Inhalt

VG Würzburg, Beschluss v. 22.12.2022 – W 3 K 22.1107
Titel:

Keine PKH für Klage gegen Inobhutnahme des Kindes bei Kindeswohlgefährdung

Normenketten:
VwGO § 166
ZPO § 114
SGB VIII § 42 Abs. 1, Abs. 2 S. 3, S. 4
BGB § 1631, § 1632, § 1666, § 1684 Abs. 3
Leitsatz:
Aller Voraussicht nach besteht bei einer rechtlich ohne die Inobhutnahme jederzeit möglichen unmittelbaren und abrupten Rückführung eines zweieinhalbjährigen Kindes in den Haushalt der Eltern eine dringende Gefahr für dessen Wohl, wenn das Kind in der Pflegefamilie erstmals über einen längeren Zeitraum hinweg eine von umfassender emotionaler, materieller und medizinischer Versorgung geprägte positive Beziehung aufbauen konnte, zu den Eltern bisher kein positiver Kontakt bestand, sondern Umgangskontakte zu diesen zu emotionalen Belastungen beim Kind führten, und die alkohol- und drogenbelastete Mutter derzeit nicht in der Lage ist, die Grundbedürfnisse des Kindes im erforderlichen Maße zu erkennen und zu erfüllen. (Rn. 54 – 75) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Prozesskostenhilfe, Zeitpunkt der Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfeantrags, Sozialrecht, Inobhutnahme, Aufenthalt des Kindes in Pflegefamilie, Rücknahme des Antrags auf Hilfe zur Erziehung durch die sorgeberechtigten Eltern, Inobhutnahme des Kindes zum Zweck des Verbleibs in der Pflegefamilie, Aufenthaltsbestimmungsrecht, Antrag der Eltern auf Herausgabe des Kindes aus der Pflegefamilie, Dringende Gefahr für das Wohl des Kindes, Bindungsabbruch, Umgangskontakte, fehlgeschlagen, Erforderlichkeit der Inobhutnahme, Milderes Mittel, nicht vorhanden, Kein rechtlicher Zwang zur Gewährung von Umgang mit dem Kind während der Inobhutnahme, Kindeswohlgefährdung, Pflegefamilie
Fundstelle:
BeckRS 2022, 41299

Tenor

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Frau Rechtsanwältin … … wird abgelehnt.

Gründe

I.
1
Die Kläger sind die Eltern ihrer am … … 2020 geborenen Tochter … (im Folgenden: Das Kind). Die Parteien streiten um die Inobhutnahme des Kindes durch den Beklagten.
2
1. Die russischsprachigen Kläger sind für ihr Kind gemeinsam sorgeberechtigt. Sie leben getrennt. Die Kläger wurden über einen längeren Zeitraum regelmäßig von einer ehrenamtlichen Helferin der Caritas (Migrationsberatung) bei Haushaltsarbeiten, bei der Erziehung und zum Teil bei Behördenangelegenheiten unterstützt, dies im Einvernehmen mit dem Jugendamt.
3
Zunächst bewohnten die Kläger mit ihrem Kind eine gemeinsame Wohnung. Aufgrund eines Vorfalls, bei dem der Kläger zu 2) gegenüber der Klägerin zu 1) gewalttätig geworden war, begab sich die Klägerin vom 20. März 2020 bis zum 26. März 2020 in ein Frauenhaus und gab in diesem Zusammenhang an, sie lasse das Kind nie allein beim Kläger zu 2), weil dieser unsachgemäß mit ihm umgehe. Zum Beispiel habe er es bei kalten Temperaturen einfach so auf den Balkon gestellt. Die Kläger lebten zunächst weiterhin in der gemeinsamen Wohnung.
4
Mit Beschluss vom 29. März 2021 wies das Amtsgericht - Familiengericht - B** N* … … … … im Verfahren … * … der Klägerin zu 1) die gemeinsam genutzte Wohnung gemäß § 2 Gewaltschutzgesetz (GewSchG) zur alleinigen Benutzung zu, dies befristet bis zum 29. September 2021. Zugleich wurde dem Kläger zu 2) gemäß § 1 GewSchG jegliche Kontaktaufnahme zur Klägerin zu 1) untersagt, befristet bis zum 29. September 2021. Dem lag ein Vorfall am 26. März 2021 zugrunde, bei welchem der Kläger zu 2) gegenüber der Klägerin zu 1) und dem Kind gegenüber gewalttätig geworden war, dies wohl unter erheblichem Alkoholeinfluss.
5
Am 15. Juli 2021 teilte die ehrenamtliche Helferin der Caritas der Antragsgegnerin mit, die Klägerin zu 1) habe Bedarf für Hilfe zur Erziehung. Das Kind mache gegenüber der Klägerin zu 1), was es wolle und höre nicht auf sie.
6
Aufgrund eines Hinweises der ehrenamtlichen Helferin der Caritas fanden Mitarbeiter der P* … B** N* … … … … am 31. Juli 2021 die Antragstellerin zu 1) mit etwa 1,9 Promille Alkohol im Blut stark alkoholisiert in ihrer Wohnung vor. Das Kind war in einem versperrten, komplett verdunkelten Zimmer untergebracht, es wies eine größere Schürfwunde auf und von ihm ging starker Kotgeruch aus. Die Klägerin zu 1) gab in diesem Zusammenhang an, mit der Situation überfordert zu sein, da sie ihre Alkoholsucht nicht in den Griff bekomme. Daraufhin nahm das Jugendamt des Beklagten das Kind am 31. Juli 2021 in Obhut und brachte es in der Bereitschaftspflegefamilie M. unter. Aufgrund eines Widerspruchs des Klägers zu 2) erließ der Beklagte am 6. August 2021 einen Bescheid, mit welchem sie die am 31. Juli 2021 mündlich ausgesprochene Inobhutnahme schriftlich bestätigte und die sofortige Vollziehung des Bescheides anordnete. Zugleich rief der Beklagte gemäß § 8a Abs. 2 SGB VIII, § 42 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 SGB VIII das Amtsgericht - Familiengericht - B** N* … … … … an. Am 9. August 2021 stimmte der Kläger zu 2) der Inobhutnahme zu.
7
Am 11. August 2021 beantragten beide Kläger Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege für ihr Kind.
8
Mit Bescheid vom 2. September 2021 stellte der Beklagte die Beendigung der Inobhutnahme am 11. August 2021 fest und gewährte den Klägern für ihr Kind Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege in der Bereitschaftspflegefamilie M.
9
Im Hilfeplan des Beklagten vom 31. August 2021 wird als Zielsetzung der Hilfe zur Erziehung neben der vollumfänglichen Versorgung des Kindes und der Schaffung von Strukturen für dessen Alltag auch die Aufrechterhaltung von regelmäßigen Umgängen des Kindes mit der Klägerin zu 1) festgehalten. Perspektivisch solle auf die Rückkehr des Kindes hingewirkt werden. Zur Begründung wurde u.a. ausgeführt, das Kind benötige eine zuverlässige Betreuung und Versorgung im Alltag und bleibe daher bis zur Stabilisierung der Eltern vorläufig in einer Pflegefamilie.
10
Mit Bescheid vom 4. November 2021 beendete der Beklagte die Hilfe zur Erziehung in der Bereitschaftspflegefamilie M. und gewährte den Klägern für ihr Kind Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege in der Pflegefamilie R.
11
Der Hilfeplan vom 14. Februar 2022 führt die Ziele und Perspektiven des Planes vom 31. August 2021 fort. Hinsichtlich der Entwicklung des Kindes hebt er auf die Normalisierung des Essverhaltens des Kindes ab sowie auf die Aufholung von Defiziten in der sprachlichen und motorischen Entwicklung. Problematisch sei in Bezug auf die Umgänge die Sprache. Das Kind verstehe die russische Sprache nicht, die Kläger nicht die deutsche. Es sei bei dem Kind zu Überforderungssituationen gekommen.
12
Im Rahmen eines zweimonatigen stationären Therapieaufenthalts der Klägerin zu 1) erfolgten keine Umgangskontakte mit dem Kind. In einem gemeinsamen Gespräch am 1. März 2022 legte der Beklagte gemeinsam mit den Klägern die Umgänge mit dem Kind mit dem Ziel einer kindeswohlentsprechenden Rückführung fest. Die Umgangsvereinbarung wurde am 12. April 2022 in einem weiteren Gespräch überprüft, dies im Hinblick auf Rückmeldungen der Pflegeeltern zu massiven Auffälligkeiten des Kindes nach Umgängen mit dem Kläger zu 2), welcher mit dem Kind übergriffig umgehe, und zu Problemen im Rahmen des Umgangs des Kindes mit der Klägerin zu 1). Aufgrund der weiteren Zunahme massiver Auffälligkeiten beim Kind nach den Umgängen mit den Klägern wurde in einem weiteren Gespräch am 5. Mai 2022 die Zielsetzung für die Umgänge dahingehend verändert, mehr Ruhe für das Kind zu schaffen. Der Beklagte schlug den Klägern vor, die Rückführung zunächst zurückzustellen und einen zweiwöchigen Umgang durchzuführen.
13
Mit Schreiben vom 24. Mai 2022 beteiligte das Amtsgericht - Familiengericht - B** N* … … … … das Jugendamt des Beklagten gemäß § 162 FamFG, § 50 SGB VIII im Verfahren der Kläger gegen die Pflegefamilie R. mit dem Ziel der Herausgabe des Kindes einschließlich eines Berichts über die persönlichen Verhältnisse (Az.: 001 F 164/22). In der zugleich dem Beklagten übermittelten Antragsschrift vom 16. Mai 2022 vertreten die Kläger gegenüber der Pflegefamilie die Auffassung, die Klägerin habe eine Alkoholentgiftung vorgenommen und sich in eine medizinische Rehabilitationsbehandlung begeben, deren Langzeittherapie nunmehr abgeschlossen sei. Sie sei alkoholabstinent. Seit dem 9. März 2022 werde ein begleiteter Umgang mit dem Kind gewährt. Beide Kläger hätten alle ihnen ermöglichten Umgangskontakte wahrgenommen. Unbegleitete Umgangskontakte seien ihnen nicht ermöglicht worden. Von der Klägerin zu 1) gehe keinerlei Gefährdung mehr für das psychische und/oder seelische Wohl des Kindes aus. Sie sei erziehungsfähig und in der Lage, das Kind selbständig zu versorgen, zu betreuen und zu fördern. Da das zuständige Jugendamt kein Rückführungskonzept zur Verfügung stelle, werde das Kind gegen den Willen der sorgeberechtigten Eltern an der Rückkehr der Klägerin zu 1) gehindert.
14
In einer Stellungnahme vom 31. Mai 2022 im Verfahren 001 F 164/22 teilte die dort beklagte Pflegefamilie mit, eine stabile Mutter-Kind-Beziehung existiere nicht. Ein unbegleiteter Umgang der Klägerin zu 1) habe abgebrochen werden müssen, weil das Kind nicht bei seiner Mutter habe bleiben wollen. Im Rahmen der zunächst 14-tägigen, ab März 2022 wöchentlichen Umgangskontakte sei es der Klägerin zu 1) nicht gelungen, mit dem Kind in einer Weise Kontakt aufzunehmen, dass dieses Vertrauen fasse, um eine Beziehung zu entwickeln. Der Wiederaufbau der Mutter-Kind-Beziehung scheitere bereits an der Sprachbarriere. Die Sprachkenntnisse der Klägerin zu 1) hätten sich nicht verbessert. Die emotionale Distanz zwischen dem Kind und seiner Mutter habe sich verstärkt.
15
Am 1. Juni 2022 bat der Beklagte die im Verfahren … * … bevollmächtigte Rechtsanwältin der Kläger um deren Zustimmung zum Verbleib des Kindes in der Pflegefamilie bis zur familiengerichtlichen Entscheidung, dies deshalb, weil mit dem Herausgabeantrag eine derartige Zustimmung nicht mehr gegeben sei. Andernfalls müsse das Kind in Obhut genommen werden. Eine Reaktion hierauf erfolgte nicht.
16
Mit Bescheid vom 2. Juni 2022, gerichtet an beide Kläger, nahm der Beklagte das Kind in Obhut und ordnete die sofortige Vollziehung des Bescheides an. Dies wurde damit begründet, es liege eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes vor, welche die Inobhutnahme erfordere. Das Kind habe zu den Pflegeeltern eine starke Bindung aufgebaut. Ein Bindungsaufbau hinsichtlich des Klägers zu 2) sei nicht erkennbar und werde vom Kind derzeit komplett abgelehnt. Hinsichtlich der Klägerin zu 1) zeige das Kind keinerlei Emotionen bzw. keine erkennbaren Bindungszeichen. Demgegenüber habe das Kind erstmals in seinem Leben eine starke Bindung zu den Bezugspersonen der Pflegefamilie aufgebaut, was ihm enorme Sicherheit gebe. Damit seien die Voraussetzungen des § 42 SGB VIII erfüllt. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung liege überwiegend im Interesse des Kindes. Eine Rückkehr in den Haushalt der Klägerin zu 1) bis zur Entscheidung über einen eventuellen Widerspruch liefe dem Kindeswohl zuwider; dieses sei gegenüber dem Elternrecht vorrangig. Ein Abbruch der Bindung zwischen dem Kind und den Pflegeeltern sei dem Kind nicht zumutbar. Vor allem durch die frühkindlichen Erfahrungen, Vernachlässigungen und Verwahrlosung sei das Kind für die Folgen eines weiteren Bindungsabbruches besonders sensibilisiert.
17
Zugleich widerrief der Beklagte den Bescheid über die Hilfegewährung vom 4. November 2021 ab dem 2. Juni 2022 mit Wirkung für die Zukunft.
18
Daraufhin erklärte die Bevollmächtigte der Klägerin zu 1) deren Einverständnis zum Verbleib des Kindes in der Pflegefamilie bis zur familiengerichtlichen Klärung; die von dem Beklagten erbetene schriftliche Einverständniserklärung ging jedoch nicht ein. Der Kläger zu 2) äußerte sich nicht.
19
Unter dem 2. Juni 2022 rief der Beklagte gemäß § 42 Abs. 3 SGB VIII i.V.m. § 1666 BGB das Amtsgericht - Familiengericht - B** N* … … … … an und führte aus, der Kläger zu 2) befinde sich aktuell noch in der Adaptionsphase nach einer mehrmonatigen Suchttherapie nach jahrelanger Alkoholabhängigkeit. Die Klägerin zu 1) habe sich von Ende Dezember bis Ende Februar auf ihrer zweiten bekannten Therapie aufgrund ihrer Alkoholabhängigkeit befunden. Durch den kurzen Beobachtungszeitraum lasse sich über die Stabilität der Abstinenz keine Aussage treffen. Ursprünglich sei die Rückführung des Kindes zur Klägerin zu 1) nach erfolgreichem Therapieabschluss angedacht gewesen, zuvor habe die Kontaktanbahnung durch regelmäßige Umgangskontakte erfolgen sollen, um die Mutter-Kind-Bindung kontinuierlich wiederaufzubauen. Das Kind habe sich von Anfang an nur auf den Umgang in Anwesenheit der Pflegemutter einlassen können. Der schrittweise Rückzug der Pflegemutter sei gescheitert. Die Umgänge hätten oftmals vorzeitig beendet werden müssen. Nach den Berichten des Pflegekinderfachdienstes und der Pflegefamilie habe sich das Kind nach den Umgängen über mehrere Tage massivst auffällig gezeigt und insbesondere Verlustängste zu erkennen gegeben. Der Kläger zu 2) habe gegenüber dem Kind eher übergriffig gewirkt, ein Bindungsaufbau sei nicht erkennbar und werde vom Kind derzeit komplett abgelehnt. Ein Abbruch des Bindungsprozesses zu der Pflegefamilie stelle aus sozialpädagogischer Sicht eine Kindeswohlgefährdung dar, weshalb eine Rückführung unter den aktuellen Entwicklungen nicht durchgeführt werden könne. Vielmehr sei eine Reduzierung der Anzahl der Umgangskontakte erforderlich gewesen.
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Mit Beschluss vom 3. Juni 2022 erhob das Familiengericht Beweis über den Konsum von Betäubungsmitteln oder Alkohol durch die Kläger innerhalb der letzten sechs Monate.
21
Mit Beschluss vom 30. Juni 2022 erhob das Familiengericht auf der Grundlage eines Anhörungstermins am 28. Juni 2022 Beweis zur Frage der Bereitschaft und Fähigkeit der Klägerin zu 1) zur Versorgung und Erziehung des Kindes, zu entsprechenden Hilfs- und Unterstützungsangeboten und zu den Bindungen des Kindes zu den Pflegeeltern und dem Gewicht der Bindungen.
22
2. Am 30. Juni 2022 ließen die Kläger im vorliegenden Verfahren W 3 K 22.1107 Klage gegen den Bescheid vom 2. Juni 2022 erheben und im Verfahren W 3 S 22.1108 zugleich sinngemäß beantragen, die aufschiebende Wirkung der Klage im Verfahren W 3 K 22.1107 gegen den Inobhutnahmebescheid des Beklagten vom 2. Juni 2022 wiederherzustellen.
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Zugleich mit der Erhebung der Klage ließen die Kläger die Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihrer Bevollmächtigten beantragen.
24
Zur Begründung wurde ausgeführt, die Voraussetzungen des § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII lägen nicht vor. Die Klägerin zu 1) sei wieder gesund und für ihr Kind präsent. Der weitere Verbleib des Kindes im Haushalt der Pflegeeltern sei nicht erforderlich. Eine Kindeswohlgefährdung könne nicht angenommen werden. Die Klägerin zu 1) könne die Versorgung, Pflege und Erziehung des Kindes sicherstellen. Sie sei alkoholabstinent und lebe in ordentlichen sozialen Verhältnissen. Die in Finnland lebende Mutter der Klägerin zu 1) sei bereit, unverzüglich die Klägerin zu 1) in Deutschland zu unterstützen. Der Wechsel des Kindes von den Pflegeeltern zur leiblichen Mutter entspreche dessen Wohl am besten. Der Wechsel in der Beziehung werde lediglich in der Anfangsphase zu Belastungen beim Kind führen, die jedoch nicht zwingend schädlich seien. Demgegenüber sei die Klägerin zu 1) dazu bereit und in der Lage, das Kind feinfühlig zu erziehen, so dass es die Pflegeeltern bereits nach wenigen Monaten komplett vergessen haben werde. Dies entspreche dem Kindeswohl mehr als ein dauerhafter Verbleib in der Pflegefamilie mit den entsprechenden dauerhaften Problemen. Der Beklagte sei bereits mehrfach außergerichtlich erfolglos zur Erstellung eines Rückführungskonzepts aufgefordert worden.
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Der Beklagte beantragte, die Klage abzuweisen. Zur Begründung wurde ausgeführt, das Interesse des Kindes am Verbleib bei den Pflegeeltern bis zum Abschluss des familiengerichtlichen Verfahrens sei als überwiegend anzusehen. Es liege eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes bei einer Rückführung zu den Klägern vor. Zwar habe die Klägerin zu 1) Ausführungen zu ihrer persönlichen Situation gemacht, sie sei im Rahmen des Rückführungsbegehrens jedoch nicht einmal ansatzweise auf die Bedeutung einer Rückführung für das Kind eingegangen. In den ersten Lebensmonaten habe das Kind keine emotional stabile und zuverlässige Bezugsperson gehabt. Möglicherweise sei die fehlende emotionale Zuwendung mit Essen und Trinken kompensiert worden. In der Herkunftsfamilie sei das Kind häufig massiv angstbesessenen Situationen ausgesetzt gewesen. In der Pflegefamilie habe es erstmals ein stabiles und sicheres Umfeld kennen gelernt. Hier seien Bindungen zur Pflegefamilie entstanden. Das Ergebnis des vom Familiengericht eingeholten Gutachtens sei abzuwarten. Aus derzeitiger Sicht bestehe die große Gefahr einer Traumatisierung des Kindes bei einer Rückkehr. Zudem erhalte das Kind nunmehr durch die Pflegeeltern erstmals eine verlässliche gesundheitliche Betreuung, dies speziell mit Blick auf die HIV- und Hepatitis-Erkrankungen der Klägerin zu 1). Ein Abbruch des Bindungsprozesses zu den Pflegeeltern stelle aus sozialpädagogischer Sicht eine Kindeswohlgefährdung dar, die gegenüber dem Elternrecht vorrangig verhindert werden müsse. Das Familiengericht habe bislang keine einstweilige Entscheidung hinsichtlich einer Verbleibensanordnung oder der Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf eine externe Person getroffen, so dass die Inobhutnahme weiterhin notwendig sei.
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Hätten Kleinkinder eine elementare Bindung zu denjenigen Personen aufgebaut, die die Elternfunktion tatsächlich wahrnähmen, bestehe eine besondere Trennungsempfindlichkeit. Im vorliegenden Fall werde dies durch die Vergangenheit des Kindes in der Herkunftsfamilie verstärkt.
27
Mit Beschluss vom 20. Juli 2022 lehnte das Gericht im Verfahren W 3 S 22.1108 den Antrag ab und begründete dies im Wesentlichen damit, die Klage gegen den Inobhutnahmebescheid habe wenig Aussicht auf Erfolg; die vom Gericht vorzunehmende Interessenabwägung falle zugunsten des öffentlichen Interesses an der sofortigen Vollziehung der Inobhutnahme aus.
28
Die hiergegen erhobene Beschwerde wies der Bayerische Verwaltungsgerichtshof im Verfahren 12 CS 22.1756/12 C 22.1757 mit Beschluss vom 24. August 2022 zurück und begründet dies damit, das Verwaltungsgericht sei im Rahmen der gebotenen (Folgen-)abwägung zu Recht davon ausgegangen, dass vor dem Hintergrund der zur Herausnahme des Kindes aus der Familie führenden Umstände das öffentliche Interesse an der Verwirklichung des Kindeswohls - jedenfalls bis zum Abschluss des anhängigen familiengerichtlichen Verfahrens zur Feststellung der Erziehungsfähigkeit der Klägerin zu 1) - das private Interesse der Kläger an der Herausgabe des Kindes an die Klägerin zu 1) überwiege. Alles Weitere müsse der Entscheidung des Familiengerichts und dem Hauptsacheverfahren vor dem Verwaltungsgericht vorbehalten bleiben. Allerdings mache der Senat darauf aufmerksam, dass der Klägerin zu 1) ein erweitertes, gegebenenfalls begleitetes, mehrmaliges mehrstündiges Umgangsrecht pro Woche einzuräumen und seitens des Jugendamtes und der Pflegeeltern auch zu gewährleisten sei, damit die bereits begonnene emotionale Bindung des Kindes mit der Mutter fortgeführt und für den nicht unwahrscheinlichen Fall der Feststellung der Erziehungsfähigkeit der Klägerin zu 1) mit dem Ziel der baldmöglichen Rückführung des Kindes zu seiner Mutter fortgesetzt werden könne.
29
Auf entsprechende Nachfrage des Gerichts legte der Beklagte einen ersten Zwischenbericht der vom Amtsgericht B** N* … … … … mit Beschluss vom 30. Juni 2022 beauftragten Gutachterin vom 17. August 2022 vor. Zudem legte der Beklagte am 19. Oktober 2022 eine psychologische sachverständige Stellungnahme der vom Amtsgericht B** N* … … … … mit Beschluss vom 30. Juni 2022 beauftragten Gutachterin vom 11. Oktober 2022 vor.
30
Auf Anforderung des Gerichts vom 11. August 2022 im Verfahren W 3 S 22.1108 in Verbindung mit dem Schreiben des Gerichts im vorliegenden Verfahren vom 21. Oktober 2022 ließen die Kläger weitere Belege zur Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse vorlegen. Auf einen weiteren Hinweis des Gerichts vom 18. November 2022 hinsichtlich deren Unvollständigkeit ließen die Kläger mit Schreiben vom 27. November 2022 die Erklärungen über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse erneut ergänzen.
31
Zugleich ließ die Klägerin zu 1) ein toxikologisches Gutachten der U* … W* …, Institut für Rechtsmedizin, vom 26. Oktober 2022, gerichtet an das Amtsgericht B** N* … … … …, vorlegen.
32
Im Übrigen wird auf das weitere schriftsätzliche Vorbringen der Parteien, auf den Inhalt der Gerichtsakte W 3 S 22.1108 und auf den Inhalt der einschlägigen Verwaltungsakten des Beklagten, welche Gegenstand des Verfahrens waren, Bezug genommen.
II.
33
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe hat keinen Erfolg.
34
Nach § 166 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 ZPO erhält eine Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Die dabei anzustellende Prognose über die hinreichenden Erfolgsaussichten verlangt keine Gewissheit, sondern lediglich eine gewisse Wahrscheinlichkeit. Ausgehend von den verfassungsrechtlichen Vorgaben, dem Unbemittelten einen weitgehend gleichen Zugang zu Gericht zu ermöglichen und die eigentliche Prüfung der Sach- und Rechtslage nicht aus dem Hauptsacheverfahren in das Nebenverfahren der Prozesskostenhilfe vor zu verlagern, dürfen die Anforderungen an die hinreichende Erfolgsaussicht nicht überspannt werden. Die gewisse Wahrscheinlichkeit eines Obsiegens ist bereits dann gegeben, wenn dieses ebenso in Frage kommt wie ein Unterliegen. Hinreichend ist die Erfolgsaussicht jedenfalls dann, wenn die Entscheidung von einer schwierigen, ungeklärten Rechts- oder Tatsachenfrage abhängt oder wenn der vom Beteiligten vertretene Rechtsstandpunkt zumindest vertretbar erscheint. In diesem Zusammenhang können tatsächliche und rechtliche Streitfragen auf der Grundlage des bisherigen Vortrags nur summarisch beurteilt und deshalb nicht abschließend entschieden werden (vgl. zu allem: Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 166 Rn. 26 m.w.N.; W.-R. Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 28. Aufl. 2022, § 166 Rn. 8 m.w.N.).
35
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Prüfung der Erfolgsaussichten der Klage ist der Zeitpunkt der Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfeantrags (Happ in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 166 Rn. 40 m.w.N.). Entscheidungsreif ist der Prozesskostenhilfeantrag gemäß § 166 VwGO i.V.m. § 117 Abs. 2 ZPO dann, wenn das Prozesskostenhilfegesuch vollständig, einschließlich der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse, dem Gericht vorliegt (W.-R. Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 28. Aufl. 2022, § 166 Rn. 14a; Happ in Eyermann, a.a.O., § 166 Rn. 29b) und der Gegner innerhalb angemessener Frist Gelegenheit hatte, Stellung zu nehmen (Sailer in Thomas/Putzo, ZPO, 43. Aufl. 2022, § 119 Rn. 4; Neumann/Schaks in Sodan/Ziekow, VwGO, Kommentar, 5. Aufl. 2018, § 166 Rn. 77 m.w.N.).
36
Demgegenüber ist maßgeblicher Zeitpunkt für die Prüfung der Bedürftigkeit der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts, denn für die Gewährung von Prozesskostenhilfe ist es entscheidend, ob derjenige, der sie beantragt, ihrer aktuell bedarf (Neumann/Schaks, a.a.O., § 166 Rn. 132; Happ, a.a.O., § 166 Rn. 41).
37
Unter Zugrundelegung dieser Voraussetzungen ist festzustellen, dass maßgeblicher Zeitpunkt für die Prüfung der Erfolgsaussichten der dem Prozesskostenhilfeantrag zugrundeliegenden Klage der 27. November 2022 ist. Zwar haben die Kläger schon zuvor gemäß § 166 VwGO i.V.m. § 117 Abs. 1 Satz 2 ZPO das Streitverhältnis darstellen lassen und der Beklagte hatte hinreichende Gelegenheit, Stellung zu nehmen; zudem lagen zuvor schon die einschlägigen Verwaltungsakten vor. Jedoch hat die Klägerseite die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse erst an diesem Tag vollständig vorgelegt. Die zusammen mit der Klageschrift am 30. Juni 2022 vorgelegten Erklärungen über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse enthielten hinsichtlich der Klägerin zu 1) einen Bescheid des Job-Centers Landkreis Rhön-Grabfeld lediglich für den Zeitraum Januar 2022 bis Juni 2022, welcher vor Eintritt der sonstigen Voraussetzungen der Entscheidungsreife über den Prozesskostenhilfeantrag abgelaufen war. Der Kläger zu 2) hat lediglich mitteilen lassen, er habe Arbeitslosengeld beantragt, hierüber sei noch nicht entschieden worden. Aus den von ihm vorgelegten Kontoauszügen sind verschiedene Bargeldeinzahlungen erkennbar, die Herkunft der Gelder jedoch nicht. Hierauf mit gerichtlichem Schreiben vom 11. August 2022 und erneut vom 21. Oktober 2022 angesprochen, hat die Klägerbevollmächtigte am 28. Oktober 2022 hinsichtlich des Klägers zu 2) erklärt, dessen Antrag auf Bewilligung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch sei abgelehnt worden, das Widerspruchsverfahren noch nicht abgeschlossen. Die Einzahlungen auf sein Konto seien ausgeliehene Geldmittel. Hinsichtlich der Klägerin zu 1) hat sie einen Bescheid des Job-Centers Landkreis Rhön-Grabfeld vom 22. Juli 2022 für den Zeitraum August 2022 bis Dezember 2022 vorgelegt, zudem Kontoauszüge, aus welchen sich weitere nicht nachvollziehbare Einkünfte ergeben. Erst auf eine weitere Anforderung des Gerichts vom 18. November 2022 hat die Klägerin am 27. November 2022 darstellen lassen, um welche Art von Einkünften es sich handelt. Damit wurde der Prozesskostenhilfeantrag erst an diesem Tag entscheidungsreif.
38
1. Offen bleiben kann damit die Frage, ob die Klage vor diesem Datum die für eine Bewilligung von Prozesskostenhilfe erforderlichen Erfolgsaussichten aufgewiesen hatte; bezogen auf den 27. November 2022 jedenfalls sind keine hinreichenden Erfolgsaussichten im oben genannten Sinne erkennbar.
39
Dies ergibt sich aus Folgendem:
40
Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist der Inobhutnahmebescheid des Beklagten vom 2. Juni 2022, der mangels einer Entscheidung des Amtsgerichts - Familiengericht - B** N* … … … … hinsichtlich des Sorgerechts für das Kind derzeit weiterhin Wirkung entfaltet und den Grund dafür bildet, das Kind weiter in der Obhut der Pflegefamilie zu belassen. Die Kläger greifen diesen Bescheid im Rahmen einer Anfechtungsklage an und begehren dessen Aufhebung.
41
Regelmäßig ist bei Anfechtungsklagen für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung abzustellen. Dies gilt allerdings nicht für Dauerverwaltungsakte. Für ihre Überprüfung ist regelmäßig auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. bei Gerichtsentscheidungen ohne mündliche Verhandlung auf den Zeitpunkt der Entscheidung selbst abzustellen. Bei fortdauernder Beschwer können Dauerverwaltungsakte für die gesamte Dauer ihrer Wirksamkeit und damit auch mit Blick auf vergangene Zeiträume angefochten werden (Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 113 Rn. 58 m.w.N.; Köhler, Inobhutnahme und nachfolgende gerichtliche Entscheidung, ZKJ 2019, 12 ff., Ziffer 4.2).
42
Mangels anderweitiger Regelungen in § 42 SGB VIII ist demnach bei einer Klage gegen einen Inobhutnahmebescheid, der noch Wirkung entfaltet und damit der Grund für das Behaltendürfen des Kindes in der Obhut einer dritten Person ist, auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bzw. im vorliegenden Fall der gerichtlichen Entscheidung abzustellen sowie die gesamte Wirksamkeitsdauer des Inobhutnahmebescheides in den Blick zu nehmen (Dürbeck in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 42 Rn. 67 und Rn. 70: Hiernach prüft das Verwaltungsgericht die Rechtmäßigkeit der Inobhutnahme von ihrem Beginn bis zur Gegenwart; zur Qualität des Inobhutnahmebescheides als Dauerverwaltungsakt: VGH BW, B.v. 4.11.2021 - 12 S 3125/21 - juris Rn. 25; Köhler, Inobhutnahme und nachfolgende familiengerichtliche Entscheidung ZKJ 2019, 12 ff., Ziffer 1.4).
43
2. Abstellend auf den Zeitpunkt der Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfeantrags am 27. November 2022 sind die Erfolgsaussichten der Anfechtungsklage gegen den Inobhutnahmebescheid vom 2. Juni 2022 mit Blick auf dessen gesamte bisherige Wirkungsdauer als so gering einzuschätzen, dass sie nicht hinreichend im oben genannten Sinne für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe sind.
44
Die am 30. Juni 2022 erhobene Klage gegen den am 2. Juni 2022 erlassenen Inobhutnahmebescheid ist zwar voraussichtlich zulässig, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit unbegründet.
45
a) Gemäß § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII ist das Jugendamt berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die Inobhutnahme erfordert und eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann.
46
In diesem Zusammenhang ist der Gefahrenbegriff nach dem Maßstab des § 1666 BGB zu verstehen. Nach Abs. 1 Satz 1 dieser Vorschrift geht es um die Frage, ob das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes gefährdet wird und seine Eltern nicht gewillt oder in der Lage sind, die Gefahr abzuwenden. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (B.v. 6.2.2019 - XII ZB 408/18 - juris Rn. 18) besteht eine derartige Gefährdung des Kindeswohls, wenn bei der weiteren Entwicklung der Dinge eine erhebliche Schädigung des geistigen oder leiblichen Wohls des Kindes mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist.
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Dringend im Sinne der Vorschrift ist eine Gefahr dann, wenn im Zeitpunkt des behördlichen Vorgehens die Prognose getroffen werden kann, dass bei ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens der Eintritt des Schadens hinreichend wahrscheinlich ist. Bloße Zweifel beispielsweise an der Erziehungsfähigkeit der Eltern genügen nicht. Vielmehr ist Voraussetzung, dass ein das Kind gravierend schädigendes Erziehungsversagen mit hinreichender Gewissheit feststeht (Kirchhoff in Schlegel/Voelzke, juris-PK SGB VIII, 3. Aufl. 2022, Stand: 21.11.2022, § 42 Rn. 88; Trenczek in Frankfurter Kommentar SGB VIII, 9. Aufl. 2022, § 42 Rn. 17).
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An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind dabei umso geringere Anforderungen zu stellen, je schwerer der drohende Schaden wiegt. Die Annahme einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit muss auf konkreten Verdachtsmomenten beruhen (BGH, a.a.O. Rn. 19).
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Die dringende Gefahr muss darüber hinaus stets eine konkrete Gefahr sein; aus konkreten Tatsachen muss erkennbar sein, dass bei einer weiteren Entwicklung eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit zu erwarten ist. Konkret im Sinne des § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII ist die Gefahr also dann, wenn damit zu rechnen ist, dass der Schaden in naher Zukunft eintritt, wenn ihre Beseitigung also bereits vor einer möglichen familiengerichtlichen Entscheidung erforderlich ist (Kirchhoff in Schlegel/Voelzke, juris-PK SGB VIII, 3. Aufl. 2019, Stand: 21.11.2022, § 42 Rn.89 und 91; Trenczek in Frankfurter Kommentar SGB VIII, 9. Aufl. 2022, § 42 Rn. 18).
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Unerheblich ist die Ursache für die Gefahr für das Wohl des Kindes (VGH BW, B.v. 4.11.2021 - 12 S 3125/21 - juris Rn. 28).
51
Neben dem Vorliegen einer dringenden Gefahr setzt § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII die Erforderlichkeit der Inobhutnahme voraus. Diese ist nur dann gegeben, wenn allein die Inobhutnahme das Kindeswohl sichern kann und andere, weniger einschneidende Maßnahmen nicht zur Verfügung stehen. Dies wäre z.B. auch dann der Fall, wenn das Jugendamt in der Lage ist, die Gefährdung dadurch abzuwenden, dass es sich rechtzeitig durch das Familiengericht das Aufenthaltsbestimmungsrecht als Ergänzungspfleger übertragen lässt (Kirchhoff, a.a.O., Rn. 96 und 101).
52
b) Im vorliegenden Fall bestand im Zeitpunkt der Inobhutnahme am 2. Juni 2022 eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes. Diese dringende Gefahr für das Wohl des Kindes besteht derzeit fort.
53
aa) Eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes kann nicht schon deshalb verneint werden, weil sich das Kind im Zeitpunkt der Inobhutnahme und derzeit nicht bei den Klägern, sondern bei der Pflegefamilie R. aufhielt und aufhält. Eindeutig erkennbar bestand und besteht keine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes allein aufgrund des Aufenthalts in der Pflegefamilie. Vielmehr liegt auf der Hand, dass ihm dort die erforderliche materielle und emotionale Zuwendung mit der notwendigen Kontinuität, Intensität und Verlässlichkeit zuteil wird. Allerdings verfolgen die Kläger ihr Personensorgerecht für das Kind. Dieses umfasst gemäß § 1631 Abs. 1 BGB u.a. auch das Aufenthaltsbestimmungsrecht. Dieses haben sie, wie sich aus der Antragsschrift vom 16. Mai 2022 an das Amtsgericht - Familiengericht - B** N* … ergibt, gegenüber dem Jugendamt des Beklagten geltend gemacht und mitgeteilt, das Jugendamt weigere sich, für das Kind „ein Rückführungskonzept zur Verfügung zu stellen“, wodurch das Kind gegen den Willen der Kläger an der Rückkehr gehindert werde. Da ihnen das Kind nicht übergeben worden ist, haben die Kläger im Verfahren … * … beim Amtsgericht - Familiengericht - B** N* … gemäß § 1632 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 BGB einen Antrag gegen die Pflegeeltern auf Herausgabe des Kindes gestellt. Dem haben die Pflegeeltern widersprochen und beantragt, den Verbleib des Kindes in ihrem Haushalt anzuordnen, so dass es sich beim Verfahren 001 F 164/22 um ein solches nach § 1632 Abs. 4 BGB handelt. Über dieses Verfahren ist noch nicht entschieden worden und das Amtsgericht - Familiengericht - B** N* … hat in diesem Rahmen bislang nicht gemäß § 1632 Abs. 4 BGB geprüft, ob das Wohl des Kindes durch die Wegnahme aus der Pflegefamilie gefährdet ist. Maßstab hierfür ist derjenige des § 1666 BGB (Grüneberg, BGB, Kommentar, 81. Aufl. 2022, § 1632 Rn. 14). Deshalb besteht das Aufenthaltsbestimmungsrecht der Kläger hinsichtlich des Kindes auf zivilrechtlicher Ebene derzeit uneingeschränkt fort. Demgegenüber ist die Vorenthaltung des Kindes durch die Pflegeeltern auf der Grundlage von § 1631 Abs. 1, § 1632 Abs. 1 BGB widerrechtlich, da aufgrund des Herausgabeantrags der Kläger deren Zustimmung zur Unterbringung des Kindes in einer vollstationären Maßnahme erloschen ist. Hieraus ergibt sich das Erfordernis, mit dem Inobhutnahmebescheid für die Pflegeeltern rechtliche Klarheit - insbesondere auch in strafrechtlicher Hinsicht - zu schaffen.
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bb) Unabhängig hiervon besteht aller Voraussicht nach bei einer rechtlich ohne die Inobhutnahme jederzeit möglichen unmittelbaren und abrupten Rückführung des Kindes in den Haushalt der Klägerin zu 1) eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes.
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Das Kind lebte seit seiner Geburt im vom Streit und (gewalttätigen) Auseinandersetzungen geprägten Umfeld der Kläger, in diesem Zusammenhang kam es immer wieder zu einem unangemessenen Umgang insbesondere des Klägers zu 2) mit dem Kind. Im März 2020 wurde aufgrund der Gewalttätigkeit des Klägers zu 2) eine Aufnahme der Klägerin zu 1) mit dem Kind in einem Frauenhaus erforderlich, zudem im April 2021 ein Verfahren nach § 1 und § 2 GewSchG mit zeitweiligem Annäherungsverbot zu Lasten des Klägers zu 2). Auch war eine dauerhafte Begleitung der Familie durch eine Mitarbeiterin der Caritas B** N* …, Migrationsbegleitung, erforderlich, um diese bei Haushaltsführung und Erziehung des Kindes zu unterstützen. Hinzu kam ein kurzzeitiger Umzug der Klägerin zu 1) mit dem Kind im Dezember 2020. Diese im Hinblick auf die emotionale, materielle und gesundheitliche Versorgung defizitäre Situation eskalierte am 31. Juli 2021, als die Klägerin zu 1) aufgrund von Trunkenheit nicht einmal mehr ansatzweise in der Lage war, für die elementarsten Bedürfnisse des Kindes zu sorgen. Dies macht deutlich, dass es dem Kind verwehrt war, von seiner Geburt am 22. Februar 2020 bis zur Inobhutnahme am 31. Juli 2021 eine stabile, von kindlichem Grundvertrauen getragene Beziehung zu den Klägern aufzubauen. Dies gilt im besonderen Maße für den Kläger zu 2), der aufgrund des zeitweisen Annäherungsverbots keinerlei Kontakte mehr zum Kind hatte und im Übrigen oftmals unangemessen mit dem Kind umging.
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Vom 31. Juli 2021 bis zum 22. Oktober 2021 hielt sich das Kind in der Bereitschaftspflegefamilie M. auf. Dies bedeutete zunächst einen abrupten Abbruch seiner - problematischen - Beziehung zur Klägerin zu 1) und sodann den Aufbau einer neuen Beziehung, die mit dem Wechsel am 22. Oktober 2021 zur Pflegefamilie R. erneut abgebrochen wurde.
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In der Pflegefamilie R. hat das Kind seit dem 22. Oktober 2021 erstmals über einen längeren Zeitraum hinweg eine von umfassender emotionaler, materieller und medizinischer Versorgung geprägte positive Beziehung aufbauen können. Dies hatte zur Folge, dass sich sein zunächst vorhandenes problematisches Verhalten änderte, das Kind eine positive Entwicklung nahm und Entwicklungsverzögerungen aufholte. Auch das Ess-Verhalten normalisierte sich.
58
Schon die dargestellte Belastung des Kindes in seiner Entwicklung für sich genommen lässt deutlich werden, dass ein erneuter abrupter Beziehungsabbruch zu großen Problemen führen würde. Das Kind würde erneut die Erfahrung machen, dass keinerlei Verlässlichkeit in Bezug auf die eingegangenen Bindungen besteht. Dies würde umso schwerer wiegen, als es nun erstmals eine verlässliche positive Bindung zu Bezugspersonen aufbauen konnte. Ein Abbruch dieser erstmals positiven Beziehung würde für das Kind eine erhebliche dauerhafte emotionale Belastung bedeuten. Aus derartigen Situationen der Vernachlässigung und der Bindungsabbrüche können sich zudem frühkindliche Bindungsstörungen mit entsprechenden negativen Konsequenzen für die weitere Entwicklung des Kindes ergeben. Hierbei geht es um Abweichungen in der sozialen Funktionsfähigkeit und bei sozialen Beziehungsmustern. Dabei spielen Furchtsamkeit, eingeschränkte soziale Interaktion mit Gleichaltrigen, Aggressionen und Unglücklichsein eine Rolle (vgl. ICD-10 F 94).
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Verstärkt wird die Gefahr für das Kind dadurch, dass es zu beiden Klägern im Rahmen der Umgangskontakte keinerlei positive Ansätze einer Bindung aufbauen konnte. Wie sich aus den verschiedenen Berichten des Beklagten und der Pflegeeltern ergibt, wuchs durch die Umgänge eher eine Abwehrhaltung des Kindes. Dies gilt vor allem hinsichtlich des Klägers zu 2), welchen das Kind vollständig ablehnt. Aber auch die Klägerin zu 1) hat keine positive Bindung zum Kind aufbauen können. Dies beruht schon auf der Sprachbarriere. Die russischsprachige Klägerin zu 1) spricht nur unzureichend die deutsche Sprache, während das Kind nicht einmal ansatzweise der russischen Sprache mächtig ist und sein kann. Eine gelingende Kommunikation ist unter diesen Voraussetzungen nur sehr schwer möglich. Zudem wird aus den Behördenakten deutlich, dass die Klägerin zu 1) den geplanten Deutschkurs immer wieder verschoben hat. Erst zum 4. Oktober 2022 hat sie begonnen, einen Integrationskurs zu besuchen. Hinzu kommt die mangelnde Fähigkeit der Klägerin zu 1), so positiv auf das Kind zuzugehen, dass - auch nur oberflächlich - Vertrauen wachsen könnte. Vielmehr waren die Umgänge nur in Begleitung einer Pflegemutter möglich, die für das Kind den sicheren Rückzugsort bildete. Dies gilt für alle Umgänge, unabhängig davon, ob sie im Haushalt der Pflegeeltern, im Haushalt der Klägerin zu 1) oder anderwärts stattfanden. Verschiedene an den Umgängen beteiligte Personen haben zudem davon berichtet, wie emotional anstrengend die Umgänge für das Kind sind. Dies macht deutlich, dass keinerlei Ansätze einer positiven Bindung zwischen der Klägerin zu 1) und dem Kind bestehen bzw. gewachsen sind, die einen Bindungsabbruch zu den Pflegeeltern erträglicher machen könnten.
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Demgegenüber ist vielmehr festzustellen, dass die (von den Pflegeeltern begleiteten) Umgänge jeweils zu einer hohen emotionalen Belastung für das Kind geführt haben. Dies zeigt sich entsprechend den Berichten der Pflegeeltern und des Jugendamtes an starken Schlafstörungen, Albträumen und Trennungsängsten hinsichtlich der Trennung von den Pflegeeltern (Verweigerung des Kita-Besuchs). Hieraus ergibt sich, dass zusätzlich zum Abbruch der Bindung zu den Pflegeeltern bei einer Rückkehr in den Haushalt der Klägerin zu 1) eine sehr hohe emotionale Belastung für das Kind aufgrund des Kontakts zur Klägerin zu 1) entstehen würde.
61
Hinzu kommt, dass der Kläger zu 2) nach Auslaufen der entsprechenden Anordnungen des Amtsgerichts - Familiengericht - B** N* … … … … nach § 1 und § 2 GewSchG nunmehr wieder dauerhaft Kontakt zur Klägerin zu 1) und zum Kind haben darf. Dies hat zur Folge, dass er bei einer Rückkehr des Kindes in den Haushalt der Klägerin zu 1) dort jederzeit Kontakt mit dem Kind aufnehmen könnte. Dies würde zu einer nochmals deutlich erhöhten Belastung für das Kind führen, welches den Kläger zu 2) aufgrund dessen unangemessenen Umgangs mit ihm vollständig ablehnt.
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Hinzu kommt die Alkohol- bzw. Drogenproblematik seitens der Kläger. Zwar hat die Klägerin zu 1) auf den entsprechenden Beweisbeschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - B** N* … … … … hin ein toxikologisches Gutachten der U* … W* …, Institut für Rechtsmedizin vom 26. Oktober 2022 vorlegen lassen, welches zu dem Ergebnis kommt, dass die Klägerin zu 1) etwa im Zeitraum von Januar bis Juni 2022 Betäubungsmittel aus einzelnen genannten Stoffgruppen oder Alkohol nicht konsumiert hat. Allerdings besteht angesichts hoher Rückfallquoten kein Gewähr dafür, dass die Klägerin nunmehr dauerhaft alkohol- und drogenabstinent lebt und es nicht zu unkontrollierten und unvorhersehbaren Rückfällen kommen wird, die als solche zu einer dringenden Gefahr für das Kind werden können (Dürbeck in Wiesner/Wapler, SGB VIII, Kommentar, 6. Aufl. 2022, § 42 Rn. 11a m.w.N.). Vielmehr war sie bereits zumindest zwei Mal in einer Entziehungsmaßnahme; ob die zuletzt durchgeführte Entziehungsmaßnahme zu einem dauerhaften Erfolg führt, kann derzeit aufgrund des geringen Zeitabstands noch nicht erkennbar sein. Für den Kläger zu 2), der bei einer Beendigung der Inobhutnahme uneingeschränkt Zugang zum Kind haben würde, liegt kein derartiges Gutachten vor, so dass hier nicht einmal abgeklärt ist, ob er nun tatsächlich aktuell alkohol- und drogenabstinent lebt.
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Darüber hinaus ist nicht erkennbar, dass die Klägerin zu 1) überhaupt in der Lage wäre, das Kind mit der erforderlichen Zuverlässigkeit in materieller und emotionaler Hinsicht zu versorgen. Seit der Geburt des Kindes bis zur Inobhutnahme am 31. Juli 2021 war sie hierzu allein nicht fähig und benötigte die tägliche intensive Unterstützung durch die Mitarbeiterin der Caritas. Auch mit dieser Unterstützung konnte sie jedoch eine dem Wohl des Kindes entsprechende Erziehung letztlich nicht gewährleisten. Warum dies nun anders sein sollte, ist nicht erkennbar.
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Auch die Umgänge mit dem Kind haben gezeigt, dass die Klägerin zu 1) derzeit nicht in der Lage ist, die Grundbedürfnisse des Kindes im erforderlichen Maße zu erkennen und zu erfüllen. Dies gilt beispielsweise für durchweichte Windeln und nasse Hosen.
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Alledem hat die Klägerin zu 1) entgegengesetzt, sie sei nun alkoholabstinent und könne die Versorgung des Kindes sicherstellen. Ein Wechsel in der Beziehung belaste das Kind lediglich in der Anfangsphase.
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Dies macht deutlich, dass die Klägerin zu 1) nicht dazu in der Lage ist, sich in das Kind hinein zu versetzen und die Belastungen zu erkennen, die mit einem derartigen Wechsel von den Pflegeeltern zu ihr verbunden wären. Weder thematisiert sie überhaupt die diesbezügliche emotionale Belastung für das Kind noch erkennt sie die Gefahr langfristiger psychischer Defekte beim Kind im Falle eines derartigen abrupten Wechsels. Dies zeigt, dass die Klägerin zu 1) zumindest derzeit nicht dazu in der Lage wäre, einen Wechsel des Kindes von der Pflegefamilie zu ihr selbst so hinreichend einfühlsam zu gestalten, dass dieser für das Kind erträglich werden könnte.
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Aus alledem wird deutlich, dass ein abrupter Wechsel des Kindes von den Pflegeeltern zur Klägerin zu 1) ohne langfristige positiv gestaltete Annäherung im Rahmen von Umgangskontakten zu einer dringenden Gefahr für das Kind führen wird, dies aufgrund einer akuten emotionalen Extrembelastung, einer akuten unzureichenden Versorgung des Kindes und vor allem aufgrund der hohen Gefahr deutlicher psychischer (Dauer-)Schäden. Es liegt auf der Hand, dass die direkte emotionale Extrembelastung aufgrund des Beziehungswechsels mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit eintreten wird. Denn es ist offensichtlich, dass ein zweieinhalbjähriges Kind unter der zwangsweisen Aufgabe der ersten positiv gestalteten Beziehung zu erwachsenen Personen mit Elternfunktion und dem Wechsel hin zu Personen, mit denen es bislang vorwiegend negative Erfahrungen gemacht hat, sehr deutlich leiden wird. Auch die Gefahr einer unzureichenden Versorgung des Kindes wird sich mit hoher Wahrscheinlichkeit realisieren, dies deshalb, weil derzeit erkennbar keine Unterstützung von dritter Seite zur Verfügung steht und die Klägerin zu 1) bereits seit der Geburt des Kindes bis zur ersten Inobhutnahme am 31. Juli 2021 nicht in der Lage gewesen ist, eine sachgerechte Versorgung des Kindes ohne entsprechende Unterstützung sicherzustellen. Auch die Gefahr deutlicher psychischer (Dauer-)Schäden ist nicht von der Hand zu weisen. Da es sich hierbei um gravierende Schäden handelt, die das ganze weitere Leben des Kindes beeinflussen können, ist es nicht erforderlich, dass sie mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit eintreten würden. Demgegenüber machen die sich immer weiter verstärkenden und zeitlich sich ausdehnenden negativen Reaktionen des Kindes nach den Umgängen deutlich, dass die Gefahr des Schadenseintritts so hinreichend wahrscheinlich ist, dass das Vorliegen einer konkreten dringenden Gefahr bejaht werden muss. Diese würde unmittelbar durch den Beziehungsabbruch und den Wechsel zur Klägerin zu 1) eintreten.
68
Weiterhin ist bei der Beantwortung der Frage, ob am 2. Juni 2022, also am Tag der Inobhutnahme, eine dringende konkrete Gefahr für das Kind vorlag und ob die Gefahr bis zum jetzigen Zeitpunkt andauert, die vom Amtsgericht - Familiengericht - Bad Neustadt an der Saale eingeholte psychologische sachverständige Stellungnahme der Diplom-Psychologin H. G. vom 11. Oktober 2022 zu berücksichtigen, welche dem Gericht vor Eintritt der Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfeantrags vorgelegt worden ist. Dem Gutachten liegt ein Beweisbeschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - B** N* … … … … vom 30. Juni 2022 zugrunde, wonach u.a. Beweis zu erheben ist, welche Umgangsregelung mit der Kindsmutter/den Kindseltern zur bestmöglichen Wahrung des Wohles des Kindes und zur förderlichen Rückführung angezeigt ist vor einer Rückführung.
69
Diese gerichtliche Frage hat die Gutachterin dahingehend beantwortet, dass es dem Kindeswohl am besten entspricht, die Umgänge mit der Kindsmutter bis auf weiteres auszusetzen. Weiter führt die Sachverständige in Beantwortung der gerichtlichen Frage aus, dass ein kindeswohldienlicher Umgang mit der Kindsmutter nur gewährleistet ist und ein Bindungsaufbau stattfinden kann, wenn die Kindsmutter eigene Defizite im Umgang und Anleitung im Aufbau der Bindung zum Kind bekommt. Dies kann aus sachverständiger Sicht nur durch die professionelle Begleitung einer geeigneten Stelle erfolgen, die solche Umgänge mit der Kindsmutter vor- und nachbespricht und gezielt während der Umgänge Hilfestellung und Anleitung gibt. Besonders in der Emotionsregulierung muss die Mutter lernen, ohne Essen und Trinken Strategien zur Beruhigung der Tochter zu erlangen. Erst dann erscheint eine Wiederaufnahme bzw. Ausweitung der Umgänge sinnvoll. Bislang stellt der Umgang eine Gefährdung des Kindeswohls dar, da die Kindsmutter hierzu noch nicht in der Lage ist und keinerlei eigene Bindung besteht. Ein Umgang mit dem Kindsvater sollte aus sachverständiger Sicht ebenfalls zunächst zurückgestellt werden, da dies einen zusätzlichen Belastungsfaktor für das Kind darstellt und der Fokus auf dem Bindungsaufbau zur Kindsmutter liegen sollte. Im Rahmen der Begründung dieses Ergebnisses hebt die Gutachterin u.a. darauf ab, dass selbst bei einer aktuell bestehenden Suchtmittelabstinenz die Suchterkrankung bzw. eine eventuell zugrundeliegende psychische Erkrankung weiterhin behandlungsbedürftig bleiben. Die depressive Problematik und die Suchterkrankung führen zu einer psychischen Instabilität, die sowohl die Umgangsfähigkeit als auch den Bindungsaufbau zum Kind beeinträchtigen. Demgegenüber spricht aus Sicht der Gutachterin viel für eine mangelnde Krankheitseinsicht der Kindsmutter, welche sich dahingehend geäußert hat, sie brauche keine Therapie, sie brauche ihre Tochter. Es muss - so die Gutachterin - davon ausgegangen werden, dass der Kontakt zur Kindsmutter für das Kind aktuell eine massive emotionale Belastung und somit eine Kindeswohlgefährdung darstellt. Das Kind wird durch die Kontakte mit der Kindsmutter retraumatisiert, da dieser Kontakt in engem Zusammenhang mit traumatischen Entwicklungsbedingungen steht. Demgegenüber hat das Kind nach Einschätzung der Gutachterin derzeit noch keine ausreichenden Ressourcen, um die Belastungen, die durch den Umgang ausgelöst würden, verarbeiten zu können.
70
Dieses Gutachten, dass für das Gericht unter Zugrundelegung sämtlicher für die Gutachterin erreichbarer Beurteilungsgrundlagen nachvollziehbar und in sich widerspruchsfrei begründet ist, lässt deutlich werden, dass jeglicher Kontakt zwischen der Klägerin zu 1) und dem Kind zu einer Kindeswohlgefährdung führt; dies bezieht sich auf den gesamten Zeitraum vom 2. Juni 2022 bis zum jetzigen Zeitpunkt. Gleiches gilt für den Kontakt zwischen dem Kläger zu 2) und dem Kind.
71
Die Frage, ob eine dringende konkrete Gefahr für das Wohl des Kindes bei seiner sofortigen Rückführung zu den Klägern besteht, kann auch unter Berücksichtigung der Ausführungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs in seinem Beschluss vom 24. August 2022 (Az.: 12 CS 22.1756/12 C 22.1757), Gründe, Ziffer 3. nicht anders beantwortet werden. Hier macht der Senat darauf aufmerksam, dass der Klägerin zu 1) auf der Grundlage von § 42 Abs. 2 Satz 3 und Satz 4 SGB VIII ein erweitertes, gegebenenfalls begleitetes, mehrmaliges mehrstündiges Umgangsrecht pro Woche einzuräumen und seitens des Jugendamtes und der Pflegeeltern auch zu gewährleisten sei, damit die bereits begonnene emotionale Bindung des Kindes mit der Mutter fortgeführt und für den nicht unwahrscheinlichen Fall der Feststellung der Erziehungsfähigkeit der Klägerin zu 1) mit dem Ziel der baldmöglichen Rückführung des Kindes zu seiner Mutter fortgesetzt werden könne.
72
Diese Anmerkung macht deutlich, dass der Bayerische Verwaltungsgerichtshof einen derart ausgestalteten intensiven Umgang der Klägerin zu 1) mit dem Kind konkret und aktuell nicht für kindeswohlgefährdend hält. Hieraus folgt, dass auch eine Rückführung des Kindes in den Haushalt der Klägerin zu 1) eine erheblich geringere Gefahr für das Kindeswohl darstellen würde als es der Beklagte in seinem Bescheid vom 2. Juni 2022 und das Verwaltungsgericht Würzburg in seinem Beschluss vom 20. Juli 2022 angenommen hat und die Kammer es weiterhin auch im vorliegenden Beschluss annimmt.
73
Festzuhalten ist zunächst, dass sich der Hinweis des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs nicht auf eine gesetzlich feststehende Regelung richten kann, die er lediglich abstrakt zitiert. Eine solche abstrakt-generelle Regelung ist insbesondere nicht den vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof in diesem Zusammenhang zitierten Vorschriften des § 42 Abs. 2 Satz 3 und Satz 4 SGB VIII zu entnehmen. Vielmehr umfassen die hier benannten sorgerechtlichen Befugnisse in erster Linie Maßnahmen zur Befriedigung der materiellen Bedürfnisse des Kindes (§ 42 Abs. 2 Satz 3 SGB VIII). Darüber hinaus ist das Jugendamt zur Vornahme aller zum Wohl des Kindes erforderlichen Rechtshandlungen unter angemessener Berücksichtigung des mutmaßlichen Willens der Personensorgeberechtigten befugt (§ 42 Abs. 2 Satz 4 SGB VIII). Diese Regelung verschafft dem Jugendamt eine Position, die das elterliche Sorgerecht für die Dauer der Inobhutnahme überlagert (Dürbeck in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 42 Rn. 31 m.w.N.). Demgegenüber darf die angemessene Berücksichtigung des mutmaßlichen Willens der Personensorgeberechtigten nicht zu einer Kontakarierung des Normzwecks der Inobhutnahme führen, Hilfe in einer akuten Krisensituation zu leisten (Kepert in LPK-SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 42 Rn. 64). Denn jede Form der Inobhutnahme unterstellt zunächst eine Not- oder Konfliktlage des Kindes. Dies bedeutet, dass der zu berücksichtigende Wille der Personensorgeberechtigten nicht in Widerspruch zu Sinn und Zweck der Inobhutnahme selbst bzw. zum objektiven Kindeswohl stehen darf (Kepert, a.a.O., § 42 Rn. 76). Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze wäre es systemwidrig, aus den Vorschriften des § 42 Abs. 2 Satz 3 und Satz 4 SGB VIII ein gesetzliches zwingendes Recht der Personensorgeberechtigten auf ein „erweitertes, gegebenenfalls begleitetes, mehrmaliges mehrstündiges Umgangsrecht pro Woche“ abzuleiten. Vielmehr ist oftmals gerade im Kontakt zwischen dem Personensorgeberechtigten und dem Kind die Kindeswohlgefährdung begründet. Demzufolge umfasst die in § 42 Abs. 2 Satz 3 und Satz 4 SGB VIII geregelte Notkompetenz des Jugendamtes nicht die Befugnis zur Regelung des Umgangs des Kindes mit den Eltern nach § 1632 Abs. 3 BGB (Dürbeck in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 42 Rn. 30 m.w.N.). Demgegenüber unterfällt die Entscheidung über Art und Häufigkeit des Umgangs der Eltern mit ihrem in der Obhut eines Dritten befindlichen Kindes bei diesbezüglichen Streitigkeiten zwischen den Personensorgeberechtigten und dem Jugendamt ausschließlich und allein der Kompetenz des Familiengerichts (§ 1684 Abs. 3 BGB).
74
Bezieht sich aber die zitierte Anmerkung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs nicht auf die bloße Wiedergabe einer gesetzlich ohnehin feststehenden Regelung, sondern gibt sie die Auffassung des Senats wieder, im konkreten Fall sei ein derart intensiver Umgang der Klägerin zu 1) mit dem Kind nicht kindeswohlgefährdend, dies mit entsprechenden Konsequenzen für die Einschätzung der Frage, ob eine Rückführung des Kindes in den Haushalt der Klägerin zu 1) kindeswohlgefährdend wäre, so kann die Kammer dem nicht folgen. Vielmehr wird auf die obigen Ausführungen zu den extrem negativen Folgen des Umgangs der Kläger mit dem Kind sowie auf die entsprechenden Ausführungen im Beschluss vom 20. Juli 2022 (W 3 S 22.1108, Gründe, Ziffer 2.3 Buchst. a) Doppelbuchst. bb)) Bezug genommen. Darüber hinaus macht das Gutachten der Diplom-Psychologin H. G. vom 11. Oktober 2022 - wie oben ausgeführt - deutlich, dass jeglicher Kontakt zwischen den Klägern und dem Kind eine Kindeswohlgefährdung darstellt.
75
All dies macht deutlich, dass vom Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides vom 2. Juni 2022 bis zum jetzigen Zeitpunkt bei einer Rückkehr des Kindes in den Haushalt der Klägerin zu 1) eindeutig und ohne jeglichen Zweifel eine dringende konkrete Gefahr für das Kind bejaht werden muss.
76
c) Die Inobhutnahme mit Bescheid vom 2. Juni 2022 war und ist zudem auch deshalb erforderlich, weil kein milderes Mittel zur Verfügung stand bzw. steht. Insbesondere ist das mildere Mittel der Einbeziehung weiterer Familienmitglieder der Kindseltern aus derzeitiger Sicht nicht möglich. Zwar haben die Kläger im vorliegenden Verfahren vortragen lassen, die in Finnland lebende Mutter der Klägerin zu 1) könne kurzfristig nach Deutschland kommen, um diese bei der Erziehung des Kindes zu unterstützen. Allerdings ist nicht einmal plausibel dargelegt worden, dass die Mutter der Klägerin zu 1) hierzu willens und kurzfristig in der Lage wäre. Zudem ist nicht erkennbar, dass die Anwesenheit der Mutter der Klägerin zu 1), welche dem Kind nicht einmal ansatzweise bekannt ist, die Problematik des Beziehungsabbruches zu den Pflegeeltern in irgendeiner Weise kompensieren könnte. Auch hier wird wiederum die Haltung der Kläger erkennbar, es komme allein darauf an, dass die materielle Versorgung des Kindes in ihrem Haushalt sichergestellt sei. Der Blick auf die emotionale Befindlichkeit des Kindes im Rahmen eines derartigen Beziehungswechsels und der damit verbundenen Kontakte mit den Klägern fehlt auch hier bei diesen zur Gänze. Im Übrigen würde eine Betreuung des Kindes durch seine Großmutter den kindeswohlgefährdenden Kontakt des Kindes zu den Klägern nicht zuverlässig verhindern.
77
Auch das mildere Mittel einer Herbeiführung einer Entscheidung des Familiengerichts im Verfahren nach § 1632 Abs. 4 BGB (Az.: 001 F 164/22) ist nicht gegeben. Das Amtsgericht - Familiengericht - B** N* … … … … hat in diesem Verfahren bislang keine Entscheidung getroffen, so dass auf die Inobhutnahme nicht verzichtet werden konnte und weiterhin nicht verzichtet werden kann.
78
Auch das mildere Mittel der Gewährung einer Jugendhilfemaßnahme gemäß § 27 ff. SGB VIII war für den Beklagten mangels entsprechender Anträge der Kläger nicht gegeben. Vielmehr haben die Kläger ihre Zustimmung zur vollstationären Unterbringung des Kindes mit ihrem Antrag auf Herausgabe des Kindes gemäß § 1632 BGB zurückgezogen. Zwar hat die Klägerin zu 1) am 2. Juni 2022 ihr Einvernehmen zum Verbleib des Kindes in der Pflegefamilie bis zu einer Entscheidung des Familiengerichts im Verfahren … * … erklärt, der Kläger zu 2) hat sich hierzu jedoch nicht geäußert. Bei gemeinsamer elterlicher Sorge - wie im vorliegenden Fall - ist jedoch das Einverständnis beider Elternteile erforderlich (Dürbeck in Wiesner/Wapler, SGB VIII, Kommentar, 6. Aufl. 2022, § 42 Rn. 14 m.w.N.).
79
d) Da somit ab dem 16. Mai 2022, dem Zeitpunkt der Einreichung des Antrags im Verfahren … * …, und fortlaufend darüber hinaus eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes die Inobhutnahme erforderte, keine milderen Mittel erkennbar sind und eine familiengerichtliche Entscheidung nicht rechtzeitig eingeholt werden konnte, war der Beklagte nach derzeitigem Kenntnisstand berechtigt und verpflichtet, das Kind in seine Obhut zu nehmen. Dies bedeutet, dass die Erfolgsaussichten der Klage im vorliegenden Verfahren bei weitem nicht so hoch sind, dass eine gewisse Wahrscheinlichkeit des Obsiegens im oben genannten Sinne bestünde.
80
3. Da der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe schon deshalb abzulehnen ist, weil die Klage keine hinreichenden Erfolgsaussichten bietet, kommt es auf die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Kläger nicht mehr an.
81
Damit war der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von … … abzulehnen.