Titel:
Rückführung eines anerkannten Schutzberechtigten nach Polen
Normenketten:
AsylG § 1 Abs. 1 Nr. 2, § 29 Abs. 1 Nr. 2
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1, S. 6
GRCh Art. 4
EMRK Art. 3
Leitsatz:
Die Lebensverhältnisse für international Schutzberechtigte in Polen stellen sich nicht allgemein als unmenschlich oder erniedrigend iSv Art. 4 GRCh oder Art. 3 EMRK dar. Dies gilt auch angesichts des Flüchtlingszustroms nach Polen infolge des Krieges in der Ukraine. (Rn. 19 – 27) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Drittstaatenbescheid, anerkannt Schutzberechtigter in Polen, Auswirkungen des Flüchtlingszustroms aus der Ukraine auf die Situation anerkannter Schutzberechtigte, Rückführung nach Polen, anerkannter Schutzberechtigter, Lebensverhältnisse in Polen, wirtschaftliche Lage, Auswirkungen des Ukraine-Krieges, Flüchtlingszustrom, Covid-19-Pandemie
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 20.10.2022 – 24 ZB 22.31062
Fundstelle:
BeckRS 2022, 31601
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Tatbestand
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Der am …2001 geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger vom Volke der T. und s. Glaubens. Er reiste am 16.11.2021 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Ein förmlicher Asylantrag wurde am 22.12.2021 gestellt.
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Ein Eurodac-Treffer der Kategorie 1 ergab, dass der Kläger am 07.09.2021 in Polen einen Asylantrag gestellt hatte.
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Am 23.12.2021 stellte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ein Wiederaufnahmegesuch auf der Grundlage der Dublin III-VO an die polnischen Behörden. Mit Schreiben vom 07.02.2022 lehnten die polnischen Behörden das Wiederaufnahmegesuch nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. b) Dublin III-VO ab, da dem Kläger aufgrund eines am 07.09.2021 gestellten Antrags auf internationalen Schutz am 25.10.2021 die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden sei.
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Einer Ladung zu der Anhörung beim Bundesamt am 21.02.2022 kam der Kläger nicht nach. Er meldete sich am 22.02.2022 um mitzuteilen, dass er den Termin verpasst habe.
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Mit Bescheid vom 03.03.2022 wurde der Asylantrag des Klägers als unzulässig abgelehnt und festgestellt, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen. Weiterhin wurde die Abschiebung nach Polen angedroht und das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Asylantrag sei nach 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig, da dem Kläger bereits in einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union internationaler Schutz gewährt worden sei.
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Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 16.03.2022 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Würzburg erhoben.
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 03.03.2022, wird bis auf die Nummer 3 Satz 4 aufgehoben, hilfsweise wird die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 03.03.2022, verpflichtet festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG in Bezug auf Polen vorliegt.
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Die Beklagte beantragt,
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Mit Beschluss vom 24.06.2022 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die dem Gericht vorliegende Akte des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage, über die in Abwesenheit eines Vertreters der Beklagten verhandelt und entschieden werden konnte (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist nicht begründet. Denn der Bescheid der Beklagten vom 03.03.2022 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Er hat darüber hinaus auch weder einen Anspruch auf die hilfsweise begehrte Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Polen noch auf die Verkürzungen der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 AufenthG (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).
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Das Gericht verweist zunächst auf die Begründung des streitgegenständlichen Bescheides vom 03.03.2022 und macht sich diese vollumfänglich zu eigen, § 77 Abs. 2 AsylG.
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Darüber hinaus ist Folgendes auszuführen:
14
Nummer 1 des angegriffenen Bescheides ist rechtmäßig. Die Beklagte hat insoweit zu Recht entschieden, dass der Asylantrag unzulässig ist. Die Unzulässigkeitsentscheidung wurde von der Beklagten rechtmäßigerweise auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gestützt. Nach dieser Vorschrift ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Insoweit nimmt das Gericht Bezug auf das entsprechende Schreiben der polnischen Behörden vom 07.02.2021, wonach dem Kläger am 25.10.2021 in Polen internationaler Schutz in Form des Flüchtlingsstatus gewährt worden ist. Soweit der Kläger angegeben hat, sein Ziel sei von Anfang an Deutschland gewesen, ist dies unbehelflich. Anhaltspunkte für grundlegende systemische Mängel im polnischen Asylverfahren bestehen nicht erkennbar. Insoweit wird auf die einschlägige Rechtsprechung hinsichtlich Polens zu Überstellungen sowohl anerkannt Schutzberechtigter als auch Asylsuchender im Dublin-Verfahren Bezug genommen (VG Braunschweig, B.v. 1.4.2022 - 6 B 48/22 - juris; VG Düsseldorf, B.v. 3.2.2022 - 12 L 8777/21.A; VG Sigmaringen, B.v. 2.4.2022 - A 7 K 2540/21 - juris). Weiterhin ist der Kläger durch eine unterbliebene Anhörung in Polen jedenfalls nicht beschwert, da ihnen internationaler Schutz zuerkannt wurde. Die Anhörung bildet einen zentralen Bestandteil des Asylverfahrens, da sie dem Asylsuchenden die Möglichkeit geben soll, sein Verfolgungsschicksal darzulegen. Durch ein Unterlassen der Anhörung ist der Asylsuchende hingegen nur beschwert, wenn sein Asylantrag abgelehnt wird, ohne dass ihm die Möglichkeit gegeben wurde, seine Asylgründe darzustellen. Vorliegend wurde dem Kläger jedoch in Polen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Inwiefern deshalb das Bundesamt angehalten sein sollte, zur Sachverhaltsaufklärung und Erforschung der Asylgründe ein weiteres Asylverfahren durchzuführen, ist nicht erkennbar.
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Der Ablehnung des Asylantrags als unzulässig gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG steht auch nicht Art. 4 der Grundrechtscharta (GRC) i.V.m. Art. 3 EMRK entgegen (vgl. hierzu EuGH, B.v. 13.11.2019 - C-540/17 u.a. - juris). Eine ernsthafte Gefahr, eine gegen Art. 4 der Charta verstoßende, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung in Polen zu erfahren, besteht für den Kläger nach Überzeugung des Gerichts nicht.
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Bei der Prüfung, ob Polen hinsichtlich der Behandlung von rücküberstellten Schutzberechtigten gegen Art. 4 GRC i.V.m. Art. 3 EMRK verstößt, ist ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-297/17 - juris; OVG Lüneburg, B.v. 21.12.2018 - 10 LB 201/18 - BeckRS 2018, 33662; U.v. 29.1.2018 - 10 LB 82/17 - juris Rn. 28). Denn Polen unterliegt als Mitgliedstaat der Europäischen Union deren Recht und ist den Grundsätzen einer gemeinsamen Asylpolitik sowie den Mindeststandards des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems verpflichtet. Das Gemeinsame Europäische Asylsystem gründet sich auf das Prinzip gegenseitigen Vertrauens, dass alle daran beteiligten Staaten die Grundrechte sowie die Rechte beachten, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und in der EMRK finden. Daraus hat der Europäische Gerichtshof die Vermutung abgeleitet, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechte-Charta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention steht (vgl. hierzu nur EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-297/17 u.a. juris Rn. 83 f.).
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Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass dieses System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass ein ernsthaftes Risiko besteht, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen, bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar ist (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-163/17 - juris Rn. 83).
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Solche Schwachstellen verstoßen nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs aber nur dann gegen das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt. Diese Schwelle wäre erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Eine große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse erreichen diese Schwelle nicht, wenn sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund derer diese Person sich in einer solch schwerwiegenden Situation befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-163/17 - juris Rn. 91 ff.).
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Die Lebensverhältnisse für international Schutzberechtigte in Polen stellen sich nicht allgemein als unmenschlich oder erniedrigend im Sinne von Art. 4 EU-Grundrechtecharta bzw. Art. 3 EMRK dar. Ein vom Willen der Schutzberechtigten unabhängiger „Automatismus der Verelendung“ lässt sich nicht feststellen (VG Düsseldorf, B.v. 10.8.2022 - 12 L 1303/22.A - juris Rn. 81; VG Ansbach, B.v. 20.7.2021 - AN 18 S 20.50221 - juris Rn. 31; VG Bayreuth, B.v. 28.5.2021 - B 8 S 21.50108 - juris Rn. 26). Anerkannten Schutzberechtigten droht in Polen nicht automatisch die Obdachlosigkeit. Sie dürfen nach Erhalt der Entscheidung noch für maximal zwei Monate in der Unterbringung für Asylbewerber bleiben. Die Wohnungssuche ist in Polen für Schutzberechtigte schwierig. Dabei liegen die Haupthindernisse bei der Wohnungssuche in der hohen Miete und Diskriminierung. Der polnische Staat stellt keine Unterkünfte für Schutzberechtigte zur Verfügung. Einige Gemeinden bieten zwar spezielle Wohnungen zu diesem Zweck an, es herrscht aber generell ein Mangel an Sozialwohnungen, sowohl für Polen als auch für Inhaber eines Schutztitels. Nach Auffassung vieler Nichtregierungsorganisationen sind international Schutzberechtigte in Polen von Obdachlosigkeit und Armut bedroht. Belastbare Daten zur Zahl der wohnungslosen Schutzberechtigten gibt es indes nicht. Es bestehe ein hohes Risiko, dass die Zahl erheblich sei (vgl. Österr. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation - Polen, Version 2, 7. Dezember 2021, S. 16; aida, Country Report: Poland, 2020 Update, April 2021, S. 105 ff.). Dem Gericht liegen jedoch keine tagesaktuellen Berichte vor, nach denen sich die in den vorbenannten Auskünften prognostizierte Gefahr von Obdachlosigkeit verwirklicht hätte. Zudem können anerkannte Schutzberechtigte in Polen jedenfalls vorübergehend und ergänzend auf staatliche Leistungen und die Unterstützung durch caritative Organisationen zurückgreifen. Sie können binnen 60 Tagen ab Statuszuerkennung die Teilnahme an einem speziellen Individual Integration Program (IPI) beantragen, das von den Poviat Family Support Centres (PCPR) angeboten wird. Es dauert 12 Monate, in denen Integrationshilfe gewährt wird. Diese umfasst unter anderem eine Beihilfe für Polnisch-Kurse, Übernahme der Krankenversicherung und Sozialberatung. Abhängig von der Haushaltsgröße erhalten die Nutznießer zwischen 158 und 317 Euro pro Person in den ersten sechs Monaten und zwischen 149 und 288 Euro pro Person in den zweiten sechs Monaten des IPI. Die PCPR unterstützen die Teilnehmer auch bei der Arbeitssuche und bei der Suche nach Wohnraum und zahlen gegebenenfalls eine Beihilfe für das Mieten einer Wohnung (vgl. Österr. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation - Polen, Version 2, 7. Dezember 2021, S. 16; aida, Country Report: Poland, 2020 Update, April 2021, S. 109 ff.). Ferner haben Berechtigte internationalen Schutzes Zugang zum allgemeinen polnischen Sozialsystem wie polnische Bürger und können Sozialhilfe erhalten, wenn sie eine gewisse Einkommensgrenze nicht übersteigen. Auch können sie auf verschiedene Familienbeihilfen zurückgreifen. In der Praxis bestehen aufgrund von mangelnden Sprachkenntnissen, mangelndem Wissen um die Rechte und administrativen Hürden Probleme beim Zugang zu Sozialhilfe (vgl. Österr. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation - Polen, Version 2, 7. Dezember 2021, S. 16 f.; aida, Country Report: Poland, 2020 Update, April 2021, S. 108 f.). International Schutzberechtigte haben ein Recht auf medizinische Versorgung wie polnische Staatsbürger, was bedeutet, dass sie grundsätzlich eine Krankenversicherung haben müssen. Während sie eine IPI beziehen, müssen sie sich arbeitslos melden und werden von der öffentlichen Hand krankenversichert. Nach Ende der IPI muss die Krankenversicherung entweder von einem etwaigen Arbeitgeber, dem zuständigen Arbeitsamt (wenn der Betreffende arbeitslos gemeldet ist) oder vom Schutzberechtigten selbst übernommen werden. Die administrativen Hürden für den Zugang zu medizinischer Versorgung in Polen gelten als hoch und langwierig (vgl. Österr. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation - Polen, Version 2, 7. Dezember 2021, S. 16 f.; aida, Country Report: Poland, 2020 Update, April 2021, S. 111 f.).
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Nichtregierungsorganisationen (NGOs) spielen in vielen Bereichen eine zentrale Rolle bei der Unterstützung von Asylsuchenden und international Schutzberechtigten. Ihnen ist es mit - in vielen Fällen kurzfristigen - Aktivitäten gelungen, die Lücken des Systems zu füllen (vgl. aida, Country Report: Poland, 2020 Update, April 2021, S. 45, 107).
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Schließlich kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Suche nach einer Erwerbstätigkeit für international Schutzberechtigte in Polen von vornherein aussichtslos oder mit solchen Schwierigkeiten verbunden ist, dass mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden könnte, der Kläger würde seinen Lebensunterhalt - ggf. mit ergänzender staatlicher und caritativer Unterstützung - nicht selbst sicherstellen können. Schutzberechtigte in Polen haben, wie polnische Bürger, unbeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt. In der Praxis haben sie Zugang zu Beschäftigung, obwohl sie mit Hindernissen konfrontiert sind, etwa fehlenden Sprachkenntnissen und Qualifikationen sowie einem geringen Bewusstsein der Arbeitgeber für ihren uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt. Dies kann zu Arbeitslosigkeit oder Beschäftigung mit niedrigem Gehalt, Instabilität der Beschäftigung und geringen Aufstiegschancen führen. In Großstädten ist es aber einfacher, Arbeit zu finden. NGOs unterstützten die international Schutzberechtigten bei der Integration in den Arbeitsmarkt (vgl. aida, Country Report: Poland, 2020 Update, April 2021, S. 107 ff.).
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Der Kläger ist den aufgeführten Erkenntnissen zu den Lebensbedingungen von Personen mit internationalem Schutzstatus in Polen auch nicht substantiiert entgegengetreten. Vielmehr hat er lediglich angegeben, er habe von Anfang an nach Deutschland kommen wollen. Weiterhin ließ sich den Ausführungen des Klägers entnehmen, dass er in Polen in einem Camp untergebracht waren und dort versorgt wurde. Zwar ist es unbestreitbar, dass die Lebensbedingungen in solchen Asylunterkünften in Polen nicht den Standard in Deutschland erreichen. Dies ist jedoch im hiesigen Verfahren von Rechts wegen ohne Belang, solange durch die dortigen Lebensverhältnisse Art. 3 EMRK, Art. 4 GrCh nicht verletzt werden, was angesichts obiger Ausführungen in Polen nicht der Fall ist. Der Kläger hat nach dem europäischen Asylsystem insbesondere kein Wahlrecht, sich den Mitgliedsstaat auszusuchen, in dem er sich bessere Chancen oder angenehmere Aufenthaltsbedingungen erhofft. Auch ist vom Kläger als jungem, gesunden und erwerbsfähigen Mann mit guter schulischer Ausbildung als zumutbare Eigeninitiative zu erwarten, dass er sich darum bemüht, zur Verfügung stehende staatliche Unterstützungsleistungen und zivilgesellschaftliche Hilfe in Anspruch zu nehmen.
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Abweichendes gilt schließlich auch nicht vor dem Hintergrund des Flüchtlingszustroms nach Polen infolge des Krieges in der Ukraine. Zwar sind seit Kriegsbeginn zwischenzeitlich 4,8 Millionen Flüchtlinge aus der Ukraine in Polen angekommen sind, die Zahl der registrierten Flüchtlinge beträgt (Stand 18.07.2022) allerdings „nur“ 1,235 Millionen (http://... Stand: 19.07.2022). Zuletzt ist auch eine verstärkte Rückkehr der aus der Ukraine geflüchteten Menschen in ihr Herkunftsland zu verzeichnen. So haben in der Zeit vom 10.05.2022 bis zum 19.07.2022 täglich zwischen 20.000 und 30.000 Grenzübertritte in die Ukraine stattgefunden (vgl. UNHCR, Flüchtlingssituation in der Ukraine, abrufbar unter: https://data.unhcr.org/en/situations/ukraine/location/10781, Stand: 19. Juli 2022).
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Zu berücksichtigen ist ferner, dass Schutzsuchende aus der Ukraine aufgrund des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 des Rates der Europäischen Union vom 4. März 2022 zur Feststellung des Bestehens eines Massenzustroms von Vertriebenen aus der Ukraine im Sinne des Artikels 5 der Richtlinie 2001/55/EG und zur Einführung eines vorübergehenden Schutzes nicht das üblicherweise vorgesehene Asylverfahren durchlaufen müssen, sondern in einem vereinfachten Verfahren einen europaweit gültigen vorübergehenden Schutz mit entsprechendem Zugang zum Arbeitsmarkt und etwaigen Sozialleistungen erhalten (können). Die Aktivierung der RL 2001/55/EG vom 20. Juli 2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten (Massenzustrom-Richtlinie) soll eine ausgewogene Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme der Schutzsuchenden aus der Ukraine verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten fördern (vgl. Art. 1 der RL 2001/55/EG (Massenzustrom-Richtlinie); ferner Erwägungsgründe 16 und 20 des Durchführungsbeschlusses (EU) 2022/382 vom 4.3.2022).
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Ferner ist zu berücksichtigen, dass die Schutzsuchenden aus der Ukraine zu einem beachtlichen Teil in privat organisierten Unterkünften untergebracht werden oder weiterreisen, was im März 2022 dazu führte, dass die von lokalen polnischen Behörden eingerichteten Unterkunftszentren mit einer Kapazität für ca. 280.000 Menschen weitgehend unbewohnt geblieben sind (vgl. UNHCR, Situation in der Ukraine: Flash-Update Nr. 1 vom 8. März 2022, S. 4, abrufbar unter: https://data.unhcr.org/en/documents/details/91208, Stand: 26. Juli 2022; VG Lüneburg, B.v. 3.5.2022 - 5 B 31/22 - juris, S. 8 f.).
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Dem Gericht liegen keine Berichte oder andere Erkenntnismittel vor, wonach es derzeit zu einer Überforderung des polnischen Asylsystems kommen soll, etwa durch Engpässe bei der Flüchtlingsunterbringung und -versorgung (ebenso: VG Dresden, B.v. 27.6.2022 - 3 L 397/22.A - juris Rn. 22 ff.; VG München, B.v. 27.5.2022 - M 30 S 22.50276 - juris Rn. 31; VG Trier, B.v. 4.5.2022 - 7 L 1051/22.TR - juris, S. 4 des Urteilabdrucks; VG Lüneburg, B.v. 3.5.2022 - 5 B 31/22 - juris, S. 8 f. des Urteilabdrucks; VG Stuttgart, B.v. 13.4.2022 - A 8 K 1530/22 - juris, S. 7 f. des Urteilabdrucks).
27
Unter Berücksichtigung vorstehender Ausführungen und auch darüber hinaus sind keine greifbaren stichhaltigen Anhaltspunkte oder Berichte dafür ersichtlich, dass sich die Situation für Personen wie den Kläger, die sich als international schutzberechtigter Afghane in Polen aufhalten, derartig verändert hätte, dass diesem abweichend von obigen Ausführungen im entscheidungserheblichen Zeitpunkt - und auch nicht konkret absehbar - mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit - die Gefahr droht, durch die Lebensbedingungen in Polen einer Verletzung des Art. 3 EMRK, Art. 4 GrCh ausgesetzt zu sein (so auch: VG Lüneburg, U.v. 8.3.2022 - 5 B 23/22 - juris; VG Potsdam, B.v. 18.3.2022 - VG 1 L 110/22.A; VG München, B.v. 21.3.2022 - M 5 S 22.50140; VG Braunschweig, B.v. 4.3.2022 - 6 B 117/22). Der Kläger hat auch keine aktuellen Erkenntnisse benannt, die die vorstehenden Ausführungen zu den Lebensbedingungen von Asylbewerbern und Personen mit internationalem Schutzstatus in Polen in Frage stellen könnten. Vor diesem Hintergrund drängt sich dem Gericht auch keine weiteren Beweisaufnahme auf.
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Individuelle, in der Person der Kläger liegende besondere Gründe, die im Falle der Rückkehr nach Polen hinsichtlich der dann zu erwartenden Lebensverhältnisse auf eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verletzung von Art. 4 EU-Grundrechtecharta bzw. Art. 3 EMRK schließen lassen könnten, liegen nicht vor.
29
Darüber hinaus ist auch die in Nummer 2 des streitgegenständlichen Bescheides getroffene Verneinung des Bestehens von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG in Hinblick auf Polen rechtmäßig.
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Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Da dem Kläger entsprechend obiger Ausführungen in Polen nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 4 GRC i.V.m. Art. 3 EMRK droht, scheidet auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu seinen Gunsten aus. Insoweit wird auf die Ausführungen unter 2. sowie in der Begründung des streitgegenständlichen Bescheides vollumfänglich Bezug genommen, § 77 Abs. 2 AsylG. Die Verletzung sonstiger Konventionsrechte ist weder vorgetragen noch ersichtlich. Auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hat das Bundesamt daher zu Recht vereint.
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Schließlich liegt auch kein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor. Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur dann vor, wenn der Kläger unter einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung leidet, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG. Die Erkrankung muss nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG i.V.m. § 60a Abs. 2c) Satz 2 AufenthG durch Vorlage einer qualifizierten ärztlichen Bescheinigung glaubhaft gemacht werden.
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Entsprechend vorstehender Ausführungen ist auch für das Bestehen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nichts ersichtlich.
33
Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ergibt sich schließlich nicht aus den gesundheitlichen Gefahren im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie, denn die Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG wird durch § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG gesperrt. Die Gefahr einer Infektion betrifft die gesamte Bevölkerung allgemein. Es liegt auch keine Extremgefahr vor, die es verfassungsrechtlich gebieten würde, die Sperrwirkung von § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG ausnahmsweise entfallen zu lassen (vgl. BVerwG, U.v. 13.6.2013 - 10 C 13/12 - juris).
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Es ist nicht ersichtlich, dass der Kläger bei seiner Rückkehr nach Polen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre, wobei sich diese ausschließlich auf den Tod aufgrund einer Infektion mit Covid-19 oder einen besonders schweren Verlauf beziehen kann. Dies ist bei dem Kläger nicht anzunehmen, denn dieser gehört nach dem oben genannten Maßstab bereits nicht zu der Personengruppe mit einem höheren Risiko für einen schweren, möglicherweise lebensbedrohlichen Verlauf der COVID-19-Erkrankung (vgl. https://www.rki.de/DE/Content/ InfAZ/N/Neuartiges_ Coronavirus/Steckbrief.html; jsessinid=DC346DA1D7E1A04E3FB153F23B3AF998.internet092#doc13776792bodyText15). Die Kläger hätten überdies im Falle einer etwaigen Erkrankung an Covid-19 Anspruch auf die notwendige medizinische Versorgung in Polen (vgl. oben). Zudem ist zu berücksichtigen, dass jeder das eigene Infektionsrisiko durch eine Impfung bzw. durch Einhaltung der geltenden Hygiene- und Abstandsregeln maßgeblich verringern kann.
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Vor diesem Hintergrund ist auch der gestellte Hilfsantrag auf die Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG unbegründet.
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Die Abschiebungsandrohung nach Polen in Nummer 3 des angegriffenen Bescheides begegnet ebenfalls keinen rechtlichen Bedenken. Sie wurde vom Bundesamt rechtmäßigerweise auf §§ 34, 35 AsylG gestützt. Die Ausreisefrist von einer Woche ergibt sich aus § 36 Abs. 1 AsylG.
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Auch das in Nummer 4 getroffene Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG ist rechtmäßig. Das Verbot ist nach dem Gesetzeswortlaut zwingend anzuordnen. Die Festsetzung der Frist erfolgt nach § 11 Abs. 3 AufenthG im Ermessenswege. Die Beklagte hat ihr Ermessen vorliegend auch ausgeübt. Dass die festgesetzte Frist von 30 Monaten ab dem Tag der Abschiebung vorliegend ermessensfehlerhaft wäre, ist nicht erkennbar.
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Nach alledem war die Klage mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b Abs. 1 AsylG.