Titel:
zur Nichtigkeit einer Beitrags- und Gebührensatzung wegen nachträglicher rückwirkender Erhöhung des Gebührensatzes
Normenkette:
BayKAG Art. 2 Abs. 1 S. 2, Art. 8
Leitsätze:
1. Eine Änderungssatzung, die bis dahin geltendes und von dem Satzungsgeber für wirksam gehaltenes Satzungsrecht ersetzen sollte, führt zu einer unzulässigen echten Rückwirkung, wenn sie nachträglich ändernd in Gebührentatbestände zum Nachteil der Betroffenen eingreift, die in der Vergangenheit liegen und schon abgeschlossen sind und sich der Satzungsgeber nicht darauf berufen kann, es habe sich kein schützenswertes Vertrauen auf den Bestand des geltenden Rechts bilden können oder aber überragende Belange des Gemeinwohls, die dem Prinzip der Rechtssicherheit vorgehen, erforderten eine rückwirkende Beseitigung von Normen. (Rn. 67) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein bereits in der Vergangenheit erfüllter Gebührentatbestand kann durch Satzungsänderung nicht zu einem späteren Zeitpunkt verändert werden. (Rn. 69) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nachträgliche rückwirkende Erhöhung des Gebührensatzes, Beitrags- und Gebührensatzung zur Entwässerungssatzung eines Kommunalunternehmens, Gebührentatbestand, Kalkulation, Satzungsänderung, Rückwirkung, Kostendeckungsprinzip, Äquivalenzprinzip
Fundstelle:
BeckRS 2022, 34039
Tenor
I. Die Gebührensatzung zur Entwässerungssatzung des Kommunalunternehmens L. vom 6. März 2018 in der Fassung vom 22. April 2021 ist unwirksam.
II. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens. Das Urteil ist insoweit vorläufig vollstreckbar. Der Antragsgegner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Antragstellerin zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
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Die Antragstellerin betreibt in der Stadt L. eine Textilfärberei. Das dabei anfallende Abwasser leitet sie in die von dem Beklagten betriebene öffentliche Entwässerungsanlage ein. Dabei macht das von der Antragstellerin eingeleitete Abwasser nach ihren Angaben ungefähr die Hälfte der insgesamt in die Entwässerungsanlage des Antragsgegners eingeleitete Abwassermenge aus. Im Jahr 2019 belief sich die Abwassermenge der Antragstellerin auf 199.624,50 m³. Damals betrug die mengenbezogene Einleitungsgebühr nach § 10 Abs. 1 der Beitrags- und Gebührensatzung zur Entwässerungssatzung des Kommunalunternehmens L. (KUL) vom 6. März 2018 2,19 EUR pro m³. Der Antragsgegner erhob und erhebt nach derzeit geltendem Satzungsrecht nach § 9a BGS/EWS eine Grundgebühr von 20 EUR pro auf dem Grundstück gemeldeter Person und Jahr.
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Die Antragstellerin wandte sich mit Normenkontrollantrag vom 12. April 2019 zunächst gegen §§ 9 - 14 und § 15, soweit sich dieser auf Gebühren bezieht, der Beitrags- und Gebührensatzung zur Entwässerungssatzung des Kommunalunternehmens L. (BGS/EWS), vom 6. März 2018, veröffentlicht im Mitteilungsblatt der Stadt L. am 13. Juli 2018. Der Antragsgegner hat am 7. Februar 2018 die Satzung für die öffentliche Entwässerungseinrichtung des Kommunalunternehmens L. (Entwässerungssatzung - EWS) erlassen, die am 13. Juli 2018 im Mitteilungsblatt der Stadt L. veröffentlicht wurde.
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Die angegriffenen Normen hatten (auszugsweise) damals folgenden Wortlaut:
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Das Kommunalunternehmen L. erhebt für die Benutzung der Entwässerungseinrichtung Grundgebühren und Einleitungsgebühren.
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Die Grundgebühr beträgt 20 € pro Jahr für jede auf dem angeschlossenen Grundstück mit Haupt- oder Nebenwohnsitz gemeldete Person, jedoch werden höchstens 4 Personen pro Familie herangezogen (Abwassereinheit).
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Stichtag für die Anzahl der Personen ist jeweils der 1. Januar für das ganze folgende Jahr.
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Einer Abwassereinheit werden gleichgesetzt:
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a) bei Gasthöfen, Hotels mit Beherbergungsgelegenheit
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je angefangene 10 Fremdenbetten
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b) bei Fabriken, Werkstätten je Schicht
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je angefangene 10 familienfremde Betriebsangehörige
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c) bei Gastwirtschaften, Restaurants
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je angefangene 30 Plätze
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d) bei Büros und Geschäftshäusern
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je angefangene 10 familienfremde Betriebsangehörige
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e) bei Clubhäusern mit Wirtschaftsbetrieb
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je angefangene 100 Plätze
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f) bei Clubhäusern ohne Wirtschaftsbetrieb
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je angefangene 150 Plätze
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g) bei Sommerwirtschaften
h) bei Lichtspieltheatern, Konzertsälen, Sälen in
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je angefangene 60 Plätze
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Gastwirtschaften, Turnhallen
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je angefangene 150 Plätze
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i) bei Altenheimen, Pflegeheimen
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je angefangene 10 Betriebsangehörige je Schicht
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(1) Die Einleitungsgebühr wird nach Maßgabe der nachfolgenden Absätze nach der Menge der Abwässer berechnet, die der Entwässerungseinrichtung von den angeschlossenen Grundstücken zugeführt werden.
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Die Gebühr beträgt 2,19 € pro Kubikmeter Abwasser.
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(2) Als Abwassermenge gelten die dem Grundstuck aus der Wasserversorgungseinrichtung und aus der Eigengewinnungsanlage zugeführten Wassermengen abzüglich der nachweislich auf dem Grundstück verbrauchten oder zurückgehaltenen Wassermengen, soweit der Abzug nicht nach Abs. 4 ausgeschlossen ist. Die Wassermengen werden durch geeichten Wasserzähler ermittelt.
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Als dem Grundstück aus der Eigengewinnungsanlage (Hausbrunnen) zugeführte Wassermenge werden pauschal pro Jahr und Einwohner oder Abwassereinheit im Sinne von § 9 a Satz 3 30 m3 angesetzt.
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Es steht dem Gebührenpflichtigen frei, den Nachweis eines niedrigeren Wasserverbrauchs zu führen

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Sie sind von dem Kommunalunternehmen L. zu schätzen, wenn
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1. ein Wasserzähler nicht vorhanden ist, oder
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2. der Zutritt zum Wasserzähler oder dessen Ablesung nicht ermöglicht wird, oder
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3. sich konkrete Anhaltspunkte dafür ergeben, dass ein Wasserzähler den wirklichen Wasser verbrauch nicht angibt.
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Werden die Wassermengen nicht vollständig über Wasserzähler erfasst, werden als dem
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Grundstück aus der Eigengewinnungsanlage zugeführte Wassermenge pauschal 15 rn3 pro Jahr und Einwohner, der zum Stichtag 01.01. des Jahres mit Wohnsitz auf dem heranzuziehenden Grundstück gemeldet ist, neben der tatsächlich aus der öffentlichen Wasserversorgung abgenommenen angesetzt, insgesamt aber nicht weniger als 30 m3 pro Jahr und Einwohner. In begründeten Einzelfällen sind ergänzende höhere Schätzungen möglich. Es steht dem Gebührenpflichtigen frei, den Nachweis eines niedrigeren Wasserverbrauchs zu führen; Abs. 3 Satz 2 gilt entsprechend.
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(3) Der Nachweis der verbrauchten und der zurückgehaltenen Wassermengen obliegt dem Gebührenpflichtigen. Er ist grundsätzlich durch geeichte und verplombte Wasserzähler zu führen, die der Gebührenpflichtige auf eigene Kosten fest zu installieren hat. Bei landwirtschaftlichen Betrieben mit Viehhaltung gilt für jedes Stück Großvieh bzw. für jede Großvieheinheit
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(Umrechnung gem. Nr. IV.I der IMBek vom 5.12.1974 - MABL S. 925) eine Wassermenge von
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15 m3 pro Jahr als nachgewiesen. Maßgebend ist die im Vorjahr durchschnittlich gehaltene Viehzahl. Der Nachweis der Viehzahl obliegt dem Gebührenpflichtigen; er kann durch Vorlage des Bescheids der Tierseuchenkasse erbracht werden.
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(4) Vom Abzug nach Abs. 3 sind ausgeschlossen
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a) Wassermengen bis zu 20 m 3 jährlich,
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b) das hauswirtschaftlich genutzte Wasser und
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c) das zur Speisung von Heizungsanlagen verbrauchte Wasser.
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(5) Im Fall des § 10 Abs. 3 Sätze 3 bis 5 ist der Abzug auch insoweit begrenzt, als der Wasserverbrauch 30 m 3 pro Jahr und Einwohner, der zum Stichtag 01.01.des Jahres mit Wohnsitz auf dem heranzuziehenden Grundstück gemeldet ist, unterschreiten würde. In begründeten Einzelfällen sind ergänzende höhere betriebsbezogene Schätzungen möglich.
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(6) Gebühr für das Einleiten von Schmutzwasser in Ortsentwässerungsanlagen ohne Kläranlagen
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1. Die Einleitungsgebühr wird nach der Zahl der auf dem angeschlossenen Grundstück mit Haupt- oder Nebenwohnsitz gemeldeten Personen festgesetzt.
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2. Stichtag für die Anzahl der Personen ist jeweils der 1. Januar für das ganze folgende Kalenderjahr,
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3. Die Gebühr beträgt pro Person = 35,79 €.
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4. Einer Person werden gleichgestellt
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a) bei Gasthöfen, Hotels mit Beherbergungsgelegenheit
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je angefangene 10 Fremdenbetten
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b) bei Fabriken, Werkstätten je Schicht
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je angefangene 10 familienfremde Betriebsangehörige
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c) bei Gastwirtschaften, Restaurants
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je angefangene 30 Plätze
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d) bei Büros und Geschäftshäusern
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je angefangene 10 familienfremde Betriebsangehörige
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e) bei Clubhäusern mit Wirtschaftsbetrieb
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je angefangene 100 Plätze
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f) bei Clubhäusern ohne Wirtschaftsbetrieb
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je angefangene 150 Plätze
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g) bei Sommerwirtschaften
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je angefangene 60 Plätze
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h) bei Lichtspieltheatern, Konzertsälen, Sälen in
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Gastwirtschaften, Turnhallen je angefangene 150 Plätze
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i) bei Altenheimen, Pflegeheimen je angefangene 10 Betriebsangehörige je Schicht
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Entstehen der Gebührenschuld
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(1) Die Einleitungsgebühr entsteht mit jeder Einleitung von Abwasser in die Entwässerungsanlage-.
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(2) Die Niederschlagswassergebühr entsteht erstmals mit dem Tag, der auf den Zeitpunkt der betriebsfertigen Herstellung des Anschlusses folgt. Der Tag wird im erstmals ergehenden Bescheid bestimmt. Im Übrigen entsteht die Niederschlagswassergebühr mit dem Beginn eines jeden Tages in Höhe eines Tagesbruchteils der Jahresgebührenschuld neu.
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(3) Die Grundgebühr entsteht erstmals mit dem Tag, der auf den Zeitpunkt der betriebsfertigen Herstellung des Anschlusses folgt. Der Tag wird im erstmals ergehenden Bescheid bestimmt. Im Übrigen entsteht die Grundgebühr mit dem Beginn eines jeden Tages in Höhe eines Tagesbruchteils der Jahresgrundgebührenschuld neu.
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(1) Gebührenschuldner ist, wer im Zeitpunkt des Entstehens der Gebührenschuld Eigentümer des Grundstücks oder ähnlich zur Nutzung des Grundstücks dinglich berechtigt ist.
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(2) Gebührenschuldner ist auch der Inhaber eines auf dem Grundstück befindlichen Betriebs.
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(3) Mehrere Gebührenschuldner sind Gesamtschuldner.“
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Am 10. Dezember 2019 erließ der Antragsgegner eine Änderungssatzung. § 10 Abs. 1 BGS/EWS wurde darin um folgende Sätze ergänzt: „Eine Gebühr von 2,19 EUR pro Kubikmeter wird den Vorauszahlungen im Jahr 2020 zugrunde gelegt. Die endgültige Gebührenhöhe wird zum nächstmöglichen Zeitpunkt ermittelt und rückwirkend zum 1. Januar 2019 festgesetzt.“ § 10 a Abs. 1 BGS/EWS wurde wie folgt ergänzt: “Eine Gebühr von 0,26 EUR pro m² wird den Vorauszahlungen im Jahr 2020 zugrunde gelegt. Die endgültige Gebührenhöhe wird zum nächstmöglichen Zeitpunkt ermittelt und rückwirkend zum 1. Januar 2019 festgesetzt.“
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Mit Änderungssatzung vom 17. Dezember 2020 (Mitteilungsblatt Nr. 26 vom 18. Dezember 2020), die mit Schriftsatz der Antragstellerin vom 11. Januar 2021 in das Normenkontrollverfahren einbezogen wurde, erhielt § 10 Abs. 1 Satz 2 BGS/EWS folgende Fassung: „Die Gebühr beträgt ab dem Jahr 2019 4,40 EUR pro Kubikmeter Abwasser.“ § 2 der Änderungssatzung bestimmte: „Diese Satzung tritt am Tage nach ihrer Bekanntmachung in Kraft“. Dieser Satzungsänderung lag die Kalkulation der Benutzungsgebühren für den Zeitraum 2019-2022 des Sachverständigenbüros S. vom 14. Dezember 2020 zugrunde.
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Mit § 1 der Änderungssatzung vom 22. April 2021, veröffentlicht im Mitteilungsblatt der Stadt L. Nr. 9 vom 7. Mai 2021, erhielt § 10 Abs. 1 Satz 2 der BGS/EWS folgende Fassung: „Die Gebühr beträgt ab dem 1. Januar 2019 4,40 EUR/m³ Abwasser“. In § 2 wurde die Änderungssatzung mit Wirkung zum 1. Januar 2019 in Kraft gesetzt. Der Normenkontrollantrag wurde mit Schreiben vom 21. Dezember 2021 auf die geänderte Satzung umgestellt.
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Die Antragstellerin beantragt zuletzt,
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die Gebührensatzung zur Entwässerungssatzung des Kommunalunternehmens L. vom 6. März 2018 in der Fassung vom 22. April 2021 für unwirksam zu erklären.
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Zur Begründung macht sie geltend, der Anteil der mengenbezogenen Gebühr an den Gesamtkosten der Schmutzwasserbeseitigung betrage circa 91%, der Anteil der Grundgebühr an diesen Kosten circa 9%. Sie wende sich vor allem gegen die in der Gebührensatzung festgelegten Sätze für die mengenbezogene Gebühr und die Grundgebühr, die in ihrer Gesamtheit zu einer unangemessenen Belastung der Antragstellerin als bei weitem größten Einleiter im Verhältnis zu den übrigen Nutzern der öffentlichen Entwässerungsanlage führe. Die Aufteilung des Gebührenaufkommens in Grund- und mengenbezogene Gebühren verstoße gegen das gebührenrechtliche Äquivalenzprinzip und das Gleichbehandlungsgebot aus Art. 3 Abs. 1 GG. Die besondere Nutzerstruktur im Versorgungsgebiet des Antragsgegners führe in diesem Ausnahmefall dazu, dass die von der Antragstellerin zu entrichtenden Gebühren nicht in einem angemessenen Verhältnis zu der von ihr in Anspruch genommenen Leistung stünden und auch eine gleichmäßige Gebührenbelastung aller Nutzer nicht gegeben sei. Dabei verkenne die Antragstellerin das grundsätzlich weite Satzungsermessen nicht, welches seine Grenze jedoch im Äquivalenzprinzip des Art. 8 Abs. 4 KAG und im Gleichbehandlungsgrundsatz finde und auch dazu führen könne, dass der Satzungsgeber von der durch Art. 8 Abs. 2 Satz 3 KAG eingeräumten Möglichkeit der Erhebung einer Grundgebühr Gebrauch machen müsse. Bei einer (nahezu) ausschließlich mengenbezogen gestalteten Abwassergebühr bestehe die Gefahr, dass der Wert der Leistung für Nutzer, die eine geringe Menge Abwasser einleiten, erheblich unterschritten werde, weil sich der Vorteil der baurechtlichen Erschließung ihres Grundstücks gebührenrechtlich nicht adäquat abbilde. Dem stehe gegenüber, dass der Wert der Leistung für Großeinleiter erheblich überschritten werde, wenn die Gesamtkosten der Entwässerungsanlage nahezu ausschließlich über mengenbezogene Gebühren finanziert würden. Die Antragstellerin schultere allein über ihre Einleitungsmengen den Großteil der Vorhaltekosten der Entwässerungsanlage, die allen Nutzern zugutekomme. Dies stelle gleichzeitig einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG dar (wird ausgeführt). Dies zeige auch eine im Rahmen der Diskussion über eine Befreiung vom Anschluss- und Benutzungszwangs der Antragstellerin vorgelegte Vergleichsberechnung des Sachverständigenbüros S., wonach sich für den Fall ihrer Befreiung die mengenbezogenen Schmutzwassergebühren verdoppeln würden. Der Antragsgegner habe die von der Rechtsprechung anerkannte Möglichkeit, bis zu 55% der Gesamtkosten der Entwässerungsanlage über Grundgebühren abzurechnen, nicht ausgeschöpft. Da kein Grund für die Gestaltung des Gebührenaufkommens ersichtlich sei, habe der Antragsgegner seinen Ermessensspielraum überschritten. Auch lasse sich die konkrete Gebührenaufteilung nicht mit einer Typisierung rechtfertigen.
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Mit Schriftsatz vom 21. Dezember 2021 wird weiter ausgeführt, die Änderungssatzung vom 22. April 2021 ordne eine unzulässige echte Rückwirkung an, da in bereits abgeschlossene Gebührentatbestände eingegriffen werde. Die entsprechenden Ankündigungen des Antragsgegners, wonach die Gebührenpflichtigen mit einer rückwirkenden Gebührenerhöhung hätten rechnen müssen, änderten nichts am Vorliegen einer unzulässigen echten Rückwirkung. Der Antragsgegner habe es versäumt, die Gebühren rechtzeitig zu kalkulieren. Eine verspätete Kalkulation stelle keine Rechtfertigung für die Anordnung einer echten Rückwirkung dar. Der Antragsgegner sei auch nicht von der Rechtswidrigkeit seines bisherigen Satzungsrechts ausgegangen, so dass eine Heilung unwirksamen Satzungsrechts mit der Rückwirkungsanordnung nicht beabsichtigt gewesen sei. Mit dem hier gewählten Vorgehen umgehe der Antragsgegner den Grundsatz der Vorauskalkulation. Auch Organisationsmängel reichten zur Rechtfertigung einer Rückwirkungsanordnung nicht aus. Außerdem weise die Kalkulation mehrere Fehler auf. Auch deshalb sei die BGS/EWS unwirksam. So decke sich schon keiner der kalkulierten Gebührensätze mit dem schließlich festgelegten von 4,40 EUR/m³. Darin liege ein Ermessensfehler. Insbesondere sei nicht nachvollziehbar, ob und in welchem Umfang Unterdeckungen zum Ausgleich kommen sollten. Es bleibe auch offen, in welchem Umfang Abschreibungen auf zuwendungsfinanzierte Anlagenbestandteile hätten vorgenommen werden sollen. Des Weiteren sei die Verteilung der Kosten auf Schmutz- und Niederschlagswassergebühren nicht nachvollziehbar. Insbesondere sei der pauschale Personalkostenanteil mit 80% im Klärbereich zu hoch. Dieser liege erfahrungsgemäß bei 60 - 70% und führe deshalb dazu, dass die für die Schmutzwasserbeseitigung anfallenden Kosten im Vergleich zu der Niederschlagswasserbeseitigung zu hoch angesetzt seien. Der Anteil der Kosten im Kanalbereich sei im Verhältnis zu den Kosten im Klärbereich insgesamt zu niedrig. Auch die Abschreibungen für die Kläranlage seien zu hoch, weil ihnen eine unangemessen kurze Nutzungsdauer der Kläranlage zugrunde liege. Es werde der Grundsatz der periodengerechten Abschreibung verletzt. Auch die Beitragskalkulation sei fehlerhaft. Es werde ein Wechsel der Beitragsfinanzierungsquote vorgenommen. Angestrebt werde eine Deckungsquote von 100%, tatsächlich liege aber nur eine Beitragsfinanzierung von 36% vor, was darauf hindeute, dass in der Vergangenheit Beiträge zu niedrig gewesen oder nicht erhoben worden seien. Ohne Abstufung der Gebührensätze führe ein Wechsel in der Beitragsfinanzierungsquote zu einem Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz. Außerdem seien die Beitragssätze abhängig von der gewählten Variante in der Kalkulation zu hoch festgesetzt. Damit liege ein Verstoß gegen das Kostendeckungsprinzip vor. Das von der Antragstellerin vorgelegte Gutachten der Dr. Ing. P. und Partner vom 4. November 2021 weist darauf hin, dass die Grundgebühren für den Kalkulationszeitraum 2019 bis 2022 unverändert geblieben seien.
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Mit Schriftsatz vom 15. Juli 2021 beantragte der Antragsgegner zuletzt,
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den Antrag abzulehnen.
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Zur Begründung führte der Antragsgegner mit Schriftsatz vom 16. März 2020 aus, der Satzungsgeber habe bei der Wahl des Gebührenmaßstabs ein weites Ermessen. Er sei nicht verpflichtet, die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung zu wählen. Auch sei der modifizierte Frischwassermaßstab zur Berechnung der Schmutzwassergebühr von der Rechtsprechung anerkannt. Der Satzungsgeber sei zur Erhebung einer Grundgebühr gar nicht verpflichtet. Die von der Antragstellerin zitierten „Obergrenzen“ für die Grundgebührenfinanzierung seien nur dann einschlägig, wenn sich ein Satzungsgeber für die Erhebung einer Grundgebühr entscheide. Ein Rechtsgrundsatz dergestalt, dass ein Einrichtungsträger mit der Erhebung der Grundgebühr ein „Mindest-Gebührenaufkommen“ zu erzielen habe, lasse sich der Rechtsprechung nicht entnehmen. Soweit die Antragstellerin rüge, dass der Nutzen aus der Entwässerungsanlage für die Erschließung des Grundstücks und die mengenunabhängig entstehenden Vorhaltekosten durch die vorliegend gewählte Gebührenaufteilung in Grundgebühr und mengenbezogene Gebühr nicht adäquat abgebildet werde, werde verkannt, dass der Antragsgegner sich zur Finanzierung der Entwässerungsanlage für eine Kombination aus Beiträgen und Benutzungsgebühren entschieden habe. Die Beitragsfinanzierung gelte gerade den Vorteil für die Möglichkeit der Inanspruchnahme der öffentlichen Entwässerungseinrichtung ab. Zudem werde auch eine Niederschlagswassergebühr erhoben, § 10 a BGS/EWS. Für den nicht über Herstellungsbeiträge, Niederschlagswassergebühren und Grundgebühren finanzierten Anteil der Kosten der Entwässerungsanlage komme im Satzungsrecht des Antragsgegners der modifizierte Frischwassermaßstab zur Anwendung. Die mengenbezogene Erhebung der Gebühr entspreche dem Äquivalenzprinzip, denn die Kosten für die Schmutzwasserbeseitigung folgten der von den Nutzern jeweils eingeleiteten Abwassermenge. Auch ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz liege nicht vor. Nach der Rechtsprechung des BVerwG sei ein Gebührenmaßstab, der auf die durch die Benutzung des einzelnen Gebührenschuldners verursachten Kosten abstelle, aus Gleichbehandlungsgrundsätzen nicht geboten (BVerwG, U.v. 16.9.1981 - 8 C 48/81).
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Mit Schriftsatz vom 4. Februar 2022 wies der Antragsgegner auf die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 15. Dezember 2021 (AN 1 K 21.1134) hin, wonach die streitgegenständliche BGS/EWS wirksam sei und die Rückwirkungsanordnung keinen rechtlichen Bedenken begegne.
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Mit Schreiben vom 3. Februar 2022 nahm die Gutachterin S. gegenüber dem Antragsgegner Stellung zum Gutachten der Antragstellerseite, das dieser mit Schreiben vom 4. Februar 2022 übersandte. Mit der (politischen) Entscheidung für einen Gebührensatz von 4,40 EUR/m³ hätten die notwendigen Rücklagen zum Teil gebildet werden und die Unterdeckungen, die sich aus dem vorherigen Bemessungszeitraum in Höhe von 113.344,00 EUR ergaben, vollständig ausgeglichen werden können. Eine Betriebs- und Geschäftsausstattung für den Kanalbereich sei nicht vorhanden. Die Personal- und Sachkosten seien der örtlichen Organisationsstruktur entsprechend auf den Kanal- und Klärbereich verteilt worden. Es liege keine unangemessene Aufteilung der Gebühren für Niederschlags- und Schmutzwasser vor. Der Antragsgegner als Einrichtungsträger habe aufgrund der bevorstehenden Neu- / Umbaumaßnahmen am Klärwerk die Nutzungsdauer der Anlagegüter überprüft und die Anschaffungs- und Herstellungskosten auf die noch verbleibende Nutzungsdauer verteilt. Nicht gebührenfähige Sonderabschreibungen seien nicht vorgenommen worden. Die rechtliche Zusammenlegung bisher selbständiger Kläranlagen im Jahr 2010 habe die geringen Beitragssätze verursacht, da nach der Rechtsprechung des BayVGH die Restbuchwerte und nicht die historischen Anschaffungs- und Herstellungskosten in die Kalkulation einzustellen seien. Ein Wechsel der Beitragsfinanzierungsquote sei nicht erfolgt. Die Grundgebühr sei nicht neu kalkuliert, sondern beibehalten worden. Sie decke ungefähr 24% der kalkulatorischen Kosten der Entwässerungsanlage. Zu der Erhebung einer Grundgebühr sei der Einrichtungsträger nicht verpflichtet. Er hätte die Kosten auch ausschließlich über Einleitungsgebühren decken können.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Behörden- und Gerichtsakten Bezug genommen. Hinsichtlich des Verlaufs der mündlichen Verhandlung wird auf das Sitzungsprotokoll verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Der Normenkontrollantrag ist nach erfolgter zulässiger Antragsumstellung (§ 91 Abs. 1 VwGO) zulässig (1.) und begründet (2.).
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Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist nach erfolgter Antragsumstellung ausschließlich die Fassung der BGS-EWS vom 22. April 2022, deren § 10 Abs. 1 bestimmt, dass die Gebühr ab dem 1. Januar 2019 4,40 EUR/m³ Abwasser beträgt (§ 1 der Änderungssatzung). § 2 dieser Änderungssatzung ordnet das rückwirkende Inkrafttreten zum 1. Januar 2019 an.
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1. Der Antrag, die Gebührensatzung zur Entwässerungssatzung des Antragsgegners vom 6. März 2018 in der Fassung vom 22. April 2021 für unwirksam zu erklären, ist statthaft (§ 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO, Art. 5 Satz 1 AGVwGO) und auch sonst zulässig.
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Der Antrag gegen die Fassung der Satzung vom 6. März 2018 wurde innerhalb der Frist des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof erhoben. Die Frist ist auch für die infolge des Erlasses von Änderungssatzungen vorgenommenen Antragsumstellungen gewahrt (Hoppe in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 91 Rn. 12).
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Die Antragstellerin ist als Gebührenschuldnerin des Antragsgegners auch antragsbefugt (§ 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO), weil sie geltend machen kann, durch die angegriffenen Regelungen in eigenen Rechten verletzt zu sein.
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2. Der Normenkontrollantrag ist begründet, weil die Rückwirkungsanordnung in § 2 der Änderungssatzung vom 22. April 2021, mit der der Gebührensatz gegenüber der Satzungsfassung vom 6. März 2018 ab dem 1. Januar 2019 auf 4,40 EUR/m³ erhöht werden soll (§ 10 Abs. 1 der geänderten BGS-EWS), gegen höherrangiges Recht verstößt und deshalb nichtig ist. Rechtswirkungen kommen ihr damit weder ab dem 1. Januar 2019 (ex tunc), noch ab dem 7. Mai 2021 (Veröffentlichung der Änderungssatzung vom 22. April 2021 im Mitteilungsblatt - ex nunc) zu. Der Antragsgegner verfügt damit nicht über eine Rechtsgrundlage zum Erlass von Gebührenbescheiden mit einem Gebührensatz von 4,40 EUR. Dies gilt sowohl für den Fall der Wirksamkeit der Gebührensatzung in der Fassung vom 6. März 2018 (a.) als auch für den Fall ihrer Unwirksamkeit (b.). Die Nichtigkeit erfasst den Gebührensatz in voller Höhe, da für die Annahme einer Teilnichtigkeit (§ 139 BGB analog) keine Anhaltspunkte bestehen.
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a. Bei der in der Änderungssatzung getroffenen Regelungen der Erhöhung des Gebührensatzes unter gleichzeitiger Anordnung des Inkrafttretens dieser Erhöhung zum 1. Januar 2019 handelt es sich um eine unzulässige echte Rückwirkung (vgl. BVerfG, B.v. 12.11.2015 - 1 BvR 2961/14 - NVwZ 2016, 300). Die Normen verstoßen gegen das im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) enthaltene Rückwirkungsverbot und sind daher ungültig. Das Rückwirkungsverbot enthält für verschiedene Fallgruppen unterschiedliche Anforderungen. Eine unechte Rückwirkung ist verfassungsrechtlich grundsätzlich zulässig. Sie liegt vor, wenn eine Norm auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirkt und damit zugleich die betroffene Rechtsposition nachträglich entwertet. Eine echte Rückwirkung ist dagegen verfassungsrechtlich grundsätzlich unzulässig. Sie liegt vor, wenn ein Gesetz nachträglich ändernd in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingreift. Auch in diesem Fall gibt es Ausnahmen. Das Rückwirkungsverbot, das im Vertrauensschutz nicht nur seinen Grund, sondern auch seine Grenze findet, tritt zurück, wenn sich kein schützenswertes Vertrauen auf den Bestand des geltenden Rechts bilden konnte. Ferner kommt ein Vertrauensschutz nicht in Betracht, wenn überragende Belange des Gemeinwohls, die dem Prinzip der Rechtssicherheit vorgehen, eine rückwirkende Beseitigung von Normen erfordern (BayVGH, U.v. 15.10.2009 - 6 B 08.1431 - BeckRS 2010, 1403 Rn. 27).
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Die Änderungssatzung, die bis dahin geltendes und von dem Antragsgegner für wirksam gehaltenes Satzungsrecht ersetzen sollte, führt zu einer echten Rückwirkung, weil sie nachträglich ändernd in Gebührentatbestände zum Nachteil der Betroffenen eingreift, die in der Vergangenheit liegen und schon abgeschlossen sind.
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Eine nachträgliche Neuberechnung der Gebührenschuld aufgrund der erst am 14. Dezember 2020 vorliegenden Kalkulation und die rückwirkende Inkraftsetzung des Gebührensatzes verstößt gegen den Grundsatz der Einmaligkeit der Gebührenerhebung und greift in bereits entstandene Gebührenschuldverhältnisse ein. Eine rückwirkende Abgabenerhöhung durch Austausch einer rechtmäßigen Satzungsregelung durch eine andere ist unzulässig (Gern/Brüning, Deutsches Kommunalrecht, Stand 2019, 18. Kapitel Rn. 1305; BVerwG, U.v. 7.4.1989 - 8 C 83/87 - NVwZ 1990, 168). Nach § 12 Abs. 1 der BGS-EWS entsteht die Abwassergebühr mit jeder Einleitung in der Höhe des zum Zeitpunkt der Einleitung geltenden Gebührensatzes. Dieser Sachverhalt ist mit der erstmaligen Entstehung der Gebühr abgeschlossen, weil die Gebühr nach der satzungsgemäßen Bestimmung tatbestandlich nur einmal entstehen kann. Ein bereits in der Vergangenheit erfüllter Gebührentatbestand kann durch Satzungsänderung nicht zu einem späteren Zeitpunkt verändert werden. Auch das Vertrauen der Gebührenschuldner ist deswegen schutzwürdig und steht der Zulässigkeit einer Rückwirkungsanordnung entgegen. Sie müssen mit einer nachträglichen Anhebung und einer daraus resultierenden Nachberechnung bereits entstandener und für eine bestimmte Verbrauchsmenge bereits feststehender Gebühren nicht rechnen. Daran vermag weder der „Rückwirkungsbeschluss“ des Verwaltungsrats vom 12. Dezember 2018 noch die Satzungsbestimmung in der Änderungssatzung vom 10. Dezember 2019, mit der § 10 Abs. 1 BGS-EWS mit dem Hinweis versehen wurde, es handele sich bei der Gebührenhöhe von 2,19 EUR um den Gebührensatz, der den Vorauszahlungen zunächst zugrunde gelegt werde und es sei mit einer Anhebung der Gebührenhöhe zu rechnen, etwas zu ändern. Denn Art. 8 Abs. 2, 4 und 6 KAG, Art. 62 Abs. 2 GO verpflichten den kommunalen Anlagenbetreiber, die Gebühren auf der Grundlage einer Kalkulation so zu erheben, dass das Gebührenaufkommen möglichst die nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen ansatzfähigen Kosten einschließlich der Kosten für die Ermittlung und Anforderung von einrichtungsbezogenen Abgaben deckt. Bei der Gebührenbemessung können die Kosten für einen mehrjährigen Zeitraum berücksichtigt werden, der jedoch höchstens vier Jahre umfassen soll (Art. 8 Abs. 6 Satz 1). Dabei sind Kostenüberdeckungen, die sich am Ende des Bemessungszeitraums ergeben, innerhalb des folgenden Bemessungszeitraums auszugleichen; Kostenunterdeckungen sollen in diesem Zeitraum ausgeglichen werden (Art. 8 Abs. 6 Satz 2 KAG). Der Antragsgegner verfügte nach eigenen Angaben aufgrund betriebsinterner Schwierigkeiten und der Umstellung der Buchführung erst am 14. Dezember 2020 und damit erst nach Verstreichen der Hälfte des Bemessungszeitraums 2019 bis 2022 über valide Daten zur Ermittlung der kostendeckenden Gebührenhöhe. Ein Verstoß des an Recht und Gesetz gebundenen Antragsgegners gegen das Kalkulationsgebot, das dem Kostendeckungsprinzip zur Durchsetzung verhelfen soll, da nur auf der Grundlage aussagekräftiger Betriebsabrechnungen eine Bemessung der voraussichtlich kostendeckenden Gebührenhöhe stattfinden kann, kann das auf die Einmaligkeit der Gebührenerhebung gerichtete Vertrauen der Gebührenschuldner nicht beseitigen, auch wenn der Antragsgegner den Gebührenschuldnern wiederholt mitgeteilt hat, dass die bislang der Abrechnung zugrunde gelegten Gebührensätze aller Voraussicht nach nicht kostendeckend sein dürften. Das Vorgehen des Antragsgegners findet im Kommunalabgabengesetz keine Rechtfertigung.
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Damit ist die mit dem Normenkontrollantrag angegriffene Regelung unwirksam. Dies hat die Unwirksamkeit der gesamten Gebührensatzung zur Folge, da der Satzung ohne Abgabesatz ein essentieller Bestandteil fehlt (Art. 2 Abs. 1 Satz 2 KAG). Es sind auch keine Anhaltspunkte ersichtlich, dass der Antragsgegner dem Rechtsgedanken des § 139 BGB folgend die angegriffenen Satzungsbestimmungen ohne die Rückwirkungsanordnung erlassen hätte. Dem stehen bereits kalkulatorische Gründe entgegen.
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In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass ein Fall der Nacherhebung von Gebühren - wenn sich etwa auf der Grundlage wirksamen Satzungsrechts erst nach dem Erlass bzw. Eintritt der Bestandskraft eines Gebührenbescheides herausstellt, dass höhere Mengen Abwasser eingeleitet wurden als zunächst berechnet oder ein Gebührenrahmen nicht voll ausgeschöpft wurde - bei nachträglicher Erhöhung des Gebührensatzes gerade nicht vorliegt. Vielmehr verfügte der Antragsgegner zu Beginn des neuen Kalkulationszeitraums nicht über eine ordnungsgemäße Gebührenkalkulation im Sinne des Art. 8 KAG. Er war deshalb nicht in der Lage, kostendeckende Gebührensätze zum Gegenstand seines Ortsrechts zu machen. Die Unsicherheit des Gebührengläubigers über die Höhe der in die Kalkulation einzustellenden Kosten löst keinen Nacherhebungstatbestand im Zeitpunkt des Vorliegens der Kalkulation aus. Art. 8 KAG unterstellt insoweit, dass der Anlagenbetreiber stets sorgfältig im Blick behält, welche Einnahmen und Ausgaben im Rahmen der Gebührenermittlung zu berücksichtigen sind und welche Höhe die Verbrauchsgebühren erreichen müssen bzw. dürfen, um die Anforderungen des Kostendeckungsprinzips zu erfüllen. Dass der Antragsgegner durch den Wechsel des Anlagenbetreibers im Jahr 2017 und die Umstellung von der Kameralistik auf die Doppik in der Haushaltsführung bis 14. Dezember 2010 nach eigener Aussage nicht in der Lage gewesen ist, die Gebührenhöhe zu bestimmen, erklärt zwar, warum die Kalkulation erst weit nach Beginn des Kalkulationszeitraums 2019 bis 2022 vorlag. Diese Umstände liegen jedoch ausschließlich in der Sphäre des Gebührengläubigers und sind von diesem zu verantworten.
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Es handelt sich bei der in § 1 der Änderungssatzung getroffenen Regelung auch nicht um eine Regelung zur vorläufigen Gebührenfestsetzung. Zwar ist § 165 AO über die Verweisung in Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 b) aa) KAG grundsätzlich auch im Kommunalabgabenrecht entsprechend anwendbar. Nach § 165 Abs. 1 Satz 1 AO kann eine Steuer vorläufig festgesetzt werden, soweit ungewiss ist, ob die Voraussetzungen für ihre Entstehung vorliegen. Die tatbestandlichen Voraussetzungen der Norm liegen hier aber offensichtlich nicht vor. Denn die Einleitungsmenge und damit die Voraussetzung für das Entstehen der Gebührenschuld steht in jedem Einzelfall fest. Unsicherheiten über die Höhe der anfallenden Gebühren, die daraus resultieren, dass der Antragsgegner nicht vor Beginn der Kalkulationsperiode über valide Kalkulationsgrundlagen verfügte, unterfallen nicht dem Begriff der Ungewissheit über die Entstehung einer Abgabeschuld. Der Antragsgegner erklärte hierzu in der mündlichen Verhandlung, die Gebührenbescheide seien ohne Vorläufigkeitsvermerk unter Zugrundelegung eines Gebührensatzes von 2,19 EUR/m³ erlassen worden und später habe er dann - nachdem die Kalkulation habe erstellt werden können - auf neuer Zahlengrundlage weitere Gebührenbescheide in Höhe des Differenzbetrages erlassen. Auch für eine Einordnung der Regelung als Vorbehalt der Nachprüfung im Sinne des § 164 AO bestehen keine Anhaltspunkte; ohnehin ist diese Vorschrift im Bereich des Kommunalabgabengesetzes nicht anwendbar (vgl. Art. 13 Abs. 1 Nr. 4 a) aa) KAG).
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b. Letztlich kommt es auch nicht darauf an, ob der Gebührensatz und damit die Gebührensatzung in der Fassung vom 6. März 2018 möglicherweise unwirksam gewesen sind. Die Rückwirkungsanordnung kann auch in dem Fall der Nichtigkeit vorangehenden Satzungsrechts nicht zur Entstehung einer wirksamen Gebührensatzung führen. Zwar ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass der Neuerlass (erstmals) wirksamen Satzungsrechts unter Anordnung der Rückwirkung grundsätzlich zulässig ist und wirksames Ortsrecht begründen kann (BayVGH, B.v. 6.4.2000 - 23 CS 99.3748 - NVwZ 2001, 706; BayVGH, U.v. 29.4.2010 - 20 BV 09.2010 - BeckRS 2011, 49733). Die Nichtigkeit kann dabei nicht durch bloße Änderung einzelner Bestimmungen behoben werden. Vielmehr bedarf es eines Neuerlasses der ungültigen Satzung bzw. des ungültigen Satzungsteils insgesamt (BayVGH, B.v. 20.12.2004 - 23 CS 04.3051 - BeckRS 2004, 34193). Diesen Anforderungen genügt die Änderungssatzung vom 22. April 2021 nicht, weil der Antragsgegner lediglich die den Gebührensatz enthaltende Regelung und damit eine Regelung neu erlassen hat, die isoliert kein wirksames Satzungsrecht begründen kann (Art. 2 Abs. 1 Satz 2 KAG).
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Auf die mit dem Normenkontrollantrag aufgeworfene Frage, ob der Antragsgegner mit der von ihm gewählten Verteilung der Kosten auf Grundgebühren und mengenbezogene Gebühren den ihm zustehenden weiten Spielraum mit der Folge der Rechtswidrigkeit der Gebührensatzung wegen des Vorliegens eines Verstoßes gegen höherrangiges Recht überschritten haben könnte, kommt es demnach ebenso nicht mehr an.
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
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4. Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor, § 132 Abs. 2 VwGO.
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5. Gemäß § 47 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 VwGO muss der Antragsgegner die Ziffer I. der Entscheidungsformel nach Eintritt der Rechtskraft des Urteils in derselben Weise veröffentlichen wie die Rechtsvorschrift bekanntzumachen wäre.