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LG München II, Endurteil v. 15.12.2022 – 13 O 3213/21
Titel:

Schadensersatz wegen Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung in einem Wohnmobil

Normenkette:
BGB § 826
Leitsätze:
1. Die Deaktivierung oder deutliche Reduzierung der Abgasreinigung in einem Fahrzeug kurz nach einem Zeitraum, welcher der Durchführung der Abgaskontrolle auf dem Prüfstand entspricht, steht einer prüfstandsbezogenen Abschalteinrichtung gleich. Eine solche Zeitschaltung dient offensichtlich ausschließlich der Umgehung des NEFZ, so dass vorliegend nicht eingewandt werden kann, dass die Zeitschaltung unabhängig davon aktiv ist, ob sich das Auto auf dem Prüfstand oder im Realbetrieb befindet. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
2. Sittenwidrig ist ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dies ist zu bejahen, wenn ein Fahrzeughersteller bzw. die ihn handelnden Personen die Zulassungsbehörden und die Verbraucher getäuscht haben, um die eigenen und die Autos der Tochterunternehmen nur so oder zumindest kostengünstiger und/oder attraktiver als es sonst möglich gewesen wäre in Verkehr bringen zu können, mit der Folge, dass die Verbraucher in großem Umfang eine jeweils erhebliche Summe Geld für ein Produkt ausgaben, welches mangels Gesetzeskonformität von den Behörden mit einem Nutzungsverbot hätte belegt werden können. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Typgenehmigung, Wohnmobil, unzulässige Abschalteinrichtung, Timerfunktion, Nutzungsverbot
Fundstelle:
BeckRS 2022, 42159

Tenor

I. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 8.268,25 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 27.10.2021 zu zahlen.
II. im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
IV. Das Urteil ist für die Klägerin gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Beschluss
Der Streitwert wird auf 8.268,25 € festgesetzt.

Tatbestand

1
Die Parteien streiten um die Rückabwicklung eines Kaufvertrags und Schadensersatz im Hinblick auf ein Wohnmobil, dessen Basisfahrzeug vom sogenannten „Dieselskandal“ oder „Abgasskandal“ betroffen sein soll.
2
Die Klagepartei bestellte am 24.08.2016 beim … zum Preis von 54.500,00 € ein Wohnmobil Knaus Boxstar Life 2Be 600, Basisfahrzeug Fiat Ducato 2,3 l Multijet 110 kW 2287 ccm, Baumusterbezeichnung F1AGL411C, mit einem Kilometerstand von 0 km (siehe Anlage K 25). Das Fahrzeug unterliegt der Euro 6 Norm und hat eine Erstzulassung vom 28.03.2017. Die Beklagte ist die Herstellerin des Basisfahrzeugs.
3
Die Klagepartei hat das Fahrzeug am 11.08.2021 zu einem Verkaufspreis von 42.500,00 € veräußert (Anlage SN 20). In den Verkaufsvertrag wurde ein Kilometerstand von 41.000 km aufgenommen.
4
Das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) hat mit Schreiben vom 08.05.2020 an die … Rechtsanwaltsgesellschaft mbH mitgeteilt (Anlage K 1), dass es bei den Fahrzeugmodellen Fiat Ducato 2,3 l 96 kW Diesel EU5, Fiat Ducato 2,3 l 110 kW Diesel EU6 LNT und Fiat 500x 2.0L LNT 103 kW Diesel EU6 Funktionen festgestellt habe, durch die die AGR-Rate bzw. die NSK-Regenerationen nach einer gewissen Motorlaufzeit verringert/deaktiviert würden und durch die die AGR-Rate umgebungstemperaturabhängig verringert werde, und welche nach Auffassung des KBA als unzulässige Abschalteinrichtungen einzustufen seien. Ein Fiat Ducato Multijet 130 2.3 EU6 mit SCR-System sei aufgrund der auffälligen Ergebnisse des Vorgängerfahrzeugs mit EU5/EU6 NSK Abgasnorm ebenfalls untersucht worden, habe jedoch ein unauffälliges Emissionsverhalten gezeigt.
5
Die zuständige Typgenehmigungsbehörde in Italien hat bisher weder die Typgenehmigung geändert noch eben Rückruf angeordnet. Die Europäische Union hat daher am 17.05.2017 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Italien eingeleitet (Anlage K 24).
6
Die Klagepartei behauptet, der streitgegenständliche Motor enthalte mehrere unzulässige Abschalteinrichtungen im Sinne des Art. 5 Abs. 2 der EU-Verordnung Nr. 715/2007. Zum einen würden nach 22 Minuten die AGR-Rate reduziert und die NSK-Regeneration deaktiviert. Aufgrund der Dauer des Neuen Europäischen Fahrzyklus (NEFZ) von 1180 Sekunden (19,66 Minuten) werde damit erreicht, dass die Emissionswerte auf dem Prüfstand und im Realbetrieb voneinander abweichen und die Abgasreinigung lediglich in der Zeit, in der sich das Fahrzeug auf dem Prüfstand befindet, ordnungsgemäß funktioniert. Zum anderen sei ein Thermofenster eingebaut und würden Manipulationen von Warnmeldungen der On-Board-Diagnose (OBD) erfolgen. Die Motivation der Beklagten hierfür sei ein rücksichtsloses Gewinnstreben um jeden Preis gewesen. Die Beklagte habe durch die Verwendung der Manipulatiorssoftware Behörden und eine Vielzahl von Kunden getäuscht. Es sei offensichtlich, dass Manipulationen dieses Umfangs entweder von einem Repräsentanten der Beklagten direkt veranlasst worden seien oder dass ein Mitarbeiter hiermit an einen Repräsentanten herangetreten sei und dieser sie gebilligt habe. Es sei offensichtlich sogar der Vorstand der Beklagten involviert gewesen. Die Klagepartei hätte das Fahrzeug nicht erworben, wenn sie beim Kauf gewusst hätte, dass das Fahrzeug manipuliert worden sei bzw. nur mithilfe unterschiedlicher Abschalteinrichtungen die Abgasnorm auf dem Prüfstand erfülle.
7
Die Klagepartei trägt vor, sie habe sich mit dem Käufer des Fahrzeugs darauf geeinigt, den Kilometerstand im Verkaufsvertrag aufzurunden. Tatsächlich habe der Kilometerstand zwischen 80 und 50 km weniger als die angegebenen 41.000 km betragen. Die Klagepartei habe für das Wohnmobil am 05.07.2017 Matratzen zum Preis vom 1.200,00 € und am 28.07.2017 einen Autorostschutz zum Preis vom 654,50 € erworben (Anlage SN 19).
8
Die Klagepartei ist der Auffassung, dass die Beklagte ihr aus § 826 BGB hafte. Die schädigende Handlung liege im Einsatz der gesetzeswidrigen Software, so dass die Klagepartei einen wirtschaftlich nachteiligen Vertrag abgeschlossen habe, da bereits zum Zeitpunkt der Fahrzeugübergabe die Stilllegung des Fahrzeugs gedroht habe. Dieses Verhalten sei auch sittenwidrig. Hinsichtlich der Kenntnis der Beklagten treffe diese eine sekundäre Darlegungslast.
9
Parallel bestehe ein Anspruch aus § 831 BGB und aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 263 StGB sowie in Verbindung mit § 27 der EG-Fahrzeuggenehmigungsverordnung (EG-FGV), wonach Fahrzeuge nur mit einer gültigen Übereinstimmungsbescheinigung des Herstellers in Verkehr gebracht werden dürfen.
10
Einer anzurechnenden Nutzungsentschädigung sei eine Gesamtlaufleistung für das streitgegenständliche Fahrzeug von mindestens 400.000 km zugrunde zu legen. Neben dem Kaufpreis für das streitgegenständliche Fahrzeug von 54.500,00 € seien die nachträglichen Einbauten und Aufwendungen von insgesamt 1.854,50 € zu berücksichtigen.
11
Die Klagepartei beantragt zuletzt,
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klagepartei € 13.854,50 nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 %-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu bezahlen, abzüglich einer in das Ermessen des Gerichts gestellten Nutzungsentschädigung für die Nutzung des Modells Boxstar Life 2Be 600 des Herstellers Knaus mit der Fahrzeugidentifikationsnummer (FIN) …25.
Hilfsweise für den Fall, dass das Gericht den Klageantrag Ziffer 1 aufgrund der fehlenden Berechnung der Nutzungsentschädigung für (teilweise) erfolglos halten sollte, beantragt die Klagepartei:
2. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klagepartei € 8.268,25 nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 %-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.
3. Die Beklagte wird verurteilt, die Klagepartei von den durch die Beauftragung der Prozessbevollmächtigten der Klagepartei entstandenen vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von jeweils € 3.291,54 freizustellen.
12
Die Beklagte beantragt
Klageabweisung.
13
Die Beklagte behauptet, im streitgegenständlichen Fahrzeug komme keine unzulässige Abschalteinrichtung zum Einsatz. Die Beklagte habe zu keinem Zeitpunkt Hard- oder Software in den durch sie hergestellten Fahrzeugen eingesetzt, die Abgaswerte im Rahmen des Typgenehmigungsverfahrens manipuliere; die Abgassteuerung arbeite im Rahmen des Typgenehmigungsverfahrens nicht anders als außerhalb dieses Verfahrens. Darüber hinaus sei davon auszugehen, dass die Klagepartei bereits im Zeitpunkt des Erwerbs des Fahrzeugs Kenntnis davon gehabt habe, dass das Fahrzeug durch den sogenannten Dieselskandal betroffen sein könnte.
14
Die Beklagte erhebt die Einrede der Verjährung. Da die Klagepartei schon bei Erwerb des Fahrzeugs Kenntnis davon gehabt haben müsse, dass das Fahrzeug von dem sogenannten Dieselskandal betroffen sein könnte, sei die Verjährungsfrist bei Klageerhebung bereits abgelaufen gewesen.
15
Die Beklagte ist der Ansicht, die Klage sei bereits deshalb unbegründet, weil das streitgegenständliche Fahrzeug über alle erforderlichen Genehmigungen verfüge, technisch sicher und uneingeschränkt fahrbereit sei und dementsprechend von der Klagepartei jederzeit und ohne jegliche Einschränkungen genutzt werden könne. Ein behördlicher Rückruf drohe auch deshalb nicht, weil die hierfür allein zuständige italienische Behörde nach Prüfung der Vorwürfe keine Veranlassung gesehen habe, Maßnahmen zu ergreifen. Die Klage sei daher bereits aufgrund der Tatbestandswirkung der EG-Typgenehmigung abweisungsreif. Auch könne nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung nur dort vorliegen, wo die Abgasbehandlungssysteme auf dem Prüfstand und auf der Straße unterschiedlich funktionierten. Schließlich sei der Klagevortrag bereits unsubstantiiert. Der Beklagten obliege keine sekundäre Darlegungslast.
16
Hinsichtlich des übrigen Sach- und Streitstandes wird verwiesen auf die Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 16.09.2022.

Entscheidungsgründe

17
Die geänderte Klage ist zulässig und überwiegend begründet.
A.
18
Die geänderte Klage ist zulässig, insbesondere ist das Lendgericht München II sachlich und örtlich zuständig.
B.
19
Die Klage ist mit der Einschränkung begründet, dass die Klagepartei gemäß §§ 826, 31 BGB von der Beklagten neben der Erstattung der Kaufpreisdifferenz einschließlich der Aufwendungen nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit unter Anrechnung einer Nutzungsentschädigung für die gefahrenen Kilometer nicht die Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten verlangen kann. Die Ansprüche sind auch nicht verjährt, da bis heute weder die Beklagte ihre Kunden über die Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung informiert hat noch ein Rückruf seitens der italienischen Behörden erfolgt ist.
20
I. Die Klagepartei hat gegen die Beklagte jedenfalls aus § 826 BGB einen Anspruch, so gestellt zu werden, wie sie ohne Abschluss des Kaufvertrages stünde. Danach kann sie den gezahlten Kaufpreis abzüglich des Verkaufspreises einschließlich der Aufwendungen abzüglich des Wertes der aus dem Fahrzeug gezogenen Nutzungen verlangen.
21
1. Die Klagepartei wurde bei Abschluss des Kaufvertrags vorsätzlich getäuscht (a). Diese Täuschung war kausal für den Kaufvertragsschluss (b). Die zuständigen Personen bei der Beklagten handelten sittenwidrig (c).
22
a) Die Behauptung der Klagepartei, das streitgegenständliche Wohnmobil verfüge über eine Einrichtung, wonach sich die Abgasreinigung nach 22 Minuten deutlich reduziere bzw. deaktiviert werde, ist seitens der Beklagten nicht substantiiert bestritten worden. Wie sich insbesondere aus Anlage K 1 ergibt, hat das KBA beim streitgegenständlichen Fahrzeugmodell eine entsprechende Einrichtung festgestellt und diese als unzulässige Abschalteinrichtung gewertet. Dieser Wertung schließt sich das Gericht an. Denn durch diese Timerfunktion wird bewirkt, dass die Emissionen in der Phase des Zulassungstests eingehalten werden, nicht aber unter normalen Fahrbedingungen, die auch einen Zeitraum von mehr als 22 Minuten nach dem Motorstart umfassen. Die Deaktivierung oder deutliche Reduzierung der Abgasreinigung kurz nach einem Zeitraum, welcher der Durchführung der Abgaskontrolle auf dem Prüfstand entspricht, steht einer prüfstandsbezogenen Abschalteinrichtung gleich. Eine solche Zeitschaltung dient offensichtlich ausschließlich der Umgehung des NEFZ, so dass vorliegend nicht eingewandt werden kann, dass die Zeitschaltung unabhängig davon aktiv ist, ob sich das Auto auf dem Prüfstand oder im Realbetrieb befindet.
23
Die Angabe der Klagepartei, sie sei über die Gesetzeskonformität des von ihr erworbenen Fahrzeugs bzw. des darin verbauten Motors getäuscht worden, ist ohne Weiteres nachvollziehbar. Wer in Deutschland bzw. innerhalb der Europäischen Union ein Kraftfahrzeug erwirbt, geht angesichts dessen, dass Kraftfahrzeuge bekanntermaßen vor dem Inverkehrbringen eine Zulassungsprüfung durchlaufen müssen, davon aus, dass das Fahrzeug - mit seinen zulassungsrelevanten Komponenten, wie der Motor sie darstellt - diese Zulassungsprüfung nach den geltenden Gesetzen durchlaufen hat. Dies umfasst die Vorstellung, dass das Ergebnis der Zulassungsprüfung nicht durch Manipulationen gleich welcher Art in dem Sinne verfälscht wurde, dass die Zulassung nur aufgrund der Manipulation erfolgen konnte, wie es vorliegend der Fall war.
24
Diese Vorstellung des Käufers ist bei den zuständigen Personen der Beklagten als bekannt vorauszusetzen. Denn diese wissen um die Zulassungsbedürftigkeit und um die diesbezügliche Kenntnis der (potentiellen) Kunden. Es ist auch offensichtlich, dass es für den Käufer eines Kraftfahrzeugs relevant ist, ob sein Auto den gesetzlichen Bestimmungen entspricht oder nicht. Folglich erklärt der Fahrzeughersteller konkludent mit dem Inverkehrbringen des Fahrzeugs bzw. der Hersteller einer bestimmten der Zulassung unterliegenden Fahrzeugkomponente, wie es der Motor darstellt, mit dem Inverkehrbringen der Komponente, dass das jeweilige Produkt ohne Manipulationen den behördlichen Zulassungsprozess durchlaufen hat.
25
Diese Täuschung der Klagepartei erfolgte vorsätzlich, da die Funktion der Software kein zufällig eingetretener nicht bemerkter Nebeneffekt ist, sondern von den entsprechenden bei der Beklagten hierfür zuständigen Personen bewusst verwendet wurde. Dass eine Software, die dazu führt, dass nur 22 Minuten nach Motorstart eine bestimmte höhere Abgasrückführung stattfindet, nach diesem Zeitraum jedoch nicht mehr, im Sinne des Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 715/2007 möglicherweise als unzulässige Abschalteinrichtung eingeordnet werden könnte, war für die betreffenden Personen bei der Beklagten bei lebensnaher Betrachtung zumindest vorhersehbar. Diese Personen konnten nach Auffassung des Gerichts - wiederum bei lebensnaher Betrachtung - auch nicht ernsthaft darauf vertrauen, eine solche Einordnung werde nicht stattfinden. Daher ist davon auszugehen, dass die betreffenden Personen bei der Beklagten eine solche Einordnung billigend in Kauf nahmen.
26
b) Es ist darüber hinaus ohne Weiteres nachvollziehbar, wenn die Klagepartei angibt, diese Täuschung sei kausal für den Kauf des Fahrzeugs gewesen, sie hätte das Wohnmobil folglich nicht gekauft, wenn sie gewusst hätte, dass die Zulassung nur aufgrund einer Software erreicht wurde, die möglicherweise in der Zukunft als unzulässige Abschalteinrichtung eingestuft werden würde. Für gewöhnlich hält man vom Kauf eines Produkts Abstand, dessen Gesetzmäßigkeit unklar ist, zumal wenn dieses Produkt 54.500,00 € kostet. Dies gilt umso mehr, wenn es zahlreiche Alternativen gibt, wie es bei einem Autokauf der Fall ist.
27
c) Das Handeln der zuständigen Personen bei der Beklagten war sittenwidrig. Sittenwidrig ist ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dafür genügt es im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde eine Pflicht verletzt und einen Vermögensschaden hervorruft. Vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann (BGH, Urteil vom 28.06.2016, Az. VI ZR 536/15, NJW 2017, 250). Die Beklagte bzw. die für sie handelnden Personen haben die Zulassungsbehörden und die Verbraucher getäuscht, um die eigenen und die Autos der Tochterunternehmen nur so oder zumindest kostengünstiger und/oder attraktiver als es sonst möglich gewesen wäre in Verkehr bringen zu können, mit der Folge, dass die Verbraucher in großem Umfang eine jeweils erhebliche Summe Geld für ein Produkt ausgaben, welches mangels Gesetzeskonformität von den Behörden mit einem Nutzungsverbot hätte belegt werden können. Die genannten Umstände waren den zuständigen Personen bei der Beklagten bekannt. Dies reicht für den subjektiven Tatbestand hinsichtlich der Sittenwidrigkeit aus, ein Bewusstsein der Sittenwidrigkeit bei den maßgeblichen Personen ist hingegen nicht erforderlich (Grüneberg/Sprau, Bürgerliches Gesetzbuch, 81. Aufl. 2022, § 826 Rn. 8).
28
Die Beklagte muss sich entsprechend § 31 BGB das Handeln der Personen zurechnen lassen, die die Klagepartei vorsätzlich getäuscht und die Voraussetzungen der Sittenwidrigkeit in sich erfüllt haben.
29
Zudem trifft die Beklagte hinsichtlich der bestrittenen Behauptung der Klagepartei, der Vorstand der Beklagten habe die Verwendung der Software gebilligt, eine sekundäre Darlegungslast, der sie nicht nachgekommen ist.
30
2. Die Klagepartei muss sich jedoch im Rahmen des deliktischen Schadensersatzanspruchs die Vorteile entgegenhalten lassen, die ihr durch die Nutzung des nunmehr zurückzugebenden Kraftfahrzeugs entstanden sind, um nicht durch den Schadensersatz bereichert zu werden.
31
Der Gebrauchsvorteil eines Kraftfahrzeugs berechnet sich bei Neuwagen üblicherweise wie folgt (Wackerbarth, Ermittlung des Nutzungswertersatzes nach Rücktritt vom Autokaufvertrag, NJW 2018, 1713):
(Bruttokaufpreis / zu erwartende Gesamtlaufleistung) × gefahrene Kilometer
32
Das Gericht schätzt die Gesamtlaufleistung des vorliegenden Motors basierend auf der Auswertung des Internet-Forums „m...de“ auf 400.000 Kilometer, nachdem dort noch zahlreiche Modelle mit diesem Motor mit mehr als 350.000 Kilometern angeboten werden und auch davon auszugehen ist, dass zahlreiche Eigentümer im obersten Laufleistungsbereich das Fahrzeug nicht mehr verkaufen, sondern bis zum Lebensende fahren.
33
Der genaue Kilometerstand ist zwischen den Parteien streitig. Da dieser lediglich im Rahmen des auf den Schadensersatz anzurechnenden Nutzungsersatzes relevant ist, kann das Gericht eine Schätzung gemäß § 287 Abs. 1 ZPO vornehmen. Hierbei orientiert sich das Gericht an dem in Anlage SN 20 aufgeführten Kilometerstand von 41.000 km und kommt daher vorliegend bezogen auf den Zeitpunkt des Verkaufs auf einen Wert des Nutzungsersatzes von 5.586,25 €.
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II. Die Klagepartei hat einen Anspruch auf Zahlung von Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus §§ 291, 288 Abs. 1 Satz 2 BGB. Die Klage wurde am 26.10.2021 zugestellt.
35
III. Die Klagepartei kann von der Beklagten nicht die Freistellung von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten verlangen, da die Klagepartei ihre Ansprüche außergerichtlich nicht geltend gemacht, sondern sofort Klage erhoben hat. Insoweit war die Klage daher abzuweisen.
C.
36
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 92 Abs. 2 Nr. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 709 ZPO.
D.
37
Eine Aussetzung nach § 148 ZPO war nicht anzuordnen, da die Klage unabhängig vom Ausgang der beim EuGH und beim BGH derzeit anhängigen Dieselverfahren in tenorierter Höhe zuzusprechen und im Übrigen abzuweisen war.