Inhalt

VG Augsburg, Urteil v. 22.06.2022 – Au 6 K 20.31370, Au 6 K 20.31372
Titel:

Myanmarische Staatsangehörige vom Volk der Bamar und buddhistischer Glaubenszugehörigkeit, Klage auf Asyl, Flüchtlingsanerkennung und subsidiären Schutz sowie Abschiebungsverbote, Anerkennung als Asylberechtigte, Aufnahme von mehreren Personen aus dem Rakhine-Staat und Vermittlung von zwei der Personen an gegen das myanmarische Militär kämpfende Rebellengruppe vor dem Militärputsch, Ausreise mit Touristenvisum nach Deutschland auf dem Luftweg, Teilnahme an einer militärkritischen Kundgebung in Deutschland

Normenketten:
GG Art. 16a
AsylG § 3
AsylG § 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
Schlagworte:
Myanmarische Staatsangehörige vom Volk der Bamar und buddhistischer Glaubenszugehörigkeit, Klage auf Asyl, Flüchtlingsanerkennung und subsidiären Schutz sowie Abschiebungsverbote, Anerkennung als Asylberechtigte, Aufnahme von mehreren Personen aus dem Rakhine-Staat und Vermittlung von zwei der Personen an gegen das myanmarische Militär kämpfende Rebellengruppe vor dem Militärputsch, Ausreise mit Touristenvisum nach Deutschland auf dem Luftweg, Teilnahme an einer militärkritischen Kundgebung in Deutschland
Fundstelle:
BeckRS 2022, 34245

Tenor

I. Die Bescheide des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 2. Oktober 2020 und vom 5. Oktober 2020 werden aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, die Klägerinnen als Asylberechtigte anzuerkennen.
II. Die Beklagte hat die Kosten beider Verfahren zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.  

Tatbestand

1
Die Klägerin im Verfahren Au 6 K 20.31370 (im Folgenden: Klägerin zu 1) und die Klägerin im Verfahren Au 6 K 20.31372 (im Folgenden: Klägerin zu 2) sind Schwestern myanmarischer Staatsangehörigkeit und buddhistischen Glaubens. Sie begehren mit ihrer Klage unter Aufhebung von Bescheiden der Beklagten die Anerkennung als Asylberechtigte, die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, des subsidiären Schutzes und die Feststellung, dass Abschiebungsverbote vorliegen.
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Mit Schreiben vom 21. November 2019 beantragte der Klägerbevollmächtigte beim Bundesamt die Anerkennung der Klägerinnen als Asylberechtigte und Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise des subsidiären Schutzstatus, hilfsweise der Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Klägerinnen seien aufgrund politischer Verfolgung aus Myanmar geflüchtet, zudem bestehe für sie die Gefahr von Folter und unmenschlicher bzw. erniedrigender Behandlung oder Strafe im Sinne des Art. 3 EMRK.
3
Ausweislich des Antrages auf Erteilung eines Schengenvisums wurde als Hauptzweck ihrer Reise ein Besuch bzw. Tourismus angegeben; als einladende Person wurde eine deutsche Staatsangehörige, die laut am 9. August 2019 abgegebener Verpflichtungserklärung (vgl. Behördenakte im Verfahren Au 6 K 20.31370 Bl. 129 f. und im Verfahren Au 6 K 20.31372 Bl. 127 f.) die Nichte der Klägerinnen sei, angegeben. Ferner wurde angegeben, dass die Klägerinnen die Kosten der Reise selbst tragen.
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Im Rahmen ihrer Anhörung vor dem Bundesamt am 9. September 2020 gab die Klägerin zu 1 im Wesentlichen an (vgl. Behördenakte im Verfahren Au 6 K 20.31370 Bl. 163 ff.), sie sei vom Volksstamm der Bamar, buddhistischen Glaubens und myanmarische Staatsangehörige. Seit ihrer Geburt habe sie in der gleichen von ihren Eltern geerbten Eigentumswohnung in ... (...) gelebt; sie habe dort mit ihrer jüngeren (Klägerin zu 2) und ihrer älteren Schwester gewohnt. Am 14. Oktober 2019 hätte sie Myanmar auf dem Luftweg nach Deutschland aufgrund eines Touristenvisums verlassen. Bei der Visumbeantragung habe sie noch nicht den Entschluss gefasst, in Deutschland Asyl zu beantragen; sie habe sich für die Reise zwei Wochen Urlaub genommen. Zur Visumbeantragung hätten sie einen Schleuser in ... gefunden, der ihnen geholfen habe. Die Reise habe 250.000 Kyats gekostet. Ferner habe sie zwei weitere Brüder, von denen einer in Deutschland lebe und der andere der verstorbene Vater des Klägers im Parallelverfahren Au 6 K 20.31360 sei. Die Klägerin zu 1 habe in ... Zoologie studiert, zunächst in einem kleinen Bistro als Angestellte gearbeitet und schließlich bei einer Firma Kaffee verkauft. Ihre finanzielle Situation sei durchschnittlich gewesen, sie habe 500.000 Kyats im Monat verdient. Mit ihrer Arbeit sei sie sehr zufrieden gewesen. Wehrdienst habe sie nicht geleistet.
Am 19. September 2019 habe die Mutter des Klägers im Parallelverfahren Au 6 K 20.31360 angerufen und gebeten, vier ihrer Gäste aus ... bei ihnen übernachten zu lassen. Sie habe die Personen gekannt, drei bis vier Mal hätten sie sie schon getroffen und seien befreundet; nach dem Tod des Vaters des Klägers im Parallelverfahren Au 6 K 20.31360 hätten sie niemanden mehr gehabt, der ihnen geholfen hätte. Diese Personen hätten in durchschnittlichen finanziellen Verhältnissen gelebt. Sie hätten die Personen ab dem 19. September 2019 bei sich aufgenommen und von ihren Schwierigkeiten in ihrem Dorf erfahren. Das Militär sei ab und zu ins Dorf gekommen und habe Bewohner, die es verdächtigt habe, mit AA-Rebellen (Arakan Army, AA) in Kontakt zu stehen, abgeholt, geschlagen und gefoltert. Der Grund sei gewesen, dass auch AA-Rebellen ab und zu ins Dorf gekommen und nicht von den Dorfbewohnern zu unterscheiden gewesen seien. Der Schwiegervater der Cousine des Klägers im Parallelverfahren Au 6 K 20.31360 sei abgeholt und nach Kenntnis der Personen aus ... getötet worden. Aus Angst hätten sie nicht mehr im Dorf bleiben und stattdessen gegen das Militär kämpfen wollen. Da die Personen aus ... selbst den Tod eines Angehörigen erlebt hätten, würden sie das Militär hassen und hätten sich erkundigt, ob die Klägerin zu 1 und ihre Schwestern einen Kontakt zu den AA-Rebellen vermitteln könnten. Die Klägerin zu 1 sei der Ansicht gewesen, die Leute seien ehrlich und habe ihnen helfen wollen. Während ihres Aufenthalts hätten die Personen die Wohnung nicht verlassen, da sie Angst gehabt hätten, unglücklich und traurig gewesen seien. Sie seien nur wegen der gefährlichen Situation gekommen. In ihrem Dorf hätten sie nicht gewusst, wie sie AA-Rebellen kontaktieren könnten, da dieses vom Militär kontrolliert worden sei. Mit ihrer Schwester, der Klägerin zu 2, sei sie zu ihrem Cousin, dem Kläger im Parallelverfahren Au 6 K 20.31313, gegangen und habe ihm davon erzählt. Er habe gesagt, dass er helfen könne und am 27. September 2019 der Klägerin zu 2 mitgeteilt, einen Kontakt hergestellt zu haben. Am 8. Oktober 2019 habe er die Cousine des Klägers im Parallelverfahren Au 6 K 20.31360 und deren Mann nach Mandalay gebracht und sei am nächsten Tag nach ... zurückgekehrt. Er habe mitgeteilt, dass der Kontakt zu den AA-Rebellen hergestellt sei und er für die anderen Personen eine Telefonnummer habe, um die Rebellen zu kontaktieren.
Am 14. Oktober 2019 seien sie zu sechst nach Deutschland gereist. Ihre ältere Schwester sei zu Hause geblieben, da sie sich nicht gut gefühlt und noch zwei der Gäste zu betreuen gehabt habe.
Nachdem eine Nichte aus Deutschland im Juni 2019 in Myanmar zu Besuch gewesen sei, seien diese, die beiden Klägerinnen sowie der Kläger im Parallelverfahren Au 6 K 20.31313, am 24. Juni 2019 gemeinsam essen gewesen und hätten die Entscheidung getroffen, nach Deutschland zu reisen. Die Nichte sei Zahnärztin, die in der siebten Klasse nach Deutschland gekommen sei; die Klägerin zu 1 kenne sie seit ihrer Geburt.
Am 28. Oktober 2019 hätten sie gemeinsam die Entscheidung getroffen, einen Asylantrag zu stellen, weil am 29. Oktober 2019 ihr Rückreisedatum gewesen sei; alle hätten dabei zugestimmt, da eine Rückkehr für sie zu gefährlich gewesen sei. Sie hätten nur zwei Wochen in Deutschland bleiben wollen; ihre ältere Schwester in Myanmar könne sie nicht mehr erreichen.
Nach ihrer Ankunft in Deutschland hätten sie eine Rundreise durch mehrere Städte gemacht. Nach einer Woche, am 25. Oktober 2019, habe der Kläger im Parallelverfahren Au 6 K 20.31313 einen Anruf seines Freundes erhalten, sei in ein anderes Zimmer gegangen, habe die beiden Klägerinnen nach seiner Rückkehr gebeten, mitzukommen und ihnen berichtet, dass der Anruf unter der Telefonnummer seines Freundes erfolgt sei, dieser aber wegen des fehlenden Akzents nicht selbst gesprochen habe; die Person habe gefragt, wo er sei. Danach hätte die Klägerin zu 1 versucht, bei ihrer Schwester anzurufen, die allerdings nicht abgenommen habe. Am nächsten Tag habe sie sie wieder nicht erreicht; eine Nachbarin habe ihr telefonisch mitgeteilt, dass Leute die Schwester und die Gäste abgeholt, die Wohnung durchsucht und die Tür verriegelt hätten. Die Nachbarin müsse melden, wenn die Klägerinnen in die Wohnung zurückkehren würden. Zwei Tage später, am 28. Oktober 2019, habe die Klägerin zu 1 auch die Nachbarin nicht erreichen können.
Die Klägerin zu 1 sei bereits 1988 bei einer Demonstration gewesen. Auch am 28. September 2007 habe sie an der großen Demonstration teilgenommen, wo sie an der Sule Pagode zusammen mit anderen Demonstranten verhaftet und in das Insein-Gefängnis gebracht worden sei. Sie sei zu zehn Jahren Haft verurteilt worden und nach fünf Jahren freigekommen im Januar 2012. Wegen ihrer politischen Aktivitäten sei ihre Mutter an Herzversagen und ihr Vater kurz darauf verstorben. Sonst habe sie keine Probleme mit staatlichen Behörden gehabt. Sie befürchte, bei einer Rückkehr nach Myanmar bereits am Flughafen verhaftet zu werden; bei ihrer Entlassung aus dem Gefängnis habe sie unterschrieben, nicht mehr politisch aktiv zu sein.
Sie habe keine Erkrankungen, nur gelegentlich Rückenschmerzen und Angst, Tabletten zu nehmen.
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Mit Bescheid vom 2. Oktober 2020 lehnte das Bundesamt den Antrag der Klägerin zu 1 auf Asylanerkennung, auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und auf subsidiären Schutz ab (Ziffer 1 bis 3), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen (Ziffer 4), drohte die Abschiebung nach Myanmar an (Ziffer 5) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6).
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigte lägen nicht vor. Aus dem Sachvortrag der Klägerin zu 1 sei weder eine flüchtlingsrelevante Verfolgungshandlung noch ein flüchtlingsrelevantes Anknüpfungsmerkmal ersichtlich. Ihre Ausreise sei erfolgt, weil sie, die Klägerin zu 2 und der Kläger im Parallelverfahren Au 6 K 20.31313 am 24. Juni 2019 bei einem gemeinsamen Essen mit ihrer in Deutschland lebenden Nichte, die sich zu dieser Zeit besuchsweise in Myanmar aufgehalten habe, beschlossen hätten, nach Deutschland zu reisen. Bis zu ihrer Ausreise sei sie seit ihrer Haftentlassung im Januar 2012 weder politisch aktiv gewesen, noch habe sie Probleme mit der Polizei oder anderen staatlichen Organisationen gehabt. Die Klägerin zu 1 sei ausgereist, ohne in ihrem Heimatland eine Vorverfolgung erlitten zu haben; dass ihr bei ihrer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung oder ein ernsthafter Schaden drohe, habe sie durch ihren Sachvortrag nicht glaubhaft machen können. Ihre Angaben zu den fluchtauslösenden Ereignissen seien arm an Details, vage, oberflächlich und inhaltlich nicht schlüssig. Die Angaben der Klägerin zu 1 hinsichtlich der Reisekosten in Höhe von 250.000 Kyats stünden im eklatanten Widerspruch zu den Aussagen ihrer Mitreisenden. Der Kläger im Parallelverfahren Au 6 K 20.31313 sowie die Klägerin im Parallelverfahren Au 6 K 20.31332 hätten angegeben, pro Person 5.000 Euro (umgerechnet 7.780.760 Kyats) für die Ausreise nach Deutschland bezahlt zu haben; die Klägerin zu 2 habe ihre Fluchtkosten mit 14 Millionen Kyats beziffert. Es liege der Verdacht nahe, dass die Klägerin zu 1 ihre tatsächlichen Kosten aus asyltaktischen Gründen verschwiegen habe, insbesondere da sie auch nicht angegeben habe, die Reisekosten für den Kläger im Parallelverfahren Au 6 K 20.31360 übernommen zu haben. Ferner stehe die Angabe, die Entscheidung gegen eine Rückkehr nach Myanmar am 28. Oktober 2019 sei einvernehmlich und einstimmig erfolgt, im Widerspruch zu den Aussagen der Klägerin im Parallelverfahren Au 6 K 20.31332, die von einem großen Streit zwischen allen Reisenden berichtet habe. Ferner erschließt sich nicht, weshalb die Klägerin zu 1 lediglich im Oktober 2019 an zwei aufeinanderfolgenden Tagen versucht habe, ihre Schwester telefonisch zu erreichen. Dass sie seit 28. Oktober 2019 keinen Kontaktversuch mehr unternommen habe, lasse eher den Schluss zu, dass sie keine Gefahr für ihre Schwester befürchte. Dass diese und ihre beiden Gäste in Myanmar tatsächlich verhaftet worden seien, ergebe sich weder aus ihrem Sachvortrag, noch aus dem der Kläger in den Parallelverfahren. Würde die Klägerin zu 1 tatsächlich um ihre Verwandten fürchten, hätte sie sicherlich mehr unternommen, um mehr über deren Schicksal zu erfahren; insbesondere hätte der seit 20 Jahren in Deutschland lebende Bruder der Klägerin zu 1 nach Myanmar reisen und Erkundigungen einholen können. Es erschließe sich ferner nicht, dass sie sich nicht bewusst gewesen sein will, in welche Gefahr sie sich begebe, wenn sie Personen helfe, einen Kontakt zu den Rebellen herzustellen, da sie immerhin aufgrund politischer Betätigungen im Jahr 2007 verhaftet und bei ihrer Haftentlassung im Jahr 2012 unterschrieben habe, dass sie nicht mehr politisch aktiv werde.
Es bestehe auch keine beachtliche Wahrscheinlichkeit staatlicher Verfolgung allein wegen einer Asylantragstellung in der Bundesrepublik Deutschland; insbesondere sei die Klägerin zu 1 nicht illegal, sondern legal mit Reisepass und Visum über den internationalen Flughafen ... ausgereist.
Die Voraussetzungen subsidiären Schutzes und Abschiebungsverbote lägen nicht vor. Die Klägerin zu 1 sei im erwerbsfähigen Alter, gesund, ohne Unterhaltsverpflichtungen und verfüge über eine sehr gute Bildung. Sie habe in Myanmar in einer Eigentumswohnung gewohnt und bis zur Ausreise in einer Festanstellung gearbeitet. Die Befristung des Einreiseund Aufenthaltsverbotes sei angemessen; weitere schutzwürdige Belange seien weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
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Hiergegen ließ die Klägerin zu 1 durch ihren Bevollmächtigten am 8. Oktober 2020 Klage erheben und beantragen,
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Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 2. Oktober 2020, zugestellt am 8. Oktober 2020, Az.: 7999157-427, wird aufgehoben.
Die Bundesrepublik Deutschland wird verpflichtet, die Klägerin als Asylberechtigte gem. Art. 16a GG anzuerkennen.
Die Bundesrepublik Deutschland wird verpflichtet, festzustellen, dass die Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 AsylG vorliegt.
Hilfsweise wird beantragt, die Bundesrepublik Deutschland zu verpflichten, festzustellen, dass die Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes gem. § 4 AsylG vorliegen.
Höchst hilfsweise wird beantragt, die Bundesrepublik Deutschland zu verpflichten, festzustellen, dass die Voraussetzungen für nationale Abschiebungsverbote nach §§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG vorliegen.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Klägerin zu 1 drohe bei einer Rückkehr nach Myanmar eine rechtserhebliche Verfolgung gemäß § 3 AsylG durch das myanmarische Militär, da sie Personen aus dem Rakhine-Staat geholfen habe, sich der Rakhine-Rebellengruppe Arakan Army anzuschließen. Ferner drohe der Klägerin zu 1 eine rechtserhebliche Verfolgung bei einer Rückkehr nach Myanmar, da sie sich in Deutschland exilpolitisch betätigt habe, indem sie an Demonstrationen gegen den Militärputsch in Myanmar teilgenommen habe. Das myanmarische Militär rechne sie deshalb der Gruppe der Regimegegner zu.
Die Klägerin zu 1 habe ausführlich und glaubhaft geschildert, wie sie vier Personen aus dem Rakhine-Staat bei sich aufgenommen habe. Der Konflikt des myanmarischen Militärs mit der Arakan Army im Rakhine-Staat sei vor dem Putsch des myanmarischen Militärs am 1. Februar 2021 der Konflikt gewesen, der die Innen- und Sicherheitspolitik Myanmars beherrscht habe. Es bestehe ein Generalverdacht, dass alle Menschen, die die Arakan Army unterstützten, Terroristen seien. Der Klägerin zu 1 drohe bei einer Rückkehr nach Myanmar eine rechtserhebliche Verfolgung, da sie zwei Personen aus dem Rakhine-Staat bei sich habe wohnen lassen, die an die Arakan Army vermittelt worden seien. Am 10. Februar 2021 habe die Klägerin zu 1 in München vor dem chinesischen Konsulat an einer Demonstration gegen den Militärputsch in Myanmar teilgenommen. Bei der Demonstration seien Plakate gegen das Militär gezeigt und Parolen gegen den Militärputsch in Myanmar gerufen worden. Die Klägerin zu 1 habe ein Plakat gezeigt, auf welchem sie die Rückgängigmachung des Militärputsches in Myanmar gefordert habe. Die Militärjunta habe am 14. Februar 2021 Sektion 121 und Sektion 124 des myanmarischen Strafgesetzbuches geändert; in Sektion 124 A sei nun geregelt, dass derjenige, der durch seine gesprochenen oder geschriebenen Worte das Militär verunglimpfe oder zu Unzufriedenheit gegenüber dem Militär führe, mit bis zu 20 Jahren Haftstrafe bestraft werden könne. Zudem würden Personen, die den Militärputsch kritisieren, aufgrund § 505b des myanmarischen Strafgesetzbuches festgenommen und angeklagt. Es erscheine abwegig, dass das myanmarische Militär mehr als 1.300 Personen erschieße und mehr als 10.000 verhafte, weil sie sich auf Demonstrationen gegen das Militär geäußert hätten, jedoch einen Rückkehrer, der im Ausland an Demonstrationen teilnehme, bei einer Rückkehr nach Myanmar unbehelligt lasse. Verhaftete Personen würden in Myanmar seit dem Putsch keine fairen Verfahren erwarten können; es drohe Folter und eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung bei Ermittlungshandlungen. Es sei davon auszugehen, dass das myanmarische Militär Burmesen im Ausland nach dem Putsch beobachte, um mögliche Feinde des Militärs zu identifizieren.
Die rechtserhebliche Verfolgung sei bei der Klägerin zu 1 besonders wahrscheinlich, da sie in der Vergangenheit schon einmal wegen einer Beteiligung an pro-demokratischen Demonstrationen in Myanmar festgenommen und inhaftiert worden sei. Die Klägerin zu 1 sei dem myanmarischen Militär als Person bekannt, die gegen das Militär sei und sich gegen dieses politisch engagiere. Aufgrund ihrer Festnahme im Jahre 2007 würden die Daten der Klägerin zu 1 in Myanmar gespeichert sein.
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Die Beklagte stellte keinen Antrag.
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Im Rahmen ihrer am 8. September 2020 vor dem Bundesamt geführten Anhörung gab die Klägerin zu 2 im Wesentlichen an (vgl. Behördenakte im Verfahren Au 6 K 20.31372 Bl. 163 ff.), sie sei vom Volksstamm der Bamar, buddhistischen Glaubens und besitze die myanmarische Staatsangehörigkeit. Seit ihrer Geburt habe sie in ... (...) in einer Eigentumswohnung gelebt, die sie und ihre beiden älteren Geschwister (u.a. die Klägerin zu 1), mit denen sie dort bis zu ihrer Ausreise gewohnt habe, von ihren Eltern geerbt hätten. Nach Beantragung eines Touristenvisums - wobei sie nach einer Einladung ihrer Nichte aus Deutschland von einem Schleuser unterstützt worden seien, der dafür 50.000 Kyats als Trinkgeld bekommen habe - sei sie zusammen mit der Klägerin zu 1 und den Klägern in den Parallelverfahren Au 6 K 20.31313, Au 6 K 20.31332 und Au 6 K 20.31360 aus Myanmar auf dem Luftweg nach Deutschland ausgereist. Die Kosten hätten insgesamt 14 Millionen Kyats betragen. Bei der Visumbeantragung habe die Klägerin zu 2 noch nicht den Entschluss gefasst, in Deutschland Asyl zu beantragen. Die Eltern der Klägerin zu 2 seien im Januar und Mai 2014 verstorben. In Myanmar befinde sich ihre ältere Schwester, von der sie nicht wisse, ob sie noch lebe; in Deutschland lebe einer ihrer Brüder, der andere sei der Vater des Klägers im Parallelverfahren Au 6 K 20.31360 gewesen und bereits verstorben. Letzterer sei im Jahr 2007 im Rahmen der Shwewaryaung-Demonstration verhaftet und zu 36 Jahren Haft verurteilt worden, ehe er 2012, nach dem der Regierungschef ihn und Andere begnadigt habe, wieder freigelassen worden sei. Im Jahr 2013 sei er aufgrund von Verletzungen, die er sich durch Folterungen im Gefängnis zugezogen habe, verstorben. Die Schule habe sie bis zur zehnten Klasse besucht, das Abitur nicht bestanden und danach ihren Eltern in einem Schuhgeschäft geholfen. Anschließend habe sie seit 1997 in der Buchhaltung einer Firma gearbeitet und zwischenzeitlich wegen einer Erkrankung ihrer Mutter aufgehört, dort zu arbeiten, ehe sie 2003 ihre Tätigkeit wieder fortsetzte. Zuletzt habe sie 260.000 Kyats im Monat verdient; der Kläger im Parallelverfahren Au 6 K 20.31313 arbeite bei dem gleichen Unternehmen. Ihre finanzielle Situation im Herkunftsland sei durchschnittlich gewesen; Wehrdienst habe sie nicht geleistet. Mit ihrem Leben in Myanmar sei sie zufrieden gewesen. Im Jahr 1988 sei sie bei politischen Aktivitäten dabei gewesen, sei aber kein Mitglied einer Partei und auch sonst nicht mehr politisch aktiv. Sie sei damals verhaftet und für drei Wochen vom Militär eingesperrt und befragt worden. Vor ihrer Entlassung habe sie ein Papier unterschreiben müssen, dass sie sich nicht weiter politisch betätigen werde. Probleme mit der Polizei habe sie danach nicht gehabt.
Sie hätten AA-Rebellen bei sich übernachten lassen. Am 19. September 2019 habe die Mutter des Klägers im Parallelverfahren Au 6 K 20.31360 angerufen und darum gebeten, vier Personen aus ... bei sich aufzunehmen; sie seien Verwandte des Klägers im Parallelverfahren Au 6 K 20.31360; die Klägerin zu 2 habe sie bereits drei- bis vier Mal bei Besuchen in ... getroffen. Die vier Personen hätten von Schwierigkeiten in ihrem Dorf berichtet. Es habe einen Konflikt zwischen den Rebellen und dem Militär gegeben und der Schwiegervater einer Cousine sei getötet worden. Sie könnten nicht mehr im Dorf leben, da sie nicht wüssten, ob man sie nicht abholen werde. Ferner hätten sie sich den Rebellen anschließen wollen, um gegen das Militär zu kämpfen. Sie hätten gefragt, ob sie ihnen helfen könnten, einen Kontakt zur AA herzustellen. Daher seien sie und die Klägerin zu 1 zu ihrem Cousin, dem Kläger im Parallelverfahren Au 6 K 20.31313, gegangen und hätten ihn nach Hilfe gefragt. Er habe einen Kontakt zu einem Major der AA-Rebellen hergestellt und ihnen gesagt, dass er am 8. Oktober 2019 zwei Personen nach Mandalay bringen könne. Nachdem er dies getan habe, sei er am 9. Oktober 2019 von Mandalay zurückgekehrt und habe mitgeteilt, dass er für die anderen sieben Personen auch den Kontakt zur AA herstellen habe können. Am 14. Oktober 2019 seien sie nach Deutschland ausgereist. Ihre ältere Schwester, die zwar nicht sehr krank sei, habe nicht mit nach Deutschland fliegen wollen. Am 25. Oktober 2019 habe der Kläger im Parallelverfahren Au 6 K 20.31313 einen Anruf des Majors erhalten, allerdings sei jemand anderes am Telefon gewesen, der gefragt habe, wo er gewesen sei. Die Klägerin zu 2 habe daraufhin ihre Schwester gegen 20:00 Uhr angerufen, es sei aber niemand rangegangen. Auch am nächsten Tag habe sie sie nicht erreichen können. Daher habe sie ihre Nachbarin angerufen, die gesagt habe, dass zivile Gemeinderatsmitglieder und Polizisten ihre Schwester und die Mitbewohner abgeholt hätten. Die Nachbarin solle auch mitteilen, sobald sie wieder in die Wohnung zurückgekehrt seien. Die Nachbarin sei mehrmals von diesen Leuten angerufen und nach ihnen gefragt worden, bis sie der Klägerin zu 2 mitgeteilt habe, dass sie nicht mehr anrufen solle, da es für sie zu gefährlich sei. Auch zur Mutter des Klägers im Parallelverfahren Au 6 K 20.31360 hätten sie keinen Kontakt mehr, da dieser erfolglos versucht habe, sie anzurufen. Am 28. Oktober 2019 hätten sie zusammen beschlossen, nicht mehr nach Myanmar zurückzukehren, weil am 29. Oktober 2019 ihr Rückreisetag gewesen wäre. Würde ihre Schwester in Myanmar wieder freigelassen, würden sie wieder nach Myanmar zurückreisen.
Kontakt zu den Rebellen hätten sie nie gehabt. Sie hätten auch nicht gedacht, dass es so gefährlich sein würde, da sie nur einen Kontakt herstellen würden. Bei einer Rückkehr in ihre Heimat befürchte sie, verhaftet zu werden, da sie Leuten Unterschlupf gewährt habe, die jetzt Kontakt zu den AA-Rebellen hätten.
Die Klägerin zu 2 habe Bluthochdruck, wenn sie aufgeregt sei, nehme regelmäßig Medikamente und sei wegen einer nicht näher benannten Krankheit im Heimatland in ärztlicher Behandlung gewesen.
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Mit Bescheid vom 5. Oktober 2020 lehnte das Bundesamt den Antrag der Klägerin zu 2 auf Asylanerkennung, auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und auf subsidiären Schutz ab (Ziffer 1 bis 3), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen (Ziffer 4), drohte die Abschiebung nach Myanmar an (Ziffer 5) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6).
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigte lägen nicht vor. Aus dem Sachvortrag der Klägerin zu 2 sei weder eine flüchtlingsrelevante Verfolgungshandlung noch ein flüchtlingsrelevantes Anknüpfungsmerkmal ersichtlich. Ihre Ausreise sei ausschließlich aus touristischen Gründen erfolgt, nachdem sie eine Einladung ihrer in Deutschland lebenden Nichte erhalten habe. Seit ihrer Haftentlassung im Jahr 1988 bis zu ihrer Ausreise sei sie weder politisch aktiv gewesen, noch habe sie Probleme mit der Polizei oder anderen staatlichen Organisationen gehabt. Die Klägerin zu 2 sei ausgereist, ohne in ihrem Heimatland eine Vorverfolgung erlitten zu haben; dass ihr bei ihrer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung oder ein ernsthafter Schaden drohe, habe sie durch ihren Sachvortrag nicht glaubhaft machen können. Ihre Angaben zu den fluchtauslösenden Ereignissen seien arm an Details, vage und oberflächlich. Sie habe am 25. und 26. Oktober 2019 versucht, ihre Schwester in Myanmar zu erreichen und anschließend ihre Nachbarin kontaktiert. Selbiges trage auch die Klägerin zu 1 vor; es sei unwahrscheinlich, dass beide Klägerinnen am gleichen Tag, unabhängig voneinander, bei der Nachbarin in Myanmar angerufen hätten, ohne sich gegenseitig darüber zu informieren. Ferner habe die Klägerin zu 2 in der Folgezeit mehrmals versucht, ihre Nachbarin in Myanmar zu erreichen, während die Klägerin zu 1 vorgetragen habe, nach dem 28. Oktober 2019 sämtliche Kontaktversuche eingestellt zu haben. Es erschließe sich ferner nicht, dass sie sich nicht bewusst gewesen sein wolle, in welche Gefahr sie sich begebe, wenn sie Personen helfe, einen Kontakt zu den Rebellen herzustellen, da sie immerhin aufgrund politischer Betätigungen im Jahr 1988 verhaftet und bei ihrer Haftentlassung unterschrieben habe, dass sie nicht mehr politisch aktiv werde. Im Übrigen handele es sich bei dem Sachvortrag der Klägerin zu 2 um einen Vortrag, der nahezu deckungsgleich mit dem Vortrag der Klägerin zu 1 sei, der ebenfalls als unglaubhaft bewertet worden sei.
Es bestehe auch keine beachtliche Wahrscheinlichkeit staatlicher Verfolgung allein wegen einer Asylantragstellung in der Bundesrepublik Deutschland; insbesondere sei die Klägerin zu 2 nicht illegal, sondern legal mit Reisepass und Visum über den internationalen Flughafen ... ausgereist.
Die Voraussetzungen subsidiären Schutzes und Abschiebungsverbote lägen nicht vor. Die Klägerin zu 2 sei im erwerbsfähigen Alter, gesund, ohne Unterhaltsverpflichtungen und verfüge über eine überdurchschnittliche Bildung. Sie habe in Myanmar in einer Eigentumswohnung gewohnt und bis zur Ausreise in einer Festanstellung gearbeitet. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes sei angemessen; weitere schutzwürdige Belange seien weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
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Hiergegen ließ die Klägerin zu 2 durch ihren Bevollmächtigten am 12. Oktober 2020 Klage erheben und beantragen,
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Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 5. Oktober 2020, zugestellt am 9. Oktober 2020, Az.: 7999152-427, wird aufgehoben.
Die Bundesrepublik Deutschland wird verpflichtet, die Klägerin als Asylberechtigte gem. Art. 16a GG anzuerkennen.
Die Bundesrepublik Deutschland wird verpflichtet, festzustellen, dass die Flüchtlingseigenschaft gem. § 3 AsylG vorliegt.
Hilfsweise wird beantragt, die Bundesrepublik Deutschland zu verpflichten, festzustellen, dass die Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes gem. § 4 AsylG vorliegen.
Höchst hilfsweise wird beantragt, die Bundesrepublik Deutschland zu verpflichten, festzustellen, dass die Voraussetzungen für nationale Abschiebungsverbote nach §§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG vorliegen.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Klägerin zu 2 drohe bei einer Rückkehr nach Myanmar eine rechtserhebliche Verfolgung gemäß § 3 AsylG durch das myanmarische Militär, da sie Personen aus dem Rakhine-Staat geholfen habe, sich der Rakhine-Rebellengruppe Arakan Army anzuschließen. Ferner drohe der Klägerin zu 2 eine rechtserhebliche Verfolgung bei einer Rückkehr nach Myanmar, da sie sich in Deutschland exilpolitisch betätigt habe, indem sie an Demonstrationen gegen den Militärputsch in Myanmar teilgenommen habe. Das myanmarische Militär rechne sie deshalb der Gruppe der Regimegegner zu.
Die Klägerin zu 2 habe ausführlich und glaubhaft geschildert, wie sie vier Personen aus dem Rakhine-Staat bei sich aufgenommen habe. Am 10. Februar 2021 habe die Klägerin zu 2 in München vor dem chinesischen Konsulat an einer Demonstration gegen den Militärputsch in Myanmar teilgenommen. Bei der Demonstration seien Plakate gegen das Militär gezeigt und Parolen gegen den Militärputsch in Myanmar gerufen worden. Die Klägerin zu 2 habe ein Plakat gezeigt, auf welchem sie die Rückgängigmachung des Militärputsches in Myanmar gefordert habe.
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Die Beklagte stellte keinen Antrag.
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Mit der Ladung übersandte das Gericht jeweils die aktuelle Erkenntnismittelliste.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die von der Beklagten vorgelegten Behördenakten sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung verwiesen. Die Verfahren Au 6 K 20.31370 und Au 6 K 20.31372 wurden im Rahmen der mündlichen Verhandlung zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.

Entscheidungsgründe

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Die jeweils zulässigen Klagen sind begründet.
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1. Die Klägerinnen haben zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) einen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte nach Art. 16a Abs. 1 GG. Die dies ablehnenden Bescheide vom 2. Oktober 2020 bzw. 5. Oktober 2020 sind rechtswidrig und verletzen die Klägerinnen in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
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a) Die Klägerinnen haben einen Anspruch auf Asylanerkennung nach Art. 16a Abs. 1 GG.
21
aa) Nach Art. 16a Abs. 1 GG genießen politisch Verfolgte Asylrecht. Politisch verfolgt ist, wer wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung eine durch Tatsachen begründete Furcht vor Verfolgung hegen muss, die mit Gefahr für Leib, Leben, persönliche Freiheit oder einem die Menschenwürde verletzenden Eingriff in sonstige Rechtsgüter verbunden ist. Dabei gelten für die Beurteilung, ob ein Asylsuchender politisch Verfolgter i.S. des Art. 16a Abs. 1 GG ist, unterschiedliche Maßstäbe je nachdem, ob er seinen Heimatstaat auf der Flucht vor eingetretener oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen hat oder ob er unverfolgt in die Bundesrepublik Deutschland gekommen ist (BVerfG, B.v. 10.7.1989 - 2 BvR 502/86 - BVerfGE 80, 315 ff.). Dem Vorverfolgten ist die Rückkehr in den Verfolgerstaat grundsätzlich nur dann zuzumuten, wenn an seiner Sicherheit vor abermals einsetzender Verfolgung bei Rückkehr in den Heimatstaat keine ernsthaften Zweifel bestehen (BVerwG, U.v. 25.9.1984 - 9 C 1784 - BVerwGE 70, 169 ff. m.w.N.; BVerwG, U.v. 20.11.1990 - 9 C 72/90 - BVerwGE 87, 141/143). Hat der Asylsuchende sein Heimatland unverfolgt verlassen, kann ihm Asyl nur gewährt werden, wenn bei Würdigung aller Umstände eine politische Verfolgung aufgrund von Nachfluchtgründen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Droht diese Gefahr nur in einem Teil seines Heimatstaates, so kann der Betroffene auf Gebiete verwiesen werden, in denen er vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist, es sei denn, es drohen dort andere nach den oben dargelegten Grundsätzen unzumutbare Nachteile und Gefahren (BVerfG, B.v. 10.7.1989 a.a.O.).
22
Verfolgung im Sinne von Art. 16a Abs. 1 GG ist grundsätzlich staatliche Verfolgung und sie ist politisch, wenn sie dem Einzelnen in Anknüpfung an seine politische Überzeugung, seine religiöse Grundentscheidung oder an für ihn unverfügbare Merkmale, die sein Anderssein prägen, gezielt Rechtsverletzungen zufügt, die ihn ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen. Allgemein liegt dem Asylgrundrecht die von der Achtung der Unverletzlichkeit der Menschenwürde bestimmte Überzeugung zugrunde, dass kein Staat das Recht hat, Leib, Leben oder die persönliche Freiheit des Einzelnen aus Gründen zu gefährden oder zu verletzen, die allein in seiner politischen Überzeugung, seiner religiösen Grundentscheidung oder in für ihn unverfügbaren Merkmalen liegen, die sein Anderssein prägen (asylerhebliche Merkmale); von dieser Rechtsüberzeugung ist das grundgesetzliche Asylrecht maßgeblich bestimmt. Eine notwendige Voraussetzung dafür, dass eine Verfolgung sich als eine politische darstellt, liegt darin, dass sie im Zusammenhang mit Auseinandersetzungen um die Gestaltung und Eigenart der allgemeinen Ordnung des Zusammenlebens von Menschen und Menschengruppen steht, also - im Unterschied etwa zu einer privaten Verfolgung - einen öffentlichen Bezug hat, und von einem Träger überlegener, in der Regel hoheitlicher Macht ausgeht, der der Verletzte unterworfen ist, sowie wegen des asylerheblichen Merkmals erfolgt (vgl. BVerfG, U.v. 10.7.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315 ff., juris Rn. 38 f., 44). Auch eine staatliche Verfolgung von Taten, die aus sich heraus eine Umsetzung politischer Überzeugung darstellen, kann grundsätzlich politische Verfolgung sein, und zwar auch dann, wenn der Staat hierdurch das Rechtsgut des eigenen Bestandes oder seiner politischen Identität verteidigt. Es bedarf einer besonderen Begründung, um sie gleichwohl aus dem Bereich politischer Verfolgung herausfallen zu lassen (vgl. grundlegend BVerfG, U.v. 10.7.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315 ff., juris Rn. 52 f.). Voraussetzung für eine vom Staat ausgehende oder ihm zurechenbare Verfolgung ist die effektive Gebietsgewalt des Staates im Sinne wirksamer hoheitlicher Überlegenheit. Verfolgungsmaßnahmen Dritter sind dem Staat daher zuzurechnen, wenn er schutzfähig, aber er nicht bereit oder nicht in der Lage ist, mit den ihm verfügbaren Mitteln Schutz zu gewähren (vgl. BVerfG, U.v. 10.7.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315 ff., juris Rn. 46). Ist politische Verfolgung hiernach grundsätzlich staatliche Verfolgung, so steht dem nicht entgegen, dass die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung dem Staat solche staatsähnlichen Organisationen gleichstellt, die den jeweiligen Staat verdrängt haben oder denen dieser das Feld überlassen hat und die ihn daher insoweit ersetzen (vgl. BVerfG, U.v. 10.7.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315 ff., juris Rn. 40 a.E.).
Daher fehlt es an der Möglichkeit politischer Verfolgung, solange der Staat bei offenem Bürgerkrieg im umkämpften Gebiet faktisch nur mehr die Rolle einer militärisch kämpfenden Bürgerkriegspartei einnimmt, als übergreifende effektive Ordnungsmacht aber nicht mehr besteht. Gleiches gilt in bestimmten Krisensituationen eines Guerilla-Bürgerkriegs. In allen diesen Fällen ist politische Verfolgung allerdings gegeben, wenn die staatlichen Kräfte den Kampf in einer Weise führen, die auf die physische Vernichtung von auf der Gegenseite stehenden oder ihr zugerechneten und nach asylerheblichen Merkmalen bestimmten Personen gerichtet ist, obwohl diese keinen Widerstand mehr leisten wollen oder können oder an dem militärischen Geschehen nicht oder nicht mehr beteiligt sind, vollends wenn ihre Handlungen in die gezielte physische Vernichtung oder Zerstörung der ethnischen, kulturellen oder religiösen Identität eines nach asylerheblichen Merkmalen bestimmten Bevölkerungsteils umschlagen (vgl. grundlegend BVerfG, U.v. 10.7.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315 ff., juris Rn. 56 ff.).
23
Wer von nur regionaler politischer Verfolgung betroffen ist, ist erst dann politisch Verfolgter im Sinne von Art. 16a Abs. 2 Satz 2 GG, wenn er dadurch landesweit in eine ausweglose Lage versetzt wird. Das ist der Fall, wenn er in anderen Teilen seines Heimatstaates eine zumutbare Zuflucht nicht finden kann (inländische Fluchtalternative). Eine inländische Fluchtalternative setzt voraus, dass der Asylsuchende in den in Betracht kommenden Gebieten vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist und ihm jedenfalls dort auch keine anderen Nachteile und Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutsbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen, sofern diese existentielle Gefährdung am Herkunftsort so nicht bestünde (vgl. grundlegend BVerfG, U.v. 10.7.1989 - 2 BvR 502/86 u.a. - BVerfGE 80, 315 ff., juris Rn. 61 f., 66).
24
Dabei ist es stets Sache des Ausländers, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich Flüchtlinge insbesondere im Hinblick auf asylbegründende Vorgänge im Verfolgerland vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
25
bb) Den Klägerinnen droht in Myanmar aufgrund ihrer vorgetragenen - wenn auch nur niedrigschwelligen - exilpolitischen Aktivitäten in Verbindung mit einer jeweils bereits in Myanmar in den Jahren 1988 (Klägerin zu 1 und 2) bzw. 2007 (Klägerin zu 1) ausgeübten und staatlich bereits damals glaubhaft sanktionierten politischen Betätigung im konkreten Fall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unverhältnismäßige Strafverfolgung oder Bestrafung wegen einer ihnen zugeschriebenen politischen Überzeugung und somit politische Verfolgung.
26
(1) Die Klägerinnen haben jeweils einen in sich stimmigen Sachverhalt geschildert, aus dem sich ergibt, dass die Klägerin zu 1 im Jahr 2007, die Klägerin zu 2 im Jahr 1988 aufgrund ihrer Teilnahme an Demonstrationen und einer anschließenden Festnahme im Visier myanmarischer Behörden standen.
27
Das Gericht erachtet es für glaubhaft, dass die Klägerin zu 1 sich bereits in Myanmar politisch betätigt hat, indem sie im Jahr 2007 an Demonstrationen teilgenommen hat und anschließend für fünf Jahre inhaftiert wurde sowie im September und Oktober 2019 vier Personen aus, Verwandte des Klägers im Parallelverfahren Au 6 K 20.31360, bei sich und der Klägerin zu 2 aufgenommen sowie einen Kontakt für zwei dieser Personen zum Kläger im Parallelverfahren Au 6 K 20.31313 vermittelt hat. Aus dem Vortrag der Klägerin zu 1 im Rahmen der mündlichen Verhandlung ergeben sich keine wesentlichen Widersprüche zu ihren Angaben vor dem Bundesamt und auch keine durchgreifenden Zweifel des Gerichts. Vor dem Hintergrund der politischen Aktivitäten des Klägers im Parallelverfahren Au 6 K 20.31313 lag eine Kontaktaufnahme zu diesem, um zwei der aus ... stammenden Personen an die AA-Rebellen zu vermitteln, nahe (vgl. Protokoll S. 15). Ferner erschließt sich im Hinblick auf die eigene erlittene Verfolgung der Klägerin zu 1 aufgrund politischer Aktivitäten im Jahr 2007 ihr Bedürfnis, Menschen [gegen das Militär] verdeckt zu helfen, wenn es keiner mitbekomme (vgl. Protokoll S. 15).
28
Die Klägerin zu 1 konnte ebenfalls in glaubhafter Weise ihre politische Aktivität im Jahr 2007 darlegen. Nach ihrer Teilnahme an einer Demonstration sei sie am 28. September 2007 festgenommen (vgl. Behördenakte im Verfahren Au 6 K 20.31370 Bl. 172)., nach einer Gerichtsverhandlung zu zehn Jahren Haft verurteilt und 2012 wieder freigelassen worden, nachdem sie unterschrieben habe, sich nicht mehr politisch zu engagieren (vgl. Protokoll S. 16).
29
Auch die Klägerin zu 2 konnte in glaubhafter Weise schildern, bereits 1988 nach Teilnahme an einer Demonstration (vgl. Behördenakte im Verfahren Au 6 K 20.31372 Bl. 171) auf einem Universitätsgelände für drei Wochen festgehalten und erst wieder freigelassen worden zu sein, nachdem sie unterschreiben habe müssen, sich nicht mehr politisch zu betätigen (vgl. Protokoll S. 16). Danach habe sie sich nicht mehr als Aktivistin zu erkennen gegeben, aber Menschen gegen das Militär unterstützt, da sie dieses hasse (vgl. Protokoll S. 16 f.).
30
Aufgrund dieser Aktivitäten der Klägerinnen ergibt sich, dass sie bereits in Myanmar im Jahr 1988 bzw. 2007 im Fokus des Militärs standen. Daran ändert auch der Umstand ihrer unbehelligten und legalen Ausreise mittels eines Visums nach Deutschland im Oktober 2019 nichts: Es scheint nicht unplausibel, dass die Kontaktperson des Klägers im Parallelverfahren Au 6 K 20.31313 in Myanmar erst nach der Ausreise aufgedeckt und von Seiten myanmarischer Sicherheitsbehörden danach versucht wurde, den Kläger im Verfahren Au 6 K 20.31313 sowie die Klägerinnen aufgrund der erst wenige Wochen zuvor erfolgten Vermittlung der beiden Personen an die AA-Rebellen ausfindig zu machen. Aufgrund der Aufdeckung dieser Vermittlung von Personen an die Rebellen sowie der - wenn auch nur geringfügigen - exilpolitischen Betätigungen der Klägerinnen in Deutschland ist es beachtlich wahrscheinlich, dass sie erneut im Visier des myanmarischen Militärs stehen, das seit Februar 2021 wieder vollständig die Macht in Myanmar übernommen hat:
31
Die Republik der Union Myanmar (Republic of the Union of Myanmar) ist in der Verfassung formell als parlamentarische Demokratie mit starkem Militäreinfluss konzipiert. Nach jahrzehntelanger Militärdiktatur begann unter Präsident Thein Sein ab 2011 eine Phase der Öffnung und Demokratisierung. Gleichwohl blieb der Einfluss des Militärs gewahrt, so sieht die Verfassung vor, dass ein Viertel der Parlamentssitze im aus zwei Kammern bestehenden Unionsparlament (Oberhaus/Nationalitätenkammer/Amyo tha und Unterhaus/Volkskammer/Pyitthus Hluttaw) an Militärs im aktiven Dienst vergeben werden. Dadurch besteht ein Vetorecht im Falle von Verfassungsänderungen, für welche eine Mehrheit von drei Vierteln der Stimmen erforderlich ist. Das Militär (Tatmadaw) verfügt auch über die Autorität, die Minister für Verteidigung, Inneres und Grenzangelegenheiten und einen von zwei Vizepräsidenten zu ernennen. Darüber hinaus verfügt das Militär über ein Zugriffsrecht auf alle Regierungsbereiche, wenn der nationale Notstand ausgerufen wird. Somit ist Myanmars politisches System eine Mischung aus ziviler und militärischer Herrschaft. Es handelt sich letztlich um zwei Machtzentren im Land, die um die Macht und die politische Legitimität miteinander wetteifern - die gewählte Regierung und das Militär (BFA, Länderinformationsblatt Myanmar vom 8.7.2020 i.d.F.v. 2.4.2021 S. 14 f.; Heiduk, SWP-Aktuell Nr. 67/2018, S. 1).
32
Im November 2015 fanden nach fast 60 Jahren die ersten freien Parlamentswahlen statt, aus denen Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi und die von ihr geführte National League for Democracy (NLD) als Sieger hervorgingen. Die NLD gewann etwa 80 Prozent aller Mandate in Ober- und Unterhaus in einer von zahlreichen internationalen Wahlbeobachtern als in ihrem Ablauf als ordentlich eingeschätzten Wahl. Von Verfassungs wegen war es der Parteiführerin der NLD Aung San Suu Kyi allerdings nicht erlaubt, Präsidentin zu werden; für sie wurde daher das neue Amt eines State Counsellor geschaffen, das mit Vollmachten ausgestattet ist, die der Position eines in der Verfassung nicht vorgesehenen Ministerpräsidenten nahekommen. Die von ihr geführte Regierung übernahm 2016 die Amtsgeschäfte. Die Abgeordneten des Militärs, die frühere Regierungspartei, die Union Solidary and Development Party (USDP), bilden die Opposition im Parlament und verfolgen einen buddhistisch-nationalistischen Kurs (BFA, Länderinformationsblatt Myanmar vom 8.7.2020 i.d.F.v. 2.4.2021 S. 14 f.).
33
Die National League for Democracy (NLD) hatte auch die zweiten freien Wahlen seit der Demokratisierung am 8. November 2020 mit großer Mehrheit gewonnen und 396 Sitze im Unter- und Oberhaus des Parlaments und damit mehr als die 322 für eine Mehrheit erforderlichen Sitze erreicht. Aung San Suu Kyi hatte sich so eine zweite Amtszeit gesichert (BFA, Länderinformationsblatt Myanmar vom 8.7.2020 i.d.F.v. 2.4.2021 S. 11).
34
Als Reaktion hat das Militär nach einem Putsch gegen die demokratisch gewählte Regierung von Aung San Suu Kyi am 1. Februar 2021 die Macht übernommen, Suu Kyi und weitere hochrangige Mitglieder der Regierungspartei NLD „wegen Wahlbetrugs“ festgesetzt und die Macht an den Oberbefehlshaber der Streitkräfte, Militärchef Min Aung Hlaing, übertragen sowie den früheren General und bisherigen Vize-Präsidenten Myint Swe als Übergangs-Staatsoberhaupt eingesetzt sowie den Ausnahmezustand gemäß Art. 417 der Verfassung von 2008 verhängt (BFA, Länderinformationsblatt Myanmar vom 8.7.2020 i.d.F.v. 2.4.2021 S. 9). Landesweite Massenproteste waren die Folge, denen das Militär mit zunehmender Härte gegen die Bevölkerung begegnet, den Druck auf Medien durch Razzien, Beschlagnahmen von Geräten und Lizenzentzug erhöht (BFA, Länderinformationsblatt Myanmar vom 8.7.2020 i.d.F.v. 2.4.2021 S. 7 f.).
35
Die beiden Klägerinnen gehörten bereits vor dem Putsch zur Opposition. Für sie besteht auf Grund früherer Inhaftierungen daher ein gesteigertes Risiko, bei einer Rückkehr identifiziert, der Opposition zugerechnet und erneut staatlich sanktioniert zu werden.
36
(2) Zu den bereits in Myanmar wahrgenommenen politischen Betätigungen der Klägerinnen im Jahr 1988 bzw. 2007 tritt im konkreten Fall eine in Deutschland nach dem Putsch im Februar 2021 ausgeübte exilpolitische Aktivität hinzu.
37
Die Klägerinnen haben geltend gemacht, am 10. Februar 2021 in München vor dem chinesischen Konsulat an einer Demonstration gegen den Militärputsch in Myanmar teilgenommen zu haben. Dabei seien Plakate gegen das Militär gezeigt und Parolen gegen den Militärputsch in Myanmar gerufen worden. Die Klägerinnen hätten auch Plakate gezeigt, auf welchen sie die Rückgängigmachung des Militärputsches gefordert hätten.
38
Zwar ist nach den ausgewerteten Erkenntnisquellen und unter Heranziehung der Recherchemöglichkeiten beispielsweise des Auswärtigen Amts derzeit nicht weiter aufklärbar, ob und wie weit der Umstand einer Asylantragstellung im Ausland in Verbindung mit exilpolitischen Aktivitäten (Teilnahme an regimekritischen Kundgebungen in Deutschland, regimekritische und personenbezogen nachverfolgbare regimekritische Äußerungen in sozialen Medien) für sich zu einer (unverhältnismäßigen) Strafverfolgung und politischen Verfolgung bei einer Rückkehr nach Myanmar führt:
39
Die Beantragung von Asyl in Deutschland führt als solche nicht zu Repressalien bei einer Rückkehr nach Myanmar, doch kann dies anders zu beurteilen sein, wenn weitere Umstände wie z.B. die Begehung einer Straftat nach myanmarischem Recht, insbesondere die illegale bzw. dokumentenlose Ausreise aus Myanmar und/oder (Wieder-)Einreise nach einem illegalen Auslandsaufenthalt, hinzuträten (vgl. VG München, U.v. 25.7.2017 - M 17 K 17.35494 - Rn. 23). So wurden seit 2015 mehr als 2.200 Rohingya-Muslime von Myanmars Behörden festgenommen, als sie versuchten, das Land illegal auf dem Seeweg zu verlassen (BFA, Länderinformationsblatt Myanmar vom 8.7.2020 i.d.F.v. 2.4.2021 S. 53 f.).
40
Das myanmarische Strafgesetzbuch („Penal Code“) wurde geändert und wird in dieser Fassung seit dem 14. Februar 2021 angewandt; das Auswärtige Amt hatte aber keine Anhaltspunkte, dass eine Asylantragstellung im Ausland vor dem Putsch am 1. Februar 2021 einen pauschalen Straftatbestand nach diesen Normen darstellt (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 16.8.2021 an das BAMF, S. 2). Dass Rückkehrer, die nach dem Militärputsch vom 1. Februar 2021 ausgereist sind und sich hierauf in ihrem Asylantrag berufen haben, deswegen dort verfolgt werden, ist hingegen nicht auszuschließen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 17.8.2021 an das VG Gelsenkirchen, S. 2).
41
Aktuelle Informationen über die Behandlung nach dem Militärputsch zurückgeführter myanmarischer Staatsangehöriger liegen nicht vor, wobei zu berücksichtigen ist, dass die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2021 auch niemanden nach Myanmar abgeschoben hat (vgl. BT-Drs. 20/890 S. 3). Es besteht offenbar auch kein Rücknahmeabkommen der Europäischen Union mit Myanmar (vgl. Europ. Rechnungshof, Sonderbericht: Zusammenarbeit der EU mit Drittländern bei der Rückübernahme, 2021, S. 12), was die fehlenden Erfahrungen deutscher Behörden mit Rückführungen dorthin erklären mag.
42
(3) Allerdings ist aufgrund der oben bezeichneten exilpolitischen Aktivität der Klägerinnen im Zusammenhang mit ihrem politischen Engagement vor ihrer Ausreise sowie den Bedingungen einer Rückkehr nach Myanmar mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von bereits niedrigschwellig ansetzenden Sanktionen durch myanmarische Behörden im Fall einer Rückführung auszugehen.
43
Ob myanmarische Stellen exilpolitische Betätigungen wie insbesondere Demonstrationen beobachten, ist offen; an der Identifizierung der Teilnehmer dürften sie aber ein Interesse haben, auch wenn offen ist, ob zurückkehrende Personen deswegen (straf-)verfolgt werden (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 17.8.2021 an das VG Gelsenkirchen, S. 1). Bei einer Rückführung ist anzunehmen, dass den myanmarischen Behörden die Identitäten der Rückzuführenden bekannt gegeben werden. Somit ist diesen bereits vorab eine Überprüfung möglich (vgl. VG Leipzig, U.v. 8.3.2022 - 8 K 44/21.A - S. 10, juris). Bei einer solchen können eventuell nicht nur die exilpolitische Betätigung der Klägerinnen festgestellt werden, sondern insbesondere politische Aktivitäten vor ihrer Ausreise, wie ihre Inhaftierungen im Jahr 1988 bzw. von 2007 bis 2012 und jeweils von ihnen unterschriebene Bestätigungen bei Haftentlassung, sich politisch nicht mehr zu engagieren.
44
Aufgrund dieses Zusammentreffens von jeweils durch myanmarische Sicherheitsbehörden feststellbaren politischen Aktivitäten vor der Ausreise der Klägerinnen sowie einer exilpolitischen Betätigung nach dem Putsch im Februar 2021 ist davon auszugehen, dass das myanmarische Regime den Klägerinnen eine regimekritische Ansicht unterstellt. Die Erkenntnismittellage zeigt ein äußerst brutales und rigides Vorgehen gegen regimekritische Äußerungen, die nicht zuletzt, wie von den Klägerinnen vorgetragen, strafbar sind. In Myanmar herrscht nach dem Militärputsch vom 1. Februar 2021 erneut offen ein sehr repressives System, das im Wesentlichen seit 1962 durch das Militär bestimmt wurde. Schon eine friedliche Meinungsäußerung kann zu Freiheitsstrafen führen, es gibt keine unabhängige Justiz. Die myanmarischen Behörden unterhalten einen Staatssicherheitsdienst, der mutmaßliche regimekritische Aktivitäten unter Zuhilfenahme eines personalintensiven Überwachungsapparates und des Einsatzes moderner technischer Mittel beobachtet (vgl. VG Leipzig, U.v. 8.3.2022 - 8 K 44/21.A - S. 10 f. m.w.N., juris). Es besteht bei der Rückkehrerbefragung die akute Gefahr von Folter, Verurteilung in einem nicht rechtsstaatlichen Verfahren und anschließender langjähriger Inhaftierung. Angesichts der durch ein systematisches, brutales Vorgehen auch gegen nur vermeintliche Oppositionelle gekennzeichneten Situation in Myanmar ist davon auszugehen, dass bekannte frühere Fälle von früher sanktionierten Rückkehrern keine vergangenen Einzelfälle sind, sondern die generelle Praxis des Regimes Myanmars im Umgang mit zurückkehrenden Asylsuchenden widerspiegelt (vgl. VG Leipzig, U.v. 8.3.2022 - 8 K 44/21.A - S. 11, juris). Aufgrund ihrer bereits in der Vergangenheit durch den myanmarischen Staat erlittenen Verfolgung nach Teilnahme an Demonstrationen im Jahr 1988 bzw. 2007 sowie der erneuten (exil-)politischen Betätigung der Klägerinnen in Deutschland gegen das myanmarische Militär standen diese bereits im Fokus myanmarischer Behörden und droht ihnen wegen ihrer weiteren politischen Aktivitäten bei einer Rückkehr nach Myanmar auch zur Überzeugung des Verwaltungsgerichts mit hinreichender Wahrscheinlichkeit erneut eine Verfolgung durch den myanmarischen Staat.
45
Eine Gefängnisstrafe für die den Klägerinnen zur Last gelegten abweichenden politischen Meinungen sowie deren Kundgabe über die Teilnahme an Demonstrationen und damit verbundenen Straftat ist zur Überzeugung des Gerichts unverhältnismäßig. Es handelt sich lediglich um eine friedliche Meinungsäußerung und die Haftbedingungen in myanmarischen Gefängnissen sind sehr unzureichend.
46
Die Haftbedingungen für die geschätzt 100.000 Häftlinge (bei nur 66.000 Haftplätzen) in den ca. 47 Gefängnissen und ca. 48 Arbeitslagern in Myanmar sind u.a. aufgrund unzureichenden Zugangs zu hochwertiger medizinischer Versorgung und Grundbedürfnissen wie Nahrung, Unterkunft und Hygiene weiterhin hart und manchmal lebensbedrohlich. Mehr als 20.000 Häftlinge verbüßen ihre Strafen in den über das Land verteilten Arbeitslagern, wobei sich die Häftlinge auch dafür entscheiden können, einen Teil ihrer Haftstrafe in Form von „harter Arbeit“ zu verbüßen - was von vielen als wünschenswerter angesehen wird. In vielen Gefängnissen werden Untersuchungshäftlinge zusammen mit verurteilten Häftlingen untergebracht, ausnahmsweise auch politische Gefangene (im Dezember 2019 74 politische Gefangene in Haft und 164 in Untersuchungshaft) mit gewöhnlichen Kriminellen untergebracht (BFA, Länderinformationsblatt Myanmar vom 8.7.2020 i.d.F.v. 2.4.2021 S. 34). Die Haftbedingungen im Bundesstaat Rakhine zählen zu den schlechtesten; Hunderte Rohingya wurden willkürlich festgenommen und ohne ordentliches Gerichtsverfahren in Haft und sonstigen Einrichtungen untergebracht, wo sie Folter und Misshandlungen durch Gefängnispersonal und Sicherheitsbeamten ausgesetzt waren. Die verhängten Informationsblockaden erschweren eine Überprüfung von Berichten über willkürliche Inhaftierungen, Folter und Todesfällen in Militärgewahrsam sowie über Gefängnisrevolten. Das IKRK (Internationale Komitee des Roten Kreuzes) hat nur bedingten Zugang zu Gefängnissen und Arbeitslagern und keinen Zugang zu militärischen Haftanstalten (BFA, Länderinformationsblatt Myanmar vom 8.7.2020 i.d.F.v. 2.4.2021 S. 35). Nach Erkenntnissen des Auswärtigen Amts müssen die Haftbedingungen für Inhaftierungen insbesondere seit der Machtergreifung durch das Militär am 1. Februar 2021 als oft grausam und unzumutbar dargestellt werden; Berichte über Folterungen, sexuelle Übergriffe und schwere Fälle von Infizierung mit Krankheiten an inhaftierten Regimegegnern liegen vor (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 16.8.2021 an das BAMF, S. 2).
47
2. Aufgrund der Asylberechtigung der Klägerinnen sind die nachrangigen negativen Entscheidungen über die beantragte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, die hilfsweise beantragte Zuerkennung subsidiären Schutzes und die Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten, die Ausreiseaufforderung (vgl. § 38 Abs. 1 AsylG) und die Abschiebungsandrohung (vgl. § 34 Abs. 1 AsylG) jeweils rechtswidrig und deshalb aufzuheben. Ebenso ist mangels Ausreiseverpflichtung der Klägerinnen die gemäß § 11 AufenthG ergangene Befristungsentscheidung jeweils rechtswidrig und aufzuheben.
48
Die Kostenentscheidung beruht jeweils auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.