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VG Bayreuth, Urteil v. 12.12.2022 – B 7 K 22.30770
Titel:

Kein Anspruch auf Zuerkennung von Flüchtlingsschutz für einfachen syrischen Wehrdienstentzieher

Normenkette:
AsylG § 3
Leitsätze:
1. Trotz des Umstands, dass die syrischen Machthaber gegen tatsächliche oder vermeintliche Oppositionelle mit äußerster Härte vorgehen, erweist es sich letztlich als nicht beachtlich wahrscheinlich, dass jedweder Betroffene allein wegen seiner illegalen Ausreise, eines Asylantrags und des Aufenthalts in Deutschland als Oppositioneller behandelt wird und deshalb eine Verfolgung iSv § 3 Abs. 1 AsylG zu befürchten hat (VGH München BeckRS 2022, 13367). (Rn. 19) (red. LS Clemens Kurzidem)
2. Es ist nicht beachtlich wahrscheinlich, dass Rückkehrer im militärdienstpflichtigen Alter (Wehrpflichtige bzw. Reservisten) allein deshalb in Anknüpfung an eine (unterstellte) oppositionelle bzw. regimefeindliche Gesinnung eine Verfolgung durch syrische Sicherheitskräfte zu befürchten haben, weil sie sich durch Flucht ins Ausland dem Militärdienst entzogen haben (VGH München BeckRS 2022, 717). (Rn. 20) (red. LS Clemens Kurzidem)
3. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft kommt bei syrischen Wehrdienstentziehern nur dann in Betracht, wenn besondere gefahrerhöhende Umstände gerade in der Person des Betroffenen glaubhaft gemacht wurden. (Rn. 20) (red. LS Clemens Kurzidem)
4. Der Islamische Staat beherrscht in Syrien kein zusammenhängendes Gebiet mehr, sondern verübt lediglich Anschläge aus dem Untergrund heraus. Diese sind jedoch nicht so zahlreich, dass ein zurückkehrender Asylbewerber ernsthaft befürchten müsste, Opfer eines derartigen Anschlags oder anderer Bedrohungshandlungen mit flüchtlingsrechtlicher Relevanz durch den IS zu werden (OVG Münster BeckRS 2022, 13213) (Rn. 23) (red. LS Clemens Kurzidem)
Schlagworte:
„Aufstockerklage“ Syrien, Wehrdienstentziehung, Illegale Ausreise, keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung durch den „Islamischen Staat“ (IS), keine gefahrerhöhenden Umstände in der Person des Klägers, syrischer Staatsangehöriger, Flüchtlingsschutz, Aufstockungsklage, Islamischer Staat
Fundstelle:
BeckRS 2022, 43492

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1
Der Kläger ist syrischer Staatsangehöriger mit arabischer Volks- und sunnitischer Religionszugehörigkeit. Er reiste nach eigenen Angaben am 29.09.2021 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 03.11.2021 einen Asylantrag.
2
Bei der persönlichen Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 17.11.2021 trug der Kläger im Wesentlichen vor, er stamme aus dem Bezirk M., ca. 100 km von A. entfernt. Im Jahr 2016 oder 2017 habe er sein Heimatland verlassen und sich anschließend ca. vier Jahre in der Türkei aufgehalten, bevor er im Sommer 2021 Richtung Deutschland weitergereist sei.
3
Syrien habe er wegen des Krieges verlassen. Das Regime sei in seinem Dorf einmarschiert. Daher habe er dort nicht bleiben können. Jeder kämpfe gegeneinander. Wenn er dortgeblieben wäre, hätte er Waffen tragen und unschuldige Menschen töten müssen. Daher könne er keinen Militärdienst leisten. Er könne dem Regime nicht helfen und für dieses kämpfen und unschuldige Menschen töten.
4
In Syrien sei er nicht politisch aktiv gewesen, er habe dort aber Bombardierungen gesehen. Persönlich sei ihm nichts passiert, er sei aber einmal – ca. ein Jahr vor seiner Ausreise – vom IS gefoltert worden.
5
Bei einer Rückkehr habe er Angst, für das Regime kämpfen zu müssen. Es gebe in Syrien keine Sicherheit.
6
Mit Bescheid vom 21.07.2022 wurde dem Kläger der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt (Ziffer 1) und im Übrigen der Asylantrag abgelehnt (Ziffer 1).
7
Zur Begründung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, aufgrund des ermittelten Sachverhalts sei davon auszugehen, dass dem Kläger in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG drohe.
8
Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigter seien dagegen nicht gegeben. Der Kläger sei kein Flüchtling im Sinne des § 3 AsylG. Dem Sachvortrag seien keinerlei Anhaltspunkte entnehmbar, die als Anknüpfungsmerkmal an einem der Verfolgungsgründe des § 3 AsylG gewertet werden könnten. Die Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung, Wehrdienst- bzw. Kriegsdienstverweigerung und Desertion stelle für sich allein nach überwiegender obergerichtlicher Rechtsprechung grundsätzlich keine flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung dar. Selbst wenn man unterstelle, dass bei einer unterstellten Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgungshandlung drohe, mangele es jedenfalls an deren Verknüpfung mit einem Verfolgungsgrund (wird umfassend ausgeführt). Für die Annahme, das syrische Regime unterstelle jeden Wehrdienstentzieher grundsätzlich eine regimefeindliche, oppositionelle Gesinnung, fehle es auch nach obergerichtlicher Auffassung an neuen Erkenntnissen, die dafürsprächen, dass nunmehr ausnahmslos jeder militärdienstflüchtige Mann bei einer Rückkehr nach Syrien als „Oppositioneller“ mit regimekritischer Meinung oder Grundhaltung verfolgt werde. Eine eventuell vom EuGH vor dem Hintergrund der Situation im April 2017 angenommene diesbezügliche „hohe Wahrscheinlichkeit“ könne deshalb heute empirisch-objektiv nicht bestätigt werden. Allein wegen Militärdienstverweigerung könne mithin voraussichtlich auch nach dem EuGH-Urteil vom 19.11.2020 (C-238/19) nicht pauschal die Flüchtlingseigenschaft zugesprochen werden. Als Ausdruck politischer Opposition könne jedoch gewertet werden, wenn der Wehrpflichtige sich beispielsweise nachweisbar regimekritisch geäußert oder sonst politisch betätigt habe oder Verbindungen zur Opposition habe. Dies sei vorliegend jedoch nicht der Fall. Der Kläger habe bestätigt, politisch nicht aktiv gewesen zu sein. Demnach habe er sein Heimatland unverfolgt verlassen. Es bestehe nach der gegenwärtigen Erkenntnislage keine hinreichende Grundlage für die Annahme, dass der syrische Staat jeden Rückkehrer pauschal unter einer Art Generalverdacht stelle, der Opposition anzugehören.
9
Die Voraussetzungen der Asylanerkennung gemäß Art. 16 a Abs. 1 GG seien nicht gegeben, da nicht einmal die weitergefassten Anforderungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft einschlägig seien.
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Mit Schreiben vom 29.07.2022 erhob der Kläger Klage und beantragt,
die Beklagte unter teilweise Aufhebung des Bescheids vom 21.07.2022 zu verpflichten, das Vorliegen der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG festzustellen.
11
Zur Begründung bezog sich der Kläger auf seine bisherigen Angaben. Er sei in Syrien wehrdienstpflichtig. Die Teilnahme an einem von wiederholten und systematischen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gezeichneten Konflikt bedeute, dass sich auch er – unabhängig vom konkreten Einsatzgebiet – an solchen Verbrechen beteiligen müsse. Dies sehe auch der EuGH in der Entscheidung vom 19.11.2020 so. Er sei nicht bereit, an Menschenrechtsverletzungen teilzunehmen und die syrische Regierung in Menschenrechtsverletzungen zu unterstützen. Daher sei er Oppositioneller. Ähnlich habe das OVG Berlin-Brandenburg im Urteil vom 29.01.2021 – 3 B 109.18 entschieden.
12
Mit Schriftsatz vom 03.08.2022 beantragt die Beklagte,
die Klage abzuweisen.
13
Zur Begründung bezieht sich die Beklagte auf die angefochtene Entscheidung.
14
Mit Beschluss der Kammer vom 14.11.2022 wurde der Rechtsstreit dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
15
Wegen des Verlaufs der mündlichen Verhandlung am 12.12.2022 wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen. Im Übrigen wird auf die Behörden- und Gerichtsakte verwiesen.

Entscheidungsgründe

16
Die zulässige Klage bleibt ohne Erfolg. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der der begehrten Flüchtlingseigenschaft (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
17
Zwecks Vermeidung unnötiger Wiederholungen verweist das Gericht zunächst vollumfänglich auf die umfassenden Ausführungen im angefochtenen Bescheid (§ 77 Abs. 2 AsylG).
18
1. Ergänzend wird noch auf Folgendes hingewiesen:
19
a) Trotz des Umstands, dass die syrischen Machthaber gegen tatsächliche oder vermeintliche Oppositionelle mit äußerster Härte vorgehen, ist es letztlich – nach einhelliger obergerichtlicher Rechtsprechung – nicht beachtlich wahrscheinlich, dass jedweder Betroffene allein wegen einer (illegalen) Ausreise, eines Asylantrags und des Aufenthalts in Deutschland als Oppositioneller betrachtet wird und deshalb eine Verfolgung im Sinn des § 3 Abs. 1 AsylG zu befürchten hat (vgl. beispielsweise BayVGH, U.v. 2.5.2022 – 21 B 19.34314 – juris m.w.N.; OVG Münster, U.v. 23.8.2022 – 14 A 3389/20.A – juris m.w.N.; OVG Lüneburg, B.v. 11.5.2022 – 2 LB 52/22 – juris).
20
In der herrschenden obergerichtlichen Rechtsprechung, der sich das erkennende Gericht anschließt, ist ferner geklärt, dass es – selbst unter Berücksichtigung des EuGH-Urteils vom 19.11.2020 – nicht beachtlich wahrscheinlich ist, dass Rückkehrer im militärdienstpflichtigen Alter (Wehrpflichtige/Reservisten) allein deshalb in Anknüpfung an eine (unterstellte) oppositionelle bzw. regimefeindliche Gesinnung eine Verfolgung durch syrische Sicherheitskräfte zu befürchten haben, weil sie sich durch Flucht ins Ausland dem Militärdienst entzogen haben (vgl. z.B.: BayVGH, B.v. 26.1.2022 – 21 ZB 22.30063 – juris; BayVGH, U.v. 2.5.2022 – 21 B 19.34314 – juris; BayVGH, U.v. 23.6.2021 – 21 B 19.33586 – juris; BayVGH, U.v. 29.9.2021 – 21 B 19.34339; OVG Lüneburg, B.v. 11.5.2022 – 2 LB 52/22 – juris; OVG Münster, U.v. 23.8.2022 – 14 A 3389/20.A – juris; a.A. insoweit nur OVG Berlin-Brandenburg, U.v. 29.1.2021 – OVG 3 B 108.18 – juris bzw. OVG Bremen, U.v. 23.3.2022 – 1 LB 484/21 – juris, deren Auffassung das erkennende Gericht im Hinblick auf die überzeugenden Ausführungen der anderen Obergerichte nicht folgt). Dementsprechend erfolgt eine „Verfolgung“ in Syrien grundsätzlich jedenfalls nicht in Anknüpfung an einen Verfolgungsgrund des § 3b AsylG. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft kommt vielmehr nur dann in Betracht, wenn besondere gefahrerhöhende Umstände gerade in der Person des jeweiligen Klägers glaubhaft gemacht wurden.
21
Individuelle gefahrerhöhende Umstände in der Person des Klägers, die vorliegend die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begründen wurden, sind jedoch nicht glaubhaft gemacht. Der Kläger gab gegenüber dem Bundesamt an, er habe Syrien verlassen, weil das Regime in sein Dorf einmarschiert sei. Wegen des Krieges habe er dort nicht bleiben können. Wenn er in Syrien geblieben wäre, hätte er Waffen tragen und unschuldige Menschen töten müssen. Auch in der mündlichen Verhandlung am 12.12.2022 trug der Kläger keinen individuellen Verfolgungsgrund im Sinne des § 3b AsylG vor. Er erklärte dem Gericht insbesondere, er sei in Syrien nicht politisch aktiv gewesen. Lediglich in den Jahren 2012 bzw. 2013 habe er an regimekritischen Demonstrationen teilgenommen. In Folge dessen sei ihm aber nichts weiter zugestoßen. Bis zu seiner Ausreise habe er mit dem syrischen Staat keine Probleme gehabt. Er sei mit dem Regime nicht in Berührung gekommen. Der Kläger ist daher allenfalls „einfacher Wehrdienstentzieher“. Ihm droht nicht mit der notwendigen beachtlichen Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung durch den syrischen Staat in Folge einer (unterstellten) oppositionellen Gesinnung.
22
Auch der in der mündlichen Verhandlung vertiefte Vortrag zu den „Problemen mit dem IS“ führt im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG. Gegenüber dem Bundesamt trug der Kläger insoweit vor, er sei einmal – ein Jahr vor seiner Ausreise, die im Jahr 2016 oder 2017 gewesen sei – vom IS gefoltert worden. Diesen Vortrag konkretisierte der Kläger in der mündlichen Verhandlung dahingehend, dass er in Syrien eine Hochzeitsfeier veranstaltet habe. Wegen dieser Hochzeitsfeier sei er von IS-Kräften für drei Tage inhaftiert und misshandelt worden. Nach den drei Tagen habe man ihn ohne weitere Konsequenzen freigelassen. Darüber hinaus erklärte der Kläger erstmals in der mündlichen Verhandlung, er sei ein weiteres Mal vom IS festgehalten worden, nämlich als er mit Freunden beim Kartenspielen zum Rauchen nach draußen gegangen sei. Der IS habe sie ermahnt und gesagt, man solle solche Sachen nicht machen. Deswegen habe er sich entschlossen auszureisen.
23
Unabhängig von der Frage, ob im Hinblick auf den zweien Vorfall mit dem IS bereits eine unglaubwürdige Steigerung des Sachvortrags vorliegt und unabhängig von der Qualifikation der dreitägigen Inhaftierung durch den IS im Jahr 2015 oder 2016, führen die Ereignisse im Zusammenhang mit dem IS jedenfalls im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) nicht dazu, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer konkret-individuellen Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a AsylG in Anknüpfung an einen Verfolgungsgrund des § 3b AsylG durch den Islamischen Staat ausgesetzt wäre. Es sprechen nämlich stichhaltige Gründe dagegen, dass sich eine etwaige Bedrohung des Klägers durch den IS wiederholt. Der Islamische Staat beherrscht kein zusammenhängendes Gebiet in Syrien mehr, sondern verübt lediglich noch Anschläge aus dem Untergrund heraus. Diese sind jedoch nicht so zahlreich, dass der Kläger ernsthaft befürchten müsste, Opfer eines derartigen Anschlags oder anderer (Bedrohungs-)Handlungen mit flüchtlingsrechtlicher Relevanz durch den IS zu werden (OVG Münster, U.v. 17.5.2022 – 14 A 2105/18.A – juris Rn. 75 m.w.N.; vgl. auch Thüringer Oberverwaltungsgericht, U.v. 16.6.2022 – 3 KO 178/21 – juris Rn. 68 ff.).
24
Im Ergebnis ist daher festzustellen, dass dem Kläger unter keinem Gesichtspunkt – über den bereits mit Bescheid vom 21.07.2022 zuerkannten subsidiären Schutzstatus nach § 4 AsylG hinaus – ein weitergehender Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zusteht.
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gem. § 83b AsylG nicht erhoben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO .