Titel:
Sicherheitsvorfall als außergewöhnlicher Umstand – angemessene Maßnahmen zur Verringerung der Verspätung
Normenkette:
Fluggastrechte-VO Art. 5 Abs. 3
Leitsätze:
1. Es handelt sich um einen außergewöhnlichen Umstand iSV Art. 5 Abs. 3 Fluggastrechte-VO, wenn die Verspätung darauf beruht, dass der Flughafen dem sich bereits auf dem Rollfeld abflugbereiten Flugzeug wegen eines Sicherheitsvorfalls Startverbot erteilt. (Rn. 7 – 15) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Luftfahrtunternehmen kommt seiner Verpflichtung, angemessene Maßnahmen zur zumutbaren Weiterbeförderung zu ergreifen, ausreichend nach, wenn es sämtliche anderweitigen Ersatzbeförderungen automatisiert geprüft und bei Verfügbarkeit auch als Alternativbeförderung herangezogen hat. Eine Darlegung der Gründe für die fehlende Verfügbarkeit ist nicht unbedingt erforderlich. (Rn. 16 – 26) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Sicherheitsvorfall, außergewöhnlicher Umstand, Alternativbeförderung, Verringerung der Verspätung, automatisierte Prüfung, Verfügbarkeit, Darlegung fehlender Verfügbarkeit, VO (EG) 261/2004
Fundstelle:
BeckRS 2022, 34413
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Der Streitwert wird auf 600,00 € festgesetzt.
Entscheidungsgründe
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Gemäß § 495a ZPO bestimmt das Gericht das Verfahren nach billigem Ermessen. Innerhalb dieses Entscheidungsrahmens berücksichtigt das Gericht grundsätzlich den gesamten Akteninhalt.
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Die zulässige Klage erwies sich als unbegründet.
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Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch aus abgetretenem Recht auf Zahlung von 600,00 € aus Art. 5 Abs. 1 lit. c), 7 Abs. 1 S. 1 Verordnung (EG) Nr. 261/2004, da sich die Beklagte vorliegend erfolgreich auf die Haftungsbefreiung des Art. 5 Abs. 3 Verordnung (EG) Nr. 261/2004 berufen kann.
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Der Fluggast MH sollte am 10.10.2018 von München über Frankfurt (am Main) nach Shanghai befördert werden. Der Flug von München nach Frankfurt (am Main) mit der Flugnummer ... sollte planmäßig am 10.10.2018 um 20:00 Uhr Ortszeit (18.00 UTC) starten und am 10.10.2018 um 21:00 Uhr Ortszeit (19.00 UTC) landen. Der Flug von Frankfurt (am Main) nach Shanghai mit der Flugnummer ... sollte planmäßig am 10.10.2018 und 22:05 Uhr Ortszeit (20.05 UTC) starten und am 11.10.2018 um 14:50 Uhr Ortszeit landen.
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Der Flug ... war jedoch verspätet und erreichte Frankfurt (am Main) erst am 10.10.2018 um 23:10 Uhr Ortszeit (21.10 UTC). Durch die Verspätung konnte der Anschlussflug ... nicht erreicht werden. Nach alledem erreichte der Zedent nach erfolgter Ersatzbeförderung sein Endziel zwar erst mit einer Verspätung von 24 Stunden und 29 Minuten.
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Zur Überzeugung des Gerichts steht aber fest, dass die Verspätung darauf beruhte, dass es einen Sicherheitsvorfall am Flughafen in München gegeben hat (1.) und die Beklagte die eingetretene Verspätung nicht durch zumutbare Maßnahmen hätte vermeiden können (2.).
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1. Die Beklagte kann sich im Streitfall erfolgreich auf einen außergewöhnlichen Umstand im Sinne von Art. 5 Abs. 3 Verordnung (EG) Nr. 261/2004 berufen.
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Außergewöhnliche Umstände sind Vorkommnisse, die aufgrund ihrer Natur oder Ursache nicht Teil der normalen Ausübung der Tätigkeit des betroffenen Luftfahrtunternehmens und von ihm tatsächlich nicht zu beherrschen sind, wie beispielsweise Naturkatastrophen, versteckte Fabrikationsfehler oder terroristische Sabotageakte (vgl. EuGH (4. Kammer), Urteil vom 22. 12. 2008 - C-549/07 Wallentin-Herman/Alitalia - Linee Aeree Italiana SpA, NJW 2009, 347 und BGH, Urteil vom 12.11.2009 -Xa ZR 76/07, NJW 2010, 1070). Namentlich handelt es sich nach Nr. 14 der Erwägungsgründe auch bei mit der Durchführung des betreffenden Flugs nicht zu vereinbarende, unerwartete Sicherheitsrisiken um einen solchen außergewöhnlichen Umstand.
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Die durchgeführte Beweisaufnahme hat ergeben, dass es zum maßgeblichen Zeitpunkt am Flughafen München einen sicherheitsrelevanten Vorfall gegeben hat, welcher allein dazu führte, dass der Flug ... derart verspätet war, dass der Zedent den Anschlussflug verpasst hat.
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So bestätigte der Zeuge B., angestellter Referent der Verkehrszentrale bei der Beklagten, in seiner Vernehmung in der mündlichen Verhandlung am 18.11.2021 den Vortrag der Beklagten und gab an, dass der streitgegenständliche Flug mit der Nummer ... pünktlich in München verfügbar gewesen und um 18:07 Uhr (UTC) off Block gegangen sei.
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Zuvor sei es um 17:27 Uhr (UTC) zu einem Sicherheitsvorfall am Flughafen München im Terminal 2 gekommen, da ein Alarm durch das Öffnen eines Türnottasters ausgelöst worden sei. Um 18:03 Uhr (UTC) sei ein allgemeiner Abfertigungsstopp von der Bundespolizei für den gesamten Flughafen verhängt worden. Es seien keine Starts mehr möglich gewesen, auch keine weiteren Passagierbewegungen zwischen den Terminals und dem Satelliten. Der Flug ..., der sich schon auf dem Weg zur Startbahn befunden habe, habe nicht abheben dürfen. Er sei um 18:43 Uhr (UTC) wieder an der Parkposition angekommen. Der Abfertigungstopp im Terminal 2 sei um 19:18 Uhr (UTC) aufgehoben worden, weil der den Vorfall auslösende Passagier aufgegriffen wurde. Die Parkposition sei um 20:24 Uhr (UTC) nach erneuter Flugvorbereitung wieder verlassen worden und der Start sei um 20:35 Uhr (UTC) erfolgt. Um 21:07 Uhr (UTC) sei das Flugzeug in Frankfurt gelandet und die Parkposition um 21:21 Uhr (UTC) erreicht worden.
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Ob nach dem Zwischenfall und vor dem Start am Flughafen München Passagiere das Flugzeug verlassen haben, könne er nicht sicher sagen, dies habe - wenn es so war - zu einer Verzögerung zwischen 30 und 45 Minuten geführt. Auch in diesem Fall hätte der Fluggast den Flug ... verpasst, da dieser die Parkposition bereits um 20:25 Uhr (UTC) verlassen habe.
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Die Ausführungen des Zeugen B. waren schlüssig. Zweifel an den Angaben des Zeugen bestehen nicht. Die Angaben erfolgten auch - wenngleich der Zeuge als Mitarbeiter der Beklagten mit dem Unternehmen ersichtlich in einem „Lager“ steht - sachlich und ohne erkennbaren Eifer zur Entlastung der Beklagten. Insbesondere räumte der Zeuge unumwunden auch ein, dass er zum Teil keine Angaben zu den gefragten Details machen könne.
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Nach alledem ist das Gericht davon überzeugt, dass die Verspätung des Zubringerfluges von München nach Frankfurt am Main auf einen außergewöhnlichen Umstand zurückgeht. Denn auf einen sicherheitsbedingten - von der Bundespolizei angeordneten - Abfertigungsstopp hat die Beklagte keinen Einfluss.
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Dabei kann nach der Rechtsprechung der multikausalen Verspätung auch dahinstehen, ob ein eventuelles Aussteigen von Passagieren im Rahmen der Exkulpation zu berücksichtigen ist, denn jedenfalls hat es sich zeitlich kausal nicht ausgewirkt.
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2. Maßnahmen des Luftfahrtunternehmens, welche unter den gegebenen Umständen hätten ergriffen werden können, um die eingetretene Verspätung von 24 Stunden und 29 Minuten zu vermeiden oder zu reduzieren, waren im Streitfall nicht gegeben.
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aa) Zwar ist nach der Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 11. Juni 2020, Transportes Aéreos Portugueses, C-74/19, ECLI:ECLI:EU:C:2020:460; EuGH (Neunte Kammer), Beschluss vom 14.01.2021 - C-264/20) eine Entlastung des Luftfahrtunternehmens ist nur dann möglich, wenn die Annullierung des Fluges bzw. dessen um drei Stunden oder mehr verspätete Ankunft auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären, und es bei Eintritt eines solchen Umstands die der Situation angemessenen Maßnahmen ergriffen hat, indem es alle ihm zur Verfügung stehenden personellen, materiellen und finanziellen Mittel eingesetzt hat, um zu vermeiden, dass dieser Umstand zur Annullierung oder zur großen Verspätung des betreffenden Fluges führt, ohne dass jedoch von ihm angesichts der Kapazitäten seines Unternehmens zum maßgeblichen Zeitpunkt nicht tragbare Opfer verlangt werden könnten.
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Die jeweils konkrete Situation ist jedenfalls dahingehend zu prüfen, ob die Beklagte nachweisen kann, dass sie alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel eingesetzt hat, um eine zumutbare, zufriedenstellende und frühestmögliche anderweitige Beförderung der Passagiere sicherzustellen. Es ist eine Prüfung dahingehend notwendig, ob eine Beförderung auf einem direkten oder indirekten Flug möglich ist, der gegebenenfalls von anderen Luftfahrtunternehmen durchgeführt wird und mit weniger Verspätung als der nächste Flug des betreffenden Luftfahrtunternehmens ankommt.
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bb) Hier hat die Beklagte nach der durchgeführten Beweisaufnahme zur Überzeugung des Gerichts den Nachweis, dass eine zumutbare und zufriedenstellende frühere Beförderung nicht möglich gewesen wäre, erbracht.
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So führte der Zeuge B. in der mündlichen Verhandlung am 18.11.2021 und im Anschluss daran in der schriftlichen Aussage vom 02.12.2021 weiter aus, die nächstmögliche Umbuchung sei erst am Folgetag möglich gewesen. Denn nach dem spätestens 23.30 Uhr Ortszeit (21.30 UTC) einsetzenden Nachtflugverbot in Frankfurt (Main) seien bei Erreichen der Parkposition des Fluges ... die noch am selben Abend abgehenden Flugzeuge alle bereits abgefertigt gewesen.
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Eine Umbuchung sei am nächsten Tag erst abends möglich gewesen, da Langstreckenflüge nach Asien in der Regel immer am Abend abgehen.
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Es sei die Möglichkeit einer anderweitigen Ersatzbeförderung geprüft worden. Dies erfolge automatisiert durch einen dreistufigen Prozess, bei dem alle Endto-End-Verbindungen zwischen dem Ausgangs- und dem Endpunkt der Buchung in Betracht gezogen würden. Im Rahmen dieses Prozesses würden auch Buchungen bei direkten Wettbewerbern in der letzten Stufe geprüft. Es habe zwei frühere Beförderungen gegeben, nämlich ...0 und .... Letztere sei zum Zeitpunkt der Umbuchung des Zedenten bereits ausgebucht gewesen. Erstere sei nicht gewählt worden, zu den Gründen könne er keine Angaben machen, da er keine Einblicke in die Buchungsdaten bei der Fluggesellschaft, nämlich ..., habe.
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Eventuelle indirekte Verbindungen über weitere Destinationen - am nächsten Tag tagsüber - wären „unsinnig“ gewesen, da der Fluggast dann eine längere Flugzeit mit weiteren Unannehmlichkeiten und eine Ankunftsverspätung von mindestens 22/23 Stunden gehabt hätte.
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Nach dem oben dargestellten Maßstab, wonach „angemessene“ Maßnahmen zur „zumutbare und zufriedenstellenden“ Weiterbeförderung ergriffen werden müssen, ist das Gericht vorliegend davon überzeugt, dass die Beklagte dem von ihr Geforderten Genüge getan und den Passagier möglichst zügig weiterbefördert hat. Dabei geht das Gericht - entsprechend der Angaben des dem Gericht bereits länger als glaubwürdig bekannten Zeugen - davon aus, dass sämtliche anderweitigen Ersatzbeförderungsmöglichkeiten auch im konkreten Einzelfall automatisiert geprüft wurden. Weiter hat das Gericht auch keine ernsthaften Zweifel daran, dass der Flug ... dabei - entsprechend dem grundsätzlichen Vorgehen bei Umbuchungen - in Betracht gezogen wurde und bei Verfügbarkeit auch als Alternativbeförderung herangezogen worden wäre. Eine fehlende Darlegung der Hintergründe, warum letztlich eine Umbuchung auf den Flug ...0 nicht möglich war, ist insofern entbehrlich. Ausreichend ist nach der EuGH-Rechtsprechung eine Prüfung mit dem Ziel der schnellstmöglichen Weiterbeförderung. Dies ist hier erfolgt.
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Soweit der Zeuge weiter einräumt, es seien anderweitige Beförderungen zum Endziel zwar möglich, aber „unsinnig“ gewesen, so ist die Klägerin dieser begründeten Einschätzung hinsichtlich der Unannehmlichkeiten, nicht hinreichend entgegengetreten. Diese Alternativen sind daher nach Auffassung des Gerichts im Rahmen einer zufriedenstellenden und zumutbaren Ersatzbeförderung zu vernachlässigen.
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In der Gesamtschau aller Umstände hat die Beklagte sämtliche ihr zur Verfügung stehenden angemessenen Maßnahmen - an welche keine überzogenen Anforderungen zu stellen sind - ergriffen. Mithin hat sie zur Überzeugung des Gerichts unter den gegebenen Umständen mit Rücksicht auf den Passagier sinnvoll, angemessen und sachgerecht gehandelt.
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cc) Damit kann vorliegend offenbleiben, ob die neue Rechtsprechung des Landgerichts Landshut (Urteil vom 13.10.2021, Az. 14 S 1361/21 - nicht rechtskräftig), wonach es für eine Exkulpation auf die individuelle Reiseroute bzw. die Umbuchbarkeit und die individuelle Verspätung einzelner Fluggäste nicht ankommt, gegenüber der oben zitierten EuGH-Rechtsprechung vorzugswürdig ist.
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Die Beklagte kann sich erfolgreich auf Art. 5 Abs. 3 Verordnung (EG) Nr. 261/2004 berufen.
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Mangels Hauptanspruch besteht auch kein Anspruch auf Zahlung von Zinsen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO.
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Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit hat ihre Rechtsgrundlage in den §§ 708 Nr. 11, 713 ZPO.
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Die Berufung war nicht zuzulassen, da kein Grund im Sinne des § 511 Abs. 4 ZPO ersichtlich ist.