Titel:
Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt, Betäubungsmitteldelikte
Normenkette:
FreizügG/EU § 6
Schlagworte:
Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt, Betäubungsmitteldelikte
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 24.04.2023 – 10 ZB 22.2398
Fundstelle:
BeckRS 2022, 47257
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Der am … … … in … (Schweiz) geborene kosovarische Kläger wendet sich gegen die Feststellung des Verlusts seines Rechts auf Einreise und Aufenthalt.
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Der Kläger besuchte zunächst in der Schweiz im Alter von sechs Jahren die Schule. Nach der vierten Klasse wurde er von seinen Eltern in den Kosovo geschickt, wo er bei seiner Großmutter lebte und die Hauptschule bis zur achten Klasse besuchte. Während des Krieges im Kosovo schloss er sich für zwei Jahre der UCK an. Nach Kriegsende besuchte er für zwei Jahre ein Gymnasium und machte das Abitur. Das anschließende Jura-Studium brach er nach zwei Semestern ab; in der Folge ging er diversen Jobs nach. Eine Berufsausbildung machte er nicht.
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Die Eltern des Klägers sowie sein Bruder leben im Kosovo. Seine Schwester lebt mit ihrer Familie in der Schweiz. Zu seinen Geschwistern hat der Kläger Kontakt, der Kontakt zu den Eltern ist eingeschränkt.
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Am … … 2001 heiratete der Kläger die in München wohnhafte italienische Staatsangehörige … G…
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Am … März 2002 reiste der Kläger mit einem Visum zum Ehegattennachzug zu seiner Ehefrau erstmals in das Bundesgebiet ein und erhielt am 11. April 2002 eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug, die in der Folge mehrfach verlängert wurde. Am 26. Januar 2006 wurde dem Kläger eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis ausgestellt.
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Am … … 2011 wurde der Kläger von seiner Ehefrau … G… geschieden. Aus der Ehe ist die am … … 2008 geborene Tochter S… … hervorgegangen. Außerdem hat der Kläger den am … … 2008 geborenen Sohn E… V…, der mit seiner Mutter in der Schweiz wohnt, sowie die am … … 2010 geborene Tochter T… J… R…, die mit ihrer Mutter in den USA lebt. Die Kinder des Klägers besitzen jeweils die deutsche Staatsangehörigkeit.
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In Deutschland arbeitete der Kläger bis 2004 Vollzeit in einer … Nachdem diese in die Insolvenz gegangen war, war der Kläger zunächst ein paar Monate arbeitslos. Anschließend arbeitete in einer …, zunächst als Verkäufer, später als stellvertretender Geschäftsführer. Infolge eines Verkehrsunfalls im Jahr 2005 oder 2006 war er mehrere Monate arbeitsunfähig. Anschließend arbeitete er wieder als Verkäufer in einer …, bis er im Sommer 2008 seine Arbeitsstelle verlor und Arbeitslosengeld bezog. Die zwei anschließenden Versuche einer Selbständigkeit scheiterten. Seit dem 4. Januar 2021 arbeitet der Kläger als Hilfsarbeiter auf dem Bau in …
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Im Jahr 2009 begann der Kläger vermehrt Alkohol zu konsumieren. Zeitgleich begann er, Kokain zu konsumieren; dabei schnupfte er zwei- bis dreimal pro Woche ca. ein Gramm. Vom … August 2014 bis zum ... Februar 2015 absolvierte der Kläger eine stationäre Entwöhnungsbehandlung im Therapiezentrum …; nach Erreichen des Therapieziels wurde die Therapie vorzeitig beendet. Mitte 2016 hatte der Kläger einen Rückfall. Seitdem konsumierte er regelmäßig Kokain durch die Nase. Zu Beginn des Jahres 2017 nahm der Kläger ein paar Mal Amphetamin und 3-4 Mal MDMA. Nach den Feststellungen des Landgerichts München I im Urteil vom … Februar 2019 liegt bei dem Kläger ein schädlicher Gebrauch von Kokain gemäß ICD 10; F 14.1 vor; der Konsum zeigt bereits konkrete gesundheitliche Auswirkungen. Am 10. August 2018 wurden bei dem Kläger während der Untersuchungshaft zwei stumme Schlaganfälle diagnostiziert, deren Ursache der Kokainkonsum war.
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Strafrechtlich ist der Kläger wie folgt in Erscheinung getreten:
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1. Mit Urteil des Amtsgerichts … vom … Juli 2007 wurde gegen den Kläger wegen fahrlässigen Fahrens trotz Fahrverbots eine Geldstrafe in Höhe von 20 Tagessätzen sowie ein einmonatiges Fahrverbot verhängt.
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2. Mit Urteil des Landgerichts München II vom … März 2011 wurde der Kläger wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge jeweils zusammen mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 5 Jahren und 11 Monaten verurteilt.
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Hintergrund war, dass sich der Kläger zusammen mit weiteren Mittätern im Zeitraum März bis Juni 2009 drei Mal mittels angemieteter Personenkraftwagen nach Amsterdam begab, wo einer der Mittäter jeweils 120 g Kokaingemisch für 30 bis 40 EUR pro Gramm kaufte und übernahm (Nr. 1 – 3). Das Kokaingemisch war dabei in mehreren Plomben verpackt, die von einer Person geschluckt wurden. Anschließend wurde das Rauschgift in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland verbracht, wo es nach dem Ausscheiden der Plomben mit „Edelweißzucker“ gestreckt und gewinnbringend im Raum München und Fürstenfeldbruck weiterverkauft wurde. Am … Januar 2010 verkauften der Kläger und ein Mittäter gemeinschaftlich insgesamt 7 g Kokaingemisch zum Preis von 60 EUR pro Gramm (Nr. 4). Zudem mietete der Kläger für eine weitere Fahrt nach Amsterdam am ... Februar 2010 ein Fahrzeug an und stellte es seinen Mittätern zur Verfügung (Nr. 5). Bei der Strafzumessung wurde zu seinen Gunsten berücksichtigt, dass er die Taten vollumfänglich einräumte und bei den Taten Nr. 3 und 5 nicht nur aus Gewinnstreben handelte, sondern auch, um Rauschgift für seinen Eigenkonsum zu erhalten, sowie dass er nur geringfügig und nicht einschlägig vorbestraft war. Zudem konnte im Fall Nr. 5 das gesamte Rauschgift sichergestellt werden. Zu seinen Lasten wurde gewertet, dass der Kläger mit einer harten Droge mit hohem Suchtpotential handelte, der Grenzwert der nicht geringen Menge in allen Fällen erheblich überschritten wurde und bei den Fällen Nr. 1 bis 3 ein Körperschmuggler eingesetzt wurde, um das eigene Entdeckungsrisiko möglichst vollständig auszuschalten. Im Fall Nr. 5 hat der Kläger sein Entdeckungsrisiko dadurch minimiert, dass er lediglich das Mietfahrzeug anmietete, nicht aber selbst als Fahrer für die Beschaffungsfahrt zur Verfügung stand. Somit konnte keine Strafrahmenverschiebung aufgrund eines minder schweren Falles gewährt werden.
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Aufgrund dieses Sachverhalts befand sich der Kläger vom 6. Februar 2010 bis 16. März 2011 in Untersuchungshaft, anschließend bis 18. August 2014 in Strafhaft.
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Aufgrund dieser Verurteilung wurde durch das Landratsamt … geprüft, ob ausländerrechtliche Schritte gegen den Kläger eingeleitet werden. Mit Schreiben vom 13. Februar 2015 wurde von einer Feststellung des Verlustes des Rechts auf Freizügigkeit abgesehen und der Kläger ausländerrechtlich verwarnt.
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3. Mit Urteil des Amtsgerichts … vom ... Juli 2016 wurde der Kläger wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Geldstrafe in Höhe von 60 Tagessätzen verurteilt.
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4. Mit Urteil des Landgerichts München I vom … Februar 2019 wurde der Kläger wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei tatmehrheitlichen Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt und die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet.
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Hintergrund war, dass der Kläger Ende 2016 und während des Jahres 2017 einen schwunghaften Handel mit Marihuana im Stadtgebiet München betrieb, wobei er von mehreren weiteren Personen unterstützt wurde. Das Rauschgift bezog der Kläger von einem Hintermann namens „…“, vermutlich aus Albanien. Im Zeitraum von Februar 2017 bis zum … November 2017 kam es zu mindestens drei Lieferungen von Marihuana im Umfang von jeweils etwa 10 kg.
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1) Am ... März 2017 erhielt der Kläger eine Lieferung von mindestens 10 kg Marihuana, welches zum gewinnbringenden Weiterverkauf bestimmt war. Da der Kläger zu diesem Zeitpunkt nicht in München war, organisierte er die Abwicklung der Entgegennahme telefonisch. Dabei wies er einen Mittäter an, von dem Kurier das Marihuana entgegenzunehmen und diesem im Gegenzug 10.000 EUR, welche dieser zuvor auf Geheiß des Klägers durch eine weitere Person erhalten hat, zu bezahlen. Am ... März 2017 nahm der Kläger das Rauschgift entgegen und verkaufte es an unbekannte Abnehmer weiter. Diese Lieferung hatte einen Mindestwirkstoffgehalt von 5% THC, mithin eine Menge von mindestens 500 g THC.
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2) Zwischen dem … und … Mai 2017 kaufte und übernahm der Kläger eine Lieferung von mindestens 10 kg Marihuana, das zum gewinnbringenden Weiterverkauf bestimmt war. Dabei traf er sich im Laufe des … bzw. … Mai 2017 in Begleitung eines Mittäters in … mit einem serbischen Kurier und dessen Begleitung, von denen er die Lieferung entgegennahm. Der Kurier erhielt für den Transport mindestens 8.550 EUR. Anschließend verbrachte der Kläger das Rauschgift in die Wohnung eines Mittäters in München, wo es gebunkert wurde. Von hier aus verkaufte der Kläger das Rauschgift an unbekannte Abnehmer. Im Auftrag des Klägers transferierte ein Mittäter in der Folge am ... Juni 2017 per Western Union 4.500 EUR an den Hintermann „…“ für die erhaltene Lieferung. Der Versuch, weitere 4.120 EUR in den Kosovo zu transferieren, schlug aufgrund der Überschreitung des Überweisungslimits von 5.000 EUR fehl. Diese Lieferung hatte einen Mindestwirkstoffgehalt von 5% THC, mithin eine Menge von mindestens 500 g THC.
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3) Am … Oktober 2017 kauften und übernahmen der Kläger und ein weiterer Mittäter gemeinschaftlich eine Lieferung von mindestens 8,34 kg Marihuana. Der Mittäter verbrachte es dann zunächst in die Wohnung einer weiteren Person in …, wo er das Rauschgift mit Frischhaltefolie in unterschiedliche Gewichtsgrößen abpackte. Anschließend wurde das Marihuana dort verwahrt. Am … November 2017 holten die beiden Mittäter 478,8 g Marihuana aus diesem Bestand und verkauften und übergaben es in München einem Käufer. Das unmittelbar nach der Übergabe sichergestellte Marihuana hatte einen Mindestwirkstoffgehalt von 9,7% THC. Bei der Durchsuchung der Wohnung in … wurden 7,8143 kg Marihuana aufgefunden und sichergestellt. Davon hatten 3,2018 kg einen Mindestwirkstoffgehalt von 9,8% THC (entspricht 313,7 g THC) und weitere 4,6125 kg einen Mindestwirkstoffgehalt von 10,4% THC (entspricht 479,7 g THC). Bei der Festnahme führte ein Mittäter zudem weitere 47,66 g Marihuana mit einem Mindestwirkstoffgehalt von 11,7% THC (entspricht 5,57 g THC) bei sich, die er aus der Lieferung nicht ausschließbar für seine Bunkertätigkeit erhalten hatte. Insgesamt war damit eine Menge von 845,37 g THC gegeben.
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Bei der Strafzumessung wurde das Vorliegen eines minder schweren Falles verneint. Zugunsten des Klägers wurde vor allem sein Geständnis sowie die Tatsache, dass es sich bei Marihuana um eine weiche Droge handelt und deren Wirkstoffgehalt in Ziff. 1 und 2 des Sachverhalts im unteren Bereich lag, gewertet. Bei Ziff. 3 wurde zu seinen Gunsten berücksichtigt, dass das sichergestellte Rauschgift nicht in den Verkehr gelangt ist und dass sich der Kläger mit der Einziehung aller sichergestellten Gegenstände einverstanden erklärt hat. Weiter wurde zu seinen Gunsten gewertet, dass zumindest in Ziff. 2 und 3 die Geschäfte unter polizeilicher Beobachtung erfolgten, die Untersuchungshaft lang andauerte, der Kläger während der Untersuchungshaft bereits elf Therapiegespräche absolviert hat und die Bereitschaft bestand, sich mit der mit Drogen verbundenen Problematik auseinanderzusetzen. Ferner wurde ein Härteausgleich wegen einer unterbliebenen Gesamtstrafenbildung vorgenommen. Zu seinen Lasten wurde gewertet, dass der Kläger bereits einschlägig vorbestraft war und er die Tat in laufender offener Bewährung hinsichtlich des noch nicht vollstreckten Strafrests aus der Verurteilung vom … März 2011 begangen hat. Zu seinen Lasten sprach zudem die Menge des Wirkstoffs, nämlich in Ziff. 1 und 2 je 500 g THC und in Ziffer 3 845,37 g THC, und damit das erhebliche Überschreiten des Grenzwerts zur nicht geringen Menge.
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Nach den Feststellungen des Strafgerichts handelt es sich bei den Taten um Hangtaten i.S.d. § 64 StGB; hangbedingt waren weitere erhebliche Straftaten zu erwarten. Daher wurde die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet.
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Aufgrund dieses Sachverhalts befand sich der Kläger vom 29. November 2017 bis 19. März 2019 zunächst in Untersuchungshaft, welche in der Zeit vom 11. bis 22. Dezember 2017 zur Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe unterbrochen war, dann in Strafhaft. Vom 19. März 2019 bis 14. April 2022 war er im Rahmen der Unterbringung im Bezirkskrankenhaus …
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Mit Schreiben des damals zuständigen Landratsamts München vom 17. Juni 2019 wurde der Kläger zur beabsichtigten Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt angehört. Des Weiteren wurden die Landratsämter … und … um Stellungnahme hinsichtlich der familiären Situation der Kinder des Klägers gebeten.
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Mit Schreiben vom 26. Juni 2019 teilte das Landratsamt … mit, dass nach Auskunft der Meldebehörde der Sohn E… mit seiner Mutter seit dem ... Juli 2018 in der Schweiz gemeldet sei. Der letzte Kontaktversuch sei 2014 gewesen, als der Kläger versucht habe, mit seinem Sohn in Kontakt zu treten. Da seitens der Kindsmutter keine Rückmeldung erfolgt sei, seien keine gemeinsamen Gespräche mehr geführt worden.
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Mit Schreiben vom 1. Juli 2019 teilte das Landratsamt … mit, dass der letzte Kontakt der Behörde mit der Kindsmutter der Tochter T… J… R… im Februar 2013 bestanden habe. Zu diesem Zeitpunkt habe es bereits keinen Kontakt zwischen Kindsvater und Kind gegeben. Laut dem Einwohnermeldeamt lebe die Kindsmutter mit der gemeinsamen Tochter seit 2016 in den USA.
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Mit Schreiben vom 29. Juli 2019 teilte das Landratsamt … mit, dass am 27. Juni 2019 ein persönliches Gespräch mit Frau … G… stattgefunden habe. Dabei habe diese mitgeteilt, dass die Tochter S… zusammen mit ihrer Mutter, dem Stiefvater und ihrem Halbbruder in einem Haushalt in … lebe. Die Trennung von dem Kläger sei bereits während der Schwangerschaft erfolgt. Ab September werde die Tochter die ... Klasse der Realschule besuchen. Die Tochter wisse, dass sich der Vater in Haft bzw. im BKH befinde und er „etwas Unrechtes getan habe“. Der Kläger sei erstmals in Haft gekommen, als S… ca. ein Jahr alt gewesen sei. Trotz langer Haftdauer habe stets regelmäßiger Kontakt stattgefunden. Neben Besuchen in der JVA und der Therapieeinrichtung … habe postalischer und telefonischer Kontakt bestanden. Von ca. 2015 bis 2017 sei der Kläger nicht inhaftiert gewesen; in dieser Zeit hätten persönliche Kontakte und auch Übernachtungen beim Kläger stattgefunden. Auch aktuell bestehe regelmäßiger Telefonkontakt zwischen den beiden. Persönliche Besuche seien derzeit nicht möglich, die Tochter wolle den Kläger aber gerne wiedersehen. Aufgrund der Schilderungen der Kindsmutter lasse sich eine persönliche Verbundenheit zwischen Kläger und Tochter annehmen. Trotz der Umstände sei der Kontakt aufrechterhalten worden. Der Kindsvater spiele nach Ansicht der Mutter eine wichtige Rolle für S… Die Tochter habe schockiert reagiert, als sie von der evtl. drohenden Abschiebung erfahren habe.
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Nach einer gutachterlichen Stellungnahme des Bezirkskrankenhauses … vom 6. August 2019 sei durch einen Sachverständigen eine Posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert worden. Anfangs seien psychotherapeutische Einzelgespräche geführt worden, inzwischen nehme der Kläger auch an einem Gruppentherapieprogramm teil, das u.a. der Verbesserung von Impulsivität und Selbstregulation diene. Der Kläger zeige sich auskunftsbereit, abstinenz- und therapiemotiviert. Insbesondere die im Vorwegvollzug stattgefundenen Schlaganfälle stellten eine zentrale Motivation dar, abstinent zu leben und ein straffreies Leben zu führen. An den Komplementärtherapien nehme der Kläger regelmäßig teil und könne auch davon profitieren, indem er Transferleistungen erbringe (Kunsttherapie) bzw. die Therapien als Übungsfeld für identifizierte Probleme nutze. Auch hier zeige sich, dass der Kläger über eine gute Introspektions- und Reflexionsfähigkeit verfüge. Im stationären Umfeld habe sich der Kläger eher ausgleichend und ruhig verhalten. Er versuche, sich bewusst aus Konflikten fernzuhalten, was manchmal auch den Charakter der Vermeidung annehme. Es sei ihm aber auch gelungen, sich in Konflikten deeskalierend zu verhalten, wenngleich er durch einige Mitpatienten bisweilen stark provoziert worden sei und diese sich für den Kläger sehr belastend verhalten hätten. Darüber hinaus habe er die Hochzeit mit seiner Verlobten geplant und organisiert, die am … August 2019 in der Klinik stattfinden solle. Es habe keinen Hinweis auf die Einnahme psychotroper Substanzen gegeben. Grobe Regelverstöße habe es nicht gegeben. Diagnostisch werde von einer Posttraumatischen Belastungsstörung ausgegangen. Weiter sei ein schädlicher Gebrauch von Kokain sowie eine narzisstische Persönlichkeitsstörung mit dissozialen Anteilen diagnostiziert worden. Eine Kausalität von Substanzmittelkonsum und Delinquenz liege nicht vor. Dennoch bestehe eine hohe Abstinenz- und Veränderungsmotivation bzgl. Delinquenz und bisherigem Lebensstil. Bei dem Kläger stellten die o.g. Persönlichkeitseigenschaften, die zudem die Identifikation mit entsprechend dissozialen Milieus fördern könnten, wesentliche Risikofaktoren dar; der Konsum psychotroper Substanzen erhöhe das Risiko von Delinquenz. Da dieser finanziell aufwendig sei, fördere er ebenfalls die Kontakte in das dissoziale Milieu. Die sozialen Konsequenzen des Konsums stünden in negativer Wechselwirkung mit den deliktrelevanten Persönlichkeitsmerkmalen. Prognostisch günstige Faktoren seien die hohen intellektuellen Ressourcen, die Behandlungsmotivation und die sozialen Kompetenzen.
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Am … August 2019 heiratete der Kläger die slowakische Staatsangehörige … R…
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Mit Schreiben vom … August 2019 nahm die Bevollmächtigte des Klägers Stellung und führte im Wesentlichen aus, der Kläger halte sich nunmehr seit über zehn Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet auf. Damit sei die Möglichkeit der Feststellung des Verlusts des Daueraufenthaltsrechts gemäß § 6 Abs. 5 FreizügG/EU zu beurteilen. Demnach sei eine Verlustfeststellung nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit möglich. Da der Kläger mit Urteil des Landgerichts München I vom … Februar 2019 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt worden sei, komme eine Verlustfeststellung in Betracht und stehe im Ermessen der Ausländerbehörde. Bei Ausübung des Ermessens sei nach der Rechtsprechung des EuGH der außergewöhnliche Charakter der Bedrohung der öffentlichen Sicherheit aufgrund des persönlichen Verhaltens der betroffenen Person gegen die Gefahr abzuwägen, die Resozialisierung in dem Aufnahmemitgliedstaat, in dem er vollständig integriert ist, zu gefährden. Dabei weise der EuGH ausdrücklich darauf hin, dass diese Resozialisierung des Unionsbürgers nicht nur im Interesse des Aufnahmestaates, sondern im Interesse der Europäischen Union insgesamt liege. Auch bei Vorliegen zwingender Gründe der öffentlichen Sicherheit sei die Ausweisung daher keineswegs zwingend oder indiziert. Im Rahmen der Ermessensausübung sei zu berücksichtigten, dass der Kläger sich nunmehr bereits seit 2002 und damit seit über 17 Jahren im Bundesgebiet aufhalte. Er sei hier verheiratet gewesen und habe mehrere Kinder. Zu seiner Tochter S… habe er immer einen guten Kontakt, auch nach Schilderungen der Mutter und geschiedenen Ehefrau hänge die Tochter an ihrem Vater und sei schockiert über die Nachricht einer eventuell drohenden Abschiebung gewesen. Auch das Jugendamt … habe angegeben, dass der Kindsvater nach Ansicht der Kindsmutter eine wichtige Rolle für die Tochter spiele. Daher liege der weitere Verbleib des Klägers im Bundesgebiet auch im Interesse des Kindeswohls seiner Tochter. Darüber hinaus habe der Kläger im August seine Verlobte in … geheiratet. Seine Frau sei slowakische Staatsangehörige und nach ihren Angaben als freizügigkeitsberechtigte EU-Bürgerin im Bundesgebiet wohnhaft. Das Ehepaar wolle die eheliche Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet führen. Zwar sei der Kläger bereits zu einem früheren Zeitpunkt zu einer erheblichen Freiheitsstrafe verurteilt worden und habe eine ambulante Therapie absolviert. Diese sei leider offensichtlich nicht ausreichend gewesen, um die Drogenproblematik langfristig bearbeiten zu können. Nunmehr befinde sich der Kläger in einer stationären Therapie im Rahmen der Unterbringung gemäß § 64 StGB. Er habe nun den festen Vorsatz, diese Chance zu nutzen und künftig ein drogen- und straffreies Leben zu führen und für seine Familie da zu sein.
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Mit Schreiben der Beklagten vom 19. Februar 2021 wurde der Kläger zu der beabsichtigten Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt angehört. Mit weiteren Schreiben vom 23. Februar 2021 erhielten zudem die Ehefrau des Klägers sowie die Mutter des Kindes S… … Gelegenheit zur Stellungnahme.
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Mit Schreiben vom … März 2021 nahm die Bevollmächtigte des Klägers Stellung und nahm Bezug auf die Ausführungen vom 28. August 2019. Weiter führte sie im Wesentlichen aus, zum jetzigen Zeitpunkt sei es angebracht, den Abschluss der Unterbringung abzuwarten, da der Kläger die Unterbringung erfolgreich durchführe. Seit dem 21. Dezember 2020 sei der Kläger in der Unterbringung beurlaubt und nunmehr mit seiner Ehefrau in ehelicher Lebensgemeinschaft in München wohnhaft. Seit dem ... Januar 2021 sei er bei seiner jetzigen Firma beschäftigt, der Arbeitgeber sei sehr zufrieden mit dem Kläger. Auch die Mutter des Kindes S… sei weiterhin der Ansicht, dass es für das Wohl ihrer Tochter wichtig sei, dass der Vater zur Verfügung stehe. Nach einem Zeitraum von sechs Monaten nach der Beurlaubung komme ein regulärer Abschluss der Unterbringung in Betracht. Dem Schreiben war eine Stellungnahme der Frau … G… beigefügt. Darin führt diese im Wesentlichen aus, sie habe ein gutes Verhältnis zu ihrem Ex-Mann. Er sei in den letzten Jahren für die gemeinsame Tochter da gewesen. Bisher sei er nicht der allerbeste Vater gewesen, was natürlich auch seinen Verhaftungen und zuletzt dem langen Aufenthalt in … geschuldet gewesen sei. Trotzdem habe er sich stets bemüht, Kontakt zu S… zu halten, entweder postalisch oder telefonisch. Mittlerweile schrieben und telefonierten die beiden regelmäßig. Besuche hätten nicht so viele stattfinden können. Der Wunsch der Tochter bestehe jedoch weiterhin. Ein abgeschobener Vater bringe weder ihr als Mutter noch der Tochter etwas. Die Tochter habe ihn lieb und eine Abschiebung würde ihr sicherlich das Herz brechen. Auch habe sich die Bindung zu seiner jetzigen Frau … gefestigt, die während seines Aufenthalts in … regelmäßig Kontakt zu S… gehalten habe. Dies habe ihr sehr geholfen, mit der Situation umzugehen. Sie übe generell einen sehr positiven Druck auf den Kläger aus und helfe ihm sehr in der Rolle als Vater. Mittlerweile zahle er Unterhalt und habe versprochen, die Zahlungen zu erhöhen, sobald es ihm finanziell möglich sei.
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Mit Bescheid der Beklagten vom 22. März 2021 wurde festgestellt, dass der Kläger das Recht auf Einreise und Aufenthalt verloren hat (Nr. 1). Seine Einreise und sein Aufenthalt wurden für sechs Jahre ab der Ausreise untersagt (Nr. 2). Ihm wurde eine Frist zur freiwilligen Ausreise innerhalb eines Monats nach Vollziehbarkeit seiner Ausreisepflicht gesetzt. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde ihm die Abschiebung in den Kosovo oder einen anderen Staat, in den er einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist, angedroht (Nr. 3).
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Kläger habe über seine erste Ehefrau … G… das Recht auf Einreise und Aufenthalt i.S.d. FreizügG/EU sowie ein Daueraufenthaltsrecht erworben (§ 4a Abs. 1 FreizügG/EU). Darüber hinaus sei er seit dem 12. August 2019 mit der slowakischen Staatsangehörigen … … verheiratet und könne als Familienangehöriger das Recht auf Einreise und Aufenthalt ableiten. Nach § 6 Abs. 5 FreizügG/EU dürfe eine Feststellung des Rechts auf Einreise und Aufenthalt bei Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen, die ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit getroffen werden. Im Rahmen der Prüfung hinsichtlich der Anwendbarkeit müsse es sich aber um Zeiten rechtmäßigen Aufenthalts gehandelt haben. Gemessen daran halte sich der Kläger nicht (vom Zeitpunkt dieses Bescheids zurückgerechnet) zehn Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet auf. Der Zeitraum seiner ersten Inhaftierung bis zur Entlassung im August 2014 stelle bereits keinen rechtmäßigen Aufenthalt dar. Der Aufenthaltszeitraum von zehn Jahren müsse grundsätzlich ununterbrochen gewesen sein und sei vom Zeitpunkt der Ausweisungsverfügung zurückzurechnen. Der Grad der Integration bilde die wesentliche Grundlage für die Regelung zum Schutz vor Maßnahmen der Aufenthaltsbeendigung. Dementsprechend seien Zeiträume der Verbüßung einer Haftstrafe grundsätzlich geeignet, die Kontinuität des Aufenthalts zu unterbrechen und sich auf den verstärkten Schutz auch in dem Fall auszuwirken, dass sich die betroffene Person vor dem Freiheitsentzug zehn Jahre im Aufnahmemitgliedsstaat aufgehalten hat. Zwar sei der Kläger bereits im Jahr 2002 in das Bundesgebiet eingereist und halte sich seit 19 Jahren im Bundesgebiet auf. Er habe sich aber vom 6. Februar 2010 bis 17. August 2015 in Haft befunden. Ab 29. November 2017 bis März 2019 habe er sich erneut in Haft und im Anschluss im BKH … befunden. Im Dezember 2020 habe er Wohnsitz bei seiner Ehefrau in München genommen. Der Zeitraum seiner Inhaftierungen sei grundsätzlich dazu geeignet, die Kontinuität seines zehnjährigen Aufenthalts zu unterbrechen. Diese Diskontinuität könne tatsächlich auch den Wegfall des in § 6 Abs. 5 FreizügG/EU verstärkten Schutzes vor einer Verlustfeststellung begründen, wenn auch die Integrationsverbindungen mit der Bundesrepublik Deutschland gänzlich abgerissen seien. Dem Kläger sei es während seines langjährigen Aufenthaltes nicht gelungen, sich derart in die Lebensverhältnisse im Bundesgebiet zu integrieren, dass trotz seiner Inhaftierungen/Unterbringungen vom 6. Februar 2010 bis 17. August 2014 und 29. November 2017 bis Dezember 2020 und der damit einhergehenden Unterbrechung der Kontinuität seines Aufenthaltes von einem Fortbestand der geknüpften Integrationsbindungen auszugehen wäre. Die Integration beruhe nicht nur auf zeitlichen und territorialen, sondern auch auf qualitativen Faktoren. Vor Antritt seiner ersten Haftstrafe sei der Kläger bereits Vater von zwei Kindern gewesen, ein drittes Kind sei nach Haftantritt geboren worden. Zu dem Kind T… J… R… sei während der Haft keine Bindung aufgebaut worden, die Beziehung zu der Mutter sei gescheitert. Das Kind sei zwischenzeitlich mit der Mutter in die USA verzogen. Auch zu dem Kind E… V… habe er während seiner Inhaftierung keine tragfähige Bindung aufgebaut. Auch dieses Kind sei im Jahr 2018 mit der Mutter in das Ausland verzogen. Die Beziehung zu der Tochter S… habe er auch während der Inhaftierung sporadisch aufrechterhalten. Er habe ein unregelmäßiges Besuchsrecht und gelegentlichen Briefkontakt gepflegt. Eine von einer tatsächlich für das Kind erbrachten, nicht unwesentlichen Lebenshilfe in Betreuung und Erziehung geprägte Beistandsgemeinschaft habe weder während noch nach der Haftzeit vorgelegen. Während der Unterbringung im Maßregelvollzug habe kein Besuchskontakt stattgefunden. Den relativ kurzen Zeitraum zwischen den Inhaftierungen von 2014 bis Ende 2017 habe der Kläger nach Angaben der Kindsmutter zum gelegentlichen Besuchskontakt genutzt. Bereits seit November 2017 sei die Beziehung zu der Tochter durch die erneute Inhaftierung unterbrochen worden. Es habe auch keine berufliche Integration stattgefunden. Bereits vor der Inhaftierung im Jahr 2010 habe er nicht mehr gearbeitet, nach der Haftentlassung 2014 sei er ebenfalls keiner beruflichen Tätigkeit mehr nachgegangen, sondern habe allenfalls erfolglos versucht, sich mit dubiosen Geschäftsideen selbstständig zu machen. Auch das Verhalten während des Strafvollzugs von Februar 2010 bis August 2014 gebe keinen Anlass zu der Annahme, dass die vor der Festnahme geknüpften Integrationsverbindungen nicht abgerissen wären. Er habe sich im Rahmen des Strafvollzugs der Unterstützung durch die Bewährungshilfe so weit wie möglich entzogen und sei wenig kooperativ und auskunftsfreudig gewesen. Die Bemühungen um eine Verkürzung der Haftzeit und eine etwaige schnelle Rückkehr in geregelte Lebensumstände seien als gering anzusehen. Schließlich lasse schon allein die Begehung und die Natur der Straftaten, die zu den beiden Verurteilungen in den Jahren 2011 und 2019 und der daraus resultierenden langen Inhaftierungen geführt haben, erahnen, wie sehr sich der Kläger von der Gesellschaft in Deutschland entfernt habe. Infolge der Verurteilung zu einer Freistrafe von 5 Jahren und 11 Monaten und der daraus resultierenden Inhaftierung vom 6. Februar 2010 bis 18. August 2014 sei die Kontinuität des Aufenthalts im Bundesgebiet erstmals unterbrochen worden. Infolge der Verurteilung zu einem Freiheitsentzug von 6 Jahren im Jahr 2019 und der Inhaftierung bzw. Unterbringung zwischen November 2017 und Dezember 2020 sei die Kontinuität des Aufenthalts erneut unterbrochen worden. Diese Diskontinuität führe zum Wegfall des in § 6 Abs. 5 FreizügG/EU verstärkten Schutzes vor einer Verlustfeststellung, da die Integrationsverbindungen mit der Bundesrepublik Deutschland weitestgehend gänzlich abgerissen seien. Gleichwohl werde der langjährige Aufenthalt im Rahmen der vorzunehmenden Ermessensentscheidung umfassend gewürdigt und gewichtet. Selbst wenn davon ausgegangen werden sollte, dass die Kontinuität des Aufenthalts nicht unterbrochen bzw. diese Diskontinuität nicht zu einem Abriss der Integrationsverbindungen geführt habe und somit die Regelung des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU auf den Kläger anzuwenden sei, sei festzustellen, dass die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von 6 Jahren wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln einen zwingenden Grund darstelle. Illegaler Drogenhandel gehöre zu der Deliktgruppe der besonders schweren Kriminalität gemäß Art. 83 AEUV und stelle somit einen zwingenden Grund der öffentlichen Sicherheit dar. Die vom Kläger begangenen Straftaten seien im Bereich der Schwerkriminalität anzusiedeln. Er habe über einen Zeitraum von etwa 10 Monaten hinweg einen schwunghaften Handel mit großen Mengen Marihuana betrieben und dabei mit mehreren Mittätern zusammengearbeitet. Schon allein die Tatsache, dass er in der Lage sei, mehrmals etwa 10 kg Marihuana im Ausland zu beschaffen, zeige seine weitreichenden Kontakte ins Drogenmilieu. Für den Erwerb von so großen Mengen sei ein enormes Vertrauensverhältnis zwischen Käufer und Verkäufer nötig, das über einen längeren Zeitraum aufgebaut werden müsse. Es sei zu befürchten, dass der Kläger nach der Entlassung aus der Haft seine Kontakte wiederaufleben lasse, um möglichst schnell und einfach an Geld zu kommen. Diese Gefahr werde noch durch die Tatsache erhöht, dass er im Rahmen der Ermittlungen und der Hauptverhandlung seinen Hintermann nicht preisgegeben habe. Daraus werde seine Loyalität gegenüber dem Verkäufer mehr als deutlich. Er habe sich offenbar auch in München bereits einen Namen im Drogenmilieu gemacht, der es ihm ermöglicht habe, große Mengen Marihuana gewinnbringend und zügig zu verkaufen. Er habe nicht rein aus Beschaffungsdruck heraus gehandelt, da er selbst zwar regelmäßig, aber nicht übermäßig Drogen konsumiert habe. Ihm sei es offenbar vielmehr hauptsächlich um Gewinnerzielung durch den Handel mit Drogen gegangen. Die von ihm hierbei an den Tag gelegte hohe kriminelle Energie zeuge davon, dass er sich auf Kosten süchtiger und abhängiger Menschen bereichere und deren weiteres Abgleiten an den Rand der Gesellschaft bis hin ins Elend in Kauf nehme. Die Sozialschädlichkeit und die sich für den Einzelnen und die Allgemeinheit ergebenden Gefahren seien ihm bewusst gewesen. Dies habe ihn nicht davon abhalten können, Straftaten von erheblichem Gewicht aus Gewinnsucht heraus zu begehen. Zwar handele es sich bei Marihuana um eine im Vergleich zu Heroin oder Kokain minder starke Droge. Dennoch sei die Gefährlichkeit dieser Droge als Ausgangspunkt regelmäßigen Drogenkonsums als Einstieg zu stärkeren Rauschgiften mit der damit verbundenen Sozialschädlichkeit nicht zu übersehen. An der konkret bestehenden Gefahr weiterer schwerer Straftaten im Bereich des Betäubungsmittelhandels ändere auch die Tatsache nichts, dass der Kläger sich wegen der Tat bereits 1 Jahr und 4 Monaten in Haft, anschließend 1 Jahr und 7 Monate im Maßregelvollzug, aus dem er inzwischen entlassen worden sei, befunden habe. Es sei möglich, dass er die Zeiten der Inhaftierung und des Maßregelvollzugs sinnvoll genutzt habe und zum jetzigen Zeitpunkt auch gewillt sei, sein Leben zu ändern. Es bestehe jedoch die Gefahr, dass er in absehbarer Zeit erneut ähnlich gelagerte Betäubungsmittelstraftaten begehen werde. Dies ergebe sich vor allem aus seinem Werdegang. Bereits im Jahr 2011 sei er wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge jeweils zusammen mit unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 4 Fällen zu einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren und 11 Monaten verurteilt worden. Diese massive Verurteilung und die Verbüßung der Freiheitsstrafe habe ihn nicht davon abhalten können, nur etwa zweieinhalb Jahre nach Haftentlassung erneut massiv und einschlägig straffällig zu werden. Zudem habe er seine Delinquenz enorm gesteigert, da er nun selbst die Drogen bestellt und sich um den Weiterverkauf gekümmert habe, wohingegen er bei den vorherigen Straftaten lediglich als Fahrer tätig gewesen sei. Weder die verbüßte Haft noch die abgeschlossene Drogentherapie, die offene Bewährung oder die ausländerrechtlichen Konsequenzen hätten ihn dazu bringen können, sein Leben langfristig zu ändern. Hieraus werde seine nahezu beispiellose Gleichgültigkeit gegenüber geltendem Recht und verhängten strafrechtlichen Sanktionen mehr als deutlich. An der konkreten Wiederholungsgefahr ändere auch die Tatsache nichts, dass er eine Drogentherapie im Rahmen des § 64 StGB absolviere und in diesem Zusammenhang bereits entlassen worden sei. Er habe bereits im Jahr 2014 eine Drogentherapie vermeintlich erfolgreich abgeschlossen, sei aber alsbald wieder rückfällig und straffällig geworden. Das Strafgericht habe in der Urteilsbegründung festgestellt, dass er die Tendenz zeige, inkonsistente und wohl übertriebene Angaben bezüglich seines Konsumverhaltens zu machen. Daraus werde deutlich, dass er seinen vermeintlich hohen Eigenbedarf an sogenannten harten Drogen offenbar als Grund für seine Delinquenz vorschiebe. Es sei jedoch keine Kausalität von Substanzmittelkonsum und Delinquenz diagnostiziert worden. Vorliegend sei fraglich, inwieweit die Therapie tatsächlich zu einer langfristigen Änderung seines Verhaltens führen werde, da der schädliche Missbrauch von Kokain offensichtlich nicht den Grund für seine Delinquenz dargestellt habe. Zwar stelle sich die Gesamtsituation derzeit anders dar als nach seiner Entlassung aus der Therapie im Jahr 2014, da er derzeit einen festen Arbeitsplatz habe und mit seiner Ehefrau in familiärer Lebensgemeinschaft lebe. Er habe es jedoch trotz einer langen Haftstrafe und einer Drogentherapie zuletzt nicht geschafft, die Bewährung erfolgreich zu durchlaufen und sei schon sehr bald wieder straffällig geworden. Es bestehe mit Blick auf seinen Lebenslauf die Gefahr, dass er bei persönlichen Schwierigkeiten oder anderen Lebenskrisen erneut in die Spirale aus Drogenkonsum und Delinquenz zurückfalle. Der Kläger habe ein lukratives Geschäft mit großen Mengen an Drogen betrieben und sich hierfür ein gut funktionierendes Umfeld aufgebaut. Außerdem habe er aus diversen Versuchen, selbstständig zu arbeiten, eine große Menge an Schulden angehäuft, nämlich ca. 65.000 EUR. Diese hohe Verschuldung erhöhe die Gefahr, dass er erneut straffällig werde. Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit im Sinne von § 6 Abs. 5 FreizügG/EU lägen daher vor. Die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt sei zum Schutz der hier lebenden Bevölkerung unumgänglich. Da aber davon ausgegangen werde, dass § 6 Abs. 5 FreizügG/EU nicht anwendbar sei, sei § 6 Abs. 4 FreizügG/EU zu prüfen, wonach eine Feststellung nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung getroffen werden könne.
Dies sei ebenfalls erfüllt.
35
Im Rahmen der Ausübung pflichtgemäßen Ermessens seien folgende Gesichtspunkte in Betracht gekommen: Der Kläger habe Betäubungsmittelstraftaten begangen, die das Strafgericht zum Anlass genommen habe, eine Freiheitsstrafe von 6 Jahren zu verhängen. Die vom Kläger begangenen Straftaten seien im Bereich der Schwerkriminalität anzusiedeln. Eine strafgerichtliche Verurteilung zu einer so hohen Freiheitsstrafe sei deshalb auch hinreichender Gradmesser des im Rahmen des Verwaltungsrechts bestehenden Bedürfnisses vorbeugender Schutzmaßnahmen. Aus der Eigenart der Straftat ergebe sich eine konkrete Wiederholungsgefahr. Es liege eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vor, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. Zudem bestehe eine konkrete Gefahr weiterer schwerer Straftaten. Die Aufenthaltsbeendigung sei somit trotz der Rechte, die dem Kläger als EU-Staatsangehörigem zustünden, gerechtfertigt. Bezüglich der Schwere der vom Kläger begangenen Straftaten und der Wiederholungsgefahr werde auf die oben gemachten Ausführungen verwiesen. Im Hinblick auf die Interessen der Allgemeinheit, vor allem der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, sei der Aufenthalt des Klägers durch die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt zu beenden. Dies sei das geeignete, aber auch erforderliche Mittel der Gefahrenabwehr. Die persönlichen Interessen des Klägers würden insbesondere von Art. 8 EMRK, Art. 6 GG und Art. 7 GrCh geschützt. Die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt und die sich daraus ergebende Ausreisepflicht sei mit Blick auf Art. 8 EMRK gerechtfertigt. Der Kläger sei in der Schweiz und in Albanien aufgewachsen. In Albanien habe er die Schule abgeschlossen und sich im Jahr 1997 in ein militärisches Trainingslager begeben. Bis 1999 habe er als Soldat gedient und auch an der Front gekämpft. Im Jahr 2002 sei er im Alter von 20 Jahren zu seiner italienischen Ehefrau nach Deutschland eingereist. Anfangs sei ihm eine berufliche Integration gelungen, nach einem Unfall im Jahr 2005 oder 2006 habe er jedoch beruflich nicht mehr Fuß fassen können. Seit Anfang Januar 2021 stehe er wieder in einem Arbeitsverhältnis. Staatliche Leistungen habe er nach Aktenlage in Deutschland nicht bezogen. Er sei Vater von drei minderjährigen Kindern, von denen zwei nicht mehr im Bundesgebiet lebten. Seine Tochter S… lebe bei der geschiedenen Ehefrau. Es bestehe schriftlicher und telefonischer Kontakt. Darüber hinaus sei er seit August 2019 mit einer slowakischen Staatsangehörigen verheiratet und lebe mit dieser seit seiner Entlassung aus dem Maßregelvollzug im Dezember 2020 in familiärer Lebensgemeinschaft. Trotz seines grundsätzlich sehr langen Aufenthalts und seines gesicherten Aufenthaltsstatus habe der Kläger es aber letztlich nicht geschafft, sich in die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland zu integrieren. Dies zeige sich vor allem in der Tatsache, dass er während seines 19-jährigen Aufenthalts zweimal zu sehr hohen Freiheitsstrafe von 5 Jahren und 11 Monaten bzw. 6 Jahren verurteilt worden sei. Durch den Betäubungsmittelhandel im großen Stil habe er jegliche Integration zunichtegemacht. Die erste Verurteilung im Jahr 2011 und die daraus resultierende lange Inhaftierung habe ihn letztlich nicht dazu bringen können, sein Leben zu überdenken oder gar zu ändern. Vielmehr habe er sich nach der Entlassung der Bewährungshilfe entzogen, keine Arbeit begonnen und sei nur etwa zwei Jahre danach wieder massiv in den Betäubungsmittelhandel eingestiegen, wobei er seine Delinquenz noch gesteigert habe. Beruflich habe er nicht Fuß fassen können, auch wenn er derzeit in einem Arbeitsverhältnis stehe. Dieses dauere erst wenige Monate. Selbst unter Würdigung seines langen Aufenthalts im Bundesgebiet gegenüber einer womöglich ungesicherten Situation in seinem Heimatland träfen ihn die Folgen der Aufenthaltsbeendigung zwar schwer, aber nicht unverhältnismäßig. Ihm sei aufgrund der wiederholt begangenen schwerwiegenden Straftaten und der zuletzt daraus resultierenden Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von 6 Jahren zuzumuten, sich zweitweise im Kosovo zurechtzufinden. Bereits im Jahr 2015 sei er von der zuständigen Ausländerbehörde des Landratsamtes … ausländerrechtlich verwarnt und darauf hingewiesen worden, dass strafrechtliche Verurteilungen auch die Beendigung des Aufenthalts nach sich ziehen können. Aus seinem Lebenslauf ergebe sich, dass er der albanischen Sprache mächtig sei. Er habe einen Teil der Kindheit und Jugend im Heimatland verbracht und dort die Schule abgeschlossen. Es sei davon auszugehen, dass ihm die Lebensgewohnheiten noch geläufig sind. Zudem lebten seine Eltern und ein Bruder im Kosovo, sodass er auf familiäre Unterstützung zurückgreifen könne. Eine Wiedereingliederung im Land seiner Staatsangehörigkeit könne ihm somit zugemutet werden. Eine Arbeit in der Baubranche könne er auch im Kosovo aufnehmen. Er habe es im Bundesgebiet letztendlich mangels Berufsausbildung nicht geschafft, sich beruflich zu integrieren. Erst jetzt, unter dem Druck des Maßregelvollzugs, sei es ihm gelungen, eine Arbeitsstelle zu finden. Eine außergewöhnliche Härte, die außer Verhältnis zu dem beabsichtigten Zweck, der Vermeidung weiterer Straftaten im Bundesgebiet steht, sei nicht ersichtlich. Der Schutz der hier rechtschaffen lebenden Bevölkerung vor der künftigen Beeinträchtigung von Leben und Gesundheit durch Betäubungsmitteldelikte sei daher höher anzusiedeln als seine berechtigten Interessen am Schutz seines Privat- und Familienlebens im Bundesgebiet. Die Ausweisung widerspreche somit nicht dem in Art. 8 Abs. 2 EMRK verankerten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Der Kläger habe seine Ehefrau während des Maßregelvollzugs geheiratet. Anfangs habe somit die eheliche Lebensgemeinschaft nicht geführt werden können. Seit Dezember 2020 lebten sie gemeinsam in München. Ihnen sei bereits bei der Eheschließung klar gewesen, dass nach wie vor nicht über den weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet entschieden worden sei und er mit einer Beendigung des Aufenthalts zu rechnen habe. Die Trennung von seiner Ehefrau sei ihm somit zumutbar und stelle keine außergewöhnliche Härte für ihn oder die Ehefrau dar. Der Kontakt könne in dieser Zeit durch Telefonate und Besuche in seiner Heimat aufrechterhalten werden. Bezüglich der Tochter S… sei festzustellen, dass die Trennung von der Kindsmutter bereits vor Geburt des Kindes erfolgt sei und er zu keiner Zeit mit der Tochter in familiärer Lebensgemeinschaft gelebt habe. Letztendlich sei zu sehen, dass er von den zwölf Lebensjahren der Tochter etwa sieben Jahre in Haft oder Unterbringung verbracht habe. Während seines Aufenthalts im Bezirkskrankenhaus sei er von der Tochter nicht besucht worden. Auch wenn die Kindsmutter erklärt habe, dass er stets um einen Kontakt mit der Tochter bemüht gewesen sei, habe jedoch keine Beistands- oder Begegnungsgemeinschaft zwischen dem Kläger und dem Kind bestanden. Das Kind sei es seit Lebzeiten gewohnt, ohne den leiblichen Vater bei der Mutter zu leben. Den derzeit gepflegten telefonischen und postalischen Kontakt könne er auch vom Ausland aus aufrechterhalten. Dies stelle für das Kind keine außergewöhnliche Situation, sondern den gewohnten Alltag dar. Darüber hinaus bestehe die Möglichkeit von gelegentlichen Besuchen und Treffen im Heimatland. Er habe sich die Trennung von der Frau und der Tochter selbst zuzuschreiben. Obwohl er bereits über vier Jahre in Haft verbracht habe, habe er sich erneut dazu hinreißen lassen, Betäubungsmitteldelikte zu begehen. Insbesondere die Verantwortung der Tochter gegenüber sei ihm dabei völlig gleichgültig gewesen. Er habe keinen Unterhalt gezahlt und keinerlei Erziehungsbeitrag geleistet. Aufgrund der drohenden Wiederholungsgefahr müssten die privaten Belange zurückstehen. Darüber hinaus habe die Ausländerbehörde dem langjährigen Aufenthalt mit der Befristung der Ausweisung auf sechs Jahre Rechnung getragen. Wegen des Gewichts der gefährdeten Rechtsgüter und der festgestellten Wiederholungsgefahr werde auch im Hinblick auf den langjährigen Aufenthalt und die familiären Bindungen dieser Zeitraum für erforderlich gehalten, um dem hohen Gefahrenpotenzial Rechnung tragen zu können.
36
Mit Schriftsatz vom … März 2021, bei Gericht am selben Tag eingegangen, hat die Bevollmächtigte des Klägers Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München erhoben und beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 22. März 2021 aufzuheben.
37
Mit Schriftsatz vom 8. April 2021 hat die Beklagte beantragt,
38
Mit Schriftsatz vom … Mai 2021 führte die Bevollmächtigte des Klägers zur Klagebegründung im Wesentlichen aus, sie beziehe sich zunächst auf die Ausführungen im Schreiben vom … August 2019 an das Landratsamt München. Der Kläger habe die Unterbringung bislang sehr erfolgreich durchlaufen, seit dem 21. Dezember 2021 sei er beurlaubt und lebe die eheliche Lebensgemeinschaft mit seiner Ehefrau in München. Er sei bereits seit dem 4. Januar 2021 bei seiner jetzigen Firma beschäftigt. Nach der Stellungnahme der Mutter der Tochter S… sei der Kläger als Ansprechpartner für das Wohl der Tochter wichtig. Auch das Jugendamt … befürworte im Hinblick auf das Kindeswohl den Verbleib des Klägers in Deutschland. Der Kläger leiste seit Januar 2021 Unterhalt für seine Tochter von monatlich 150 EUR. Die Entlassung stehe in ca. einem Monat an. Eine zuletzt durchgeführte Haaranalyse für einen Zeitraum von sechs Monaten habe keine Hinweise auf die Aufnahme von Betäubungsmitteln ergeben.
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Nach einer Stellungnahme des Bezirksklinikums … vom 24. Juni 2021 sei der Kläger am 21. Dezember 2020 mit Lockerungsstufe D3 (Probewohnen) zur Erprobung des Entlassungssettings längerfristig beurlaubt. Er wohne seitdem gemeinsam mit seiner Ehefrau in München. Seit dem 4. Januar 2021 arbeitete er in Festanstellung in … Der Kläger sei seit Beginn der Beurlaubung stets zuverlässig und pünktlich zu den mindestens 14-tägigen Einzelgesprächen und Suchtmittelkontrollen erschienen. Absprachen und Auflagen seien durchgehend zuverlässig und beanstandungsfrei eingehalten worden. Zu keinem Zeitpunkt habe es Hinweise auf delinquentes Verhalten geben. Die durchgeführten Suchtmittelkontrollen hätten stets negative Befunde erbracht. Am 23. März 2021 sei eine Haarprobe entnommen worden, die Analyse habe negative Befunde für Betäubungsmittel und Alkoholkonsum ergeben. Der Kläger zeige sich in den Einzelgesprächen offen und wirke in seinen Schilderungen authentisch. Von seiner Arbeitstätigkeit berichte er mit großer Begeisterung, nach eigenen Angaben sei er aufgrund seines Leistungsvermögens bereits nach kurzer Zeit mit verantwortungsvollen Aufgaben betraut worden. Ebenfalls positiv habe er von dem intensivierten Kontakt zu den Kindern (per Videotelefonie und persönlichem Kontakt zu der in Deutschland lebenden Tochter) und der Fähigkeit zur strukturierten Freizeitgestaltung berichtet. Am 22. März 2021 sei der Bescheid über die Verlustfeststellung eingegangen. Die Kläger habe bestürzt reagiert, da er große Hoffnungen auf einen Verbleib in Deutschland im Falle eines positiven Therapieverlaufs gesetzt habe. In der Folge sei es zu einer Zunahme psychischer Belastung gekommen, die der Kläger mithilfe der in der Therapie erlernten Strategien nach eigenen Angaben gut habe regulieren können. Im weiteren Verlauf habe er sich auch gemeinsam mit der Ehefrau mit Zukunftsplänen im Falle einer Ausreisepflicht auseinandergesetzt. Aus diagnostischer Sicht werde bei dem Kläger von einem schädlichen Gebrauch von Kokain sowie von einer dissozialen Persönlichkeitsstörung und narzisstischen Anteilen ausgegangen. Eine posttraumatische Belastungsstörung liege nicht mehr vor. Bei dem Kläger liege kein Abhängigkeitssyndrom vor, er äußere durchgehend Abstinenzmotivation und sowohl im Rahmen der stationären Behandlung als auch unter höheren Freiheitsgraden und den alltagsnahen Bedingungen der längerfristigen Beurlaubung habe es keinen Anhalt für einen erneuten Konsum gegeben. Der Substanzkonsum habe jedoch bei der Delinquenzgenese eine untergeordnete Rolle gespielt. Deliktrelevant seien in erster Linie die sozialen und narzisstischen Erlebens- und Verhaltensmuster gewesen. Bei Persönlichkeitsstörungen sei die Behandlungsprognose im Allgemeinen kritisch. Bei dem Kläger hätten im Behandlungsverlauf hinsichtlich narzisstischer und dissozialer Schemata Veränderungen erreicht werden können. Auch unter höheren Freiheitsgraden habe es keinen Anhalt für schwerwiegende Regelverstöße oder delinquentes Verhalten gegeben, der Kläger habe sich stets absprachefähig und zuverlässig gezeigt. Trotz der erhöhten psychischen Belastung durch die drohende Ausreisepflicht zeige sich der Kläger stabil. Die Kläger lebe mit der Ehefrau in einer Mietwohnung und beschreibe die Partnerschaft als insgesamt stabil und harmonisch. Die Ehe sei während der Unterbringung geschlossen worden und in der Vergangenheit hätten längerfristige Partnerschaften parallel zur Delinquenz bestanden, sodass hier keine positive Funktion anzunehmen sei. Dies gelte auch für den intensivierten Kontakt zu den Kindern. Insgesamt könne der soziale Empfangsraum aber als ausreichend günstig und hinreichend erprobt beurteilt werden. Die einschlägigen Vorstrafen inklusive einschlägiger Rückfälligkeit unter einer laufenden Bewährung seien prognostisch ungünstige statische Risikomerkmale. Es sei von eingeschliffenen dissozialen Verhaltensmustern auszugehen, welche neben dem Suchtmittelkonsum den zentralen Risikofaktor für erneute Delinquenz darstellten. Im Rahmen der Behandlung hätten wesentliche sucht- und deliktrelevante Merkmale hinreichend modifiziert und die Abstinenzfähigkeit innerhalb des bestehenden sozialen Empfangsraums erprobt werden können. Aus sachverständiger Sicht bestehe im Fall eines länger andauernden schweren Rückfallgeschehens oder einer finanziell prekären Situation ein erhöhtes Risiko für erneute Taten aus dem bekannten Deliktspektrum. Das Risiko sei unter der Prämisse einer Anbindung an eine forensische Nachsorgeambulanz und Bewährungshilfe jedoch gegenwärtig als hinreichend gemindert einzuschätzen. Die Voraussetzungen für eine Aussetzung der Maßregel und des Strafrechts zur Bewährung seien als gegeben zu beurteilen.
40
Gemäß einer Verlaufsbestätigung des … …-Klinikums vom 3. Juni 2022 werde der Kläger seit der Entlassung aus dem Bezirkskrankenhaus … durch die hiesige forensische Ambulanz nachbetreut. Er nehme seine Gesprächstermine in wöchentlichem Turnus zuverlässig war. Sämtliche Alkohol- und Drogenscreenings seien ohne Befund geblieben.
41
Nach einer Stellungnahme der Bewährungshelferin des Klägers vom 13. Juni 2022 sei dieser ihr seit dem 6. Mai 2022 im Rahmen der Führungsaufsicht unterstellt. Seither habe ein Erstgespräch stattgefunden. Er halte sich ihres Wissens an seine Weisungen und habe diese zuverlässig und fristgerecht eingehalten. Er arbeite in der Produktion im Schichtdienst und sei für weitere zwei Jahre übernommen worden. Mit dem Gehalt könne der Kläger aktuell seinen Lebensunterhalt gut finanzieren. Er lebe mit seiner Frau in einer Mietwohnung. Er sei in gutem Kontakt mit seinen Kindern, seinen Geschwistern und der Mutter.
42
Nach einer Stellungnahme der … G… vom 14. Juni 2022 sei die Ausweisung des Klägers eine Strafe, die in erster Linie die gemeinsame Tochter hart treffen werde. Das Verhältnis dieser sei definitiv stabiler geworden. Zwar spiele die Entfernung eine Rolle, beide telefonierten jedoch oft und sähen sich – soweit es die berufliche Situation erlaube – regelmäßig. Der Kläger komme seinen Unterhaltspflichten im Rahmen seiner finanziellen Möglichkeiten nach. Ihr Verhältnis sei durch den regelmäßigen Austausch und die gemeinsamen Unternehmungen geprägt. S… verstehe sich auch gut mit seiner Frau … Der Kläger sei auf einem sehr guten Weg.
43
In der mündlichen Verhandlung erklärte der Kläger, er sehe seine Tochter etwa alle drei bis vier Wochen, abhängig von seinem Schichtdienst. Dazwischen telefoniere er regelmäßig mit ihr.
44
Der Beklagtenvertreter erklärte, es handle sich mehr um einen sporadischen Kontakt. Der Lebensmittelpunkt der Tochter liege bei der Mutter. An den Fernkontakt habe sie sich bereits gewöhnt. Die Ehefrau des Klägers habe sich in Kenntnis von dessen Lebenswandel auf die Ehe eingelassen.
45
Der Beklagtenvertreter setzte die Frist in Nr. 2 des Bescheids vom 22. März 2021 auf vier Jahre fest.
46
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
47
I. Die zulässige Klage ist unbegründet.
48
Der Bescheid der Beklagten vom 22. März 2021 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
49
Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt ist der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (EuGH, U.v. 29.4.2004 – C-482/01 und C-493/01 Orfanopoulos Olivieri – EuZW 2004, 402).
50
1. Rechtsgrundlage der Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt ist § 6 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU – FreizügG/EU).
51
Nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU kann der Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt unbeschadet des § 2 Abs. 7 FreizügG/EU und des § 5 Abs. 4 FreizügG/EU nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit festgestellt werden; die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung genügt gemäß § 6 Abs. 2 FreizügG/EU für sich allein dafür nicht. Es dürfen nur im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt (§ 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU). Nach § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Das Erfordernis einer gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung verlangt eine hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass der Ausländer künftig die öffentliche Ordnung beeinträchtigen wird (vgl. BayVGH, B.v. 18.3.2015 – 10 C 14.2655 – juris; B.v. 10.10.2013 – 10 ZB 11.607 – juris).
52
Nach dem gestuften Schutzsystem des § 6 FreizügG/EU darf eine Verlustfeststellung nach einem Erwerb eines Daueraufenthaltsrechts im Sinne des § 4a FreizügG/EU (ständiger rechtmäßiger Aufenthalt im Bundesgebiet seit 5 Jahren) nur aus schwerwiegenden Gründen getroffen werden (§ 6 Abs. 4 FreizügG/EU). Bei Unionsbürgern und deren Familienangehörigen, die ihren Aufenthalt in den letzten 10 Jahren im Bundesgebiet hatten, darf eine Verlustfeststellung nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit getroffen werden (§ 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU).
53
a) Im vorliegenden Fall kann der Kläger nur den Schutz des § 6 Abs. 4 FreizügG/EU in Anspruch nehmen, da die Kontinuität des langjährigen Aufenthalts des Klägers zum Bundesgebiet mit Antritt der jeweiligen Haftstrafen im Jahr 2011 bzw. 2017 unterbrochen wurde. Insofern wird auf die zutreffenden Ausführungen der Beklagten im streitgegenständlichen Bescheid Bezug genommen (§ 117 Abs. 5 VwGO).
54
Darüber hinaus liegen nach Auffassung des Gerichts aber auch zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit im Sinne des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU vor. Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit können nach § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU nur dann vorliegen, wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung Sicherheitsverwahrung angeordnet wurde, wenn die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland betroffen ist oder wenn vom Betroffenen eine terroristische Gefahr ausgeht. Der Begriff der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit im Sinne des § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU setzt nicht nur das Vorliegen einer Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit voraus, sondern darüber hinaus, dass die Beeinträchtigung einen besonders hohen Schweregrad aufweist. Eine Ausweisungsmaßnahme ist hier auf außergewöhnliche Umstände begrenzt (vgl. EuGH, U.v. 23.11.2010 – C-145/09 – juris Rn. 40, 41). Sie muss auf eine individuelle Prüfung des Einzelfalls gestützt werden und kann nur dann mit zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt werden, wenn sie angesichts der außergewöhnlichen Schwere der Bedrohung für den Schutz der Interessen, die mit ihr gewahrt werden sollen, erforderlich ist. Dieses Ziel darf unter Berücksichtigung der Aufenthaltsdauer im Aufnahmemitgliedstaat des Unionsbürgers und insbesondere der schweren negativen Folgen, die eine solche Maßnahme für Unionsbürger haben kann, die vollständig in den Aufnahmemitgliedstaat integriert sind, nicht durch weniger strikte Maßnahmen erreicht werden können. Dabei ist insbesondere der außergewöhnliche Charakter der Bedrohung der öffentlichen Sicherheit aufgrund des persönlichen Verhaltens der betroffenen Person, nach Maßgabe der verwirkten und verhängten Strafen, des Grades der Beteiligung an der kriminellen Aktivität, des Umfangs des Schadens und gegebenenfalls der Rückfallneigung, gegen die Gefahr abzuwägen, die Resozialisierung des Unionsbürgers im Aufnahmemitgliedsstaat zu gefährden (EuGH, U.v. 23.11.2010, a.a.O., Rn. 49 f.; zum Ganzen: BayVGH, B.v. 10.12.2014 – 19 ZB 13.2013 – juris Rn. 7).
55
Gemessen an diesen Maßstäben liegen im vorliegenden Fall zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit vor. Der Kläger ist zuletzt rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von 6 Jahren verurteilt worden (§ 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU). Diese Verurteilung wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei tatmehrheitlichen Fällen ist auch als besonders schwere Beeinträchtigung eines grundlegenden gesellschaftlichen Interesses anzusehen, die geeignet ist, die Ruhe und die Sicherheit der Bevölkerung unmittelbar zu bedrohen. Die vom Kläger begangenen Straftaten sind dem Bereich der Schwerkriminalität zuzuordnen. Vom illegalen Handel mit Betäubungsmitteln geht eine schwerwiegende Gefahr, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, aus, da er regelmäßig mit einer hohen kriminellen Energie verbunden ist und das Leben und die Gesundheit anderer Menschen gefährdet, indem er eine Abhängigkeit von Drogenkonsumenten hervorruft oder aufrechterhält. Die betroffenen Schutzgüter des Lebens und der Gesundheit nehmen in der Hierarchie der in den Grundrechten enthaltenen Wertordnung einen hohen Rang ein (EuGH, U.v. 23.11.2010 – Tsakouridis, C-145/9 – juris Rn. 45 ff.; BayVGH, B.v. 6.5.2015 -10 ZB 15.231 – juris Rn. 4). Illegaler Drogenhandel gehört zu den in Art. 83 Abs. 1 Unterabs. 2 AEUV angeführten Straftaten im Bereich der besonders schweren Kriminalität.
56
b) Das Gericht teilt die Einschätzung der Beklagten, dass die Umstände, die den vom Kläger begangenen Straftaten zugrunde gelegen sind, ein persönliches Verhalten erkennen lassen, welches eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere, die Grundinteressen der Gesellschaft berührende Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU darstellt. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen ist gerichtlich voll überprüfbar. Getilgte Vorstrafen sind dabei ebenso außer Betracht zu lassen wie eingestellte Ermittlungsverfahren.
57
Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt für die Wiederholungsgefahr ist der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (EuGH, U.v. 29.4.2004 – C-482/01 und C-493/01 Orfanopoulos Olivieri – EuZW 2004, 402).
58
Ob die Begehung einer Straftat nach Art und Schwere ein persönliches Verhalten erkennen lässt, das ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, lässt sich nur aufgrund der Umstände des Einzelfalles beurteilen (vgl. EuGH, Entscheidung v. 27.10.1977 – 30/77 „Bouchereau“ – BeckRS 2004, 73063). Das Erfordernis einer gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung verlangt eine hinreichende, unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit nach dem Ausmaß des möglichen Schadens und dem Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts differenzierte Wahrscheinlichkeit, dass der Ausländer künftig die öffentliche Ordnung beeinträchtigen wird (BVerwG, U.v. 2.9.2009 – 1 C 2.09 – NVwZ 2010, 389). Bei gewichtigeren Straftaten reicht danach eine geringere Wahrscheinlichkeit der erneuten Straftatbegehung aus, um eine solche Gefährdung zu begründen (BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – BeckRS 2013, 47815). Aus den verwertbaren Straftaten sowie den sonstigen hinzutretenden Umständen ist also prognostisch abzuleiten, wie hoch auf Seiten des Betroffenen das Risiko der Begehung erneuter Straftaten und damit erneuter Verstöße gegen die öffentliche Ordnung ist.
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Gemessen an diesen Vorgaben ist beim Kläger prognostisch eine erhebliche Wiederholungsgefahr gegeben.
60
Es besteht unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände eine erhebliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass vom Kläger die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten, insbesondere im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität, ausgeht. Nach den Feststellungen des Strafurteils vom … Februar 2019 hat der Kläger einen schwunghaften Handel mit Marihuana betrieben und dabei mindestens dreimal Lieferungen im Umfang von jeweils etwa 10 kg aus dem Ausland, vermutlich aus Albanien, erhalten. Der Kläger verfügt offensichtlich über zahlreiche und tiefgreifende Kontakte im nationalen und internationalen Drogenmilieu. Andernfalls hätte er nicht Lieferungen aus dem Ausland im Kilogrammbereich erhalten und in Deutschland weiterverkaufen können; Geschäfte dieser Größenordnung erfordern eine erhebliche Vertrauensstellung zwischen Lieferant und Erwerber. Dabei war er die zentrale Figur des Handels, wobei er von mehreren Personen unterstützt worden ist. Teilweise wurde das Rauschgift in der Wohnung eines Mittäters gelagert und von dort heraus verkauft. Art und Begehungsweise des Drogenhandels weisen besonders schwerwiegende Merkmale auf. Auch wenn es sich bei Marihuana um eine sog. weiche Droge handelt, stellt das Handeltreiben des Klägers mit Marihuana im zweistelligen Kilogrammbereich eine schwere Straftat dar. Die nicht geringe Menge war dabei deutlich überschritten.
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Auch das Verhalten des Klägers in der Vergangenheit, aus dem hinsichtlich der Wiederholungsgefahr Rückschlüsse zu ziehen sind, legt eine hohe Rückfallgefahr nahe. Der Kläger ist bereits im Jahr 2011 erheblich und einschlägig strafrechtlich in Erscheinung getreten, als er wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 5 Jahren und 11 Monaten verurteilt worden ist. Dem lag die Einfuhr und der Handel mit der harten Droge Kokain zugrunde. Die Vollstreckung der Reststrafe aus dieser Verurteilung wurde zur Bewährung ausgesetzt, die im Zeitpunkt der erneuten Straffälligkeit noch offen war. Nach seiner letzten Verurteilung hat ihn weder die verbüßte langjährige Freiheitsstrafe noch die ausländerrechtliche Verwarnung noch die mehrmonatige stationäre Drogentherapie oder die offene Reststrafenbewährung davon abgehalten, erneut eine schwerwiegende Straftat im Bereich der Betäubungsmitteldelikte zu begehen. Vielmehr war er bei dieser Straftat selbst treibende Kraft, während er bei der 2011 abgeurteilten Straftat eher eine untergeordnete Rolle als Fahrer innehatte.
62
Auch wenn der Kläger mittlerweile die Therapie abgeschlossen hat, aus der Unterbringung nach § 64 StGB entlassen wurde und bereits seit Dezember 2020 im Rahmen des Probewohnens mit seiner Ehefrau in einer Wohnung zusammenlebt, lässt dies nicht die Annahme einer Wiederholungsgefahr entfallen. Der Kläger hat bereits früher mit seiner damaligen Ehefrau zusammengewohnt, ohne dass sich dies positiv auf seinen Lebenswandel ausgewirkt hat. In Fällen, in denen Straftaten (auch) aufgrund einer bestehenden Suchtmittelproblematik begangen worden sind, geht die Rechtsprechung zudem regelmäßig davon aus, dass die konkrete Wiederholungsgefahr erst entfällt, sobald der Kläger eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen und darüber hinaus die damit verbundene Erwartung künftigen drogen- und straffreien Verhaltens auch nach dem Therapieende glaubhaft gemacht hat (vgl. BayVGH, B.v. 10.4.2014 – 10 ZB 13.71 – juris Rn. 6 m.w.N.; B.v. 17.12.2015 – 10 ZB 15.1394 – juris). Der Kläger hat sich noch nicht über einen längeren Zeitraum außerhalb der geschützten Raums der Haft und der Maßregel bewährt. Zwar war er schon seit Dezember 2020 im Stadium des Probewohnens, die Maßregel dauerte aber noch bis zum April 2022. Eine längerfristige Bewährung in Freiheit nach vollständigem Abschluss der Therapie hat somit noch nicht stattgefunden. Abgesehen davon war die Drogensucht aber auch nicht der einzige Auslöser der Delinquenz des Klägers. Nach der Stellungnahme des BKH … vom 24. Juni 2021 ist neben dem Suchtmittelkonsum eine dissoziale Persönlichkeitsstörung mit narzisstischen Anteilen, die zu eingeschliffenen dissozialen Verhaltensmustern geführt hat, der wesentliche Risikofaktor für eine erneute Delinquenz. Auch wenn einige Veränderungen erzielt werden konnten, ist dennoch bei Persönlichkeitsstörungen die Behandlungsprognose im Allgemeinen kritisch. Zudem besteht aus sachverständiger Sicht im Fall eines länger andauernden schweren Rückfallgeschehens oder einer finanziell prekären Situation ein erhöhtes Risiko für erneute Taten aus dem bekannten Deliktsspektrum. Vor dem Hintergrund, dass der Kläger derzeit Schulden i.H.v. ca. 65.000 EUR hat, besteht die Gefahr, dass der Kläger seine Kontakte wieder nutzt, um schnell an größere Mengen Geld zu kommen.
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2. Das Gericht kann die Ermessensentscheidung der Beklagten gemäß § 114 Satz 1 VwGO lediglich daraufhin überprüfen, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist.
64
Gemäß § 6 Abs. 3 FreizügG/EU sind bei der Entscheidung insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen.
65
Die Entscheidung der Beklagten über die Verlustfeststellung stellt sich auch unter Berücksichtigung der Umstände nach § 6 Abs. 3 FreizügG/EU als ermessensfehlerfrei dar.
66
Es ist vorliegend rechtlich nicht zu beanstanden, dass die Beklagte in ihrer Ermessensentscheidung den öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung des Klägers gegenüber seinen persönlichen Interessen am Verbleib im Bundesgebiet den Vorzug gegeben hat.
67
Die Beklagte hat der Schwere der Straftaten und den Umständen ihrer Begehung die Bleibeinteressen des Klägers gegenübergestellt und zutreffend gewürdigt. Der Kläger hält sich seit 2002 und damit seit fast 20 Jahren im Bundesgebiet auf. Zu Beginn seines Aufenthalts in Deutschland mag dem Kläger auch eine berufliche Integration gelungen sein; bis zum Jahr 2008 hat er – bis auf eine unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit – durchgehend gearbeitet. Dennoch ist er nicht derart irreversibel in die deutschen Lebensverhältnisse eingefügt, dass ihm ein Leben im Staat seiner Staatsangehörigkeit unzumutbar wäre. Seit dem Verlust seines Arbeitsplatzes im Sommer 2008 konnte er beruflich nicht mehr Fuß fassen; erst seit Januar 2021 ist er wieder berufstätig. Zwei Versuche einer selbständigen Beschäftigung scheiterten. Eine Berufsausbildung hat er in Deutschland nicht absolviert. Bis auf seine familiären Bindungen und seinen langen Aufenthalt, von dem er einen großen Teil in Haft bzw. Unterbringung verbracht hat, sind keine wesentlichen Integrationsfaktoren feststellbar. Der Kläger war seit der vierten Klasse im Kosovo und hat dort einen wesentlichen Teil seiner prägenden Kindheits- und Jugendjahren verbracht. Er hat dort sogar das Gymnasium abgeschlossen. Im Falle einer Rückkehr in den Kosovo erwarten den Kläger weder sprachliche noch kulturelle Hürden. Seine beruflichen Möglichkeiten sind im Kosovo nicht schlechter einzuschätzen als in Deutschland. Dem Kläger ist es als erwachsenem Mann zuzumuten, sich in seinem Heimatland zurechtzufinden und seinen Lebensunterhalt durch Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zu erwirtschaften. Darüber hinaus wohnen seine Eltern und sein Bruder im Kosovo, auf deren Unterstützung er anfangs zurückgreifen könnte.
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Auch unter Berücksichtigung der familiären und sozialen Bindungen des Klägers im Bundesgebiet erweist sich die Verlustfeststellung als ermessensfehlerfrei.
69
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewährt Art. 6 GG keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt. Allerdings verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1, Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über aufenthaltsbeendende Maßnahmen die familiären Bindungen des den (weiteren) Aufenthalt begehrenden Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, das heißt entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalles geboten.
70
Die Ehe wurde in Kenntnis der vom Kläger begangenen Straftaten zu einem Zeitpunkt geschlossen, als sich dieser im Maßregelvollzug befand und ausländerrechtliche Konsequenzen der Straffälligkeit bereits im Raum standen. Erst einen Monat vor der Heirat wurde der Kläger vom damals zuständigen Landratsamt München zur beabsichtigten Verlustfeststellung angehört. In Anbetracht der vom Kläger ausgehenden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung kann der Ehe somit kein ausschlaggebendes Gewicht zugemessen werden.
71
Nichts anderes ergibt sich auch unter Berücksichtigung der familiären Beziehungen des Klägers zu seinen drei deutschen Kindern.
72
Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist nicht nur auf das Elternrecht, sondern maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen. Die Rechtsprechung stellt bei der Gewichtung der Kindesinteressen maßgeblich auch darauf ab, ob „… ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt“ (BVerfG, B.v. 1.12.2008 – 2 BvR 1830/08 – BVerfGK 14, 458 ff.; B.v. 9.1.2009 – 2 BvR 1064/08 – NVwZ 2009, 387 f.).
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Zwei der Kinder des Klägers, E… und T…, wohnen mittlerweile im Ausland. Einen etwaigen Kontakt zu diesen kann der Kläger auch von Kosovo aus aufrechterhalten. Seine 2008 geborene Tochter S… lebt zwar mit der geschiedenen Frau in … Bei ihrer Geburt war der Kläger aber bereits von ihrer Mutter getrennt; als die Tochter ein Jahr alt war, trat der Kläger seine erste langjährige Haftstrafe an. Auch nach Verbüßung der ersten Freiheitsstrafe gab es zwar Besuchsaufenthalte, aber nie ein gemeinsames Zusammenleben. Seit 29. November 2017 befand sich der Kläger erneut in Haft, seit 19. März 2019 im Maßregelvollzug. Besuche im Maßregelvollzug fanden keine statt. Seit Dezember 2020 besteht lediglich ein besuchsweiser Kontakt alle drei bis vier Wochen, im Übrigen telefonischer Kontakt. Für die Tochter ist die Trennung vom Kläger bzw. der nur gelegentliche persönliche Kontakt somit gelebte Realität, so dass auch ein längerer Auslandsaufenthalt – ggf. unterbrochen durch Betretenserlaubnisse (§ 11 Abs. 8 AufenthG) – für sie keine grundlegende Umwälzung ihrer bisherigen Lebensverhältnisse bewirkt. Sie ist mittlerweile auch nicht mehr in einem Alter, in dem sie den nur vorübergehenden Charakter der Trennung nicht verstehen könnte. Zudem kann der Kontakt auch durch die verschiedenartigen Formen moderner Kommunikation und Besuchsaufenthalte aufrechterhalten werden. Darüber hinaus ist auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots eine Möglichkeit, die Verlustfeststellung verhältnismäßig zu gestalten. Vor dem Hintergrund der familiären Bindungen zu seiner deutschen Tochter und der Ehefrau hat die Beklagte die ursprünglich vorgesehene Frist erheblich auf lediglich vier Jahre herabgesetzt (s.u.). Besondere Härten können zudem durch Betretenserlaubnisse abgefedert werden. Unabhängig davon ist zu berücksichtigen, dass den Kläger auch die Geburt seiner Kinder nicht zu der Einsicht bewogen hat, ein drogen- und straffreies Leben zu führen.
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Die Verlustfeststellung steht auch mit Art. 8 EMRK im Einklang, da sie gesetzlich vorgesehen ist und einen legitimen Zweck, nämlich die Verteidigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und die Verhinderung von Straftaten, verfolgt. Die Verlustfeststellung ist die geeignete, erforderliche und angemessene Maßnahme, um den beabsichtigten Zweck durchzusetzen. Durch ein anderes, milderes Mittel kann der mit ihr verfolgte Zweck vorliegend nicht erreicht werden. Im Ergebnis ist die Verlustfeststellung des Klägers daher verhältnismäßig und rechtmäßig und zur Wahrung des mit ihr verfolgten Interesses unerlässlich.
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3. Die Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU hat nach § 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU zur Folge, dass der Kläger nicht erneut in das Bundesgebiet einreisen und sich darin aufhalten darf. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist gem. § 7 Abs. 2 Satz 5 FreizügG/EU von Amts wegen zu befristen. Die Frist ist gem. § 7 Abs. 2 Satz 6 FreizügG/EU unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls festzusetzen. Bei der Bestimmung der Länge der Frist sind in einem ersten Schritt das Gewicht des Grundes der Verlustfeststellung und der damit verfolgte Zweck zu berücksichtigen; es bedarf einer prognostischen Einschätzung im Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. In einem zweiten Schritt ist die so ermittelte Frist an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen und den Vorgaben ausArt. 8 EMRK, zu überprüfen und ggf. zu verkürzen; dieses normative Korrektiv bietet den Ausländerbehörden und den Gerichten ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen zu begrenzen.
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Gemessen an diesen Vorgaben ist eine Befristung auf zuletzt vier Jahre nicht zu beanstanden. Angesichts des Gewichts der durch den unerlaubten Handel mit Betäubungsmitteln gefährdeten Rechtsgüter, der hohen kriminellen Energie des Klägers sowie der erheblichen Wiederholungsgefahr wäre – ohne Berücksichtigung der persönlichen Bindungen des Klägers im Bundesgebiet – auch eine höher bemessene Frist zur Erreichung des Zwecks der Aufenthaltsbeendigung gerechtfertigt. Unter Berücksichtigung der persönlichen Bindungen des Klägers zu seiner Tochter und seiner Ehefrau ist eine Frist von vier Jahren nicht zu beanstanden.
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4. Die Ausreisefrist von einem Monat nach Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht sowie die Abschiebungsandrohung in Nr. 3 des Bescheids entsprechen § 7 Abs. 1 FreizügG/EU.
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II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
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III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m.§§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).