochmals erläutert hat. Das Restaurant wurde erst mit Vertrag vom 31.03.2014 von der Zeugin Frau B erworben. Die Klägerin war als Geschäftsführerin der Fa. B GmbH bei Abschluss des Kaufvertrages mit anwesend. Soweit die Klägerin in der mündlichen Verhandlung angegeben hat, dass sie an die Zeugin Frau B „bezahlt habe“ versteht der Senat die Ausführung dahingehend, dass die Klägerin ihre Verpflichtung zur Zahlung von 150.000 € gegenüber der Zeugin Frau B mit einer Überweisung an den ehemaligen Besitzer des Restaurants beglichen und damit ihr gegenüber „bezahlt habe“. Der Senat hält einen Betrag von 150.000 € für den Erwerb eines Anteils von 30% an der Fa. B GmbH im Hinblick auf den vereinbarten Kaufpreis von 430.770 €, den die Klägerin und die Zeugin Frau B dem Erwerb des Restaurants im Kaufvertrag vom 31.03.2014 zugrunde gelegt haben, für glaubhaft. Schließlich spricht auch die Zahlung des Betrages von 150.000 € für den Verkauf der Anteile an die Zeugin Frau B im Januar 2015, weniger als ein Jahr nach Erwerb der Anteile, infolge der kurzen Zeitspanne der Beteiligung und der Tatsache, dass die Beteiligung der Klägerin an den laufenden Gewinnen der GmbH durch monatliche Ausschüttungen an die Klägerin in einer Größenordnung von 104.715 € erfolgte, dafür, dass die Klägerin einen Betrag in gleicher Höhe für den Anteilserwerb aufgewendet hat, der ihr im Rahmen der „Desinvestition“ wieder zurückgezahlt wurde. Von Anschaffungskosten in dieser Höhe ist auch die Zeugin Frau B in der mündlichen Verhandlung ausgegangen. Der Senat ist der Überzeugung, dass die Klägerin einen Betrag von 150.000 € zum Erwerb des Anteils von 30% aufgewendet hat.
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f) Unter Berücksichtigung von Anschaffungskosten in Höhe von 150.000 € (60% hieraus: 90.000 €) zuzüglich Fahrtkosten für ein Treffen in 2 von 139,80 € (60% hieraus: 83,88 €) und eines Veräußerungserlöses in Höhe von 150.000 € (60% hieraus: 90.000 €) gemäß § 3 Nr. 40 Buchst. c Satz 1 und § 3c Abs. 2 EStG (Teileinkünfteverfahren) ist nach § 17 Abs. 2 Satz 1 EStG ein Veräußerungsverlust von 83,88 € aus der Veräußerung der Anteile von 30% an der Fa. B GmbH durch die Klägerin steuermindernd im Streitjahr zu berücksichtigen.
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2. Die der Klägerin aus der Haftungsinanspruchnahme entstandenen Aufwendungen von 162.400 € sind Werbungskosten bei den Einkünften aus ihrer Tätigkeit als Geschäftsführerin bei der Fa. B GmbH (nichtselbständige Arbeit gemäß § 19 Abs. 1 Nr. 1 EStG) und stellen weder nachträgliche Anschaffungskosten auf ihre Beteiligung noch sonstige Betriebsausgaben (z.B. Veräußerungskosten) nach § 17 EStG dar. Sie erhöhen nicht den Verlust der Klägerin aus der Veräußerung ihrer Beteiligung an der Fa. B GmbH.
40
a) Die Klägerin war im Jahr 2014 und im Streitjahr (bis Februar) bei der Fa. B GmbH als Geschäftsführerin beschäftigt und erzielte aus dieser Tätigkeit Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit gemäß § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG, die das Finanzamt der Besteuerung zugrunde gelegt hat.
41
b) Die aus der Haftungsinanspruchnahme entstandenen Aufwendungen sind nach Ansicht des Senates als Werbungskosten gemäß § 9 Abs. 1 Satz 1 EStG bei diesen Einkünften zu berücksichtigen.
42
Werbungskosten sind Aufwendungen zur Erwerbung, Sicherung und Erhaltung der Einnahmen (§ 9 Abs. 1 Satz 1 EStG). Ein hinreichender und notwendiger Zusammenhang der Aufwendungen mit einer Einkunftsart ist gegeben, wenn die Aufwendungen durch den Beruf bzw. durch die Erzielung steuerpflichtiger Einnahmen veranlasst sind. Eine solche Veranlassung liegt vor, wenn objektiv ein Zusammenhang mit der auf die Einnahmeerzielung gerichteten Tätigkeit besteht und subjektiv die Aufwendungen zur Förderung dieser Tätigkeit gemacht werden (vgl. Krüger in Schmidt, EStG-Kommentar, 40 Aufl. 2021, § 9 Rz. 10 unter Hinweis auf die ständige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes). Der objektive Zusammenhang muss gegeben sein, während das subjektive Element nicht zwingend notwendig ist (vgl. Krüger a.a.O. § 9 Rz. 42 m.w.N.). Auch können Ausgaben, die erst nach der Aufgabe der auf Einnahmeerzielung gerichteten Tätigkeit anfallen, als Werbungskosten abzugsfähig sein, wenn sie – wie im Streitfall – noch in wirtschaftlichem Zusammenhang mit der früheren Einnahmeerzielung stehen (vgl. Krüger, a.a.O. § 9 Rz. 99).
43
Können die steuerlich zu qualifizierenden Zahlungen, wie hier, in einem objektiven Zusammenhang mit mehreren Einkunftsarten stehen, dann sind sie bei der Einkunftsart zu berücksichtigen, zu der sie nach Art und Weise die engere Beziehung haben. Dabei sind die Gesamtumstände des Einzelfalles maßgebend (vgl. BFH-Urteil vom 16.11.2011 VI R 97/10, BStBl II 2012, 343).
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Im Streitfall wurde die Klägerin mit Haftungsbescheid vom 03.11.2015 als ehemalige Geschäftsführerin der Fa. B GmbH für Umsatzsteuerschulden der GmbH gemäß § 69 AO in Anspruch genommen, da sie in ihrer Eigenschaft als Geschäftsführerin für die Monate April 2014 bis Dezember 2014 falsche Umsatzsteuervoranmeldungen abgegeben und damit die Umsatzsteueransprüche um 170.684,30 € verkürzt hatte. Das hat die Klägerin im Strafverfahren vor dem Schöffengericht 3 auch eingeräumt. In der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Senat hat die Klägerin sich nicht gegenteilig eingelassen, weshalb der Senat von einer solchen Pflichtverletzung ausgeht.
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Nach Ansicht des Senats sind im Falle der Geschäftsführerhaftung Zahlungen aufgrund eines auf § 69 AO gestützten Haftungsbescheides grundsätzlich (nachträgliche) Werbungskosten, wenn die haftungsauslösende Pflichtverletzung während der Tätigkeit als Gesellschafter-Geschäftsführer verursacht wurde und ein objektiver Zusammenhang zwischen der Pflichtverletzung und der beruflichen Tätigkeit besteht (so auch FG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 2.7.2013 4 K 1508/09, EFG 2013, 1651 und FG Düsseldorf, Urteil vom 19.02.2015 16 K 198/13 F, Juris-Rechtsprechung, offen gelassen vom Bundesfinanzhof im Urteil vom 21.01.2004, VIII R 8/02, BFH/NV 2004, 947). Die Haftungsinanspruchnahme beruht dann nicht auf der Stellung als Gesellschafter, sondern ausschließlich auf dem Verhalten als Geschäftsführerin. Im Streitfall beruht die Haftungsinanspruchnahme ausweislich des Bescheides vom 03.11.2015 auf der durch die Klägerin als Geschäftsführerin begangenen Pflichtverletzung der Abgabe unrichtiger Umsatzsteuervoranmeldungen und nicht aufgrund ihrer Stellung als Gesellschafterin der Fa. B GmbH. Die Haftungsinanspruchnahme nach § 69 AO ist daher nicht durch das Gesellschaftsverhältnis, sondern durch das Arbeitsverhältnis der Klägerin mit der Fa. B GmbH veranlasst. Dafür spricht auch, dass von einer Haftung nach § 69 AO nur die in den §§ 34, 35 AO genannten Personen betroffen sind und die Haftung des Gesellschafter-Geschäftsführers deshalb nicht auf seiner Stellung als Gesellschafter beruht, sondern ausschließlich auf seiner Stellung als Geschäftsführer der GmbH. Im Streitfall war die Klägerin mit 30% zudem nicht Mehrheitsgesellschafterin der GmbH, weshalb nach Ansicht des Senats auch unter Berücksichtigung ihrer Beteiligungsquote kein Veranlassungszusammenhang zu ihrer Beteiligung und damit Gesellschafterstellung begründet werden kann. Dementsprechend ist die vorliegende Zahlung vom 19.04.2016 in Höhe von 162.400 € weder als nachträgliche Anschaffungskosten auf ihre Beteiligung noch als sonstige Betriebsausgaben nach § 17 EStG zu berücksichtigen. Soweit ersichtlich wurde die Frage der Zuordnung zu den Einkunftsarten jedoch noch nicht höchstrichterlich entschieden.
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3. Die aus der Haftungsinanspruchnahme entstandenen Aufwendungen von 162.400 € sind als Werbungskosten bei den Einkünften aus nichtselbständige Arbeit gemäß § 11 Abs. 2 Satz 1 EStG jedoch nicht im Streitjahr 2015 zu berücksichtigen, da die Ausgaben nach Ansicht des Senates erst mit Einzahlung des Geldbetrages auf das Konto des Finanzamtes am 19.04.2016 geleistet wurden und nicht bereits bei Beschlagnahme des Bankschließfaches der Klägerin am 02.10.2015 oder bei Erlass des Haftungsbescheides am 03.11.2015.
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a) Ausgaben sind für das Kalenderjahr abzusetzen, in dem sie geleistet worden sind, § 11 Abs. 2 Satz 1 EStG. Für den Abfluss kommt es darauf an, wann der Steuerpflichtige seine Leistungshandlung vornimmt und die wirtschaftliche Verfügungsmacht über den Gegenstand der Leistung verliert (vgl. BFH-Urteil vom 16.02.2011 X R 46/09, BFHE 232, 513, BStBl II 2011, 685). Die Leistungshandlung ist abgeschlossen, wenn der Steuerpflichtige alles Erforderliche getan hat, um den Leistungserfolg herbeizuführen (vgl. BFH-Urteil vom 07.12.1999 VIII R 8/98, BFH/NV 2000, 825). Auf den Verlust der rechtlichen Verfügungsmacht kommt es nicht an. Wie der Zufluss nur bei objektiver Bereicherung angenommen werden kann, setzt der Abfluss eine objektive Entreicherung voraus. Eine solche liegt vor, wenn beim Steuerpflichtigen durch die Leistungshandlung eine Vermögensminderung eintritt und er die wirtschaftliche Verfügungsmacht verliert. Wie der Zufluss setzt demnach auch der Abfluss eine Vermögensverschiebung zwischen zwei Rechtssubjekten voraus; der Abfluss muss daher „nach außen“ erfolgen (vgl. Kister in: Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 11, Anm. 113).
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Der Abfluss ist als tatsächlicher Vorgang zu verstehen, der zum Verlust der wirtschaftlichen Verfügungsmacht führt. Maßgebend ist die Leistungshandlung, nicht der Erfolg. Das bedeutet, dass es nicht darauf ankommt, für welchen Zeitraum Zahlungen, Gutschriften usw. geleistet werden. Der Zeitpunkt des Abfließens unterliegt damit weitgehend der freien Disposition des Steuerpflichtigen, während das Zufließen von Einnahmen von einem Dritten (Schuldner) abhängt. Deshalb hat der Steuerpflichtige häufig die Möglichkeit zu bestimmen, wann eine Ausgabe steuerlich wirksam werden soll (Kister in: Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 11, Anm. 105).
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b) Ausgehend davon kann in der Beschlagnahme des im Bankschließfach befindlichen Geldes am 02.10.2015 durch Versiegelung des Faches noch nicht von einer Vermögensminderung bei der Klägerin und einem Verlust der wirtschaftlichen Verfügungsmacht über ihr Bargeld ausgegangen werden, da durch diese Maßnahme keine nach außen sichtbare Vermögensverschiebung zwischen der Klägerin und dem hier nicht beklagten Finanzamt 1 stattgefunden hat.
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Dies ergibt sich im Streitfall aus den tatsächlichen wirtschaftlichen Umständen. Es fehlt bereits an einem zeitlichen Zusammenhang zwischen der Versiegelung des Schließfaches am 02.10.2015 und der Geltendmachung eines Haftungsanspruchs durch das Finanzamt 1 mit Haftungsbescheid vom 03.11.2015 und damit an einem Kausalzusammenhang einer Ausgabe der Klägerin mit einer bestimmten Einkunftsart im Zeitpunkt der Versiegelung am 02.10.2015. Zudem fehlt es nach Ansicht des Senates an einer Leistungshandlung der Klägerin am 02.10.2015, welche § 11 Abs. 2 Satz 1 EStG jedoch voraussetzt.
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Entgegen der Ansicht des Prozessbevollmächtigten sieht der Senat auch nicht am 03.11.2015 (Erlass des Haftungsbescheides) eine Leistung der Klägerin auf den Haftungsbescheid, da auch zu diesem Zeitpunkt keine „Leistungshandlung“ der Klägerin in Richtung Erfüllung der Haftungsschuld ersichtlich ist. Zwar werden die Begriffe „Zufluss“ im Sinne des Abs. 1 und „Leisten“ im Sinne des Abs. 2 als korrespondierende Begriffe verstanden, so dass nach allgemeiner Meinung „geleistet“ wie „abgeflossen“ gelesen werden muss (vgl. BFH-Urteil vom 08.10.1985 VIII R 284/83, BStBl II 1986, 481), allerdings ermöglicht diese Auslegung nach Auffassung des Senates nicht, dass von einer Leistungshandlung des Schuldners, vorliegend der Klägerin, völlig Abstand genommen werden kann. Dafür spricht bereits der Wortlaut des § 11 Abs. 2 Satz 1 EStG, der ausdrücklich auf eine Leistung abstellt. Anders als beim Zufluss hat der Steuerpflichtige nach § 11 Abs. 2 Satz 1 EStG mit der Einflussnahme auf den Zeitpunkt der Vornahme der Leistungshandlung wirtschaftlich gesehen Dispositionsmöglichkeiten, während das Zufließen von Einnahmen in der Regel von einem Dritten, nämlich dem Schuldner abhängt. Folglich kommt es beim Zufluss auf den Leistungserfolg, beim Abfluss hingegen auf die Leistungshandlung an (vgl. Kister in: Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 11, Anm. 105).
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Eine Leistungshandlung der Klägerin auf die Haftungsschuld ist nicht am 03.11.2015 bei Empfang des Haftungsbescheides zu sehen, da die Klägerin zunächst nicht auf den geltend gemachten Haftungsanspruch geleistet hat. Zwar wurde zu diesem Zeitpunkt erstmalig der Haftungsanspruch durch das Finanzamt 1 geltend gemacht, allerdings genügt noch nicht die Begründung einer Verpflichtung, weil durch die bloße Verpflichtung noch kein Vermögensgut verloren geht (vgl. Kister in: Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 11, Anm. 114). Davon ist auch im Streitfall auszugehen.
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Durch die Versiegelung des Schließfaches am 02.10.2015 hat die Klägerin nicht ihre wirtschaftliche Verfügungsmacht über das darin befindliche Bargeld verloren, da allein dadurch noch keine Vermögensverschiebung erfolgt ist. Nach § 111c Abs. 1 Strafprozessordnung (StPO) in der im Streitjahr geltenden Fassung wird die Beschlagnahme einer beweglichen Sache in den Fällen des § 111b StPO dadurch bewirkt, dass die Sache in Gewahrsam genommen oder die Beschlagnahme durch Siegel oder in anderer Weise kenntlich gemacht wird. Laut vorliegender Niederschrift vom 02.10.2015 wurde das Schließfach der Klägerin bei der Sparkasse 1 am 02.10.2015 versiegelt. Aus dem Schließfach wurde kein Geld der Klägerin durch die Steuerfahndung mitgenommen.
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Die Beschlagnahme eines Gegenstandes nach den Absätzen 1 bis 4 des § 111c StPO in der im Streitjahr geltenden Fassung hat die Wirkung eines Veräußerungsverbotes im Sinne des § 136 des Bürgerlichen Gesetzbuches zur Folge, vgl. § 111c Abs. 5 StPO. Die Rechtsfolge der Beschlagnahme im Sinne der §§ 111b, 111c StPO ist ein relatives Veräußerungsverbot. Damit sind Verfügungen nur dem Staat gegenüber unwirksam, wenn sie den Rechtsübergang des beschlagnahmten Gegenstandes nach § 75 Strafgesetzbuch (StGB) vereiteln würden. Es handelt sich damit um eine Sicherungsmaßnahme, die nach Ansicht des Senates nicht zum Verlust der wirtschaftlichen Verfügungsmacht, sondern nur zu einer Einschränkung der rechtlichen Verfügungsmacht der Klägerin, nicht aber zu einer „Leistung“ im Sinne des § 11 Abs. 2 Satz 1 EStG führt, da es auf die rechtliche Verfügungsmacht nicht ankommt (vgl. Krüger, Schmidt, EStG-Kommentar, 40. Aufl. 2021, Rz. 35). Dies zeigt sich auch daran, dass unter den Voraussetzungen des § 111c Abs. 6 StPO in der im Streitjahr geltenden Fassung eine beschlagnahmte Sache dem Schuldner wieder zurückgegeben werden kann. Die Beschlagnahme als Sicherungsinstrument führt folglich nicht zu einer Vermögensverschiebung von der Klägerin auf das Finanzamt. Auch ist in diesem Zusammenhang zu berücksichtigen, dass die Klägerin am 19.04.2016 nicht einen Betrag von 170.684,30 €, sondern nur einen Betrag in Höhe von 162.400 € eingezahlt hat, also lediglich einen geringeren Betrag als die im Bescheid vom 03.11.2015 geltend gemachte Haftungssumme. Das ist Ausdruck der bei der Klägerin im Zeitpunkt der Zahlung noch vorhandenen wirtschaftlichen Verfügungsmacht über das Geld und ihrer Dispositionsmöglichkeit hierüber. Nach Ansicht des Senates unterscheidet sich die Beschlagnahme des im Schließfach befindlichen Geldes bezogen auf den Sicherungscharakter nicht von der Bestellung eines Pfandrechts, das ebenfalls noch keinen Zufluss bewirkt, da die Forderung lediglich gesichert wird (vgl. BFH-Urteil vom 30.01.1975 IV R 190/71, BStBl II 1975, 776). Der Abfluss beim Pfändungsschuldner tritt erst mit Zahlung des Drittschuldners an den Pfändungsgläubiger ein (vgl. Kister in: Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, § 11, Anm. 100), im Streitfall durch die Einzahlung des Geldes auf das Konto des Finanzamtes durch die Klägerin.
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c) Vielmehr hat die Klägerin erst durch die Einzahlung eines Betrages von 162.400 € am 19.04.2016 auf das Konto des Finanzamtes ihre Leistungshandlung vorgenommen und die wirtschaftliche Verfügungsmacht über das zuvor im Schließfach befindliche Geld verloren. Nach den anschaulichen Schilderungen der Klägerin in der mündlichen Verhandlung ist diese am 19.04.2016 mit den Vollziehungsbeamten zum Schließfach gegangen und man habe das Geld gezählt; anschließend sei der Betrag von 162.400 € bei der Sparkasse 1 auf das Konto des Finanzamtes eingezahlt worden. Ausweislich der Einzahlungsquittungen vom 19.04.2016 hat die Klägerin an diesem Tag das Geld auf das Konto eingezahlt und als „Einzahlerin“ die Quittung unterschrieben, worin nach Ansicht des Senates die Leistungshandlung zu sehen ist, da erst zu diesem Zeitpunkt die „nach außen“ hin sichtbare Vermögensverschiebung erfolgt ist und die Klägerin ihre wirtschaftliche Verfügungsmacht verloren hat. Erst mit der Einzahlung des Geldbetrages und Zuordnung zu den Umsatzsteuerhaftungsbeträgen (Leistungsbestimmung) hat die Klägerin alles Erforderliche getan, um den Leistungserfolg herbeizuführen (vgl. BFH-Urteil vom 07.12.1999 VIII R 8/98, BFH/NV 2000, 825) und damit ihre Leistungshandlung abgeschlossen.
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Die Einkommensteuer der Kläger errechnet sich demnach gemäß § 100 Abs. 2 Satz 1 FGO für das Streitjahre 2015 wie folgt:
zu versteuerndes Einkommen bisher
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xx €
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Veräußerungsverlust nach Anwendung Teileinkünfteverfahren
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- 84 €
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zu versteuerndes Einkommen laut Urteil
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xx €
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Einkommensteuer nach Splittingtarif laut Urteil
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xx €
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Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 135 Abs. 1 FGO soweit die Kläger unterlegen sind; soweit die Kläger im Umfang von 83,88 € obsiegt hat, sind ihr nach 136 Abs. 1 Satz 3 FGO die Kosten aufzuerlegen, da das Finanzamt nur zu einem geringen Teil unterlegen ist.
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Die Revision war gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache zuzulassen.