Titel:
Bestätigung der Ausweisungsanordnung und Wiedereinreisesperre beim Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge trotz Strafrestaussetzung zur Bewährung
Normenketten:
VwGO § 86, § 108 Abs. 2, § 113 Abs. 5 S. 2, § 124 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 4, Nr. 5, § 124a Abs. 4 S. 4, Abs. 5 S. 2, S. 4, § 152 Abs. 1, § 154 Abs. 2
AufenthG § 11 Abs. 3 S. 1, § 53 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3, Abs. 3a, Abs. 3b, Abs. 4, § 54 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 1b, § 55 Abs. 1 Nr. 3, Nr. 4, Abs. 2 Nr. 3 bis Nr. 6
GG Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Abs. 2, Art. 6 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3, Art. 103 Abs. 1
EMRK Art. 8
StGB § 56a Abs. 1 S. 2, § 57 Abs. 1, § 62, § 64, § 67 Abs. 1 S. 1, § 67d Abs. 2, Abs. 5 S. 1, § 67e Abs. 2, § 68c Abs. 1
BayMRVG Art. 35 Abs. 3
BayStVollzG Art. 3
AEUV Art. 83 Abs. 1 UA 2
EU GrCh Art. 7
StPO § 244, § 454 Abs. 2
GKG § 47 Abs. 3, Abs. 2, § 52 Abs. 1, Abs. 2
Leitsätze:
1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils sind anhand der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsgerichts zu prüfen (vgl. BVerwG BeckRS 2013, 47815, Rn. 12), so dass eine nachträgliche Änderung der Sach- und Rechtslage bis zum Zeitpunkt der Entscheidung in dem durch die Darlegung des Rechtsmittelführers vorgegebenen Prüfungsrahmen zu berücksichtigen ist (vgl. VGH München BeckRS 2017, 103750, Rn. 7). (Rn. 3) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung bestehen nur dann, wenn die Klägerseite im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (vgl. BVerfG BeckRS 2009, 39130 Rn. 11; BVerfG BeckRS 2016, 48237 Rn. 16); diese liegen bereits vor, wenn im Zulassungsverfahren substantiiert rechtliche oder tatsächliche Umstände aufgezeigt werden, aus denen sich die gesicherte Möglichkeit ergibt, dass die erstinstanzliche Entscheidung unrichtig ist (vgl. BVerfG BeckRS 2011, 48156 Rn. 19). (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
3. Es reicht nicht aus, wenn Zweifel lediglich an der Richtigkeit einzelner Rechtssätze oder tatsächlicher Feststellungen bestehen, auf welche das Urteil gestützt ist; sie müssen auch entscheidungserheblich sein, was fehlt, wenn das angefochtene Urteil sich aus anderen Gründen als richtig darstellt (vgl. BVerwG BeckRS 2004, 21684 Rn. 9). (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
4. Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte haben bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (vgl. BVerwG BeckRS 2013, 47815 Rn. 18). (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
5. Bei der eigenständig zu treffenden Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. VGH München BeckRS 2016, 44267 Rn. 11); an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind dabei umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (vgl. BVerwG BeckRS 2012, 59367 Rn. 18). (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
6. Entscheidungen der Strafgerichte über die Aussetzung von Straf- und Maßregelvollzug nach § 57 StGB sind bei der anzustellenden Prognose von tatsächlichem Gewicht und stellen ein wesentliches Indiz dar; von ihnen geht aber keine Bindungswirkung aus (vgl. BVerfG BeckRS 2016, 53810 Rn. 21; BVerwG BeckRS 2009, 40444 Rn. 18; BVerwG BeckRS 2000, 30143590 Rn. 17). (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
7. Bei besonders schwerwiegenden Bleibeinteressen sind zwei alternative Konstellationen zu prüfen, in denen trotz einer Strafrestaussetzung zur Bewährung eine spezialpräventive Ausweisung rechtmäßig sein kann: eine breitere Tatsachengrundlage der Ausländerbehörde bzw. des Verwaltungsgerichts oder in der Vergangenheit begangene Straftaten des Ausländers, die fortbestehende konkrete Gefahren für höchste Rechtsgüter erkennen lassen (vgl. OVG Bremen BeckRS 2021, 30665 Rn. 27). (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
8. Eine strafvollstreckungsrechtliche Aussetzung von Straf- und Maßregelvollzug und eine gefahrenabwehrrechtliche Ausweisung verfolgen unterschiedliche Zwecke und unterliegen deshalb unterschiedlichen Regeln (vgl. VGH München BeckRS 2021, 7380 Rn. 14; VGH München BeckRS 2021, 12721 Rn. 25; VGH München BeckRS 2017, 114334 Rn. 8 ff.). (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
9. Die vom illegalen Handel mit Betäubungsmitteln ausgehenden Gefahren sind schwerwiegend und berühren ein Grundinteresse der Gesellschaft (vgl. BVerwG BeckRS 2013, 52674 Rn. 12; VGH München BeckRS 2019, 3421 Rn. 7; EuGH BeckRS 2010, 91338 Rn. 47; EGMR BeckRS 1999, 160543; EGMR BeckRS 2004, 5166; OVG Münster BeckRS 2005, 25924), denn die mit dem Drogenkonsum häufig einhergehende Beschaffungskriminalität schädigt zudem die Allgemeinheit, die auch für die medizinischen Folgekosten aufkommen muss (vgl. VGH München BeckRS 2022, 29777 Rn. 32; VGH München BeckRS 2017, 128927 Rn. 8). (Rn. 35) (redaktioneller Leitsatz)
10. Bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhen oder dadurch gefördert wurden, kann von einem Wegfall der Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine einschlägige Therapie erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat, insbesondere indem er sich außerhalb des Straf- oder Maßregelvollzugs bewährt hat (vgl. VGH München BeckRS 2021, 22514 Rn. 9; VGH München BeckRS 2021, 28901; VGH München BeckRS 2021, 12721). (Rn. 38) (redaktioneller Leitsatz)
11. Angesichts der mit schwerwiegender Drogenkriminalität verbundenen besonderen Gefahren für die Allgemeinheit und der Schwierigkeit ihrer Bekämpfung kommt den generalpräventiven Aspekten ein wesentliches Gewicht zu, um eine Verhaltenssteuerung und Abschreckung bei anderen Ausländern zu bewirken (vgl. OVG Lüneburg BeckRS 2013, 51253; VGH München BeckRS 2021, 28901 Rn. 29; VGH München BeckRS 2011, 49353). (Rn. 49) (redaktioneller Leitsatz)
12. Art. 6 Abs. 1 GG gewährt nicht von vornherein einen Schutz vor Ausweisung, sondern verpflichtet dazu, die familiären Bindungen entsprechend ihrem Gewicht angemessen in die Abwägung einzustellen (vgl. BVerfG BeckRS 2013, 53078 Rn. 12). (Rn. 58) (redaktioneller Leitsatz)
13. Die Bezeichnung eines Ausländers als „faktischer Inländer“ entbindet nicht davon, die im jeweiligen Einzelfall gegebenen Merkmale der Verwurzelung zu prüfen; darüber hinaus besteht auch für faktische Inländer kein generelles Ausweisungsverbot (vgl. BVerfG BeckRS 2016, 53810 Rn. 19). (Rn. 63) (redaktioneller Leitsatz)
14. Welche Anforderungen vom Tatsachengericht an die Substantiierung gestellt werden dürfen, bestimmt sich zum einen danach, ob die zu beweisende Tatsache in den eigenen Erkenntnisbereich des Beteiligten fällt, und zum anderen nach der konkreten prozessualen Situation (vgl. BVerwG BeckRS 2014, 52744 Rn. 9; VGH München BeckRS 2021, 6322 Rn. 41). (Rn. 79) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Ausweisung, Betäubungsmitteldelikte (Drogenhandel) und Betäubungsmittelabhängigkeit, Freiheitsstrafe von 7 Jahren und 3 Monaten, Anordnung Maßregelvollzug, Strafrechtliche Aussetzung von Maßregelvollzug und Strafrest, Generalprävention, Verwurzelung, Zulasungsvoraussetzungen, ernstliche Zweifel, maßgeblicher Zeitpunkt, eigenständige Prognose, Strafrestaussetzung zur Bewährung, Bindungswirkung, besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse, Handeltreiben mit Betäubungsmitteln, Suchterkrankung, Unterbringung in einer Entziehungsanstalt, Wiederholungsgefahr, besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse, faktischer Inländer, Aufklärungspflicht, Divergenzrüge
Vorinstanz:
VG Ansbach, Urteil vom 30.03.2022 – AN 5 K 21.2192
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 02.05.2023 – 19 ZB 22.2659
Fundstellen:
InfAuslR 2023, 94
BeckRS 2022, 36347
LSK 2022, 36347
Tenor
I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,00 € festgesetzt.
Gründe
1
Der Antrag auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg.
2
Der am ... 1965 geborene und im Jahr 1974 im Familiennachzug in das Bundesgebiet eingereiste Kläger, serbischer Staatsangehöriger, der im Bundesgebiet den Hauptschulabschluss erlangte und diversen Erwerbstätigkeiten nachging (beschäftigt als Produktionsarbeiter bzw. Materialverantwortlicher, Fassadenrenovierer und Gebäudereiniger, Schmelzer, selbständig als Paketfahrer), der seit dem 19. November 1993 mit einer montenegrinischen Staatsangehörigen verheiratet ist, zwei erwachsene Söhne mit (auch) deutscher Staatsangehörigkeit hat (geboren am 31.8.1997 und 11.1.2004) und seit 2005 im Besitz einer Niederlassungserlaubnis ist, wendet sich gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 30. März 2022, durch das seine Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 15. November 2021 abgewiesen worden ist. Mit diesem Bescheid hat die Beklagte den Kläger aus dem Bundesgebiet ausgewiesen (Nr. I des Bescheids), ein auf die Dauer von 8 Jahren befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen (Nr. II des Bescheids), hinsichtlich der Ziffern I. und II. den Sofortvollzug angeordnet (Nr. III des Bescheids), die Abschiebung unmittelbar aus der Haft bzw. der angeordneten Unterbringung heraus nach Serbien oder in einen anderen aufnahmebereiten Staat angeordnet (Nr. IV des Bescheides) und, sollte dies nicht möglich sein, unter Ausreiseaufforderung innerhalb einer Woche ab Beendigung der Unterbringung bzw. nach Haftentlassung die Abschiebung nach Serbien oder einen anderen aufnahmebereiten Staat angedroht (Nr. V des Bescheides). Ausweisungsanlass bildet eine Verurteilung des Klägers vom 12. Dezember 2019 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in vier Fällen (aufgrund Beschlusses des Bundesgerichtshofes vom 30. Juni 2020 auf drei Fälle abgeändert) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und drei Monaten; die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt wurde nach einem Vorwegvollzug von zwei Jahren, einem Monat und zwei Wochen angeordnet. Dem lag zugrunde, dass der Kläger zusammen mit seiner Ehefrau spätestens ab Mai 2018 Marihuana (10 kg, 5,5 kg, 15 kg, 26 kg) beschafft und gewinnbringend weiterverkauft hatte. Der Kläger befand sich vom 26. September 2018 bis zum 12. Dezember 2019 in Untersuchungshaft und wurde nach Verbüßung der vorwegvollzogenen Haftstrafe am 7. November 2020 in den Maßregelvollzug überstellt.
3
Das der rechtlichen Überprüfung durch den Senat ausschließlich unterliegende Vorbringen in der Begründung des Zulassungsantrags (§ 124a Abs. 4 Satz 4, Abs. 5 Satz 2 VwGO) rechtfertigt keine Zulassung der Berufung. Die geltend gemachten Zulassungsgründe der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils nach § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO (1.), deren Beurteilung sich grundsätzlich nach dem Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs richtet (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 - 1 C 10.12 - juris Rn. 12), so dass eine nachträgliche Änderung der Sach- und Rechtslage bis zum Zeitpunkt der Entscheidung in dem durch die Darlegung des Rechtsmittelführers vorgegebenen Prüfungsrahmen zu berücksichtigen ist (BayVGH, B.v. 20.2.2017 - 10 ZB 15.1804 - juris Rn. 7), eines Verfahrensfehlers nach § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO (2.), auf dem das Urteil beruhen kann, und des Abweichens des Urteils von einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nach § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO (3.) liegen nicht vor.
4
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils ergeben sich aus dem Zulassungsvorbringen des Klägers auch unter Berücksichtigung der aktuellen Entwicklung nicht.
5
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts bestünden nur dann, wenn die Klägerseite im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 - 1 BvR 814/09 - juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 - 1 BvR 2453/12 - juris Rn. 16). Solche schlüssigen Gegenargumente liegen bereits dann vor, wenn im Zulassungsverfahren substantiiert rechtliche oder tatsächliche Umstände aufgezeigt werden, aus denen sich die gesicherte Möglichkeit ergibt, dass die erstinstanzliche Entscheidung unrichtig ist (BVerfG, B.v. 20.12.2010 - 1 BvR 2011/10 - juris Rn. 19). Es reicht nicht aus, wenn Zweifel lediglich an der Richtigkeit einzelner Rechtssätze oder tatsächlicher Feststellungen bestehen, auf welche das Urteil gestützt ist. Diese müssen vielmehr zugleich Zweifel an der Richtigkeit des Ergebnisses begründen. Das wird zwar regelmäßig der Fall sein. Jedoch schlagen Zweifel an der Richtigkeit einzelner Begründungselemente nicht auf das Ergebnis durch, wenn das angefochtene Urteil sich aus anderen Gründen als richtig darstellt (BVerwG, B.v. 10.3.2004 - 7 AV 4/03 - juris Rn. 9).
6
Zur Begründung seines Zulassungsantrags lässt der Kläger vortragen, die Annahme des Verwaltungsgerichts, von dem Kläger gehe eine Wiederholungsgefahr der Begehung von Straftaten aus, sei rechtsfehlerhaft. Das Verwaltungsgericht habe sich bei seiner Entscheidung lediglich von der den Ausweisungsanlass darstellenden Verurteilung leiten lassen. Das Verwaltungsgericht zeige nicht auf, auf welches Verhalten es überhaupt abstelle. Der zutreffend vom Verwaltungsgericht festgestellte strafrechtlich relevante Zeitraum von Mai bis September 2018 liege vier Jahre zurück. Weder vor noch nach diesem Zeitraum seien Straftaten oder Verfehlungen vorgetragen. Es sei kein Verhalten erkennbar, das „konkret“ die Gefahrenprognose tragen könnte. Unzutreffend sei, dass schwerwiegende Straftaten typischerweise mit einem hohen Wiederholungsrisiko verknüpft seien und die begangenen Straftaten eine Gefährlichkeit des Klägers indiziere. § 53 Abs. 1 AufenthG lasse sich gerade nicht mit einer indizierten Gefahr begründen. Vielmehr sei Tatbestandsvoraussetzung das Vorliegen einer konkreten Polizeigefahr aufgrund einer individuellen Gefahrenprognose. Das Verwaltungsgericht habe zwar bestätigt, dass bei dem Kläger nur eine relativ kurze Phase der Abhängigkeit von Betäubungsmitteln vorlag. Allerdings habe das Verwaltungsgericht nicht das Alter des Klägers berücksichtigt, in dem dieser mit dem Konsum von Betäubungsmitteln begonnen habe, was schließlich zu der erstmaligen und einzigen strafrechtlichen Verurteilung geführt habe. Die Umstände hätten sich grundlegend geändert. Die Feststellung, dass „bei Haftentlassung ein hohes Rückfallrisiko in frühere Verhaltens- und Konsumgewohnheiten gegeben“ sei, sei aus dem Sinnzusammenhang gerissen und beinhalte gerade nicht das, was die sachverständige Strafkammer ausgeführt habe. Das Verwaltungsgericht habe insoweit das schriftliche Gutachten des Herrn L. hierzu nicht beigezogen. Dieser habe angegeben, bei Fortgang des geschilderten Konsums bestehe durchaus ein Risiko für neuerliche Straftaten aus dem Bereich der Betäubungsmitteldelinquenz. Der Konsum bestehe aber gerade nicht fort, was das Verwaltungsgericht nicht gesehen habe. Die Prognose der Strafkammer werde falsch zitiert. Der Sachverständige habe die Strafkammer dahingehend beraten, dass ein Rückfallrisiko bestehe, wenn der Kläger nicht behandelt würde. Der Kläger sei aber zwischenzeitlich behandelt worden. Die weiteren Feststellungen des Landgerichts zum Therapiewillen und der Erfolgsaussicht einer Therapie seien übergangen worden. Die Annahme der Strafkammer zur Erfolgsaussicht der Therapie habe sich für den Kläger bestätigt, wie sich aus dem Therapiebericht eindeutig ergebe. Eine hiervon abweichende Prognose habe das Verwaltungsgericht nicht tragfähig begründet. Es gehe vielmehr von einer indizierten Gefährlichkeit aus, einer negativen Beweislast des Klägers und überspanne die Anforderungen an den von ihm angenommen positiv festzustellenden Wegfall einer Wiederholungsgefahr. Dabei sei seitens des Verwaltungsgerichts nicht zutreffend gewürdigt worden, dass der Sachverständige nur einen Betäubungsmittelkonsum „an der Grenze“ zur Abhängigkeit bejaht habe. Schon deshalb sei es falsch, wenn das Verwaltungsgericht auf allgemeine Grundsätze abstelle, anstatt eine individuelle Prognose hinsichtlich des Klägers vorzunehmen. Hätte das Verwaltungsgericht die individuellen Umstände und die wesentlichen Anknüpfungstatsachen (Alter des Klägers bei Beginn der Abhängigkeit; Betäubungsmittelkonsum am Rande der Abhängigkeit; strafrechtliches Vorleben; Berufstätigkeit des Klägers vor der Verurteilung und nach der Verurteilung; erfolgreiche Behandlung im Maßregelvollzug; familiäre und soziale Bindungen; Hafteindruck und Eindruck durch die drohende Ausweisung und Abschiebung) eingestellt, wäre es nicht zu dem Ergebnis gelangt, dass von dem Kläger die Begehung gewichtiger Straftaten künftig droht. Gerade da nur eine relativ kurze Phase des Drogenkonsums vorgelegen und der missbräuchliche Konsum an der Grenze zur Abhängigkeit gelegen habe, bestehe aufgrund der durchgeführten Behandlung keine Gefahr der Begehung von Straftaten mehr. Es liege keine langjährige Disposition zum Konsum von Betäubungsmitteln im Übermaß vor, so dass die Auffassung, dass auch eine (in Kürze) abgeschlossene Drogentherapie eine Rückfall- und Wiederholungsgefahr nicht „per se“ ausschließe, auf den konkreten Sachverhalt nicht passe. Es handele sich, was nicht berücksichtigt worden sei, um die erste Suchtmittelbehandlung. Eine Chronifizierung der Suchterkrankung liege nicht vor, was aus der nicht ausreichend berücksichtigten Feststellung der sachverständig beratenen Strafkammer folge, dass lediglich ein Konsum am Rande zur Suchterkrankung vorgelegen habe und dieser wiederum nur über eine vergleichsweise kurze Dauer. Überhaupt kein Anhaltspunkt bestehe dafür, dass der Kläger Heroin (täglich) konsumiert habe, so dass das Verwaltungsgericht auch hinsichtlich der Art des Suchtmittels von falschen Tatsachen ausgegangen sei. Darüber hinaus lägen bei dem Kläger auch keine ungeregelten Verbindlichkeiten vor. Vielmehr habe ein Insolvenzverfahren bestanden, bei dem er bereits in die Wohlverhaltensphase eingetreten und ein Treuhänder bestellt worden sei. Aus dem Bericht des Klinikums vom 16. März 2022 folge, dass der Kläger die Therapie erfolgreich durchlaufen und eine klare Abstinenzentscheidung getroffen habe. Aus dem Bericht folgten die wesentlichen positiven Prognosefaktoren. Negative Faktoren bestünden nicht und seien weder von der Beklagten vorgetragen noch von dem Verwaltungsgericht aufgezeigt worden. Es sei nicht berücksichtigt worden, dass der Kläger therapieunerfahren sei, sich erstmals in Strafhaft befunden habe, den Hauptschulabschluss erreicht, eine Ausbildung als Autolackierer vorgenommen habe, die aufgrund der Insolvenz des Arbeitgebers nicht habe abgeschlossen werden können, sowie eine Ausbildung als Hotelfachwirt abgeschlossen habe und fortwährend in der Bundesrepublik Deutschland berufstätig gewesen sei, aus der Ehe zwei mittlerweile volljährige Söhne hervorgegangen seien und ein enges Verhältnis zu seiner Mutter bestehe. Es sei nicht der Kläger, der den Gegenbeweis gegen eine indizierte Wiederholungsgefahr führen müsse, vielmehr müsse das Vorliegen und Fortbestehen der Wiederholungsgefahr von der Beklagten im Sinne eines Vollbeweises bewiesen werden. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts gebe es keine „erheblichen Rückfallquoten“, die überhaupt nicht näher dargelegt würden, sondern es sei eine individuelle Rückfallprognose zu erstellen. Das Verwaltungsgericht habe sich dabei verschlossen, die individuellen Besonderheiten des Falles zu berücksichtigen und auf diesen beruhend eine Prognose zu treffen, sondern sich auf Allgemeines zurückgezogen. Dass es nach Meinung des Verwaltungsgerichts keinerlei Unterschied mache, wie lange ein Konsum vorgelegen habe, welche Betäubungsmittel konsumiert worden seien, in welchem Alter der Konsum begonnen und geendet habe, ob es bereits Therapie(versuche) gegeben habe oder nicht und wie die Bewertung der Fachklinik laute, zeige, dass es keine Prognose vorgenommen habe, sondern es der Meinung sei, dass bei Betäubungsmittelstraftaten mit Konsumzusammenhang immer eine Wiederholungsgefahr bestehe. Da dies im Kern keine Prognose darstelle, sondern eine Behauptung, liege keine Prognoseentscheidung des Verwaltungsgerichts vor, so dass die Entscheidung auf schwerwiegenden Rechtsfehlern beruhe. Es würden überhaupt keine Umstände benannt, die diese Auffassung einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit der Wiederholung von Straftaten tragen könnten, sondern neben günstigen Umständen lediglich vermeintlich allgemeingültige Grundannahmen aufgeführt. Das Verwaltungsgericht benenne keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger künftig Betäubungsmittel konsumieren und deshalb schwerwiegende Straftaten begehen werde.
7
Das Verwaltungsgericht gehe von falschen Tatsachen aus. Entgegen der Behauptung des Verwaltungsgerichts habe der Kläger nie Heroin konsumiert und diesen Konsum weder im Jahr 2015 begonnen noch in der Folgezeit auf einen täglichen Konsum gesteigert. Das Verwaltungsgericht habe demnach an nicht bestehende Tatsachen angeknüpft, so dass auch insoweit die Prognoseentscheidung keinen Bestand haben könne. Einzelne Betäubungsmittelarten könnten nicht beliebig ausgetauscht werden und ein täglicher Heroinkonsum, den das Verwaltungsgericht ohne jegliche Grundlage unterstellt habe, sei nicht mit einem täglichen Konsum anderer Betäubungsmittel gleichzusetzen.
8
Die Wiederholungsgefahr sei prozedural falsch festgestellt worden. Es sei irrelevant, ob eine erfolgreiche Drogentherapie eine Rückfall- und Wiederholungsgefahr nicht per se ausschließe; abgesehen davon, dass Rückfall- und Wiederholungsgefahr nicht dasselbe sei. Die Auffassung des Verwaltungsgerichts führe zu einem Überbürden einer Beweislast auf den jeweiligen Kläger, dass von ihm keine Gefahr ausgehe. Dabei solle selbst die erfolgreich durchgeführte Therapie nicht als gewichtiges Indiz für das Entfallen der Gefahr angenommen werden. Vielmehr meine das Verwaltungsgericht, es müsste noch eine unbestimmt lange Zeit des Bewährens nach der Therapie nachgewiesen werden. Da aber eine derartige Bewährungszeit bis zur Ausweisungsverfügung faktisch nie vorliege, führe dies im Ergebnis zu einer für alle Verfahren unterstellten Wiederholungsgefahr im Falle von Betäubungsmittelstraftaten, die auf einer Suchterkrankung beruhten, und dem Gegenteil einer individuellen Prognoseentscheidung. Das Bundesverfassungsgericht habe wiederholt betont, dass diese Form der Gefahrindizierung und Umkehrung der Beweislast gegen Art. 2 Abs. 1 GG verstoße. Es sei daher schon überraschend, dass das Verwaltungsgericht dennoch an seiner Rechtsmeinung festhalte. Es meine, dass es „erhebliche Rückfallquoten“ gäbe, also ein Allgemeinwissen, und hieraus ein Fortbestehen der Wiederholungsgefahr folge. Dabei habe das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass ein allgemeines Erfahrungswissen nicht zu einer schematischen Gesetzesanwendung führen dürfe, die die im Einzelfall für den Ausländer sprechenden Umstände ausblende (unter Verweis auf BVerfG, B.v. 6.12.2021 - 2 BvR 860/21 - Rn. 19). Genau dies unternehme aber das Verwaltungsgericht, indem es die konkreten Umstände des Einzelfalls unberücksichtigt lasse (jahrzehntelanger Inlandsaufenthalt, familiäre und wirtschaftliche Bindungen, später Konsumbeginn, Grenze zur Abhängigkeit nur knapp überschritten, keine gescheiterten Therapieversuche, Erstverbüßer und erfolgreicher Therapieverlauf). Bei einem Erstverbüßer von Freiheitsstrafe habe bereits der Vollzug der Strafe den beabsichtigten Erfolg, nämlich den Ausschluss der Wiederholungsgefahr. Hierbei handele es sich um ein unberücksichtigt gebliebenes, vom Gesetzgeber angenommenes Indiz, das weder die Beklagte noch das Verwaltungsgericht entkräftet hätten. Weiterhin hätte das Verwaltungsgericht berücksichtigen müssen, dass der Kläger erwerbstätig sei, die Bindungen zu seiner betagten Mutter und den Söhnen fortbestünden und besonders intensiv seien, er über eine eigene Wohnung verfüge und daher überhaupt keine Anhaltspunkte für eine Rückfallgefahr sprächen. Das Verwaltungsgericht unternehme eine rein schematische Betrachtung. Es bleibe nämlich völlig im Verborgenen, was mit den „genannten Umständen“ gemeint sein könnte, die trotz der vom Verwaltungsgericht angeführten erfolgreichen Berichte über den Therapieverlauf bestehen sollten, um eine künftige schwerwiegende Gefahr annehmen zu können. Dass nämlich die Therapie nicht ihren endgültigen Erfolg haben werde, habe das Verwaltungsgericht gerade nicht angenommen, so dass es in sich widersprüchlich sei, einerseits die Erfolge festzustellen, andererseits auf eine nicht abgeschlossene Behandlung abzustellen. Das wäre nur dann tragfähig, wenn der Nicht-Erfolg zu prognostizieren wäre. Ebenso rechtsfehlerhaft sei es, wenn das Verwaltungsgericht im Falle des Klägers unter Missinterpretation der von dem Klägervertreter angesprochenen Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. Oktober 2012 (1 C 13.11) die Einholung eines fachpsychiatrischen Sachverständigengutachtens nicht für erforderlich erachte, da nicht von einer psychischen Erkrankung auszugehen sei. Dies sei schon deshalb falsch, da eine Abhängigkeitserkrankung eine psychische Erkrankung sei. Diese sei auch atypisch, da sie nicht den Regelfall darstelle. Abgesehen davon habe das Verwaltungsgericht auch gar nicht dargelegt, woher die eigene Fähigkeit bestehen solle, eine in einer Fachklinik zu „behandelnde“ (§ 64 StGB) Krankheit beurteilen zu können, so dass auch insoweit eine rein schematische Betrachtung zu konstatieren sei. Es sei auch ein Widerspruch in sich, sich einerseits auf die Diagnose eines Psychiaters zu stützen, um die Grundlage der Wiederholungsgefahr zu bejahen, das Fortbestehen der Erkrankung aber nicht medizinisch aufzuklären. Das Strafgericht sei im Rahmen der Anordnung des Maßregelvollzugs von einer günstigen Prognose ausgegangen; das Verwaltungsgericht habe diese Prognose nicht nur nicht zutreffend wiedergegeben, sondern auch nicht dargelegt, weshalb eine Abweichung von dieser Prognose in Betracht kommen könnte. Insbesondere habe es keine breitere Tatsachengrundlage geschaffen und kein Sachverständigengutachten eingeholt, noch nicht einmal das vorbereitende Gutachten des Sachverständigen L. beigezogen. Eine Suchterkrankung sei eine psychische Erkrankung. Dem Verwaltungsgericht sei es nicht gelungen darzulegen, weshalb es medizinische Fachkunde über psychische Störungen haben könnte, die die Einholung entbehrlich machen würde.
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Die fehlerhafte, tatsächlich gar nicht erfolgte Prognoseentscheidung des Verwaltungsgerichts führe zur Zulassung der Berufung. Das Verwaltungsgericht habe § 53 Abs. 1 AufenthG falsch angewandt, indem es eine nicht tragfähige ungünstige Prognose vorgenommen habe und sich zudem habe davon leiten lassen, dass die Wiederholungsgefahr indiziert sei. Im Berufungszulassungsverfahren könne dies nicht etwa durch eine Prognoseentscheidung des Verwaltungsgerichtshofs ersetzt oder geheilt werden, da dies gegen Art. 19 Abs. 4 GG verstoßen würde. Das Bundesverfassungsgericht habe wiederholt betont, dass Veränderungen in den Lebensumständen, die das Verwaltungsgericht nicht berücksichtigt habe, „im Rahmen eines durchzuführenden Berufungsverfahrens zu berücksichtigen“ seien (unter Verweis auf BVerfG, B.v. 6.12.2021 - 2 BvR 860/21 - Rn. 27 und B.v. 8.5.2019 - 2 BvR 657/19 - Rn. 37). Das Bundesverfassungsgericht habe ausgeführt, dass neue Umstände, die geeignet seien, wesentliche Tatsachenfeststellungen des Verwaltungsgerichts in Frage zu stellen, nicht in eine Prognose- und Abwägungsentscheidung im Rahmen des Berufungszulassungsverfahrens vorverlagert werden dürften, sondern die Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils zuzulassen sei und eine breitere Tatsachengrundlage für die Entscheidung über die Ausweisung geschaffen werden müsse. Das Verwaltungsgericht habe wesentliche Umstände nicht berücksichtigt und sei von einer Heroinabhängigkeit ausgegangen, die weder festgestellt worden sei noch bestanden habe. Für die Frage der Zulassung der Berufung komme es darauf an, dass die - vermeintliche - Prognoseentscheidung des Verwaltungsgerichts ernstlichen Zweifeln unterliege. Nicht maßgeblich sei dabei, ob es sich um Umstände handele, die erst nach der mündlichen Verhandlung entstanden seien, oder um Umstände, die das Verwaltungsgericht nicht ausreichend berücksichtigt habe, obwohl sie bereits bekannt gewesen seien. Denn in beiden Fällen würde eine eigenständige Prognoseentscheidung im summarischen Zulassungsverfahren, in dem keine mündliche Verhandlung und persönliche Anhörung des Klägers erfolge, ein Verstoß gegen das Grundrecht auf rechtliches Gehör und effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) darstellen. Da das Verwaltungsgericht gar keine Individualprognose vorgenommen habe, sei im Berufungsverfahren erstmalig eine Prognoseentscheidung vorzunehmen; diese könne nicht in das Berufungszulassungsverfahren, das nur ein summarisches Verfahren darstelle, vorverlagert werden.
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Rechtsfehlerhaft sei auch die Abwägung gemäß § 53 Abs. 2 AufenthG. Die Dimension des Grundrechtseingriffs sei gar nicht erkannt und auch nicht ausreichend berücksichtigt worden. Die Ausweisung scheitere bereits wegen des nicht hinzunehmenden Eingriffs in Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 8 EMRK und Art. 6 Abs. 1 GG an den Grenzen der verfassungsrechtlichen Limitierung und nicht (nur) daran, dass die Bleibeinteressen erkennbar das Ausweisungsinteresse überstiegen. Es sei keine ausreichende Berücksichtigung des Privatlebens erfolgt. Das Verwaltungsgericht meine, die Beklagte habe die persönlichen Umstände des Klägers, insbesondere auch die Pflege- und Betreuungsbedürftigkeit der Mutter ausreichend berücksichtigt, obwohl dies erkennbar nicht der Fall sei. Dem Bescheid sei nichts zur Pflegebedürftigkeit der Mutter zu entnehmen; auch in der mündlichen Verhandlung sei keine entsprechende Berücksichtigung erfolgt. Die Tatsache sei im Rahmen der Abwägung nicht als unbenanntes Bleibeinteresse und Umstand des Einzelfalls berücksichtigt worden. Dass sich der Kläger während der Inhaftierung nicht unmittelbar um seine Mutter habe kümmern können, sei entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts gerade nicht maßgeblich. Diese Rechtsmeinung, dass deshalb die Auswirkungen auf die Beistandsgemeinschaft mit der Mutter weniger Gewicht hätten, zeige das rechtsfehlerhafte Verständnis der Bleibeinteressen und der betroffenen Grundrechte auf, das das Verwaltungsgericht seiner Entscheidung zugrunde lege. Dass der Kläger im Falle der Aufenthaltsbeendigung sein Familienleben nicht fortsetzen und sich u. a. nicht mehr um seine nicht reisefähige Mutter kümmern könne, beruhe nicht auf der früheren Inhaftierung, sondern auf der beabsichtigten Vollziehung der Ausweisung. Der Grundrechtseingriff werde nicht geringer, weil der Kläger sich zuvor in Haft befunden habe oder untergebracht gewesen sei, sondern der vorherige Grundrechtseingriff, der seine Grenze in der schuldgerechten Strafe gefunden habe, werde in einem über die Freiheitsentziehung hinausgehenden Maße über zahlreiche Jahre intensiviert. Dieser Grundrechtseingriff bedürfe nicht etwa geringerer Rechtfertigung, da zuvor durch den Strafvollzug bereits in Grundrechte eingegriffen worden sei, sondern er bedürfe einer erhöhten Rechtfertigung. Die Abwägungsentscheidung sei demnach nicht tragfähig und in erheblichem Maße rechtsfehlerhaft. Dass die Bindungen nicht durch Fernkommunikationsmittel aufrecht erhalten bleiben könnten, bedürfe keiner vertieften Erörterung. Diese Annahme des Verwaltungsgerichts zeige, dass die Bedeutung der Achtung des Privat- und Familienlebens nicht erkannt werde. Wie die betagte und nicht reisefähige Mutter den Kläger trotz ihrer Erkrankungen „gelegentlich“ in Serbien besuchen solle, bleibe im Verborgenen. Die bestehende Beistandsgemeinschaft könne nicht mittels Fernkommunikation aufrecht erhalten bleiben. Die Mutter bedürfe der körperlichen Nähe, Betreuung und des persönlichen Beistands in ihrer Wohnung. Darüber hinaus leide sie an Schwerhörigkeit, weshalb sie ohnehin nur eingeschränkt telefonieren könne (unter Verweis auf sozialmedizinisches Gutachten vom 30.06.22). Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts sei es auch nicht ausreichend, den Kläger auf gelegentliche Besuche der Kinder in Serbien zu verweisen. Das Verwaltungsgericht habe nicht erkannt, dass das Privat- und Familienleben anders gepflegt werde und daher in seinem Bestand zu berücksichtigen und sodann abzuwägen sei, ob eine Aufhebung zumutbar ist. Die Mutter des Klägers habe bereits seit 13. Oktober 2010 einen festgestellten Grad der Behinderung von 100; sie sei auf fortwährende Unterstützung und pflegerische Hilfstätigkeiten angewiesen, die der Kläger vollbringe. Die Mutter lebe alleine, der Vater sei bereits verstorben. Geschwister habe der Kläger nicht. Der Kläger sei Pflegeperson der Mutter, die derzeit einen Pflegegrad von mindestens 1 aufweise. Die Pflegeleistungen würden von dem Kläger erbracht. Die Mutter des Klägers leide u.a. an insulinabhängigem Diabetes mellitus Typ Il, einem chronischen Schmerzsyndrom mit somatischen und psychischen Faktoren, einem zervikobrachialen Syndrom rechts, einer Arthalgie des Schultergelenks rechts, einer Schultersteife rechts, einer SAPS der rechten Schulter, einer AC-Arthrose rechts und an einem Quadratus Iumborum-Syndrom rechts. Aufgrund des Gesundheitszustands der Mutter des Klägers, die ohne Unterstützung das Haus nicht verlassen, sich keine Lebensmittel- und Haushaltsgegenstände sowie Kleidung besorgen könne und auch den täglichen Bedarf nicht zubereiten und beispielsweise Getränke nicht öffnen könne, sei diese auf die Hilfe des Sohnes tagtäglich angewiesen. Eine Reisefähigkeit bestehe nicht. Die Beklagte habe nicht zugesichert, dass sie dem Beklagten regelmäßige Besuche bei der Mutter erlauben werde; derartige Zusicherungen entsprächen auch nicht der Behördenpraxis der Beklagten.
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Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts sei es in diesem Zusammenhang rechtsfehlerhaft, darauf abzustellen, dass auch andere Personen die Betreuung übernehmen könnten. Es hätten nicht das Verwaltungsgericht und die Beklagte zu entscheiden, wer die Betreuung der Mutter übernehme, zumal es keine Verpflichtung der Söhne des Klägers bzw. Bekannter dazu gebe. Da die Söhne eigene Familien gründen würden, seien sie auch nicht in der Lage, die Betreuung der Großmutter dauerhaft zu übernehmen. Auch sei zu beachten, dass sich eine betagte Großmutter regelmäßig nicht gerne von männlichen Enkelkindern pflegen lasse und naturgemäß Scham und Rücksichtnahme von der Entgegennahme der notwendigen Pflegeleistungen abhielten. Hinzu komme, dass der leibliche Sohn eine andere Qualität der Beistandsleistung erbringe als Enkelkinder oder gar irgendwelche Bekannte. Keine Frage der Interessenabwägung sei es, ob der Kläger durch die Familie abgehalten worden sei, erst- und letztmalig straffällig zu werden und erstmalig inhaftiert zu sein. Die Auswirkungen und Folgen eines strafrechtlichen Verhaltens vor Augen zu führen und die Beistandsbeziehung dennoch aufrecht erhalten zu können, sei gerade wesentliches Merkmal der Resozialisierung und kein negativer Interessengesichtspunkt, sondern eine günstige Anknüpfungstatsache für die Gefahrenprognose.
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Der Kläger habe eine intensive Bindung und regelmäßigen Kontakt zu seinen volljährigen Söhnen (18 und 24 Jahre) mit deutscher Staatsangehörigkeit, die berufstätig seien und gemeinsam in einer Wohnung in N. lebten. Es sei falsch, die Zumutbarkeit zumindest für die Dauer der Wiedereinreisesperre zu prüfen. Denn nach Ende der Wiedereinreisesperre entstehe nach eigener Auffassung des Verwaltungsgerichts ja gerade kein Aufenthaltsanspruch. Die Ausweisung führe zu einem Entzug des Aufenthaltsrechts insgesamt, was eigenständig einen schweren Eingriff in das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit aus Art. 2 Abs. 1 GG darstelle und zudem in Art. 6 Abs. 1 GG sowie Art. 8 EMRK durch den Verlust der Aufrechterhaltung der Beistandsgemeinschaft im Inland mit den nahen Familienangehörigen. Rechtsfehlerhaft meine das Verwaltungsgericht, der Eingriff sei zumutbar, weil andere Personen die Betreuung übernehmen könnten. Diese Rechtsmeinung stelle eine Missachtung des gemäß Art. 8 EMRK zu achtenden Privat- und Familienlebens in seiner tatsächlich gelebten Form dar.
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Es fehle eine eigenständige Abwägungsentscheidung. Das Verwaltungsgericht verweise hinsichtlich der Notwendigkeit der Abwägung nach § 53 Abs. 2 AufenthG nur auf die Ausführungen der Behörde. Das sei fehlerhaft, da es zum einen selbst eine Abwägungsentscheidung hätte treffen müssen, zum anderen das Übergewicht des Bleibeinteresses hätte erkennen müssen. Im Hinblick darauf, dass der Kläger bald 50 Jahre ununterbrochen in Deutschland lebe und in ganz erheblichem Umfang erwerbstätig gewesen sei, könne das Ausweisungsinteresse nicht überwiegen. Dies folge schon daraus, dass der Kläger erstmalig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden und davon auszugehen sei, dass er bereits aufgrund des Vollzugs der Freiheitsstrafe künftig keine Straftaten mehr begehen werde. Diese Grundannahme, die der Gesetzgeber selbst stelle, müsse durch die Verwaltungsbehörde anhand konkreter Tatsachen widerlegt werden, was nicht erfolgt sei. Die Einheit der Rechtsordnung erlaube kein Abweichen von dieser gesetzgeberischen Prognose. Anders als in Ausweisungsverfahren häufig vertreten werde, gelte im Strafrecht und im Aufenthaltsrecht kein unterschiedlicher Prognosemaßstab. Vielmehr seien im Rahmen der Entscheidung nach § 57 StGB ebenso wie im Verwaltungsrecht die Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit und die Schwere der Tat zu berücksichtigen. Weiterhin hätte auch im Rahmen der Abwägung eingestellt werden müssen, dass der Kläger erfolgreich im Rahmen des Maßregelvollzugs behandelt werde. Deshalb hätte auch eingestellt werden müssen, dass der Kläger therapieunerfahren sei, sich erstmals in Strafhaft befunden habe, den Hauptschulabschluss erreicht, eine Ausbildung abgeschlossen habe und fortwährend berufstätig gewesen sei, aus der Ehe zwei Söhne, die deutsche Staatsangehörige seien, hervorgegangen seien und ein enges Verhältnis zu seiner Mutter, die ebenfalls in Deutschland lebe. Diese Prognosefaktoren wirkten sich auf die individuelle Wahrscheinlichkeitsprognose günstig aus, so dass das Ausweisungsinteresse geringer zu gewichten sei. Selbst wenn man eine Wiederholungsgefahr bejahen würde, wäre diese jedenfalls deutlich gegenüber dem Durchschnittsfall reduziert, so dass das Ausweisungsinteresse von erheblich geringerem Gewicht sei, als dies beispielsweise bei wiederholter Straffälligkeit und chronifizierter Suchterkrankung der Fall wäre. Denn die Wiederholungsgefahr sei auch Gegenstand der Abwägung, was das Verwaltungsgericht rechtsfehlerhaft nicht erkannt habe. Weder die Beklagte noch das Verwaltungsgericht hätten zugrunde gelegt, dass das Ausweisungsinteresse aufgrund der begrenzten Schuld niedriger anzusetzen sei, wenn die den Ausweisungsanlass darstellende Verurteilung auf „Beschaffungskriminalität“ beruhe. Rechtsfehlerhaft sei das Ausweisungsinteresse demnach zu hoch gewichtet worden, jedoch nicht erkannt worden, dass das Bleibeinteresse besonders schwerwiegend sei. Sowohl im Rahmen der Abwägung nach § 53 Abs. 2 AufenthG als auch im Rahmen von Befristungsbescheidungen sei zu berücksichtigen, wenn der Betroffene nachtatlich die Wiederholungsgefahr durch eigene Anstrengungen reduziere, indem er an Behandlungen aktiv mitwirke. Die Beklagte habe dies ebenso wenig berücksichtigt wie das Verwaltungsgericht. Vielmehr habe sich die Beklagte im Gegenteil darauf gestützt, was das Verwaltungsgericht durch die Verweisungen übernommen habe, dass der Maßregelvollzug keine freiwillige Behandlung sei und damit ihr Gewicht für eine Abwägung verneint. Die Nichtberücksichtigung der Behandlung im Rahmen der Abwägungsentscheidung durch das Verwaltungsgericht zeige, dass es die Bedeutung der Behandlung nicht erkannt habe.
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Das Bleibeinteresse des Klägers sei nicht angemessen berücksichtigt worden. Wenn das Verwaltungsgericht meine, der Kläger könne sich nach knapp 50 Jahren Aufenthalt in der Bundesrepublik nahtlos in die Lebensverhältnisse im Land seiner Staatsangehörigkeit einfügen, zeige dies, dass das Gericht die tatsächlich vorliegende Entwurzelung nicht erkannt habe. Der Kläger sei aufgrund der Dauer des Aufenthalts, seinem Alter bei Einreise, der beruflichen und familiären Entwicklung vollständig im Inland integriert. Er sei im Alter von 9 Jahren in die Bundesrepublik Deutschland mit seiner Mutter im Wege des Familiennachzugs zum Vater eingereist. Die Schule in Serbien habe er nur bis zur 2. Klasse besucht. Die kyrillische Schrift könne er nicht schreiben. Er sei über Jahrzehnte hin sozialversicherungspflichtig beschäftigt bzw. selbständig tätig gewesen. Das bestehende Arbeitsverhältnis sei in Rücksprache mit den Therapeuten mit Wirkung zum 28. Juli 2022 aufgrund erheblicher Unzuverlässigkeit des bisherigen Arbeitgebers beendet und ein neues, unbefristetes Vollzeit-Arbeitsverhältnis begründet worden. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts sei es nicht ausreichend, die Eingliederungsfähigkeit formelhaft zu unterstellen. Bei einer Einreise als Kind und einem Aufenthalt von rund 50 Jahren im Inland sei es natürlich nicht ausreichend, auf ein Aufwachsen in einer „serbischen Familie“ und die in „Serbien verbrachte Kindheit“ abzustellen. Daran sei ja bereits in tatsächlicher Hinsicht falsch, dass die „Kindheit“ nicht in Serbien verbracht worden sei, da diese nicht etwa mit 9 Jahren ende. Das Verwaltungsgericht habe die Anforderung an die Verhältnismäßigkeitsprüfung im Falle dieses schwerwiegenden Eingriffs in die Grund- und Menschenrechte des Klägers verkannt. Diese erlaubten keine lapidaren Annahmen, sondern setzten konkrete Prüfungen voraus. Es fänden sich keinerlei tatsächliche Feststellungen in dem Urteil des Verwaltungsgerichts, die die Integrationsfähigkeit belegten, so dass die Annahme den verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht genüge (mit Verweis auf BVerfG, B.v. 19.10.2016 - 2 BvR 1943/16 - Rn. 25).
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Schließlich habe das Verwaltungsgericht nicht berücksichtigt, dass der Kläger faktischer Inländer sei und sich die Ausweisung spätestens hierdurch als unverhältnismäßig erweise, da besondere verfassungsrechtliche Garantien aufgrund der Eingriffstiefe in Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK zu beachten seien. Der Kläger sei zwar nicht in der Bundesrepublik geboren. Er sei aber als Kind mit seiner Kernfamilie eingereist und habe sich rund 50 Jahre mit dieser in Deutschland aufgehalten, gearbeitet, eine eigene Familie gegründet und zwei junge, erwachsene, deutsche Kinder, die ebenfalls in Deutschland lebten und zu denen eine enge Verbindung bestehe. Weiterhin sei er regelmäßig erwerbstätig gewesen. Die Rechtsstellung als faktischer Inländer führe bereits dazu, dass die Wiederholungsgefahr aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht ordnungsgemäß festgestellt worden sei. Hinsichtlich eines faktischen Inländers und im Falle eines ca. 50jährigen Aufenthalts und des Bestehens einer Niederlassungserlaubnis sei selbst dann, wenn man von einer Wiederholungsgefahr ausgehen würde, der Maßstab an die Feststellung, dass diese hinreichend ist, nicht derart weit abgesenkt. Denn die Anforderung an den Grad der Wahrscheinlichkeit steige aus verfassungsrechtlichen Gründen an, je grundrechtsintensiver der Eingriff sei. Dabei habe die Aufenthaltsdauer und die familiäre Bindung überragendes Gewicht. Es sei demnach nicht jeder Grad der Wahrscheinlichkeit ausreichend, um von einer Wiederholungsgefahr auszugehen. Dies folge aus dem Verhältnismäßigkeitsgebot, das als Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips des Art. 20 Abs. 3 GG verbürgt sei.
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Das Anführen generalpräventiver Gründe sei rechtsfehlerhaft. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts setze § 53 Abs. 1 AufenthG das Bestehen einer von dem Betroffenen selbst ausgehenden konkreten Polizeigefahr voraus. Dies sei vom Bundesverwaltungsgericht in den von dem Verwaltungsgericht in Bezug genommenen Entscheidungen nicht ausreichend berücksichtigt worden. Eine von dem Verwaltungsgericht für rechtmäßig erachtete „konsequente ausländerrechtliche Würdigung von Straftaten“ stehe den Menschenrechtsgarantien aus der EMRK entgegen. Die Ausweisung sei im Anwendungsbereich des Art. 8 EMRK nur dann möglich, wenn sie auf einer individuellen Einzelfallentscheidung beruhe. Die als konsequente ausländerrechtliche Würdigung von Straftaten umschriebene und von dem Verwaltungsgericht gebilligte Behördenpraxis der Beklagten bedeute das Gegenteil dessen, was konventionsrechtlich zulässig sei. Eine kontinuierliche Ausweisungspraxis, wie diese zur Begründung der Generalprävention oftmals angeführt werde, sei aber nicht zulässig, da sie dem Gesetzeszweck der ergebnisoffenen Einzelabwägung entgegenlaufe. Im Anwendungsbereich der Europäischen Menschenrechtskonvention, die im Falle des Klägers gelte, sei eine Ausweisung ohne Einzelfallgerechtigkeit nicht zulässig. Die Beklagte beabsichtige mit ihrer überwiegend generalpräventiv begründeten Ausweisung nicht Einzelfallgerechtigkeit, sondern ein „konsequentes“, also gleichförmiges Vorgehen. Da die Ausweisung stets eine Einzelfallabwägung voraussetzt und dem Gesetzgeber aufgegeben gewesen sei, ein System der Einzelfallgerechtigkeit zu schaffen, verbiete sich eine Gesetzesauslegung dahingehend, dass ein gleichförmiges generalpräventives Ausweisungsregime Anwendung finde. Eine kontinuierliche Anwendungspraxis stelle jedoch das Gegenteil von Einzelfallentscheidung und Einzelfallgerechtigkeit dar und verstoße daher erkennbar gegen Verfassungs- und Konventionsrecht. Gegen faktische Inländer könnten entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts keine generalpräventiven Gründe vorgebracht werden. Dies folge unmittelbar aus Art. 8 EMRK und dem Gebot der Achtung des Privat- und Familienlebens. Im Falle des Klägers scheitere das Anbringen generalpräventiver Gründe schon an Art. 8 EMRK aufgrund dessen Aufenthalts von ca. 50 Jahren in der Bundesrepublik und der inländischen Bindung hinsichtlich der betagten Mutter und den Söhnen. Der Europäische Gerichtshof habe Ausweisungen faktischer Inländer stets nur dann gebilligt, wenn die Gefahr der Wiederholung zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorgelegen habe; der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kenne den Begriff einer generalpräventiv begründeten Ausweisung überhaupt nicht, sondern stelle auf eine rein spezialpräventive Betrachtung ab. Soweit die Beklagte und das Verwaltungsgericht sich darauf stützten, dass der Kläger betäubungsmittelabhängig geworden und es in diesem Zusammenhang zu Betäubungsmittelstraftaten gekommen sei, könne schon gar keine Abschreckungswirkung entfaltet werden. Es handele sich bei der Abhängigkeit um eine Erkrankung, die nicht auf einer geplanten, zielgerichteten Entscheidung des Betroffenen beruhe. Es sei kriminologisch geklärt, dass die negative Abschreckungsprävention allenfalls dann Effekte haben könne, wenn es sich um geplante, zielgerichtete Taten handele. Es sei auch sachwidrig anzunehmen, dass es darum gehen solle, dass nicht hingenommen werde, wenn ein Ausländer das ihm gewährte Aufenthaltsrecht dazu missbrauche, um am illegalen Drogenhandel teilzunehmen. Der Kläger sei ausweislich seines Bundeszentralregisters nicht eingereist, um Straftaten zu begehen und habe sein Aufenthaltsrecht nicht missbraucht, sondern sei ein faktischer Inländer. Dass er eine Suchterkrankung entwickelt habe, sei nicht anders zu bewerten, als wenn ein deutscher Staatsangehöriger eine Suchterkrankung entwickle. Die Abwägungs- und Verhältnismäßigkeitsprüfung der Beklagten, auf die sich das Verwaltungsgericht stütze, leide daran, dass das Anbringen von Generalprävention in ganz besonderem Maße ihre Grenze in der Verhältnismäßigkeit finde. Auf die Frage der Verhältnismäßigkeit der überwiegend generalpräventiv begründeten Ausweisung gingen weder das Verwaltungsgericht noch die Beklagte ein. Durch die Annahme der Behörde, andere Personen durch die Ausweisung des Klägers abschrecken zu können, werde der Kläger nicht nur zum Objekt des Verfahrens gemacht, sondern es werde - entgegen dem Tatbestand des § 53 Abs. 1 AufenthG - gar nicht mehr vorausgesetzt, dass von ihm selbst eine Polizeigefahr ausgehe. Vielmehr solle die nur theoretisch später eintretende Gefahr unbekannter Dritter verhindert werden. Selbst wenn man der Auffassung wäre, dass dies zulässig sei, sei leicht erkennbar, dass dies nur in äußerst engen Grenzen verhältnismäßig sein könnte, da ja gerade von dem Betroffenen gar nicht mehr die Gefahr ausgehe, die abgewendet werden solle. Bei einem Betroffenen im Alter des Klägers, seiner Aufenthaltsdauer und der Erforderlichkeit seines konkret zu achtenden und zu schützenden Privat- und Familienlebens (insbesondere im Hinblick auf die betagte Mutter und die jungen erwachsenen Kinder) und des massiven Eingriffs in das Grundrecht des Klägers aus Art. 6 Abs. 1 und Art. 2 GG, der mit einer Entfernung aus der Bundesrepublik Deutschland einherginge, erweise sich die generalpräventiv begründete Ausweisung als unverhältnismäßig. Das Verwaltungsgericht vermöge nicht darzulegen, dass der 1965 geborene Kläger mit einer verwitweten, betagten und pflegebedürftigen Mutter, die der Kläger im Inland pflege, und zwei jungen erwachsenen Kindern, die ebenfalls in N. lebten, nicht nach jahrzehntelanger straffreier Führung aus generalpräventiven Gründen ausgewiesen werden dürfe, um theoretisch an einer Abhängigkeitserkrankung leidende Dritte von der Begehung von Betäubungsmittelstraftaten mit Marihuana, das vom Bundesgerichtshof regelmäßig als weniger gefährlich eingeschätzt werde und dessen Besitz voraussichtlich jedenfalls teilweise legalisiert werde, mutmaßlich abzuschrecken. Die Verhältnismäßigkeit erfahre neben den verfassungsrechtlichen und menschenrechtlichen Garantien aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK ihre Limitierung im Hinblick auf den sehr schweren Eingriff in Art. 2 Abs. 1 GG auch darin, dass gegen den Kläger bereits eine zum Schuldausgleich verhängte Strafe festgesetzt und im gesetzlich vorgesehen Umfang verbüßt worden sei. Eine über den Schuldausgleich hinausgehende Sanktionierung sei grundrechtswidrig, da sie als Übermaß und damit Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG unverhältnismäßig sei. Die von der Beklagten vorgenommene „konsequente Ausübung der Ausweisungsermächtigung“ mit dem Ziel der Abschreckung stelle nichts Anderes als eine Sanktionierung zum verfassungsrechtlich verbrauchten Strafzweck der Abschreckung dar. Dies zeige, dass die Generalprävention kein zulässiges Mittel der Gefahrenabwehr darstelle.
17
Gegen die Befristungsentscheidung sei schon zu erinnern, dass die Beklagte am selben Verhandlungstag vor dem Verwaltungsgericht im Rahmen der Klage der Ehefrau gegen die gegen sie gerichtete Ausweisungsverfügung die Frist nach § 11 AufenthG auf 5,5 Jahre verkürzt habe, obwohl die Ehefrau nicht nach § 64 StGB untergebracht sei und keine Therapie absolviere. Es sei nicht nachvollziehbar, weshalb eine längere Frist bei dem Kläger verhältnismäßig sein sollte. Es sei nicht nachvollziehbar, weshalb bei einer behandelten Person, die eine Straftat aufgrund eines Krankheitszusammenhangs begangen habe, eine längere Fernhaltefrist angemessen sein sollte, gegenüber einer Person, bei der ein solch kausaler Zusammenhang nicht bestanden habe. Die Beklagte habe vielmehr die Durchführung des Maßregelvollzugs überhaupt nicht berücksichtigt und nicht erkannt, dass dies der gesetzgeberischen Konzeption des Maßregelvollzugs widerspreche. Dieser werde angeordnet zur Sicherung und Besserung und es gebe keinen tragenden Rechts- oder Erfahrungssatz, dass das Konzept des Maßregelvollzugs keinen geeigneten Zweck erfüllen würde, da die Regelungen sonst verfassungswidrig wären und das Strafgesetzbuch insoweit aufgehoben werden müsste. Das Verwaltungsgericht habe die Voraussetzung der Fernhaltung nicht geprüft, sondern nur angegeben, wie die Prüfungsreihenfolge zu erfolgen habe und dass Ermessen auszuüben sei. Die Anwendung von Ermessen ersetze aber nicht die Feststellung der Tatbestandsvoraussetzungen der Anordnung der Sperre. Diese seien vielmehr von dem Verwaltungsgericht selbst zu prüfen. Hierzu gehöre, dass die Gefahr auf erster Stufe festgestellt werde und auch der Zeitraum benannt werden müsse, der aufgrund der Gefahr erforderlich sein solle, um diese abzuwenden. Dies geschehe in dem Urteil jedoch nicht. Vielmehr führe das Verwaltungsgericht lediglich aus, dass die Verwaltungsbehörde zweistufig vorgehen müsse und sodann Ermessen auszuüben habe. Weshalb der Kläger für eine nicht näher benannte Dauer ferngehalten werden müsse, weil von ihm eine Gefahr ausgeht, führe das Verwaltungsgericht ebenso wenig aus wie dass es begründe, welche Dauer hierfür überhaupt angenommen worden sei. Es liege keine vollständige Prognoseentscheidung vor. Weder werde die Grundlage der Prognose dargelegt, noch offengelegt, welche Merkmale überhaupt berücksichtigt worden seien und weshalb dann eine bestimmte Frist, die nicht bezeichnet werde, erforderlich sein solle, um die Gefahr zu beseitigen. Bereits von der Verwaltungsbehörde sei nicht berücksichtigt worden, dass der Kläger erstmalig verurteilt worden sei und sich in Strafhaft befunden habe und zudem erfolgreich den Maßregelvollzug absolviert haben werde. Da das Verwaltungsgericht in seinem Urteil diese Tatsache ebenfalls völlig unberücksichtigt gelassen habe, setze sich der Rechtsfehler in dem Urteil fort. Ebenso wenig werde berücksichtigt, dass bei dem Kläger erstmalig eine Suchtbehandlung stattfinde, die Erkrankung nur über einen kurzen Zeitraum bestanden und im höheren mittleren Alter begonnen habe, so dass von einer besonders guten Behandlungsmöglichkeit auszugehen sei. Eine langjährige Chronifizierung liege nicht vor. Bereits auf erster Stufe sei eine Frist von acht Jahren unter keinem Gesichtspunkt als erforderlich anzusehen. Unbeschadet dessen erweise sich die Frist auch auf zweiter Stufe als unverhältnismäßig und die Ausübung von Ermessen als fehlerhaft. Das Verwaltungsgericht meine zwar, dass Ermessensfehler nicht ersichtlich seien. Dabei sei aber schon gar nicht zu erkennen, inwieweit die Frist auf erster und zweiter Stufe voneinander abwich, so dass eine vermeintliche Ermessensentscheidung nicht prüfbar sei. Dass die Behörde die Aufenthaltsdauer berücksichtigt habe, sei nichts als eine Leerformel, da nicht erkennbar werde, in welcher Form die Berücksichtigung stattgefunden haben solle. Die Aufenthaltsdauer könne nicht angemessen berücksichtigt worden sein, wenn bei der Ehefrau eine Frist von 5,5 Jahren ermessensgerecht sein solle. Die Behörde habe keine vollständige Ermessensentscheidung vorgenommen, so dass ein Ermessensfehlgebrauch vorliege und der Bescheid daher insoweit zur Neuverbescheidung aufgehoben werden hätte müssen (§ 113 Abs. 5 S. 2 VwGO). Die Behörde habe das Ermessen in der mündlichen Verhandlung nicht erneuert und daher gewichtige Umstände nicht eingestellt. Dies folge bereits daraus, dass die Behörde in ihrem Bescheid von anderen Tatsachen ausgegangen sei. So habe die Beklagte weder die Tatsache berücksichtigt, dass der Kläger seine Mutter versorge und pflege, noch, dass beide Kinder in Deutschland ihren Lebensmittelpunkt hätten. Auch sei nicht berücksichtigt worden, dass bis zur mündlichen Verhandlung in erster Instanz der Maßregelvollzug nahezu abgeschlossen sei und im Rahmen der Prognose natürlich einzustellen gewesen wäre, dass dieser erfolgreich abgeschlossen werden werde.
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Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils lägen auch wegen eines Aufklärungsmangels vor.
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Mit Schriftsatz vom 26. September 2022 trägt der Kläger ergänzend vor, dass zwischenzeitlich eine Entscheidung des Landgerichts N.-F. vom 29. August 2022 ergangen sei und die Vollstreckung der Unterbringung sowie der Reststrafe aus dem Urteil des Landgerichts N.-F. vom 1. Juli 2022 (wohl: 12.12.2019) zur Bewährung ausgesetzt wurden. Aus dem Beschluss folge, dass das Landgericht nach sachverständiger Beratung, Anhörung des Klägers und der fachlichen Stellungnahme des Klinikums der Unterbringungseinrichtung eine günstige Prognose erstellt habe. Es habe insbesondere herausgehoben, dass der therapieunerfahrene Kläger sehr schnell habe in die Probewohnphase entlassen werden können, der Behandlungsverlauf durchweg positiv gewesen sei, ein günstiger sozialer Empfangsraum vorliege, der Kläger über eine eigene Wohnung und Arbeitsstelle verfüge, ein Privatinsolvenzverfahren eingeleitet habe und familiäre Kontakte pflege. Er habe sich im Rahmen der Anhörung reflektiert und verantwortungsbewusst gezeigt. Der Abstinenzwille sei ebenso glaubhaft geäußert wie der Wille, sich von delinquenten Personen zu distanzieren. Die Suchterkrankung sei zum gegenwärtigen Zeitpunkt erfolgreich behandelt. Aufgrund der geänderten Tatsachenumstände sei die Berufung bereits deshalb zuzulassen, da die Prognose- und Abwägungsentscheidung des Verwaltungsgerichts keinen Bestand haben könne (mit Verweis auf BVerfG, B.v. 8.5.2019 - 2 BvR 657/19 - Rn. 37; B.v. 6.12.2021 - 2 BvR 860/21 - Rn. 27). Dies folge unmittelbar aus Art. 19 Abs. 4 GG. Die erfolgreiche Behandlung der Suchterkrankung des Klägers sowie die weiteren bereits vorgetragenen Umstände stellten eine nachhaltige Veränderung der Lebensumstände dar.
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Mit weiterem Schriftsatz vom 22. Oktober 2022 trägt der Kläger ergänzend und vertiefend vor, die Prämisse der Beklagten, wonach die Behandlung im Maßregelvollzug eine nach ihrer Auffassung zuvor bestandene Wiederholungsgefahr nicht wegfallen lasse, sei schon deshalb entfallen, da die Behandlung abgeschlossen worden sei. Neben dem Abschluss der Behandlung sei die fachliche Stellungnahme der Klinik für Forensische Psychiatrie sowie das Gutachten des Sachverständigen Dr. R. getreten. In der Strafaussetzungsentscheidung habe die Kammer des Landgerichts eine günstige Sozial- bzw. Kriminalprognose für den Kläger gestellt. Hieraus folge, dass die Beklagte von einer nicht zutreffenden Tatsachengrundlage ausgehe. Die Prognose des Verwaltungsgerichts könne schon deshalb keinen Bestand haben, da jedenfalls eine nicht mehr zutreffende Tatsachengrundlage die Prognosebasis bilde. Wiederholend wird ausgeführt, hinsichtlich der Gefahrenprognose müsse die Begehung schwerwiegender Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit feststehen und nicht etwa eine negative Tatsache „glaubhaft“ gemacht werden. Es werde eine Beweis- bzw. Prognoselast verkannt, die bei der Behörde liege und nicht bei dem Kläger. Das Bundesverfassungsgericht sehe gerade keine Prognoselast bei dem Betroffenen. Hinsichtlich des hohen Bleibeinteresses trete die neue Tatsache des erfolgreichen Therapieabschlusses hinzu. Das Verwaltungsgericht sei von einer indizierten Gefahr ausgegangen, was eine automatisch als bestehend angenommene Gefahr im Falle einer strafrechtlichen Verurteilung bedeute, deren Nichtbestehen vom Betroffenen bewiesen werden müsse. Das sei nicht dasselbe wie die Auffassung der Beklagten, wonach „zahlreiche“ Indizien Grundlage einer Prognoseentscheidung seien, sondern das genaue Gegenteil dessen, Prognoseentscheidungen auf Basis von förmlich festzustellenden Tatsachen zu treffen. Diese Tatsachen müssten es hinreichend wahrscheinlich erscheinen lassen, dass eine Verletzung des geschützten Rechtsguts eintreten werde. Nicht dagegen sei es zulässig, aus der strafrechtlichen Verurteilung auf das Bestehen einer Gefahr zu schließen, da es sich dann um eine gesetzlich indizierte Gefahr handeln würde, die (jedenfalls) nicht (mehr) normiert sei. Unbeschadet dessen sei aber auch eine günstige Prognose zu stellen. Dies folge bereits daraus, dass nach sachverständiger Beratung das Landgericht eine positive Sozialprognose gestellt und die Maßregel und die Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt habe. Dem Beschluss komme bereits entsprechende Indizwirkung zu und die Beklagte habe nicht darlegen können, weshalb diese Indizwirkung im Falle des Klägers zu entkräften wäre. Ebenso wenig sei dies seitens des Verwaltungsgerichts erfolgt, da es die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer gar nicht abgewartet habe und die Prognoseentscheidung des Landgerichts und das hieraus folgende, gegen eine Wiederholungsgefahr sprechende Indiz daher überhaupt nicht berücksichtigt habe. Es würde eine Verkürzung des grundrechtlich geschützten Rechtswegs und damit einen Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG darstellen, ohne Zulassung der Berufung im summarischen Verfahren eine Prognose aufgrund neuer Tatsachen zu stellen. Auch wenn angenommen werde, dass der Beschluss der Strafvollstreckungskammer keine unmittelbare Bindungswirkung habe, folge aus der Indizwirkung, dass nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur dann von dieser abgewichen werden könnte, wenn hierfür eine breitere Tatsachengrundlage geschaffen werden würde. In einem summarischen Verfahren könne aber keine Tatsachengrundlage geschaffen werden, vielmehr sei hierfür ein förmliches Verfahren einschließlich mündlicher Verhandlung erforderlich. Eine abschließende richterliche Prognoseentscheidung ohne persönliche Ansehung des Betroffenen sei grundsätzlich nicht möglich und wäre auch das Gegenteil einer breiteren Tatsachengrundlage, da die Strafvollstreckungskammer ihre Entscheidung auch auf die persönliche Anhörung des Betroffenen, hier des Klägers, gestützt habe. Die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer sei von besonderer Bedeutung, weil es wegen der Einheit der Rechtsordnung nicht verhältnismäßig sei, wenn ein Gericht eine günstige Prognose auf Grundlage eines gesetzlich geregelten Prüfungsprogramms treffe, ein anderes Gericht ohne vergleichbares Prüfungsprogramm jedoch eine andere. Dies folge aus Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 8 EMRK, im Falle des Klägers zusätzlich aus Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 und Abs. 2 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG (unter Verweis auf die grundrechtliche Bedeutung der Betreuungssituation der Mutter). Da bereits ein Gericht eine günstige Prognose gestellt und die Schutzinteressen der Allgemeinheit berücksichtigt und die Aussetzung der Restfreiheitsstrafe zur Bewährung beschlossen habe, wäre es nicht verhältnismäßig, wenn ein anderes Gericht trotz nicht bestehender anderer Tatsachengrundlagen eine andere Prognose treffe und ein Entfernen vom Gebiet der Bundesrepublik, was einen mindestens ebenso schweren Grundrechtseingriff wie eine Freiheitsentziehung darstelle, für verhältnismäßig erachtete. Es liege dann ein Übermaß sanktionierender Reaktion auf vergangenes Unrecht vor. Dies erlaube das Verhältnismäßigkeitsgebot gerade nicht. Dabei sei auch zugunsten des Klägers zu berücksichtigen, dass Bewährungsauflagen und Weisungen ein geeignetes, erforderliches und auch angemessenes Mittel der Wahrung der Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit darstellten. Ein darüber hinaus gehender Eingriff erweise sich weder als geboten noch angemessen. Er erweise sich auch nicht als in einer demokratischen Gesellschaft gerechtfertigt und dringend notwendig, da durch die Entscheidungen der Strafvollstreckungskammer und das Verhalten des Klägers die Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit gewahrt seien. Keine tragfähige Grundlage für ein Abweichen von der strafrechtlichen Kriminalprognoseentscheidung sei die Darstellung, dass diese auf einem sich vom Gefahrenabwehrrecht unterscheidenden Maßstab beruhe. Der Zeitraum der Kriminalprognose sei nicht auf die Dauer der Bewährung beschränkt, sondern grundsätzlich zeitlich nicht limitiert. Die Dauer der Bewährungszeit habe mit der Prognosedauer nichts zu tun. Auch betreffe die Prognose nach erfolgreichem Abschluss des Maßregelvollzugs nicht die Frage der Erfolgsaussichten bei deren Anordnung, so dass die Dauer hier ebenfalls nicht zeitlich beschränkt sei. Das Gesetz sehe vor, dass nach Verbüßung der gesetzlich vorgegebenen Mindestdauer der noch zu vollstreckende Teil der Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt werden kann, wenn dies unter Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit verantwortet werden kann (§ 57 StGB). Die Rechtslage zur Aussetzung gemäß § 57 Abs. 1 StGB habe sich 1998 geändert: Voraussetzung der Bewährungsaussetzung sei gemäß § 57 Abs. 1 Nr. 2 StGB nicht mehr, dass „verantwortet werden kann zu erproben, ob der Verurteilte außerhalb des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird“, sondern dass „[die Bewährungsaussetzung] unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann“. Zusätzlich sei das „Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts als Prognosekriterium“ eingefügt worden, § 57 Abs. 1 Satz 2 StGB. Die Gesetzesänderung sollte - neben weiteren Regelungen (z.B. Erforderlichkeit der Gutachtenseinholung gem. § 454 Abs. 2 StPO, Therapieauflagen im Rahmen von Bewährungsentscheidungen) - „den Gerichten und Strafvollzugsbehörden bessere und flexiblere Möglichkeiten […] eröffnen, um den Schutz der Bevölkerung insbesondere vor Sexualdelikten zu verbessern“. Die Gesetzesänderung habe darauf abgezielt, dass keine Aussetzungsentscheidung „ohne günstige Sozialprognose zu Lasten der öffentlichen Sicherheit möglich“ ist und es „von dem Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts und dem Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit abhängig ist, welches Maß an Erfolgswahrscheinlichkeit für eine Aussetzung des Strafrestes nach § 57 StGB zu verlangen ist“ (unter Verweis auf BT-Drs. 13/7163, S. 5, 7). Das Bundesverfassungsgericht habe eine Auslegung des § 57 Abs. 1 StGB dahingehend, dass „eine Entlassung (…) aufgrund des bei einem möglichen Rückfall bedrohten Rechtsguts nur in Betracht kommt, wenn eine künftige Straffreiheit aufgrund eindeutiger positiver Umstände erwartet werden kann“ und es hierfür einer „tragfähige[n] Grundlage für die Erwartung künftiger Straffreiheit“ bedürfe, ausdrücklich gebilligt (unter Verweis auf BVerfG, B.v. 11.01.2016 - 2 BvR 2961/12, 2 BvR 2484/13 - Rn. 34). Eine solche Auslegung sei mit dem Wortlaut des § 56 Abs. 1 StGB vergleichbar. Demnach erfolge die Aussetzung, „[…] wenn zu erwarten ist, dass der Verurteilte sich schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird“. Dass dabei die Prognose im Rahmen von § 57 StGB von § 56 StGB insoweit abweiche, als dort bereits die Verurteilung den Betroffenen von der Begehung von Straftaten abhalten solle, liege in der Natur der Sache. Es sei ein Teil der Strafe vollstreckt worden und daher zu prüfen, ob hierdurch auf den Betroffenen entsprechend eingewirkt worden sei. Der unterschiedliche Maßstab beruhe darauf, dass der Verurteilte die gegen ihn verhängte Strafe bereits teilweise als Freiheitsentzug erlitten habe und im Strafvollzug resozialisierend auf ihn eingewirkt worden sei. Der Gesetzgeber habe bei der Frage der Reststrafenaussetzung festgelegt, dass das Strafvollstreckungsgericht als wesentliche Gesichtspunkte („insbesondere“, § 57 Abs. 1 S. 2 StGB) zu berücksichtigen habe: Die Persönlichkeit des Verurteilten inklusive des Vorlebens; die Umstände der Tat und das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts; das Verhalten im Vollzug; Lebensverhältnisse und Wirkungen, die von einer Aussetzungsentscheidung zu erwarten sind. In der Praxis werde der Aufarbeitung der Tat zusätzlich besondere Bedeutung bei der Aussetzungsentscheidung zugeschrieben. Die Prognose des § 57 StGB sei daher kein „weniger“ gegenüber der Prognose nach § 56 StGB. Während die Prognose nach § 56 StGB die Erwartung künftiger Straffreiheit aufgrund der Verurteilung verlange, setze die Prognose nach § 57 StGB mit der Verantwortbarkeitsklausel eine Bewertung in Bezug auf das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit voraus. Eine günstige Prognose nach § 57 StGB müsse umso sicherer sein, je schwerer eine neue Straftat wäre und je stärker sie damit das allgemeine Sicherheitsinteresse berühren würde. Es gebe keinen Maßstab, wonach jede Chance ausreiche, um die Bewährungsaussetzung zu verantworten. Vielmehr müsse stets der Bezug zu den Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit im Auge behalten werden. Dies bedeute, dass je nach der Schwere der Straftaten, die vom Verurteilten nach Erlangung der Freiheit im Falle eines Bewährungsbruchs zu erwarten stünden, unterschiedliche Anforderungen an das Maß der Wahrscheinlichkeit für ein künftiges strafloses Leben der Verurteilten zu stellen seien. Hinzu trete, dass der Aufklärungsumfang der Strafvollstreckungskammer in der Regel wesentlich breiter sei als der des Strafrichters im Rahmen der Entscheidung nach § 56 StGB: Die Staatsanwaltschaft sei zwingend zu hören; häufig - so auch hier - liege darüber hinaus das Gutachten eines Sachverständigen vor. Die Strafvollstreckungskammer habe aufgrund ihres umfassenden Aufklärungsumfanges daher die Persönlichkeit des Antragstellers, dessen Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt umfassend geprüft und betrachtet einschließlich der Entlassungssituation, und beinhalte Erkenntnisse, über die weder der Richter im Rahmen einer Entscheidung nach § 56 StGB noch die Ausländerbehörde verfüge. Richtig sei, dass auch bei der Aussetzung gemäß § 56 StGB die Resozialisierung im Vordergrund stehe. Eine Unterschiedlichkeit der Zwecksetzung der Bewährung nach § 56 und nach § 57 StGB bestehe nicht, maßgeblich sei jeweils eine günstige Kriminalprognose. Resozialisierung sei ohnehin nichts Anderes als Spezialprävention und Gefahrenabwehr. Dass der Entscheidung nach § 57 StGB per se weniger Gewicht zukomme als einer Entscheidung nach § 56 StGB, sei weder aus dem Gesetzeswortlaut, der Gesetzesbegründung noch der Gesetzesanwendung herzuleiten. Die populäre Vorstellung, die Reststrafaussetzung sei die Belohnung für gute Führung in der Vollzugsanstalt, stimme mit dem Gesetz nicht überein. Da nunmehr der Beschluss der Strafvollstreckungskammer, das Prognosegutachten und die gutachterliche Stellungnahme des Bezirksklinikums vorlägen, lasse sich diese Methode endgültig nicht mehr aufrechterhalten. Das Verwaltungsgericht verweise nur auf die der Verurteilung zugrundeliegende Situation, die aber gerade nicht fortbestehe. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts müsste dargelegt werden, welche weiteren - nicht feststellbaren - Veränderungen bei Zugrundelegung des aufenthaltsrechtlichen Prognosemaßstabs erforderlich wären, um eine Wiederholungsgefahr zu verneinen (unter Verweis auf BVerfG, B.v. 6.12.2021 - 2 BvR 860/2 - Rn. 26). Das Verwaltungsgericht habe dies nicht getan, weshalb die Entscheidung rechtsfehlerhaft und die Berufung zuzulassen sei. Feststellungen zum Fortbestehen der Gefahr müssten dabei im Berufungsverfahren erhoben werden, was auch daraus folge, dass der Kläger sonst nicht gegen derartige Feststellungen beispielsweise durch Beweisanträge erwidern könne, da die fraglichen Tatsachen überhaupt nicht erörtert worden seien. Insoweit sei erneut darauf hinzuweisen, dass das Verwaltungsgericht neben der Behandlung auch weitere Prognosetatsachen von erheblichem Gewicht nicht berücksichtigt habe. Die Entlassungsstellungnahme gemäß § 67d, e Abs. 2 StGB der Anstalt des öffentlichen Rechts sei keine einseitige Stellungnahme und schon gar kein Bericht einer Beratungsstelle, sondern gesetzlich vorgeschrieben. Es handele sich dabei um eine gutachterliche Stellungnahme (Art. 35 Abs. 3 BayMRVG). Das Klinikum nehme hoheitliche Aufgaben wahr und sei zu schwerwiegenden Grundrechtseingriffen befugt (vgl. BayMRVG). Die Qualifikation der Beklagten als „einseitige Stellungnahme“ liege neben der Sache und werde auch inhaltlich gar nicht begründet. Die Wertung beinhalte schon fast eine Ehrverletzung gegenüber den Behandlern, denen unterstellt werde, sie würden ihren gesetzlichen Auftrag nicht erfüllen und einseitige Stellungnahmen abgeben. Das Klinikum habe dargelegt, dass aus ärztlicher Sicht erwartet werden könne, dass der Kläger außerhalb des Maßregelvollzugs keine erneuten Straftaten begehen werde. Dabei habe sich die gutachterliche Stellungnahme des Chefarztes Dr. W. und des Facharztes für Neurologie Dr. L. auf den rundum erfolgreichen Behandlungsverlauf gestützt, der von Anfang an von erkennbarer Therapiemotivation und Veränderungsbereitschaft und gleichbleibend hohem Engagement gekennzeichnet gewesen sei. Auch werde der soziale Empfangsraum als positiv beschrieben. Alle Erprobungen seien erfolgreich verlaufen. Der Kläger habe sich demnach ein adäquates Entlasssetting erarbeitet und auch die psychophysischen Belastungen wurden erfolgreich erprobt. Die Prognoseentscheidung des Verwaltungsgerichts werde daher nicht nur ernsthaft in Zweifel gezogen, sondern habe sich als unrichtig erwiesen. Auch der Sachverständige Dr. R. betone, dass der Kläger sich mit seinen Delikten auseinandergesetzt und die Therapiemöglichkeiten genutzt habe. Der Kläger sei „inzwischen“ fähig zur Distanzierung von negativen Einflüssen und fähig zur Empathie. Entgegen der Meinung der Beklagten habe sich bei dem Kläger daher eine wesentliche Verhaltensänderung eingestellt. Die - nicht auf sachverständiger Beratung resultierende - Annahme, im Alter des Klägers könne man sich nicht mehr ändern, sei dadurch widerlegt. Ebenso trügen die Feststellungen des Sachverständigen die Prognose des Verwaltungsgerichts nicht. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts sei die zu Tage getretene Gefährlichkeit „bedeutsam reduziert“. Die Prognose sei günstig. Von einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit der Begehung neuer Straftaten könne daher nicht mehr ausgegangen werden.
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Soweit die Beklagte meine, das Urteil weise hinsichtlich der unzutreffenden Behauptung, der Kläger habe täglich Heroin konsumiert, eine „begriffliche Verwechslung“ auf, sei festzustellen, dass eine Urteilsberichtigung nicht erfolgt sei. Da die Beklagte meine, dass Kokain eine sogenannte „harte“ Droge sei, komme es darauf nicht an. Das Verwaltungsgericht habe eine Prognoseentscheidung vorgenommen aufgrund der falschen Annahme, bei dem Kläger läge eine Heroinabhängigkeit vor. Dies habe nichts mit der Strafzumessung im Strafverfahren zu tun. Vielmehr habe die Kammer - gerade auch die ehrenamtlichen Richter - des Verwaltungsgerichts ein Vorstellungsbild von dem Suchtpotential des vermeintlich von dem Kläger konsumierten Betäubungsmittels gehabt. Dabei habe es auch nicht auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs Bezug genommen, so dass der Versuch der Beklagten, die unstreitig falschen Feststellungen dahingehend umzuinterpretieren, dass das Gericht auch bei richtiger Feststellung dieselbe Prognoseentscheidung getroffen hätte, allenfalls aufzeige, dass die Beklagte wohl selbst von einer rein schematischen Entscheidung und nicht von Individualprognose ausgehe. Es verstehe sich von selbst, dass eine Individualprognose nur dann zutreffend gebildet sein könne, wenn auch die richtigen Tatsachen bei der Vorstellungsbildung des Verwaltungsgerichts zugrunde gelegt worden seien. Dass das Verwaltungsgericht nicht berücksichtigt habe, dass der Sachverständige im Ausgangsverfahren nur eine Abhängigkeit an der Grenze zur Abhängigkeit bejaht habe, lasse die Prognosegrundlage des Verwaltungsgerichts entgegen der Auffassung der Beklagten ebenfalls als unzureichend erscheinen. Es komme entgegen der Auffassung der Beklagten nicht darauf an, dass das Landgericht dennoch einen Hang bejaht habe, sondern entscheidend sei, dass die Erfolgswahrscheinlichkeit der Behandlung dann höher sei, wenn die Abhängigkeitserkrankung weniger stark manifestiert und noch dazu in vergleichsweisem hohem Alter eingetreten sei. Die Beklagte zeige durch ihre Ausführungen allenfalls erneut auf, dass hier medizinische Fragestellungen erörtert würden, ohne diese ausreichend sachverständig beraten aufgeklärt zu haben. Mithin sei keine ausreichende Prognosegrundlage geschaffen worden, um eine negative Prognose zu stellen. Die Tatsache, dass der Kläger sich erstmals in Haft befunden habe, sei eine äußerst gewichtige Prognosetatsache, die gegen eine Wiederholungsgefahr spreche. Keinerlei wissenschaftliche Grundlage habe die Behauptung der Beklagten, dass dies bei dem Kläger nicht gelten könne, da er 1965 geboren worden und der Reifeprozess bereits abgeschlossen worden sei. Die Beklagte stelle sich hier gegen gesetzgeberische Wertungen; der Gesetzgeber gehe beim Erwachsenen sehr wohl von einem Erstverbüßerprivileg aus. Aus dem Behandlungsauftrag folge, dass Inhaftierte behandelt werden könnten und würden. Die Annahme der Beklagten sei somit falsch und die Meinung, Strafvollzug sei nicht geeignet, um der Gefahr der Begehung von Straftaten entgegenzuwirken, sei schlicht unvertretbar, da sich diese Meinung gegen die gesetzgeberischen Entscheidungen stelle, die die Beklagte aufgrund ihrer Bindung an Recht und Gesetz beachten müsse (Art. 3 BayStVollzG). Erneut zeige die Beklagte hier auf, dass sie generalisierende und schematische Annahmen, die nicht einmal im Ansatz fachlich würden, zum Maßstab mache, wo das Recht eine Individualprognose verlange.
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Der Kläger wiederholt Ausführungen zur Generalprävention. Hinsichtlich der Abwägung wird erneut darauf verwiesen, dass der Kläger seine Mutter betreue und pflege, eine eigene Wohnung und eine enge Bindung zu seinen Kindern habe sowie sozialversicherungspflichtig beschäftigt sei. Eine Beistandsgemeinschaft zwischen der Mutter und dem Kläger bestehe ohne jeden Zweifel. Daran ändere nichts, dass der Kläger in Haft bzw. im Maßregelvollzug gewesen sei. Zum einen sei er seit langem nicht mehr stationär untergebracht. Zum anderen habe sich der Gesundheitszustand der Mutter verschlechtert und die Pflegebedürftigkeit zugenommen. Der Kläger habe bereits seit 4. August 2021 Lockerungen in Richtung von Tagesausflügen erlangt und sich hierbei um seine Mutter gekümmert, habe sich seit 29. November 2021 in der Beurlaubungsphase und seit 29. Januar 2022 in der Probewohnphase befunden. Die Pflegebedürftigkeit der Mutter stehe aufgrund der Feststellungen des medizinischen Dienstes der Pflegekasse fest und der Kläger sei als Pfleger seiner Mutter tätig. Die gelebte Beistandsgemeinschaft sei daher grundgesetzlich durch Art. 6 Abs. 1 GG besonders geschützt und könne nicht durch vorhergehende Haft in Frage gestellt werden. Die Mutter habe keine anderen Abkömmlinge und sei Witwe. Aufgrund ihres Alters werde sich ihr Gesundheitszustand auch nicht mehr verbessern, sondern der Pflegebedarf zunehmen. Es stelle ein falsches Verständnis von Art. 6 Abs. 1 GG und von Art. 1 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 2 GG dar, wenn die Auffassung vertreten werde, die Mutter des Klägers habe keinen Anspruch auf die „optimale“ Versorgung. Das Gegenteil sei richtig. Die Mutter habe einen Anspruch darauf, dass ihr die Pflege und der Beistand ihres Sohnes zuteilwerde, da dieser hierzu bereit und fähig sei. Denn ein Pflege- und Beistandsersatz durch Dritte sei nicht in der Lage, die Unterstützung des Sohnes vollständig zu ersetzen, was aus der seit Geburt bestehenden emotionalen Bindung zwischen einer Mutter und einem Sohn folge. Es sei dabei die staatliche Pflicht, die (emotionale) Gesundheit auch der Mutter des Klägers zu schützen, was aus Art. 2 Abs. 2 und Art. 1 Abs. 1GG folge. Hierin greife die Beklagte mit ihrer Maßnahme unmittelbar ein. Der Schutz der Beistandsgemeinschaft werde nicht dadurch reduziert, dass Pflegeleistungen auch durch Dritte vorgenommen werden könnten, da der Staat Ehe und Familie zu schützen habe (Art. 6 Abs. 1 GG) und deshalb eine gelebte Beistandsgemeinschaft dem Schutz des Staates unterlägen. Der Gesetzgeber habe durch den institutionellen Schutz der Familie Werteentscheidungen getroffen, die nicht disponibel seien. Die Eingriffsintensität werde nicht etwa dadurch abgeschwächt, dass der Kläger während des Freiheitsentzugs sich nicht in dem jetzigen Umfang habe um seine betagte Mutter sorgen können. Vielmehr verdichte sich dadurch der Eingriff, da der staatliche Strafanspruch bereits verbüßt worden sei und nun trotz des Erleidens der schuldgerechten Strafe durch den Kläger er und - rein tatsächlich auch - seine Mutter noch zusätzlich sanktioniert werden sollten, obwohl der Kläger äußerst erfolgreich an der Behandlung im Maßregelvollzug teilgenommen habe. Dies stelle einen Verstoß gegen das Übermaßverbot dar. Hinsichtlich des Grades der Pflegestufe der Mutter des Klägers sei ein Widerspruchsverfahren anhängig, über den noch nicht entschieden sei. Die Annahme, dass die Mutter des Klägers lese und das Internet nutze, beruhe offenkundig auf ein Missverständnis im Verfahren zur Prüfung des Pflegegrades, da dies gerade nicht der Fall sei. Telefonieren sei aufgrund Schwerhörigkeit nur eingeschränkt möglich, eine ausreichende Aufrechterhaltung der Bindung zu dem Kläger gerade nicht möglich. Die Mutter des Klägers sei multipel erkrankt und dauerhaft auf Betreuung und Hilfe angewiesen. Ausweislich des sozialmedizinischen Gutachtens könne die Mutter des Klägers sich nicht selbständig außerhalb der Wohnung, in öffentlichen Verkehrsmitteln und auch nicht selbständig in einem privaten Kraftfahrzeug mitfahren. Sie sei also nicht in der Lage, den Kläger selbständig in Serbien zu besuchen. Soweit die Beklagte meine, sie könne ja mit den Söhnen des Klägers nach Serbien fahren, um den Kläger zu besuchen, werde zum einen verkannt, dass das schon im Widerspruch dazu stehe, dass die Mutter des Klägers nachts nur unter Schmerzen die Toilette aufsuchen könne, woraus folge, dass eine elfstündige Fahrzeit in einem Kfz (von der Beklagten offenbar entgegen der Lebenswahrscheinlichkeit ohne jede Pause und Verkehrsbehinderungen gerechnet) mit nicht zumutbaren Schmerzen verbunden wäre, wenn bereits das Aufstehen aus der Nachtruhe zu erheblichen Schmerzen führe. Auch sei es ihr nicht zumutbar, unter diesen Umständen öffentliche Toiletten auf Raststätten aufzusuchen. Im Übrigen seien die Söhne des Klägers berufstätig, und selbst dann, wenn Fahrten nach Serbien möglich wären, wären diese keineswegs so häufig möglich, dass der Kontakt zwischen einer hochbetagten Mutter und dem Kläger in einer Art und Weise aufrecht erhalten werden könnte, wie dies zum Schutz der Familie und Menschenrechte erforderlich sei. Woher die Beklagte die Erkenntnis nehme, dass der Kläger in Belgrad wohnen könne, sei zudem ebenfalls nicht substantiiert dargelegt.
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Es sei unzweifelhaft, dass der Kläger quasi einem deutschen Staatsangehörigen gleichzusetzen sei. Dass er über einen vergleichsweise kurzen Zeitraum Betäubungsmittel konsumiert habe und einmal strafrechtlich verurteilt worden sei, stehe der Integration nicht entgegen. Der erfolgreiche Abschluss der Therapie habe im Rahmen der Verhältnismäßigkeit aus zweierlei Gründen besonderes Gewicht. Zum einen habe der Kläger die in ihn gesetzte Erwartung nach einem Behandlungserfolg aufgrund seiner guten Mitarbeit und seinem inneren Einstellungswandel und der klaren Abstinenz erfüllt, weshalb eine zusätzliche Sanktionierung ganz besonderer Rechtfertigung bedürfte. Zum anderen sei die Wiederholungsgefahr nicht nur tatbestandsrelevant, sondern im Rahmen der Abwägungs- und Verhältnismäßigkeitsprüfung im Hinblick auf die verfassungs- und konventionsrechtlichen Garantien besonders hohen Anforderungen unterlegen. Diese seien nicht erfüllt aufgrund des Verlaufs und Erfolgs der Behandlung. Dabei stellten die Weisungen und Auflagen im Rahmen der Bewährungs- und Führungsaufsicht nicht etwa Umstände dar, die zuungunsten des Klägers zu würdigen wären, sondern verdichteten die Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit des äußerst schweren Grundrechtseingriffs. Da der Kläger weiterhin kontrolliert werde und Abstinenzweisungen unterstehe, bestehe keine verfassungsrechtlich relevante Wiederholungsgefahr. Das Bundesverfassungsgericht habe herausgearbeitet, dass es der Behörde und dem Verwaltungsgericht obläge, darzustellen, welche Tatsachen dafürsprächen, dass trotz der abgeschlossenen Behandlung eine ernsthafte Wiederholungsgefahr bestehe, um diese ggf. auch entkräften zu können (unter Verweis auf B.v. 6.12.2021 - 2 BvR 860/21).
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Soweit die Beklagte meine, dass die Unterbringung im Maßregelvollzug kein Umstand sei, der im Rahmen der Berechnung einer Sperrfrist zu berücksichtigen sei, ersetze diese Auffassung keine Begründung. Im Falle des Klägers sei der Maßregelvollzug nicht nur angeordnet, sondern erfolgreich beendet und eine positive Legalprognose seitens der Strafvollstreckungskammer gestellt worden. Entgegen der Auffassung der Beklagten sei der Gesetzgeber der Auffassung, dass derartige Behandlungen heilten und geeignet seien, künftig keine Straftaten zu begehen. Sie sei also im Rahmen einer Prognoseentscheidung zu berücksichtigen. Weshalb die Rücknahme einer Klage gegen die Ausweisung (bzgl. der Ehefrau des Klägers) dagegen Auswirkungen auf die Dauer einer Gefahr haben solle, sei nicht aus sich selbst heraus verständlich. Gründe führe die Beklagte auch nicht an. Die Beklagte habe im Schriftsatz vom 20. September 2022 selbst bestätigt, dass die Belange der Mutter des Klägers und der Betreuungsbedarf im Bescheid nicht berücksichtigt worden seien. Hieraus folge, dass die Ermessensausübung nicht vollständig gewesen sei. Im Hinblick auf die Pflegebedürftigkeit der Mutter, die nachgewiesene Immobilität, die Verwitwung und die Tatsache, dass der Kläger der einzige Abkömmling der Mutter sei, sei in Anbetracht ihres Alters von 76 Jahren eine Fernhaltung des Klägers über einen Zeitraum von acht Jahren unter keinen Umständen verhältnismäßig.
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Nachdem der Kläger mit Schreiben von 4. und 11. November 2022 eine weitere Schriftsatzfrist bis 30. November 2022 beantragt hat, wurden ihm die - vom Klägerbevollmächtigten selbst in das Verfahren eingeführten - seitens des Senats vom Landgericht N.-F. beigezogenen Unterlagen (i.E. Entlassstellungnahme vom 23.06.2022, Prognosegutachten vom 04.08.2022, Beschluss vom 29.08.2022) mit gerichtlichem Schreiben vom 16. November 2022 übermittelt und Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 24. November 2022 gegeben. Eine darüber hinausgehende Frist zu weiteren Stellungnahmen war im Hinblick darauf, dass die übermittelten Unterlagen dem Klägerbevollmächtigten ausweislich bereits erfolgter Stellungnahmen ersichtlich bekannt waren, nicht angezeigt. Mit Schriftsatz vom 24. November 2022 macht der Kläger ergänzende und wiederholende Ausführungen unter Beifügung eines ärztlichen Attestes für die Mutter des Klägers vom 14. November 2022.
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Diese Rügen zeigen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils auf.
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1.1. Mit seinem Zulassungsvorbringen hat der Kläger die Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts nicht ernstlich im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO in Zweifel gezogen.
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Auch unter Berücksichtigung des Zulassungsvorbringens und der aktuellen Entwicklung ist nach dem persönlichen Verhalten des Klägers weiter von einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung nach § 53 Abs. 1 AufenthG auszugehen. Der Kläger hat sich durch den Handel mit Marihuana in einer beträchtlichen Größenordnung schwerwiegender Betäubungsmitteldelikte strafbar gemacht. Entgegen dem Zulassungsvorbringen handelt es sich dabei auch nicht um die einzige strafrechtliche Ahndung des Klägers. Ausweislich des Urteils des Landgerichts N.-F. vom 12. Dezember 2019 ist er strafrechtlich bereits in Erscheinung getreten; er wurde mit Strafbefehl vom 11. Dezember 2014 wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr in Tatmehrheit mit unerlaubtem Entfernen vom Unfallort in Tateinheit mit vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr zu einer Geldstrafe von 70 Tagessätzen zu je 40,00 EUR unter Entziehung der Fahrerlaubnis und Verhängung einer Sperre für deren Wiedererteilung bis 10. Juni 2015 verurteilt. Die Feststellung des Verwaltungsgerichts, dass von dem Kläger auch weiterhin eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht und aus der Entwicklung des Klägers nach der Anlassverurteilung nicht darauf zu schließen ist, dass die durch die vergangenen Straftaten indizierte Gefährlichkeit des Klägers beseitigt ist, ist nicht zu beanstanden. Dies gilt vorliegend auch in Anbetracht der zwischenzeitlich erfolgten Strafaussetzungsentscheidung vom 29. August 2022.
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Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (BVerwG, U.v. 15.1.2013 - 1 C 10.12 - juris Rn. 18). Bei der eigenständig zu treffenden Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (stRspr, vgl. z.B. BayVGH, B.v. 3.3.2016 - 10 ZB 14.844 - juris Rn. 11 m.w.N.). An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind dabei umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (BayVGH, B.v. 3.3.2016 a.a.O.; BVerwG, U.v. 4.10.2012 - 1 C 13.11 - juris Rn. 18).
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Entscheidungen der Strafgerichte über die Aussetzung von Straf- und Maßregelvollzug nach § 57 StGB sind bei der anzustellenden Prognose von tatsächlichem Gewicht und stellen ein wesentliches Indiz dar. Von ihnen geht aber keine Bindungswirkung aus (BVerfG, B.v. 6.12.2021 - 2 BvR 860/21 - juris Rn. 19; B.v. 19.10.2016 - 2 BvR 1943/16 - juris Rn. 21; BVerwG, Urt. v. 15.01.2013 - 1 C 10/12, juris Rn. 18; Urt. v. 02.09.2009 - 1 C 2/09, juris Rn. 18; Urt. v. 16.11.2000 - 9 C 6/00, juris Rn. 17). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann bereits eine einmalige Betäubungsmittelstraftat einen solchen Anhaltspunkt für neue Verfehlungen des Betroffenen begründen und schließt auch eine positive Entscheidung über die Straf(rest) aussetzung zur Bewährung nicht von vornherein aus, dass im Einzelfall schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorliegen, die eine spezialpräventive Ausweisung rechtfertigen können; das Bundesverfassungsgericht anerkennt insoweit den unterschiedlichen Gesetzeszweck des Ausländerrechts und fordert für den Fall einer aufenthaltsrechtlich abweichenden Einschätzung der Wiederholungsgefahr eine substantiierte, eigenständige Begründung (vgl. BVerfG, B.v. 6.12.2021 - 2 BvR 860/21 - juris Rn. 19). Wiegt das Bleibeinteresse des Ausländers besonders schwer, so wird sich nach einer Strafaussetzungsentscheidung der Strafvollstreckungskammer eine relevante Wiederholungsgefahr nur dann bejahen lassen, wenn die ausländerrechtliche Entscheidung auf einer breiteren Tatsachengrundlage als derjenigen der Strafvollstreckungskammer getroffen wird oder wenn die vom Ausländer in der Vergangenheit begangenen Straftaten fortbestehende konkrete Gefahren für höchste Rechtsgüter erkennen lassen (BVerfG, B.v. 19.10.2016 - 2 BvR 1943/16 - juris Rn. 24). Das Bundesverfassungsgericht erkennt mithin bei besonders schwerwiegenden Bleibeinteressen zwei alternative Konstellationen an, in denen trotz einer Strafrestaussetzung zur Bewährung eine spezialpräventive Ausweisung rechtmäßig sein kann: Eine breitere Tatsachengrundlage der Ausländerbehörde bzw. des Verwaltungsgerichts oder in der Vergangenheit begangene Straftaten des Ausländers, die fortbestehende konkrete Gefahren für höchste Rechtsgüter erkennen lassen (vgl. ebenso OVG Bremen, B.v. 28.9.2021 - 2 LA 206/21 - juris Rn. 27).
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Eine strafvollstreckungsrechtliche Aussetzung von Straf- und Maßregelvollzug und eine gefahrenabwehrrechtliche Ausweisung verfolgen unterschiedliche Zwecke und unterliegen deshalb unterschiedlichen Regeln (vgl. BayVGH, B.v. 31.3.2021 - 10 ZB 20.2091 - juris Rn. 14; B.v. 18.5.2021 - 19 ZB 20.65 - juris Rn. 25; B.v. 2.5.2017 - 19 CS 16.2466 - juris Rn. 8 ff.): Bei Aussetzungsentscheidungen nach § 57 StGB geht es um die Frage, ob die Wiedereingliederung eines in Haft befindlichen Straftäters weiter im Vollzug stattfinden muss oder durch vorzeitige Entlassung für die Dauer der Bewährungszeit gegebenenfalls unter Auflagen „offen“ inmitten der Gesellschaft verantwortet werden kann. Bei dieser Entscheidung stehen naturgemäß vor allem Resozialisierungsgesichtspunkte im Vordergrund. Es ist zu ermitteln, ob der Täter das Potential hat, sich während der Bewährungszeit straffrei zu führen. Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt hat nicht das Ziel, Gefahren für die öffentliche Sicherheit längerfristig zu unterbinden. Für eine Anordnung dieser Maßregel genügt die hinreichend konkrete Aussicht (ein vertretbares Risiko ist einzugehen, vgl. Fischer, StGB, 64. Aufl. 2017, § 67d Rn. 11), dass durch sie der Verurteilte über eine erhebliche Zeit vor dem Rückfall in den Hang bewahrt wird (§ 64 Satz 2 StGB), wobei „eine erhebliche Zeit“ in der Regel bereits ab einem Jahr angenommen werden kann (Schöch in Leipziger Kommentar StGB, 12. Aufl. 2008, § 64 Rn. 136 und in Festschrift für Klaus Volk, 2009, S. 705). Eine langfristige Bewahrung vor dem Rückfall kann bereits deshalb nicht als Ziel der Unterbringung festgelegt werden, weil dann entsprechend lange Unterbringungszeiten erforderlich wären. Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt als freiheitsentziehende Maßnahme darf jedoch nach § 67 Abs. 1 Satz 1 StGB grundsätzlich (vorbehaltlich des Satzes 3 der Bestimmung) zwei Jahre nicht übersteigen, muss in jedem Fall verhältnismäßig sein (§ 62 StGB) und insoweit umso strengeren Voraussetzungen genügen, je länger die Unterbringung dauert (BVerfG, B.v. 19.11.2012 - 2 BvR 193/12 - StV 2014, 148 ff.). Die Beendigung der Unterbringung nach § 67d Abs. 5 Satz 1 StGB, „wenn die Voraussetzungen des § 64 Satz 2 nicht mehr vorliegen“, ist somit bereits dann vorzunehmen, wenn für eine - im Vergleich zum ausländerrechtlichen Prognosehorizont - relativ kurze Zeitspanne die konkrete Aussicht (unter Eingehung eines vertretbaren Risikos) auf das Unterbleiben rechtswidriger Taten besteht. Nichts Anderes gilt für die Beendigung der Unterbringung nach § 67d Abs. 2 Satz 1 StGB, „wenn zu erwarten ist, dass der Untergebrachte außerhalb des Maßregelvollzugs keine rechtswidrigen Taten mehr begehen wird“, denn auch bei dieser strafvollstreckungsrechtlichen Entscheidung sowie bei der Erstellung eines Prognosegutachtens hierfür sind die begrenzte Zielsetzung der Unterbringung und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten (vgl. BayVGH, B.v. 18.5.2021 - 19 ZB 20.65 - juris Rn. 25; B.v. 2.5.2017 - 19 CS 16.2466 - juris Rn. 8 ff.).
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Demgegenüber geht es bei der Ausweisung um die Frage, ob das Risiko eines Misslingens der Resozialisierung von der deutschen Gesellschaft oder von der Gesellschaft im Heimatstaat des Ausländers getragen werden muss. Die der Ausweisung zu Grunde liegende Prognoseentscheidung bezieht sich folglich nicht nur auf die Dauer der Bewährungszeit, sondern hat einen längeren Zeithorizont in den Blick zu nehmen. Denn es geht hier um die Beurteilung, ob es dem Ausländer gelingen wird, über die Bewährungszeit hinaus ein straffreies Leben zu führen. Bei dieser längerfristigen Prognose kommt dem Verhalten des Ausländers während der Haft und nach einer vorzeitigen Haftentlassung zwar erhebliches tatsächliches Gewicht zu. Dies hat aber nicht zur Folge, dass mit einer strafrechtlichen Aussetzungsentscheidung ausländerrechtlich eine Wiederholungsgefahr zwangsläufig oder zumindest regelmäßig entfällt. Maßgeblich ist vielmehr, ob der Täter im entscheidungserheblichen Zeitpunkt auf tatsächlich vorhandene Integrationsfaktoren verweisen kann; das Potential, sich während der Bewährungszeit straffrei zu führen, ist nur ein solcher Faktor, genügt aber für sich genommen nicht (vgl. BayVGH, B.v. 31.3.2021 - 10 ZB 20.2091 - juris Rn. 14; B.v. 3.4.2020 - 10 ZB 20.249 - juris Rn. 8 m.w.N.). Insgesamt ist nach der dargestellten Rechtslage das erforderliche Maß an Erfolgswahrscheinlichkeit für eine Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung und für eine entsprechende vorläufige Beendigung der Maßregel wesentlich kleiner als dasjenige für eine positive ausländerrechtliche Gefahrenprognose, weil aus der Sicht des Strafrechts auch die kleinste Resozialisierungschance genutzt werden muss. Das Strafrecht unterscheidet nicht zwischen Deutschen und Ausländern und berücksichtigt daher regelmäßig nicht die Möglichkeit, die Sicherheit der Allgemeinheit durch eine Aufenthaltsbeendigung zu gewährleisten (vgl. BayVGH, B.v. 18.5.2021 - 19 ZB 20.65 - juris Rn. 25).
33
Gemessen hieran kann durch Vornahme einer notwendigen Gesamtbetrachtung aller relevanten Umstände auch unter Berücksichtigung der positiven Entwicklungen nicht der Schluss gezogen werden, dass durch die Bewährungsaussetzung der jeweiligen Vollstreckungen die vom Kläger ausgehende Gefahr soweit entfallen ist, dass dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung bzw. sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr gefährdet.
34
Die in der Vergangenheit begangenen, schwerwiegenden Straftaten des Klägers aus dem Bereich der Betäubungsmitteldelinquenz lassen unter Berücksichtigung dessen, dass sich der Kläger in einer frühen Bewährungsphase befindet, fortbestehende konkrete Gefahren für höchste Rechtsgüter erkennen:
35
Betäubungsmitteldelikte gehören zu den schweren, Grundinteressen der Gesellschaft berührenden und schwer zu bekämpfenden Straftaten (vgl. Art. 83 Abs. 1 Unterabschnitt 2 AEUV). Die Folgen, insbesondere für junge Menschen, können äußerst gravierend sein. In ständiger Rechtsprechung ist anerkannt, dass die Gefahren, die vom illegalen Handel mit Betäubungsmitteln ausgehen, schwerwiegend sind und ein Grundinteresse der Gesellschaft berühren (vgl. BVerwG, U.v. 14.5.2013 - 1 C 13.12 - juris Rn. 12 mit Nachweisen zur Rechtsprechung des EuGH und des EGMR; vgl. BayVGH, B.v. 7.3.2019 - 10 ZB 18.2272 - juris Rn. 7). Der Gerichtshof der Europäischen Union sieht in der Rauschgiftsucht ein „großes Übel für den Einzelnen und eine soziale und wirtschaftliche Gefahr für die Menschheit“ (vgl. EuGH, U.v. 23.11.2010 - Rs. C-149/09, „Tsakouridis“ NVwZ 2011, 221 Rn. 47). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat mehrfach klargestellt, dass er bei der Verurteilung eines Ausländers wegen eines Betäubungsmitteldelikts - wie hier vorliegend - in Anbetracht der verheerenden Auswirkungen von Drogen auf die Bevölkerung Verständnis dafür hat, dass die Vertragsstaaten in Bezug auf diejenigen, die zur Verbreitung dieser Plage beitragen, entschlossen durchgreifen (U.v. 30.11.1999 - Nr. 3437-97 „Baghli“ NVwZ 2000, 1401, U.v. 17.4.2013 - Nr. 52853/99‚ “Yilmaz“ - NJW 2004, 2147; vgl. OVG NRW, B.v. 17.3.2005 - 18 B 445.05 - juris). Die von unerlaubten Betäubungsmitteln ausgehenden Gefahren betreffen die Schutzgüter des Lebens und der Gesundheit, welche in der Hierarchie der in den Grundrechten enthaltenen Werteordnung einen hohen Rang einnehmen. Rauschgiftkonsum bedroht diese Schutzgüter der Abnehmer in hohem Maße und trägt dazu bei, dass deren soziale Beziehungen zerbrechen und ihre Einbindung in wirtschaftliche Strukturen zerstört wird. Die mit dem Drogenkonsum häufig einhergehende Beschaffungskriminalität schädigt zudem die Allgemeinheit, welche ferner auch für die medizinischen Folgekosten aufkommen muss (BayVGH, B.v. 11.10.2022 - 19 ZB 20.2139 - juris Rn. 32; B.v. 14.3.2013 - 19 ZB 12.1877 und B.v. 10.10.2017 - 19 ZB 16.2636 - juris Rn. 8). Bei der Bewertung der Gefährlichkeit eines im Zusammenhang mit dem Handel mit Marihuana strafrechtlich verurteilten Ausländers sind überdies die neueren wissenschaftlichen Erkenntnisse zu den insbesondere Jugendlichen durch den Konsum drohenden gesundheitlichen Schäden in den Blick zu nehmen (vgl. BayVGH, B.v. 29.3.2022 - 19 ZB 22.129 - juris).
36
Nach diesen Maßgaben hat sich der Kläger mit dem zwischen Mai und September 2018 verübten Drogenhandel schwerwiegend strafbar gemacht, er wurde mit Urteil vom 12. Dezember 2019 (im Rechtsfolgenausspruch bestätigt durch BGH, B.v. 30.6.2020) wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in vier Fällen (aufgrund Beschlusses des BGHs auf drei Fälle abgeändert) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und drei Monaten verurteilt. Das hohe Maß der Freiheitsstrafe spiegelt die Schwere der Schuld wider. Dem lag zugrunde, dass der Kläger zusammen mit seiner Ehefrau beträchtliche Mengen an Marihuana (10 kg, 5,5 kg, 15 kg, 26 kg) beschafft und gewinnbringend weiterverkauft hatte, wobei dem Kläger die Logistik und der Ehefrau die Zahlungsabwicklung oblag. Im Rahmen der Strafzumessung wurde zugunsten des Klägers insbesondere sein Geständnis und die Betäubungsmittelabhängigkeit, Marihuana als weiche Droge, die fehlenden einschlägigen Vorstrafen, die lange Untersuchungshaft von 14 Monaten und den damit einhergehenden erstmaligen Hafteindruck, den vergleichsweise geringen Gewinn aus dem Handel und eine besondere Strafempfindlichkeit des Klägers als Vater eines (damals noch) minderjährigen Kindes, dessen Mutter ebenfalls inhaftiert ist, berücksichtigt. Zulasten des Klägers wurde berücksichtigt, dass die gehandelten Mengen Marihuana sehr groß waren und die nicht geringe Menge jeweils um ein Vielfaches überschritten wurde (im Einzelnen: um das 200-, das 110-, das 300- und das 520-fache). Wenngleich nach den Feststellungen des Strafgerichts eine bandenmäßige Begehungsweise nicht nachweisbar war, lassen die abgeurteilten Taten insbesondere in Anbetracht der gehandelten Mengen an Drogen und der damit einhergehenden wirtschaftlichen Größenordnung eine besondere kriminelle Energie erkennen, die über herkömmliche Beschaffungskriminalität weit hinausgeht.
37
Ursache für die Begehung der genannten Straftaten bildete nach den Feststellungen der Strafkammer und den zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts auch die Betäubungsmittelabhängigkeit des Klägers, für den nach den gutachterlichen Feststellungen des Sachverständigen im Strafverfahren beim Kläger tatzeitbezogen ein Cannabis- und Kokainkonsum an der Grenze zur Abhängigkeit vorgelegen habe. Entgegen dem Zulassungsvorbringen ergeben sich ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils nicht daraus, dass im Tatbestand des Urteils fälschlicherweise ein Konsum von Heroin statt Kokain benannt war, da es sich hierbei um ein offensichtliches Schreibversehen handelte und im Rahmen der maßgeblichen Erwägungen innerhalb der Entscheidungsgründe zutreffend der tatsächlich bestehende Cannabis- und Kokainkonsum gewürdigt wurde. Im Strafurteil vom 12. Dezember 2019 wurde aufgrund des dauerhaften Konsums erheblicher Mengen von Kokain und Cannabis, der auch jeweils bereits zu erheblichen, negativen Auswirkungen auf die Lebensgestaltung geführt habe, von einem Hang zum Konsum im Übermaß ausgegangen. Ausweislich der Stellungnahme des Bezirksklinikums vom 23. Juni 2022 sei aufgrund der langjährig ausgeprägten Suchterkrankung eine Abhängigkeitsproblematik mit beginnenden persönlichkeits- und verhaltensprägenden Zügen festgestellt worden.
38
Bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhen oder dadurch gefördert wurden, kann nach ständiger Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes von einem Wegfall der Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine einschlägige Therapie erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat, insbesondere indem er sich außerhalb des Straf- oder Maßregelvollzugs bewährt hat (vgl. BayVGH, B.v. 27.7.2021 - 10 ZB 21.935 - juris Rn. 9; B.v. 23.9.2021 - 19 ZB 20.323 - juris; B.v. 18.5.2021 - 19 ZB 20.65 - juris).
39
Gemessen hieran ist vorliegend zwar zu würdigen, dass der Kläger ausweislich der Stellungnahme des Klinikums vom 23. Juni 2022 und des Prognosegutachtens vom 4. August 2022 Einsicht in seine Suchtmittelproblematik gezeigt habe, über eine gute soziale Kompetenz verfüge, sich mit seinen Delikten auseinandergesetzt habe und die gebotenen Therapiemöglichkeiten genutzt habe. Nach erfolgreicher Erprobung in den Serienbeurlaubungen könne aus ärztlicher Sicht erwartet werden, dass der Kläger unter zu erteilenden Weisungen (Abstinenzweisungen, regelmäßige Kontrollen und therapeutische Gespräche in der forensischen Ambulanz des Klinikums) außerhalb des Maßregelvollzugs keine Straftaten mehr begehen werde.
40
Trotz der nachfolgenden Strafaussetzungsentscheidung vom 29. August 2022 ergibt sich vorliegend das Fortbestehen eines weiteren, engmaschigen Therapiebedarfs, so dass allein der formale Abschluss der Therapie im Maßregelvollzug noch nicht die Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens, insbesondere in Anbetracht der gewichtigen Betäubungsmitteldelinquenz und der erst kurzzeitigen Bewährungsphase rechtfertigt.
41
Das Bundesverfassungsgericht hat im Falle eines wegen Handeltreibens mit Marihuana zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und 3 Monaten verurteilten Ausländers ausgeführt, dass es im Rahmen der verfassungsrechtlich gebotenen Abwägung nicht ausreichend ist, wenn die Gerichte von der Begehung von Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz in jedem Fall ohne Weiteres auf die Gefährdung höchster Gemeinwohlgüter und auf eine kaum widerlegliche Rückfallgefahr schließen (BVerfG, B.v. 19.10.2016 - 2 BvR 1943/16 - juris Rn. 19). Im vorliegenden Fall ist demgegenüber unter Berücksichtigung der sehr hohen Menge gehandelter Drogen, der arbeitsteiligen und organisierten Begehungsweise und der dabei zum Ausdruck kommenden hohen kriminellen Energie eine Gefährdung höchster Rechtsgüter zu befürchten.
42
Diese besteht trotz der zwischenzeitlich am 29. August 2022 erfolgten Aussetzung des Strafrestes und Maßregelvollzugs fort:
43
Gemessen an den vorgenannten Maßstäben ist zunächst zu konstatieren, dass der Kläger nach dem Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 29. August 2022 weiterhin unter dem nicht unerheblichen Druck der Bewährung und Führungsaufsicht steht. Die Strafvollstreckungskammer hat die zulässige Dauer der Bewährungszeit von maximal fünf Jahren vollends ausgeschöpft und sie nicht verkürzt (vgl. § 56a Abs. 1 Satz 2 StGB). Für die gesamte Dauer der Führungsaufsicht und Bewährungszeit wurde der Kläger der Aufsicht durch einen Bewährungshelfer unterstellt. Die Bewährungshilfe zeichnet sich zudem durch eine engmaschige Betreuung und eine intensive Überwachung aus (mindestens einmal, höchstens viermal im Monat Kontakt mit der Bewährungshilfe, vgl. Nr. IV a des Beschlusses vom 29.8.2022; mindestens einmal, höchstens sechsmal pro Quartal Kontrollen des Abstinenzgebots; einmal pro Monat, maximal viermal pro Monat nach näherer Weisung der behandelnden Therapeuten Vorstellung in der Forensischen Ambulanz des Klinikums). Die Strafvollstreckungskammer hat die Dauer der Führungsaufsicht gemäß §§ 67d Abs. 2, 68c Abs. 1 StGB nicht verkürzt, um nachhaltig auf die zukünftige Lebensführung des Verurteilten einwirken zu können. Als strafbewehrte Weisungen wurden neben einem Abstinenzgebot und dessen Kontrolle durch Urinkontrollen mindestens einmal, höchstens sechsmal pro Quartal bei der Forensischen Ambulanz des Klinikums auch festgesetzt, dass sich der Kläger mindestens einmal pro Monat, maximal viermal pro Monat nach näherer Weisung der behandelnden Therapeuten in der Forensischen Ambulanz des Klinikums vorzustellen und dies dem Bewährungshelfer nachzuweisen hat. Der fortbestehende Behandlungsbedarf des Klägers wird auch in der nicht strafbewehrten Weisung der Strafvollstreckungskammer deutlich, wonach er sich durch die Therapeuten der forensischen Ambulanz des Klinikums betreuen und behandeln zu lassen und die Betreuung/Behandlung nur mit Einverständnis der dortigen Therapeuten zu beenden hat.
44
Der Kläger befindet sich in einer sehr frühen Phase der fünfjährigen Bewährungs- und Führungsaufsichtszeit und der Unterstellung unter die Bewährungshilfe, so dass trotz des positiven Therapieverlaufs im nunmehr ausgesetzten Maßregelvollzug noch nicht ohne Weiteres von einem dauerhaften Einstellungswandel und einer längerfristigen Änderung der Verhaltensmuster in Freiheit ohne den genannten Druck, die angeordneten Kontrollen und die für erforderlich erachtete fortwährende therapeutische Behandlung ausgegangen werden kann.
45
Entgegen dem Zulassungsvorbringen kann bei einem Erstverbüßer von Freiheitsstrafe nicht grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass bereits der Vollzug der Strafe den beabsichtigten Erfolg, nämlich den Ausschluss der Wiederholungsgefahr habe. Zwar kann die erstmalige Verbüßung einer Haftstrafe, insbesondere als erste massive Einwirkung auf einen jungen Menschen unter Umständen seine Reifung fördern und die Gefahr einer neuen Straffälligkeit mindern (vgl. BayVGH, B.v. 18.05.2021 - 19 ZB 20.65 - juris Rn. 39). Abgesehen davon, dass angesichts des Lebensalters des Klägers eines solche Reifeverzögerung nicht mehr angenommen werden kann, lässt sich eine solche Schlussfolgerung vorliegend schon nicht in Anbetracht des hohen verhängten Strafmaßes von 7 Jahren und 3 Monaten ziehen. Vielmehr steht der Kläger in Anbetracht einer im Falle eines Widerrufs der Strafaussetzung noch in beträchtlichem Umfang zu verbüßenden Freiheitsstrafe unter einem starken Legalbewährungsdruck, unter dem das gegenwärtige Wohlverhalten zu würdigen ist (vgl. BayVGH, B.v. 29.3.2022 - 19 ZB 22.129 - juris Rn. 34).
46
Die zwischenzeitlich neu eingetretenen Umstände, insbesondere die Strafaussetzungsentscheidung vom 29. August 2022 sind mithin nicht geeignet, wesentliche Tatsachenfeststellungen des Verwaltungsgerichts in Frage zu stellen; eine Vorverlagerung der auf der Basis neuer relevanter tatsächlicher Umstände zu treffenden Prognose- und Abwägungsentscheidung in das Berufungszulassungsverfahren und eine damit einhergehende Verkürzung des Rechtsschutzes (vgl. BVerfG B.v. 8.5.2019 - 2 BvR 657/19 - juris Rn. 37) steht vorliegend entgegen dem Zulassungsvorbringen daher nicht zu befürchten.
47
1.2. Das Zulassungsvorbringen zieht auch die generalpräventiven Erwägungen der Beklagten für die verfügte Ausweisung nicht ernstlich in Zweifel.
48
Das Bundesverwaltungsgericht hat mit Urteil vom 12. Juli 2018 (1 C 16.17 - juris) entschieden, dass diese Intention des Gesetzgebers (Zulassung einer zum Zwecke der Abschreckung Anderer dienenden Ausweisung) im Wortlaut des § 53 Abs. 1 AufenthG eine hinreichende Verankerung gefunden hat und Generalprävention ein Ausweisungsinteresse begründen kann. § 53 Abs. 1 AufenthG verlange nämlich nicht, dass von dem ordnungsrechtlich auffälligen Ausländer selbst eine Gefahr ausgehen müsse. Vielmehr müsse dessen weiterer „Aufenthalt“ eine Gefährdung bewirken. Vom Aufenthalt eines Ausländers, der Straftaten begangen habe, könne aber auch dann eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen, wenn von ihm selbst keine Wiederholungsgefahr mehr ausgehe, im Falle des Unterbleibens einer ausländerrechtlichen Reaktion auf sein Fehlverhalten andere Ausländer aber nicht wirksam davon abgehalten werden, vergleichbare Delikte zu begehen (vgl. auch z.B. BayVGH, B.v. 14.2.2019 - 10 ZB 18.1967 - juris sowie Bauer in Bergmann/Dienelt, AuslR, 14. Aufl. 2022, § 53 AufenthG Rn. 61 ff. m.w.N.). Mit Urteil vom 9. Mai 2019 hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden (1 C 21/18 - juris Rn.17), dass eine Ausweisung auch nach dem seit 1. Januar 2016 geltenden Ausweisungsrecht auf generalpräventive Gründe gestützt werden kann. Ein generalpräventives Ausweisungsinteresse müsse zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt noch aktuell (also noch vorhanden) sein (Rn. 18 ff.). Unabhängig davon, dass im vorliegenden Fall (wie ausgeführt) auch eine vom Kläger ausgehende Wiederholungsgefahr zu bejahen ist, muss eine generalpräventiv begründete Ausweisung in jedem Einzelfall zusätzlich den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren (vgl. schon BVerfG, B.v. 18.7.1979 - 1 BvR 650/77 - juris Rn. 37). Sie ist insbesondere nur zur Bekämpfung schwerwiegender Verfehlungen zulässig (vgl. Bauer in Bergmann/Dienelt, a.a.O. Rn. 63 m.w.N.) und nur dann geeignet, eine generalpräventive Wirkung zu erzielen, wenn eine kontinuierliche Ausweisungspraxis vorliegt, wenn die Anlasstat nicht derart singuläre Züge aufweist, dass die an sie anknüpfende Ausweisung keine abschreckende Wirkung entfalten könnte und wenn angesichts der Schwere der Straftat ein dringendes Bedürfnis auch für eine ordnungsrechtliche Prävention besteht (BVerwG, U.v. 14.2.2012 - 1 C 7/11 - juris Rn. 17).
49
Das Gewicht der Straftat ist nicht abstrakt, sondern konkret nach den Umständen der Tatbegehung zu bestimmen (BVerfG, B.v. 10.8.2007 - 2 BvR 535/06 - juris Rn. 28); die Anforderungen an eine generalpräventiv begründete Ausweisung können namentlich in Fällen des illegalen Rauschgifthandels erfüllt sein (vgl. BVerwG, U.v. 11.6.1996 - 1 C 24/94 - BVerwGE 101, 247-265, Rn. 28). Es bedarf mithin der Würdigung der konkreten Tat und Tatumstände zur Feststellung der Geeignetheit und Erforderlichkeit im Sinne einer verhaltenssteuernden Wirkung. Das Maß der durch eine Ausweisung zu erreichenden Verhaltenssteuerung kann bei den einzelnen Straftaten unterschiedlich sein (vgl. Bauer in Bergmann/Dienelt, AuslR, 14. Aufl. 2022, § 53 AufenthG Rn. 64). Wenngleich bei Taten, die allein aus einer Abhängigkeit heraus begangen werden, die Erzielung einer abschreckenden Wirkung zweifelhaft sein kann (vgl.; Bauer in Bergmann/Dienelt, a.a.O., § 53 Rn. 65; weitgehend SächsOVG, B.v. 13.5.2022 - 3 A 844/20 - juris Rn. 20), ist in Anbetracht der Schwere und der mit dem illegalen Rauschgifthandel verbundenen Gefahren von Betäubungsmitteldelikten, die zu den schweren, Grundinteressen der Gesellschaft berührenden und schwer zu bekämpfenden Straftaten gehören (vgl. EuGH, U.v. 23.11.2010 - Rs. C-149/09, „Tsakouridis“ - NVwZ 2011, 221 Rn. 47), nach der Lebenserfahrung davon auszugehen, dass die Ausweisung eines wegen Drogenhandels strafgerichtlich verurteilten Ausländers dazu beitragen kann, andere Ausländer zur Vermeidung der ihnen sonst drohenden Ausweisung zu einem ordnungsgemäßen Verhalten bzw. dem Abstandnehmen von schwerwiegenden Betäubungsmitteldelikten im Bundesgebiet zu veranlassen (wie zur vormaligen Rechtslage in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts anerkannt und vom Bundesverfassungsgericht bestätigt, vgl. BVerwG, U.v. 6.4.1989 - 1 C 70/86 - NVwZ 1989, 768; BVerfG, B.v. 25.9.1986 - 2 BvR 744/86 - juris Rn. 4; vgl. auch BayVGH, B.v. 23.9.2021 - 19 ZB 20.323 - juris Rn. 31; B.v. 18.5.2021 - 19 ZB 20.65 -juris Rn. 42). Angesichts der mit schwerwiegender Drogenkriminalität verbundenen besonderen Gefahren für die Allgemeinheit und der Schwierigkeit ihrer Bekämpfung kommt den generalpräventiven Aspekten ein wesentliches Gewicht zu, um eine Verhaltenssteuerung und Abschreckung bei anderen Ausländern zu bewirken (vgl. OVG Nds, U.v. 22.4.2013 - 2 LB 365/12 - juris Rn. 40; BayVGH, B.v. 23.9.2021 - 19 ZB 20.323 - juris Rn. 29; B.v. 31.1.2011 - 10 ZB 10.2868 - juris Rn. 15).
50
Gemessen an diesen Grundsetzen erweist sich die Ausweisung des Klägers (auch) aus generalpräventiven Gründen insbesondere in Anbetracht der Schwere der Anlasstat und der Umstände der Tatbegehung auch unter Berücksichtigung der Lebensumstände des Ausländers nicht als unverhältnismäßig.
51
Die Auffassung des Klägers, generalpräventive Gründe könnten bei ihm nicht ausreichen, um eine Ausweisung zu begründen, da er ein sogenannter „faktischer Inländer“ sei, trifft nicht zu (vgl. BayVGH, B.v. 23.9.2021 - 19 ZB 20.323 - juris Rn. 31). Der Kläger unterfällt nicht dem Anwendungsbereich des § 53 Abs. 3, 3a, 3b oder 4 AufenthG. Mithin ist eine generalpräventiv begründete Ausweisung für den Kläger nicht ausgeschlossen, sondern in Anbetracht der Gesamtumstände als verhältnismäßig zu erachten:
52
Der Kläger, der wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge (Marihuana in Mengen von 10 kg, 5,5 kg, 15 kg und 26 kg) in drei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 7 Jahren 3 Monaten verurteilt wurde, hat sich schwerwiegender Drogenkriminalität schuldig gemacht; aufgrund der damit verbundenen besonderen Gefahren für die Allgemeinheit und der Schwierigkeit ihrer Bekämpfung kommt den generalpräventiven Aspekten somit ein wesentliches Gewicht zu. Wenngleich der Kläger nicht einschlägig vorbestraft war, ist seine Delinquenz als schwer zu beurteilen. Gegeben ist ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 1b AufenthG, wobei das gesetzlich vorgesehene Strafmaß vorliegend um ein Vielfaches überschritten ist. Auch bei suchtbedingter Delinquenz vermag ein entschiedenes Vorgehen gegen schwerwiegende Betäubungsmittelkriminalität eine abschreckende Wirkung zu entfalten. Ungeachtet dessen, dass Ausweisungen in Fällen wie dem vorliegenden eine abschreckende Wirkung nicht erst bei manifestierter Abhängigkeit entfalten, sondern andere Ausländer bereits vom Einstieg in den Betäubungsmittelkonsum sowie einer Verfestigung des Konsums und daraus resultierender Straftaten abhalten können, ist vorliegend keine Sondersituation ersichtlich, in der eine abschreckende Wirkung zu verneinen wäre. Die Beklagte hat zutreffend darauf hingewiesen, dass ein Hang in strafrechtlichen Sinn nicht stets mit einem Kontrollverlust oder einer verminderten Einsichts- und Steuerungsfähigkeit einhergeht (ausweislich des Strafurteils war diese auch beim Kläger nicht eingeschränkt). Es besteht kein Grund, davon abzurücken, dass eine kontinuierliche Verwaltungspraxis, die auf strafrechtliche Verurteilungen wegen schwerwiegender Betäubungsmitteldelikte aufenthaltsrechtlich mit der Ausweisung reagiert, grundsätzlich geeignet ist, andere Ausländer von vergleichbaren schweren Straftaten abzuhalten. In Anbetracht des großen Gefahrenpotentials der schwerwiegenden Betäubungsmitteldelinquenz (Drogenhandel) des Klägers erscheint selbst unter Berücksichtigung seines sehr langen Aufenthalts im Bundesgebiet (nahezu 50 Jahre), seiner hier bestehenden familiären Bindungen und der erbrachten Betreuungsleistungen für seine betagte Mutter seine Ausweisung (auch) aus generalpräventiven Gründen nicht unverhältnismäßig.
53
1.3. Mit seinem Zulassungsvorbringen hat der Kläger die Gesamtabwägung des Verwaltungsgerichts gemäß § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG nicht ernstlich im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO in Zweifel gezogen.
54
Ein Ausländer kann - bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen - nur dann ausgewiesen werden, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt (§ 53 Abs. 1 AufenthG). In die Abwägung sind somit die in § 54 AufenthG und § 55 AufenthG vorgesehenen Ausweisungs- und Bleibeinteressen mit der im Gesetz vorgenommenen grundsätzlichen Gewichtung einzubeziehen (BT-Drs. 18/4097, S. 49). Die gesetzliche Unterscheidung in besonders schwerwiegende und schwerwiegende Ausweisungs- und Bleibeinteressen ist für die Güterabwägung zwar regelmäßig prägend (BVerwG, U.v. 27.7.2017 - 1 C 28/16 - juris Rn. 39). Eine schematische und alleine den gesetzlichen Typisierungen und Gewichtungen verhaftete Betrachtungsweise, die einer umfassenden Bewertung der den Fall prägenden Umstände, jeweils entsprechend deren konkretem Gewicht, zuwiderlaufen würde, ist aber unzulässig (BVerfG, B.v. 10.5.2007 - 2 BvR 304/07 - juris Rn. 41 bereits zum früheren Ausweisungsrecht). Im Rahmen der Abwägung ist mithin nicht nur von Belang, wie der Gesetzgeber das Ausweisungsinteresse abstrakt einstuft. Vielmehr ist das dem Ausländer vorgeworfene Verhalten, das den Ausweisungsgrund bildet, im Einzelnen zu würdigen und weiter zu gewichten, da gerade bei prinzipiell gleichgewichtigem Ausweisungs- und Bleibeinteresse das gefahrbegründende Verhalten des Ausländers näherer Aufklärung und Feststellung bedarf (BVerwG, U.v. 27.7.2017 - 1 C 28/16 - juris Rn. 39). Der Gesetzgeber hat im Ausweisungsrecht in differenzierter Weise die Schutzwürdigkeit familiärer Bindungen ausdrücklich berücksichtigt und ihnen normativ verschieden gewichtete Bleibeinteressen zugeordnet (vgl. § 55 Abs. 1 Nr. 3 und 4, Abs. 2 Nr. 3 bis 6 AufenthG). Die Katalogisierung schließt es aber nicht aus, dass andere, nicht ausdrücklich in § 55 Abs. 1 AufenthG benannte Interessen und Umstände bei der zu treffenden Abwägungsentscheidung jeweils mit einem Gewicht einzustellen sein können, das einem besonders schwerwiegenden Bleibeinteresse entsprechen kann (vgl. Bauer in Bergmann/Dienelt/Bauer, 14. Aufl. 2022, AufenthG § 55 Rn. 5).
55
Auch wenn vorliegend die gesetzlichen Typisierungen einen Gleichrang von Ausweisungsinteresse (aufgrund der Verurteilung wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in drei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von 7 Jahren und 3 Monaten gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 1b AufenthG) und Bleibeinteresse (aufgrund des Besitzes einer Niederlassungserlaubnis nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG; § 55 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG ist wegen des erloschenen Aufenthaltstitels der Ehefrau nicht erfüllt; § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG kommt wegen Volljährigkeit der Söhne nicht zum Tragen) ergeben, ist selbst unter Berücksichtigung weiterer familiärer Bleibeinteressen die verwaltungsgerichtliche Auffassung, dass bei der gebotenen Einbeziehung der Umstände des Einzelfalls das Ausweisungsinteresse deutlich überwiegt, nicht zu beanstanden.
56
Entgegen dem Zulassungsvorbringen hat das Verwaltungsgericht ebenso wie die Beklagte zutreffend gewürdigt, dass der Kläger seit fast 50 Jahren im Bundesgebiet lebt, über eine Niederlassungserlaubnis verfügt, nach erfolgreichem Besuch der Hauptschule wohl einen Abschluss als Hotelfachwirt erworben hat und bis auf einen kurzen Zeitraum von sechs bis sieben Monaten durchgängig einer Erwerbstätigkeit nachgegangen ist. Auch wurde gesehen und gewürdigt, dass seine Familie, bestehend insbesondere aus seiner hilfsbedürftigen Mutter sowie seinen beiden Söhnen mit deutscher Staatsangehörigkeit, im Bundesgebiet lebt. Der Hilfs- und Pflegebedarf der Mutter des Klägers wurde dabei zutreffend erfasst. Gleichwohl ist das Verwaltungsgericht in nicht zu beanstandender Weise zu der Auffassung gelangt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Auch unter Berücksichtigung der (unterstellten) Erbringung von Beistandsleistungen, hinsichtlich derer die haft- und unterbringungsbedingte Trennung bzw. Unmöglichkeit der Erbringung dieser Beistandsleistungen ebenso zu würdigen ist, wie die Tatsache der Begründung dieser familiären Belange in Kenntnis der Ausweisung und der derzeit bestehenden Vollzeitbeschäftigung des Klägers, vermögen sich die familiären Belange nicht gegenüber dem Gewicht des öffentlichen Ausweisungsinteresses durchzusetzen.
57
Art. 6 GG vermittelt keinen grundrechtlichen Anspruch auf Einreise und Aufenthalt. Allerdings sind die Ausländerbehörden verpflichtet, bei ihren Entscheidungen die bestehenden familiären Bindungen eines Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, zu berücksichtigen und sie entsprechend ihrem Gewicht in den behördlichen Erwägungen zur Geltung zu bringen (vgl. BVerfG, B.v. 10.5.2008 - 2 BvR 588/08 - juris). Ebenso wenig wie Art. 6 GG gewährleistet Art. 8 Abs. 1 EMRK ein Recht des Ausländers in einen bestimmten Mitgliedstaat einzureisen und sich dort aufzuhalten. Ein Staat ist vielmehr berechtigt, die Einreise von Ausländern in sein Hoheitsgebiet und ihren Aufenthalt dort nach Maßgabe seiner vertraglichen Verpflichtungen zu regeln (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte - EGMR -, U.v. 18.10.2006 <Üner> Nr. 46410/99 - juris). Eingriffe sind unter den Voraussetzungen des Art. 8 Abs. 2 EMRK statthaft und müssen ein ausgewogenes Gleichgewicht zwischen den gegenläufigen Interessen des Einzelnen und der Gesellschaft herstellen. Dabei ist eine Abwägung nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip durchzuführen (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 30.3.2010 - 1 C 8.09 - juris m.w.N. zur Rechtsprechung des EGMR).
58
Art. 6 Abs. 1 GG gewährt nicht von vornherein einen Schutz vor Ausweisung, sondern verpflichtet dazu, die familiären Bindungen entsprechend ihrem Gewicht angemessen in die Abwägung einzustellen (vgl. BVerfG, B.v. 5.6.2013 - 2 BvR 586/13 - NVwZ 2013, 1207, Rn. 12). Die Beziehung zwischen Eltern und volljährigen Kindern und sonstigen erwachsenen Angehörigen ist in ihrem verfassungsrechtlichen Kern nicht auf eine Lebens- oder Haushaltsgemeinschaft, sondern in aller Regel auf eine Begegnungsgemeinschaft angelegt und kann deshalb regelmäßig durch wiederholte Besuche oder Brief- und Telefonkontakte aufrechterhalten werden (vgl. BVerfG, B.v. 18.04.1989 - 2 BvR 1169/84 - juris Rn. 42, 44). Selbst im Falle des Bestehens einer schützenswerten familiären Beziehung ist insbesondere bei besonders schweren Straftaten eine Aufenthaltsbeendigung aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nicht generell und unter allen Umständen ausgeschlossen (vgl. BVerwG, B.v. 10.2.2011 - 1 B 22/10 - juris Rn. 4).
59
Die besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteressen, resultierend aus der vom Kläger verübten schweren Drogenkriminalität führen vorliegend dazu, dass die vom Kläger geltend gemachten familiären Belange im Rahmen der Abwägung zurückzutreten haben. Auch die Bejahung eines kausalen Zusammenhangs zwischen einem Abhängigkeitssyndrom und des den Ausweisungsanlass bietenden strafrechtlichen Schuldspruchs vermag das Gewicht des Ausweisungsinteresses nicht maßgeblich zu reduzieren, zumal dieser Umstand bereits bei der Strafzumessung zu Gunsten des Klägers Berücksichtigung fand, aber gleichwohl eine Gesamtfreiheitsstrafe von 7 Jahren und 3 Monaten zu verhängen war. Es ist nichts dafür erkennbar, dass zwischen dem Kläger und seinen volljährigen Söhnen, die nicht mit dem Vater in einer Wohngemeinschaft leben, eine sog. Beistandsgemeinschaft besteht, bei der ein Familienmitglied auf eine auch tatsächlich erbrachte Lebenshilfe des anderen angewiesen ist. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend ausgeführt, dass weder die elterliche Verantwortung noch die Bindung zur betagten Mutter den Kläger von der Begehung gravierender Straftaten hat abhalten können. Der Hinweis, dass es dem Kläger und seiner Familie zugemutet werden kann, trotz räumlicher Trennung die Bindung zueinander - zumindest für die Dauer der Wiedereinreisesperre - in anderweitiger Form, z.B. durch Kommunikationsmittel wie Telefon, Internet und Briefverkehr sowie gelegentliche Besuche in Serbien aufrechtzuerhalten, ist selbst unter Berücksichtigung der geltend gemachten Immobilität der Mutter nicht zu beanstanden. Auch ohne eine behördliche Zusage ist in § 11 Abs. 8 AufenthG die Möglichkeit einer kurzfristigen Betretenserlaubnis geregelt, um im Einzelfall unbillige Härten zu vermeiden. Selbst in Anerkennung des Hilfebedarfs der Mutter und ihres Alters ist den besonders schwerwiegenden sicherheitsrechtlichen Interessen der Allgemeinheit mehr Gewicht beizumessen als der Beziehung des Klägers zu seiner allein wohnenden, hilfsbedürftigen und während seiner haftbedingten Abwesenheit anderweitig gepflegten Mutter.
60
Soweit der Kläger geltend macht, die Ausweisung sei unverhältnismäßig im Hinblick auf Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK, da er aufgrund seines nahezu 50 Jahre währenden Aufenthalts im Bundesgebiet und seiner Stellung als „faktischer Inländer“ stärkste Bleibeinteressen habe, greift diese Auffassung nicht durch. Die Ausweisung ist vielmehr auch unter Berücksichtigung des langen Aufenthalts weder ein Verstoß gegen Art. 8 EMRK noch unverhältnismäßig.
61
Nach Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, in das nur eingegriffen werden darf, soweit dies in einer demokratischen Gesellschaft für die öffentliche Sicherheit notwendig ist (Art. 8 Abs. 2 EMRK). Aus Art. 8 EMRK ergibt sich gleichwohl kein absolutes Recht auf Einreise oder Aufenthalt. Der Schutz auf Achtung des Privatlebens umfasst die Summe aller sonstigen familiären, persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind und denen angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt (vgl. BVerfG, B.v. 21.02.2011 - 2 BvR 1392/10 -, InfAuslR 2011, 235, juris Rn. 19). Eine danach den Schutz des Privatlebens auslösende Verbindung mit der Bundesrepublik Deutschland als Aufenthaltsstaat kommt grundsätzlich für solche Ausländer in Betracht, die aufgrund eines Hineinwachsens in die hiesigen Verhältnisse bei gleichzeitiger Entfremdung von ihrem Heimatland so eng mit der Bundesrepublik Deutschland verbunden sind, dass sie gewissermaßen deutschen Staatsangehörigen gleichzustellen sind, während sie mit ihrem Heimatland im Wesentlichen nur noch das formale Band ihrer Staatsangehörigkeit verbindet (vgl. BVerwG, U.v. 29.9.1998 - 1 C 8.96 - NVwZ 1999, 303, VGH Baden-Württemberg, U.v. 13.12.2010 - 11 S 2359.10 - juris). Allerdings ist ein langfristiger Aufenthalt im Gastland allein grundsätzlich noch kein den Schutzbereich eröffnendes Kriterium.
62
Eingriffe in dieses Recht sind zulässig, soweit sie zum Zwecke der „öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ sowie „des wirtschaftlichen Wohls des Landes“ in einer „demokratischen Gesellschaft notwendig“ sind, mithin wenn der Eingriff durch ein dringendes gesellschaftliches Bedürfnis gerechtfertigt ist und zu dem mit ihm verfolgten Zweck in einem angemessenen Verhältnis steht (EGMR, U.v. 22.7.2004 - 42703/98 Rn. 31 - Radovanovic; EGMR, U.v. 28.06.2007 - 31753/02 - Kaya, BeckRS 2008, 06725 Rn. 51). Nach der Rechtsprechung des EGMR bietet Art. 8 EMRK auch bei sog. „Zuwanderern der zweiten Generation“ keinen absoluten Schutz vor einer Aufenthaltsbeendigung (vgl. EGMR <Große Kammer>, U.v. 18.10.2006 - 46410/99 Rn. 54 - Üner, NVwZ 2007, 1279). Das Ausmaß der „Verwurzelung“ bzw. die für den Ausländer mit einer „Entwurzelung“ verbundenen Folgen sind unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Vorgaben sowie der Regelung des Art. 8 EMRK zu ermitteln, zu gewichten und mit den Gründen, die für eine Aufenthaltsbeendigung sprechen, abzuwägen.
63
Die Bezeichnung eines Ausländers als „faktischer Inländer“ entbindet nicht davon, die im jeweiligen Einzelfall gegebenen Merkmale der Verwurzelung zu prüfen; darüber hinaus besteht entgegen der klägerischen Auffassung auch für faktische Inländer kein generelles Ausweisungsverbot (vgl. BVerfG, B.v. 19.10.2016 - 2 BvR 1943/16 - juris Rn. 19).
64
Gemessen hieran überwiegt auch unter Berücksichtigung des langen Aufenthalts des Klägers im Bundesgebiet das Ausweisungsinteresse im Hinblick auf die vom Antragsteller verübten massiven Betäubungsmittelstraftaten und die daraus resultierenden schwerwiegenden Gefahren für die Allgemeinheit. Es wird nicht verkannt, dass sich die streitgegenständliche Ausweisung in Anbetracht der sehr langen Aufenthaltsdauer des Klägers im Bundesgebiet und seiner hier bestehenden familiären und sozialen Bindungen als gravierender Grundrechtseingriff darstellt. In Anbetracht der Schwere der die Ausweisung veranlassenden Betäubungsmitteldelikte des Klägers sowie seiner - wenngleich im fortgeschrittenen Lebensalter manifestierten - Betäubungsmittelabhängigkeit kann jedoch nur schwerlich von einer gelungenen Integration in die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland ausgegangen werden. Dem Kläger wird es zuzumuten sein, im Land seiner Staatsangehörigkeit wieder Fuß zu fassen und die sozialen Bindungen von dort aus aufrecht zu erhalten. Ausgehend von der Sozialisation in einer serbischen Familie sowie der in Serbien verbrachten Kindheit (von 1965 bis 1974) ebenso wie der Ausbildung zum Hotelfachwirt an einer serbischen Privatschule darf davon ausgegangen werden, dass ihm die heimatstaatlichen Lebensverhältnisse vertraut sind. Selbst bei Bestehen der geltend gemachten sprachlichen Schwierigkeiten (Lesen der kyrillischen Schrift) erscheint dem Kläger eine Integration im Land seiner Staatsangehörigkeit möglich und zumutbar.
65
1.4. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils ergeben sich auch nicht im Hinblick auf die vom Verwaltungsgericht bestätigte Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 3 AufenthG auf die Dauer von 8 Jahren.
66
Gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG wird über die Länge der Frist des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach Ermessen entschieden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ändert das Erfordernis einer Ermessensentscheidung nichts am behördlichen Prüfprogramm. Die Ausländerbehörde muss bei der allein unter präventiven Gesichtspunkten festzusetzenden Frist das Gewicht des Ausweisungsinteresses und den mit der Ausweisung verfolgten Zweck berücksichtigen. Hierzu bedarf es in einem ersten Schritt der prognostischen Einschätzung im Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das seiner Ausweisung zu Grunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag. Die auf diese Weise an der Erreichung des Ausweisungszwecks ermittelte Höchstfrist muss von der Behörde in einem zweiten Schritt an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG), sowie unions- und konventionsrechtlich an den Vorgaben aus Art. 7 der Grundrechtecharta der Europäischen Union und Art. 8 EMRK gemessen und gegebenenfalls relativiert werden. Über dieses normative Korrektiv lassen sich auch bei einer Ermessensentscheidung die einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen begrenzen. Dabei sind von der Ausländerbehörde nicht nur die nach § 55 Abs. 1 und 2 AufenthG schutzwürdigen Bleibeinteressen des Ausländers in den Blick zu nehmen, sondern es bedarf nach Maßgabe des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf der Grundlage der Umstände des Einzelfalls einer umfassenden Abwägung der betroffenen Belange (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 - 1 C 27.16 - juris Rn. 23).
67
Da für die gerichtliche Überprüfung der Befristungsentscheidung auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts abzustellen ist, trifft die Ausländerbehörde auch während des gerichtlichen Verfahrens eine Pflicht zur ständigen verfahrensbegleitenden Kontrolle der Rechtmäßigkeit ihrer Befristungsentscheidung und gegebenenfalls zur Ergänzung ihrer Ermessenserwägungen (BVerwG, U.v. 22.2.2017 - 1 C 27.16 - juris Rn. 23; BayVGH, U.v. 20.6.2017 - 10 B 17.135 - juris). Daher sind die Ermessenserwägungen, die die Beklagte ihrer Pflicht zur fortlaufenden Aktualisierung ihrer behördlichen Befristungsentscheidung entsprechend während des Zulassungsverfahrens ergänzt hat, vom Senat bei der gerichtlichen Überprüfung mit zu würdigen.
68
Gemessen an diesen Vorgaben hat das Verwaltungsgericht zutreffend Ermessensfehler verneint. Die Beklagte hat das ursprünglich auf die Dauer von 13 Jahre beabsichtigte Einreise- und Aufenthaltsverbot nach Würdigung der geltend gemachten Umstände auf die Dauer von 8 Jahren befristet. Dabei wurde einerseits insbesondere die aus dem Verhalten des Klägers resultierende tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft berücksichtigt, andererseits aber auch zutreffend vor allem die Aufenthaltsdauer des Klägers von fast 50 Jahren sowie seine familiären Bindungen im Bundesgebiet ebenso wie (im verwaltungsgerichtlichen Verfahren) der Hilfebedarf der Mutter des Klägers gesehen und wurde beanstandungsfrei eine Befristung von acht Jahren für angemessen erachtet. Die Ermessenserwägungen wurden seitens der Beklagten unter Berücksichtigung des Zulassungsvorbringens in nicht zu beanstandender Weise aktualisiert.
69
Wie ausgeführt führt der formale Abschluss der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt im Rahmen des Maßregelvollzugs im vorliegenden Fall weder zu einem Fortfall der Wiederholungsgefahr noch vermag dieser Umstand das Gewicht des öffentlichen Ausweisungsinteresses im Rahmen der Abwägung in maßgeblicher Weise zu reduzieren. Die aktualisierte Ermessensentscheidung der Beklagten, die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 8 Jahre aufrechtzuerhalten, lässt insoweit keine Ermessensfehler erkennen.
70
Ermessensfehler sind auch im Hinblick auf geltend gemachte Verkürzung des Einreise- und Aufenthaltsverbots im Falle der Ehefrau des Klägers, die im Zusammenhang mit der Bereitschaft der Ehefrau zur Klagerücknahme gegen die aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen stand, nicht zu beanstanden. Im Gegensatz zum Kläger hat seine Ehefrau durch die Klagerücknahme gegen die Ausweisung eine Einsichtsfähigkeit und Akzeptanz erkennen lassen, die im vorliegenden Fall nicht zu erkennen ist und hinsichtlich der Befristungsentscheidung eine vom Kläger abweichende Beurteilung rechtfertigt. Entgegen dem Zulassungsvorbringen ist hieraus nicht auf eine Unverhältnismäßigkeit der im vorliegenden Fall getroffenen und aufrechterhaltenen Befristungsentscheidung zu schließen.
71
1.5. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils ergeben sich auch nicht aufgrund eines geltend gemachten Aufklärungsmangels. Eine Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht nach § 86 VwGO ist nicht ersichtlich (vgl. nachfolgend 2.).
72
Die Berufung ist nicht wegen eines geltend gemachten Verfahrensmangels nach § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO, auf dem die Entscheidung beruhen kann, zuzulassen.
73
Der Kläger rügt, das Verwaltungsgericht habe die gestellten Beweisanträge zu Unrecht abgelehnt und hierdurch Verfahrensrecht verletzt. Das Urteil beruhe auch auf den Verfahrensfehlern. Die Ablehnung der Beweisanträge finde im Verfahrensrecht keine Stütze, so dass sie fehlerhaft erfolgt sei. Aufgrund der Ablehnung der förmlichen Beweisanträge liege ein Verstoß gegen § 86 VwGO vor. Im Hinblick darauf, dass der hinzutretenden Beweisanregung nicht nachgekommen worden sei, wie sich aus den Urteilsgründen ergebe, liege eine Verletzung des Aufklärungsgrundsatzes vor. Auf beiden Rechtsverletzungen beruhe das Urteil. Hätte das Verwaltungsgericht das beantragte Gutachten eingeholt, wäre es davon ausgegangen, dass bei dem Kläger keine Wiederholungsgefahr im Sinne eines Rückfalls des Konsums von Betäubungsmitteln und auch keiner Gefahr der Begehung von Straftaten vorliege. Die Begründung der Ablehnung der Beweisanträge trage die Entscheidung nicht. Insbesondere widerspreche sich das Verwaltungsgericht selbst. Soweit es den Beweisantrag Nr. 1 mit der Begründung abgelehnt habe, dass es sich bei der Frage der Wiederholungsgefahr um eine Rechtsfrage handele, sei das zwar zutreffend. Allerdings sei dies nicht in Frage gestellt worden. Die unter Beweis gestellte Tatsache habe gelautet, dass die durch die Ausländerbehörde aufgrund der strafrechtlichen Verurteilung durch das Landgericht Nürnberg-Fürth angenommene Gefährlichkeit nicht mehr fortbestehe. Eine Gefahr bestehe dann, wenn mit hinreichender Wahrscheinlichkeit der Schadenseintritt zu erwarten sei. Dies setze eine Prognoseentscheidung voraus. Diese könne nur aufgrund von Tatsachen ermittelt werden. Hierauf habe der Beweisantrag gezielt, wenn er die von der Behörde angenommene Gefährlichkeit in den Blick nehme. Diese sei entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts keine Rechts-, sondern eine Tatsachenfrage. Die Behörde folgere diese daraus, dass allein der Wille zur erfolgreichen Therapie noch keine Aussagekraft für eine Rückfallprognose habe. Eine solche Maßnahme finde unter geschützten Bedingungen statt. Selbst eine erfolgreich abgeschlossene Therapie erlaube angesichts erfahrungsgemäß hoher Rückfallquoten noch nicht die Prognose, dass keine ordnungsrechtlich relevante Wiederholungsgefahr mehr von dem Betroffenen ausgehe. All dies seien keine Rechtsfragen, sondern Tatsachenfragen. Ob eine „erfahrungsgemäß“ hohe Rückfallquote bestehe, sei eine Frage der Erkenntniswissenschaften und keine Rechtsfrage. Ob eine Person eine labile Persönlichkeit aufweise und ein Suchtdruck fortbestehe und alleine der Wille zu einer Therapie keine Aussagekraft für individuelle Rückfallerwartungen habe, seien alles Tatsachenfragen, nämlich medizinische Fachfragen, weshalb auch ein entsprechendes Gutachten beantragt worden sei. Somit sei die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass es sich bei der von der Beklagten angenommenen Gefährlichkeit und ihrer Begründung um Rechtsfragen handele, unzutreffend. Abgesehen davon gehöre die Aufklärung der Prognosegrundlagen ebenfalls nicht zu den Rechtsfragen, sondern zu den Tatsachen. Nicht etwa das (Nicht-) Bestehen einer Rechtstatsache sei unter Beweis gestellt worden. Vielmehr seien die Anknüpfungstatsachen, die Grundlage der Prognoseentscheidung, das Beweisthema. Der Gesetzgeber selbst gehe in § 454 Abs. 2 StPO davon aus, dass zur Beurteilung des Bestehens einer Gefährlichkeit durch ein Gericht regelmäßig ein Sachverständigengutachten einzuholen sei. Dort heiße es ausdrücklich, dass sich ein solches Gutachten namentlich zu der Frage zu äußern, ob bei dem Verurteilten keine Gefahr mehr bestehe, dass dessen durch die Tat zutage getretene Gefährlichkeit fortbestehe (§ 454 Abs. 2 Satz 2 StPO). Genau dieses Beweis- bzw. Prognosethema sei mit dem Antrag unter Beweis gestellt worden. Das Verwaltungsgericht stelle sich mit seiner Entscheidung, dass es selbst ohne sachverständige Beratung eine derartige Prognose treffen könnte, damit auch gegen die gesetzgeberische Wertung in § 454 Abs. 2 StPO. Dabei diene diese gerade der Prüfung der Gefährlichkeit eines Verurteilten, also derselben Fragestellung, wie sie hier zu treffen sei, wie aus § 454 Abs. 2 S. 1 StPO folge. Dabei sei auch der Prüfungsmaßstab exakt derselbe. Das Gutachten diene dort der Vorbereitung einer Entscheidung über die Frage, ob unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden könne, dass der Rest der Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt werde, wobei insbesondere die Persönlichkeit der verurteilten Person, ihr Vorleben, die Umstände ihrer Tat, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts, das Verhalten der verurteilten Person im Vollzug, ihre Lebensverhältnisse und die Wirkungen zu berücksichtigen seien, die von der Aussetzung für sie zu erwarten sind (§ 57 Abs. 1 StGB).
74
Der Antrag sei mit Antrag Nr. 6 zudem erneut gestellt und unter Beweis gestellt worden, dass bei dem Kläger keine Abhängigkeitserkrankung mehr fortbestehe, und zur Konnexität auf den Therapiebericht verwiesen worden. Das Verwaltungsgericht habe diese medizinische Fachfrage dahingehend beantwortet, dass die Tatsachen (aus dem Therapiebericht) hinreichend geklärt seien und das Gericht die für die rechtliche Überzeugungsbildung notwendige, sachliche Grundlage habe. Unter Beweis gestellt sei aber nicht geworden, ob die Tatsachen aus dem Therapiebericht feststehen, sondern ob eine Abhängigkeitserkrankung fortbestehe, was ohne jeden Zweifel eine rein medizinische Frage sei. Das Verwaltungsgericht habe hierzu kein Gutachten eingeholt und die Frage nicht aufgeklärt. Entgegen seiner Behauptung, dass die für die Entscheidung erforderlichen Tatsachen geklärt seien, habe es die medizinische Frage gerade nicht geklärt und auch keine eigene Fachkunde dargelegt. Dagegen führe es in den Urteilsgründen im Widerspruch zum Beweisbeschluss an, dass die durch die begangenen Straftaten indizierte Gefährlichkeit nicht beseitigt sei, die ihre Ursache (auch) in der (noch) nicht erfolgreichen Betäubungsmittelabhängigkeit habe. Das Verwaltungsgericht gehe also in Widerspruch zu der unter Beweis gestellten Tatsache von einer fortbestehenden Betäubungsmittelerkrankung aus und habe damit eine medizinische Diagnose gestellt, ohne sich sachverständig beraten zu lassen. Demgegenüber führe es im Hinblick auf die Beweisanregung aus, dass eine psychische Erkrankung nicht vorliege. Dennoch stütze es die Gefahr aber auf das Fortbestehen einer psychischen Erkrankung. Die Begründung der Ablehnung sei daher bereits verfahrensfehlerhaft, da das Verwaltungsgericht entgegen seiner eigenen Beschlussbegründung gerade nicht die notwendigen Tatsachen festgestellt habe und darüber hinaus in sich widersprüchlich einerseits von einer Suchterkrankung ausgehe, die weiterhin eine relevante Rückfallgefahr beinhalte, andererseits eine psychische Erkrankung in Abrede stelle. Dies zeige, dass - obwohl spätestens durch die Beweisanregung - die Aufklärungsnotwendigkeit klar aufgezeigt worden sei, die erforderlichen Tatsachen nicht aufgeklärt worden seien.
75
Hätte das Verwaltungsgericht die Beweisanträge bzw. die Beweisanregung aufgegriffen und den Beweis erhoben, hätte das Sachverständigengutachten ergeben, dass aus medizinischer Sicht von einem Fortbestehen der Suchterkrankung nicht auszugehen sei und keine Rückfallgefahr hinsichtlich des Konsums von Betäubungsmitteln bestehe. Aufgrund dieser medizinischen Tatsachen hätte das Verwaltungsgericht dann nicht angenommen, dass von dem Kläger eine hinreichende Wahrscheinlichkeit der Begehung von Straftaten bzw. der Rechtsgutsverletzung ausgehe, da dieser vor der im Raum stehenden Verurteilung keine Straftaten begangen habe und keinerlei Anhaltspunkte für eine sonstige Delinquenz vorlägen. Die Aufklärungsnotwendigkeit habe sich dem Verwaltungsgericht auch aufdrängen müssen. Hinsichtlich der förmlichen Beweisanträge ergebe sich dies bereits aus der Verbescheidungspflicht. Hinsichtlich der Beweisanträge sei die Bedeutung der Beweisfrage in den vorangegangenen Beweisantragsbegründungen und den weiteren Ausführungen des Klägerbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung und den vorbereitenden Schriftsätzen ausführlich dargelegt und darüber hinaus auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts verwiesen worden. Das Verwaltungsgericht sei allerdings der Meinung gewesen, dass keine psychische Erkrankung vorliege, was auf einem Subsumtionsfehler beruhe.
76
Mit Schriftsatz vom 22. Oktober 2022 ergänzt der Kläger sein Vorbringen dahingehend, Gegenstand des Beweisantrags Ziffer 1 sei eine Tatsache; eine Tatsache werde nicht zur Rechtsfrage, weil am Ende der Tatsachenfeststellung eine Wertungsentscheidung hinsichtlich der zu treffenden Prognose wiederum eine Rechtsfrage darstelle. Eine Prognose könne nur aufgrund von Tatsachen gestellt werden. Dass die Gefährlichkeit eine Tatsache sei, folge aus § 454 Abs. 2 S. 2 StPO. Gegenstand des Gutachtens, das der Gesetzgeber selbst vorschreibe, sei nicht die Rechtsfrage der Gefahr, sondern der Gefährlichkeit. Die Rechtsfrage der Gefahr habe auch im Falle des § 454 Abs. 2 S. 2 StPO das Gericht zu entscheiden (§ 57 Abs. 1 StGB). Die Auffassung des Verwaltungsgerichts und der Beklagten stünden somit im Widerspruch zur Auffassung des Gesetzgebers, der in § 454 Abs. 2 StPO normiert habe, dass die Gefährlichkeit eine sachverständig aufklärbare Tatsache sei. Hinsichtlich des Beweisantrags Ziffer 6 sei darauf hinzuweisen, dass der Bericht der Klinik für forensische Psychiatrie der Bezirkskliniken keine „einseitige Stellungnahme“, sondern ein objektives Gutachten einer öffentlich-rechtlichen Anstalt sei. Wenn es sich aber nur um eine einseitige Stellungnahme handeln würde, wäre das Verwaltungsgericht erst recht verpflichtet gewesen, dem Beweisantrag nachzukommen.
77
Diese Rügen greifen nicht durch.
78
Die Frage, ob das vorinstanzliche Verfahren an einem Mangel leidet, ist vom materiell-rechtlichen Standpunkt der Vorinstanz aus zu beurteilen, selbst wenn dieser Standpunkt verfehlt sein sollte (BVerwG, B.v. 30.12.2016 - 9 BN 3/16 - juris Rn. 4).
79
Der Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO gebietet die Berücksichtigung von Beweisanträgen, die sich auf Tatsachen beziehen, welche nach der materiellen Rechtsauffassung des Tatsachengerichts entscheidungserheblich sind. Die Ablehnung eines förmlichen (unbedingt gestellten) Beweisantrags ist nur dann verfahrensfehlerhaft, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze findet (§ 86 Abs. 2 VwGO, § 244 StPO; stRspr, BVerfG, B.v. 8.12.2020 - 1 BvR 117/16 - juris Rn. 12; BVerwG, B.v. 14.8.2017 - 9 B 4.17 - juris Rn. 6). Dabei sind neben den einschlägigen Bestimmungen des Verwaltungsprozessrechts und der Zivilprozessordnung (§ 98 VwGO) auch die in § 244 StPO aufgelisteten Beweisablehnungsgründe in den Blick zu nehmen. Die Ablehnung eines Beweisantrags findet unter anderem dann im Prozessrecht eine Stütze, wenn sich der behauptete Sachverhalt, als gegeben unterstellt, nicht auf die Entscheidung auswirken kann (§ 86 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO entspr.), weil es nach dem Rechtsstandpunkt des Tatsachengerichts für den Ausgang des Rechtsstreits nicht darauf ankommt (BVerwG, B.v. 10.8.2015 - 5 B 48/15 - juris Rn. 10). Ein Beweisantrag ist unter anderem dann unzulässig und kann abgelehnt werden, wenn es sich um einen Ausforschungs- oder Beweisermittlungsantrag handelt, wenn er also lediglich zum Ziel hat, Zugang zu einer bestimmten Informationsquelle zu erlangen, um auf diesem Wege Anhaltspunkte für neuen Sachvortrag zu gewinnen. Auch Beweisanträge, die so unbestimmt sind, dass im Grunde erst die Beweiserhebung selbst die entscheidungserheblichen Tatsachen und Behauptungen aufdecken kann, müssen regelmäßig dem Gericht eine weitere Sachaufklärung nicht nahelegen und können als unsubstantiiert abgelehnt werden. So liegt es, wenn für den Wahrheitsgehalt der Beweistatsachen nicht wenigstens eine gewisse Wahrscheinlichkeit spricht, das heißt, wenn sie mit anderen Worten ohne greifbare Anhaltspunkte willkürlich „aus der Luft gegriffen“, „ins Blaue hinein“, also „erkennbar ohne jede tatsächliche Grundlage“ behauptet worden sind. Welche Anforderungen vom Tatsachengericht an die Substantiierung gestellt werden dürfen, bestimmt sich zum einen danach, ob die zu beweisende Tatsache in den eigenen Erkenntnisbereich des Beteiligten fällt, und zum anderen nach der konkreten prozessualen Situation (BVerwG, B.v. 30.5.2014 - 10 B 34.14 - juris Rn. 9 m.w.N.; BayVGH, B.v. 25.3.2021 - 19 ZB 19.950 - juris Rn. 41).
80
Aus dem Zulassungsvorbringen ergibt sich nicht, dass die Ablehnung der Beweisanträge Nr. 1 und Nr. 6 verfahrensfehlerhaft erfolgt ist. Das Verwaltungsgericht hat die in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisanträge Nr. 1 und Nr. 6 ausdrücklich und begründet beschieden (vgl. § 86 Abs. 2 VwGO).
81
Auch die jeweilige Begründung ist nicht zu beanstanden: Das Verwaltungsgericht hat den Beweisantrag Nr. 1 mit der Begründung abgelehnt, dass es sich bei der Frage der Beurteilung der Wiederholungsgefahr um eine Rechtsfrage handele, die von dem Gericht selbst zu beurteilen sei. Bei der Prognoseentscheidung zur Wiederholungsgefahr bewege sich das Gericht regelmäßig in Lebens- und Erkenntnisbereichen, die Gerichten allgemein zugänglich seien.
82
Dies ist nicht zu beanstanden. Wie bereits dargelegt, ist die Frage, ob von einem Ausländer eine Wiederholungsgefahr ausgeht, rechtlicher Natur. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend ausgeführt, dass das Gericht sich bei der Prognoseentscheidung zur Wiederholungsgefahr regelmäßig in Lebens- und Erkenntnisbereichen bewegt, die Gerichten allgemein zugänglich sind. Gerade die Frage der Wiederholungsgefahr nach strafrechtlichen Verurteilungen kann daher grundsätzlich von Gerichten im Wege einer eigenständigen Prognose ohne Zuziehung eines Sachverständigen beurteilt werden (stRspr, BVerwG, U.v. 13.12.2012 - 1 C 20/11 - juris Rn. 23; BayVGH, B.v. 10.10.2017 - 19 ZB 16.2636 - juris Rn. 36, B.v. 8.11.2017 - 10 ZB 16.2199 - juris Rn. 7 m.w.N.). Eine Ausnahme kommt danach nur in Betracht, wenn die Prognose die Feststellung oder Bewertung von Umständen voraussetzt, für die eine dem Richter nicht zur Verfügung stehende Sachkunde erforderlich ist, wie es z.B. bezüglich der Frage des Vorliegens oder der Auswirkungen eines seelischen Leidens der Fall sein kann (BVerwG, B.v. 4.5.1990 - 1 B 82/89 - juris Rn. 7).
83
Ein solcher Fall, bei dem ein Sachverständigengutachten ausnahmsweise als Hilfestellung in Betracht kommt (ohne die Prognoseentscheidung des Tatrichters zu ersetzen, BVerwG, U.v. 13.3.2009 - 1 B 20.08 - juris Rn. 5), liegt hier nicht vor.
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Soweit der Kläger in der Zulassungsbegründung ausführt, dass dieser Beweisantrag nicht die Rechtsfrage der Gefahr betroffen habe, sondern die „Gefährlichkeit“ des Klägers, so erscheint diese Unterscheidung lediglich begrifflicher Natur. Im Übrigen hat das Verwaltungsgericht die der Prognose zugrundeliegenden Umstände, insbesondere die sachverständigen Äußerungen zur Kenntnis genommen, berücksichtigt und bewertet.
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Der nach Ablehnung des Beweisantrags Nr. 1 gestellte Beweisantrag Nr. 6, mit dem die Einholung eines Fachpsychiatrischen Sachverständigengutachtens zum Beweis der Tatsache, dass die im Bericht des Klinikums am Europakanal genannten Tatsachen und der Verlauf der Behandlung des Klägers dazu führen, dass eine Abhängigkeitserkrankung nicht mehr fortbesteht und die Gefahr eines Rückfalls des Konsums von Betäubungsmitteln ausgeräumt ist, mit der Begründung beantragt wurde, dass der Sachverständige L. bereits im Ausgangsgutachten nur eine Grenze zur Abhängigkeit bejaht habe und im Hinblick auf den erfolgreichen Therapieverlauf und die im Schreiben vom 29. März 2022 vorgetragenen Tatsachen daher medizinisch keine Rückfallgefahr mehr bestehe, hat das Verwaltungsgericht mit der Begründung abgelehnt, dem Gericht liege der aktuelle Therapiebericht des Bezirkskrankenhauses vom 16. März 2022 vor, in dem der Therapieverlauf substantiiert dargestellt sei, so dass die Tatsachen insoweit hinreichend geklärt seien und das Gericht die für die rechtliche Überzeugungsbildung notwendigen, sachlichen Grundlagen habe.
86
Dies ist nicht zu beanstanden. Der Kläger hat nicht substantiiert dargelegt, welche Beweistatsachen über die bereits vorliegenden aktuellen sachverständigen Äußerungen durch Sachverständigenbeweis aufzuklären gewesen wären. Vielmehr zielt die beantragte Beweiserhebung auf eine Bestätigung der bereits vorliegenden sachverständigen Äußerungen. Die Ablehnung, über die bereits vorliegenden aktuellen sachverständigen Äußerungen hinaus ein Sachverständigengutachten einzuholen, findet im Prozessrecht nur dann keine Stütze, wenn die vorliegenden sachverständigen Aussagen nicht geeignet sind, dem Gericht die für die richterliche Überzeugungsbildung notwendigen sachlichen Grundlagen zu vermitteln. Anhaltspunkte dafür, dass die vorliegenden Therapieberichte unzureichend seien oder etwa von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgehen sollten, hat der Kläger mit seinem Beweisantrag nicht aufgezeigt.
87
Der geltend gemachte Zulassungsgrund der Divergenz nach § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO ist schon nicht in einer § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechenden Weise dargelegt bzw. liegt nicht vor.
88
Die Darlegung einer Divergenz nach § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO erfordert, dass ein inhaltlich bestimmter, die angefochtene Entscheidung tragender Rechts- oder Tatsachensatz bezeichnet wird, mit dem die Vorinstanz von einem in der Rechtsprechung eines übergeordneten Gerichts aufgestellten ebensolchen entscheidungstragenden Rechts- oder Tatsachensatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift abgewichen ist. Die divergierenden Sätze sind einander so gegenüberzustellen, dass die Abweichung erkennbar wird (vgl. BayVGH, B.v. 30.8.2019 - 10 ZB 19.1519 - juris Rn. 3 m.w.N.).
89
Diesen Anforderungen genügt das Zulassungsvorbringen nicht, die geltend gemachte Divergenzrüge rechtfertigt nicht die Zulassung der Berufung nach § 124 Abs. 4 Nr. 4 VwGO.
90
Die Divergenzrügen des Klägers beziehen sich auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Oktober 2016 (Az.: 2 BvR 1943/16). Der Kläger macht geltend, das Bundesverfassungsgericht habe ausgeführt:
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„Bei der Ausweisung hier geborener beziehungsweise als Kleinkinder nach Deutschland gekommener Ausländer ist aber im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung der besonderen Härte, die eine Ausweisung für diese Personengruppe darstellt, in angemessenem Umfang Rechnung zu tragen. Es ist im Rahmen der verfassungsrechtlich gebotenen Abwägung nicht ausreichend, wenn die Gerichte von der Begehung von Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz in jedem Fall ohne Weiteres auf die Gefährdung höchster Gemeinwohlgüter und auf eine kaum widerlegliche Rückfallgefahr schließen. Vielmehr ist der konkrete, der Verurteilung zugrundeliegende Sachverhalt ebenso zu berücksichtigen wie das Nachtatverhalten und der Verlauf von Haft und - gegebenenfalls - Therapie. Auch bei Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz darf ein allgemeines Erfahrungswissen nicht zu einer schematischen Gesetzesanwendung führen, die die im Einzelfall für den Ausländer sprechenden Umstände ausblendet.“
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Der Kläger rügt weiter, das Verwaltungsgericht habe demgegenüber ausgeführt:
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„Ausgehend davon, dass gerade bei Fallgruppen besonders schwerer und schädlicher Delikte wie Betäubungsmitteldelikten an den Grad der Wiederholungswahrscheinlichkeit regelmäßig nur geringe Anforderungen zu stellen sind, geht die Beklagte in dem streitgegenständlichen Bescheid zutreffend von einer gegenwärtigen Wiederholungsgefahr bei dem Kläger aus. Sowohl nach der Höhe der gegen ihn verhängten Freiheitsstrafe als auch der Art und Weise der konkreten Begehung handelt es sich bei dem abgeurteilten Betäubungsmitteldelikt um eine schwerwiegende Straftat, die typischerweise mit einem hohen Wiederholungsrisiko verbunden ist. Dies gilt insbesondere für den illegalen Handel mit Betäubungsmitteln, der regelmäßig mit einer hohen kriminellen Energie verbunden ist und in besonders schwerwiegender Weise Gesundheit und Leben anderer Menschen gefährdet (…). Bei Straftaten, die auch auf der Suchterkrankung des Ausländers beruhen, kann von einem Wegfall der Wiederholungsgefahr jedenfalls nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung künftigen drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat. Angesichts der erheblichen Rückfallquoten während einer andauernden Drogentherapie und auch noch in der ersten Zeit nach dem erfolgreichen Abschluss einer Drogentherapie kann allein aus der begonnenen Therapie noch nicht auf ein künftiges straffreies Leben geschlossen werden (…). Selbst eine erfolgreich abgeschlossene Drogentherapie schließt eine Rückfall- und Wiederholungsgefahr nicht aus (…).“
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Das Verwaltungsgericht habe damit den Rechtssatz gebildet: „Straftaten, die auch auf der Suchterkrankung des Ausländers beruhen, führen zu einer feststehenden Wiederholungsgefahr, die nur dann entfällt, wenn eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen wurde und die damit verbundene Erwartung künftig drogen- und straffreien Verhaltens nach Therapieende und eines zusätzlichen Zeitraums, der die „erste Zeit nach der Therapie“ überdauert, glaubhaft gemacht wurde. Während der Therapie und in der ersten Zeit nach dem erfolgreichen Abschluss einer Drogentherapie ist wegen der erheblichen Rückfallquoten bei Betäubungsmittelerkrankungen stets von einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit einer künftigen Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung durch den Betroffenen auszugehen, die nicht durch individuelle Tatsachen widerlegt werden kann.“
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Aufgrund dieses abstrakten Rechtssatzes habe das Verwaltungsgericht den Verwaltungsstreit entschieden und habe allein durch die Art und Weise der Straftatenbegehung auf die Wahrscheinlichkeit der künftigen Straftatenbegehung durch den Kläger geschlossen und diese trotz der günstigen Prognoseumstände, die in der Ausgangsbegutachtung dargelegt worden seien, und des günstigen Therapieverlaufs ein Ausräumen der Wiederholungsgefahr ausgeschlossen. Es habe weiter ausgeschlossen, dass die Wiederholungsgefahr bei einer erfolgreich abgeschlossenen Therapie entfallen könne, solange nicht mehr als die erste Zeit nach einem erfolgreichen Therapieende vergangen sei. Der dargestellte Rechtssatz sei für die Entscheidung tragend, da mit diesem das Bestehen der Wiederholungsgefahr trotz der günstigen Umstände bejaht werde und dabei nur auf diese allgemeinen Annahmen abgestellt werde. Individuelle Umstände habe das Verwaltungsgericht ausdrücklich ausgeklammert, in dem es ausführe, dass trotz der weit fortgeschrittenen Therapie die Grundsätze gälten und die Gefährlichkeit indiziert sei. Der Rechtssatz divergiere zweifelsfrei von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Das Verwaltungsgericht schließe von der Begehung einer Straftat nach dem Betäubungsmittelgesetz in jedem Fall ohne Weiteres auf die Gefährdung höchster Gemeinwohlgüter und eine nicht widerlegliche Rückfallgefahr. Weder berücksichtige es das nachtatliche Verhalten in der Haft und in der Therapie, sondern halte den Wegfall der Wiederholungsgefahr nur dann für denkbar, wenn eine Therapie erfolgreich abgeschlossen wurde und ein unbestimmt langer Zeitraum nach der Therapie vergangen und eine Glaubhaftmachung drogen- und straffreien Verhaltens erfolgt ist. Dabei berufe es sich entgegen der Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts nicht auf individuelle Umstände, sondern auf allgemeines Erfahrungswissen, indem es sich auf „erhebliche Rückfallquoten“ beziehe und wende das Gesetz schematisch an. Einzelfallumstände könnten bei diesem Rechtssatz keine Berücksichtigung finden, da in allen anderen Fällen nicht von einem Wegfall der Wiederholungsgefahr ausgegangen werden könne.
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Auf dieser Divergenz beruhe auch die Entscheidung. Hätte das Verwaltungsgericht die Rechtsprechung beachtet, hätte es keine indizierte Wiederholungsgefahr angenommen, sondern aufgrund einer erforderlichen individuellen Prognoseentscheidung das Bestehen der Wiederholungsgefahr verneint.
97
Mit Schriftsatz vom 22. Oktober 2022 wird das Vorbringen zur geltend gemachten Divergenz vertieft. Das Verwaltungsgericht habe den von ihm angenommenen Rechtssatz auch tatsächlich angewandt und dem Verlauf der Therapie keine Bedeutung beigemessen, da es davon ausgehe, dass die Wiederholungsgefahr wie stets bestehe.
98
Die geltend gemachte Divergenzrüge greift nicht durch. Abgesehen davon, dass das Zulassungsvorbringen einen vermeintlich abstrakten Rechtssatz des Verwaltungsgerichts dadurch konstruiert, dass durch Umformulierungen („feststehende Wiederholungsgefahr“, „zusätzlichen Zeitraums, der die erste Zeit nach der Therapie überdauert“, „wegen der erheblichen Rückfallquoten“ sei bei Betäubungsmittelerkrankungen „stets“ von einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit einer künftigen Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung auszugehen, „die nicht durch individuelle Tatsachen widerlegt werden kann“) den Ausführungen des Verwaltungsgerichts ein Bedeutungsgehalt beigemessen wird, der dem Wortlaut der gerichtlichen Feststellungen nicht entspricht, legt der Kläger mit diesem Vorbringen nicht dar, worin ein Widerspruch zu der von ihm angeführten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts bestehen sollte.
99
Aus den gegenübergestellten Rechtssätzen des Bundesverfassungsgerichts und des angefochtenen Urteils wird keine Abweichung von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erkennbar. Der Kläger gibt mehrere seiner Auffassung nach für seine Rechtsansicht sprechende Passagen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Oktober 2016 (2 BvR 1943/16) wieder, ohne diesen mit dem angeführten Zitat aus dem angefochtenen Urteil tragende und widersprechende Rechtssätze des Verwaltungsgerichts gegenüber zu stellen. Mit dem im Zulassungsvorbringen konstruierten - den tatsächlichen Formulierungen nicht entsprechenden - Rechtssatz des Verwaltungsgerichts rügt der Kläger, dass das Verwaltungsgericht mit der nach seiner Auffassung nach schematischen Behandlung den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts nicht entspreche. Dem Urteil des Verwaltungsgerichts ist jedoch weder der mit dem Zulassungsvorbringen formulierte abstrakte Rechtssatz zu entnehmen noch ist ein Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erkennbar. Das Verwaltungsgericht ist weder von einer „feststehenden Wiederholungsgefahr“ ausgegangen noch wurde ausgeführt, dass „wegen der erheblichen Rückfallquoten“ bei Betäubungsmittelerkrankungen „stets“ eine hinreichende Wahrscheinlichkeit einer künftigen Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung vorliege, „die nicht durch individuelle Tatsachen widerlegt werden kann“. Vielmehr hat das Verwaltungsgericht unter Beachtung der Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts die Wiederholungsgefahr nicht nur ausgehend von der Schwere der begangenen Straftat, sondern unter Berücksichtigung des mit Betäubungsmittelhandel im verübten Umfang verbundenen hohen Gefährdungspotentials und der noch nicht abgeschlossen therapierten Betäubungsmittelabhängigkeit des Klägers einzelfallbezogen bejaht und die Abwägung in strenger Verhältnismäßigkeitsprüfung getroffen. Eine schematische Gesetzesanwendung liegt damit nicht vor.
100
Abgesehen davon verkennt der Kläger, dass die von ihm genannte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts die Ausweisung eines türkischen Staatsangehörigen nach § 53 Abs. 3 AufenthG zum Gegenstand hatte, mithin der von ihm zitierte Rechtssatz auch nicht in Anwendung derselben Rechtsvorschrift wie der vorliegend maßgeblichen (§ 53 Abs. 1 AufenthG) aufgestellt wurde (vgl. BVerfG, B.v. 06.12.2021 - 2 BvR 860/21 - juris Rn. 19).
101
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf §§ 47 Abs. 3, Abs. 2, 52 Abs. 1, 2 GKG i.V.m. Nr. 8.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.
102
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird das Urteil des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).