Titel:
Einreise eines minderjährigen Flüchtlings mit einem volljährigen Verwandten – Kostenerstattung für Jugendhilfeleistungen
Normenketten:
SGB VIII § 7 Abs. 1, Abs. 2, § 27, § 34, § 89d Abs. 1
AufnG Art. 1 Abs. 1, Art. 7 Abs. 1, Abs. 3, Art. 8 Abs. 1
Leitsatz:
Die Erziehungsberechtigung eines volljährigen Dritten im Sinne von § 7 Abs. 1 Nr. 6 Achtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) setzt neben einer auch konkludent abschließbaren Vereinbarung zwischen ihm und dem Personensorgeberechtigten die tatsächliche Verantwortungsübernahme nicht nur in einzelnen Erziehungsangelegenheiten voraus. Allein die Einreise eines minderjährigen Flüchtlings in die Bundesrepublik mit einem volljährigen Verwandten vermag dessen Erziehungsberechtigung daher nicht zu begründen, mag sie auch ein Indiz für eine konkludente Vereinbarung mit dem Personensorgeberechtigten darstellen. (Rn. 38)
Schlagworte:
unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, Erziehungsberechtigung, Jugendhilfegewährung, Kostenerstattung, Punktuation, unbegleiteter minderjähriger Flüchtling, zeitlicher Zusammenhang mit der Einreise, tatsächliche Verantwortungsübernahme
Vorinstanz:
VG Ansbach, Urteil vom 25.06.2020 – AN 6 K 18.384
Fundstelle:
BeckRS 2022, 31543
Tenor
I. Das Urteil des Verwaltungsgerichts Ansbach vom 25. Juni 2020 und Nr. 15 des Sammelbescheids des Beklagten vom 31. Januar 2018 werden aufgehoben. Der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin für gegenüber dem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling M.im Zeitraum zwischen dem 30. September 2016 und dem 31. Januar 2017 erbrachte Jugendhilfeleistungen Kostenerstattung in Höhe von 17.304,45 € zuzüglich Prozesszinsen ab Rechtshängigkeit in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz zu leisten
II. Der Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits in beiden Rechtszügen.
III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch die Klägerin durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht zuvor die Klägerin Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Der Streitwert wird auf 17.304,45 € festgesetzt.
V. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
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Die Beteiligten streiten um die Erstattung der für den minderjährigen syrischen Flüchtling M.im Zeitraum zwischen dem 30. September 2016 und dem 31. Januar 2017 aufgewandten Jugendhilfekosten.
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1. Der am ... in …, Syrien, geborene M. reiste Ende Juli 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Er befand sich dabei in Begleitung eines volljährigen Neffen bzw. nach der Bezeichnung der Bundespolizei seines „Onkels“), J., nach seinen Angaben der Sohn seines ältesten Bruders. Hinsichtlich des konkreten Einreisedatums lässt sich aus dem integrierten Migrationsverwaltungssystem (iMVS) des Beklagten der 24. Juli 2015 entnehmen. Weiter enthält das iMVS einen Eintrag „Onkel übernimmt Fürsorge“ der Bundespolizei D. vom 25. Juli 2015. In der Folge wurde M. vom 29. Juli 2015 bis zum 28. August 2015 in der Zentralen Erstaufnahmeeinrichtung (ZAE) Z. untergebracht. Ab 28. August 2015 wies ihn der Beklagte der Klägerin zu, die ihn ihrerseits zusammen mit seinem Neffen und weiteren Personen zunächst in Gemeinschaftsunterkünften unterbrachte. Ab dem 31. August 2015 bezog er vom Sozialamt der Klägerin auch Sozialleistungen. Im Zuge der Suche nach einem Vormund für M. erlangte auch der Allgemeinen Sozialdienst des Jugendamts der Klägerin Kenntnis von seinem Aufenthalt in N.. Nach Einrichtung einer Vormundschaft durch eine Berufsbetreuerin am 10. November 2015 beantragte diese am 14. September 2016 für M. Hilfen zur Erziehung, die die Klägerin mit Bescheid vom 6. Oktober 2016 mit Wirkung ab 30. September 2016 in Form der vollstationären Unterbringung in der Jugendhilfeeinrichtung „B.“ für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der K.-Gasse in N. bewilligte. In einer auf diese Unterbringung Bezug nehmenden, nicht datierten „Erstmitteilung“ über die vorläufige Inobhutnahme eines unbegleiteten Minderjährigen an den Beauftragten des Freistaates Bayern für die Aufnahme und Verteilung ausländischer Flüchtlinge bei der ZAE Z. findet sich unter der Rubrik „Fluchtgemeinschaften/Verbünde/Geschwister“ der Hinweis auf einen 20-jährigen Neffen. Am 13. Oktober 2016 erstellte das Jugendamt der Klägerin darüber hinaus eine „Änderungsmitteilung“ an den Beauftragten des Freistaates Bayern im Hinblick auf einen Aufenthaltswechsel des unbegleiteten Minderjährigen M.in die Jugendwohngruppe B. für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Daraufhin wies die Regierung von Mittelfranken M. mit Bescheid vom 23. November 2016 ebenfalls der Wohngruppe zu. Nachdem M. im Rahmen des seit Oktober 2015 laufenden Asylverfahrens am 23. November 2016 subsidiärer Schutz zugebilligt worden war, wurde ihm am 23. Januar 2017 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG erteilt.
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2. Mit bei der Regierung von Mittelfranken am 27. Januar 2017 eingegangenen Schreiben machte die Klägerin gegenüber dem Beklagten im Rahmen sog. Quartalsabrechnungen u.a. für M.Jugendhilfekosten nach Art. 7 und 8 des Gesetzes über die Aufnahme und Unterbringung der Leistungsberechtigten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (Aufnahmegesetz - AufnG) geltend, mit Schreiben vom 26. April 2017 überdies für den Zeitraum vom 1. Januar 2017 bis 31. März 2017. In einer überarbeiteten Abrechnung für das 1. Quartal 2017 - nach „Anerkennung der Punktuation durch das Jugendamt“ und anschließender erneuter Fallprüfung - werden ebenfalls Kosten für gegenüber M.erbrachte Jugendhilfeleistungen geltend gemacht. Die dieser Abrechnung beigefügte tabellarische Übersicht gibt zu M. an, dass bei ihm eine begleitete Einreise mit einem volljährigen Neffen erfolgt sei, ferner unter der Rubrik „Anmerkungen/Ausschlusskriterium § 89d SGB VIII“: „Einreise 22.07.15 lt. SHA, mit vollj. Neffen. Grenzübertritt nicht festgestellt. Fall bei SHA ab 31.08.15 = Tag an dem Aufenth. erstmals festgestellt wurde. Unterbringung in einer GU. Ab 30.09.16 = HzE. Monatsfrist § 89d ist überschritten. § 1 AsylBLG erfüllt = Aufenth. Gestattg. AE erteilt am 23.01.17. Ab 01.02.17 KE gem. § 89.“
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3. Mit Sammelbescheid vom 31. August 2018 lehnte die Regierung von Mittelfranken die Erstattung der von der Klägerin angemeldeten Jugendhilfekosten u.a. für M.(Nr. 15 des Sammelbescheids) ab. Die erstmalige Kenntnis der Einreise sei am 31. August 2015 in einer Gemeinschaftsunterkunft mit dem volljährigen Neffen des unbegleiteten minderjährigen Ausländers erfolgt. Ab dem 30. September 2016 sei Hilfe zur Erziehung in einer Wohngruppe gewährt worden. Eine Kostenerstattung nach Art. 7 Abs. 1 AufnG scheitere an „dem fehlenden Bezug der erforderlichen Jugendhilfeleistung zur Einreise, nachdem über einen Zeitraum von über einem Jahr keine Jugendhilfe für erforderlich erachtet wurde.“
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4. Mit beim Verwaltungsgericht Ansbach am 27. Februar 2018 eingegangenem Schriftsatz erhob die Klägerin Klage mit dem Ziel, den Beklagten nach Art. 7 Abs. 1 AufnG zur Erstattung der für M.im Zeitraum zwischen dem 30. September 2016 und dem 31. Januar 2017 aufgewandten Jugendhilfeleistungen in Höhe von 17.304,45 € nebst Prozesszinsen zu verpflichten. Diese Klage wies das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 25. Juni 2020 ab.
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4.1 Rechtsgrundlage eines möglichen Kostenerstattungsanspruchs bilde Art. 7 Abs. 1, Art. 8 Abs. 1 Satz 1 AufnG. Danach sei der Freistaat Bayern den Trägern der Jugendhilfe erstattungspflichtig, soweit unbegleitete minderjährige Personen, die nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes leistungsberechtigt seien, Anspruch auf Jugendhilfe nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) besäßen. Die Erstattungspflicht sei nach Art. 7 Abs. 3 Satz 1 AufnG gegenüber einer Kostenerstattung nach § 89d Abs. 1 SGB VIII nachrangig. Die Anspruchsvoraussetzungen der Erstattungsnorm des Art. 7 Abs. 1 AufnG seien indes vorliegend nicht gegeben, da der begünstigte M.während des streitgegenständlichen Zeitraums der Jugendhilfegewährung nicht als unbegleitet anzusehen sei.
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4.2 Unbegleitet sei ein Minderjähriger dann, wenn er zum maßgeblichen Zeitpunkt
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oder im maßgeblichen Zeitraum entweder völlig alleine sei oder wenn die Person, unter deren Obhut er stehe, weder personensorge- noch erziehungsberechtigt sei. Als maßgeblicher Zeitraum im Sinne von Art. 7 Abs. 1 AufnG sei der Zeitraum der Leistungsberechtigung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und derjenige der Jugendhilfegewährung anzusehen. Dagegen sei es nicht erforderlich, dass der Minderjährige bereits bei der Einreise unbegleitet gewesen sei. Zwar sei der Begriff des unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings bzw. Ausländers im Aufnahmegesetz nicht ausdrücklich definiert. Er könne aber in Anlehnung an die in § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII und in § 42a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII enthalten ausdrücklichen Begriffsbestimmungen verstanden werden. Der diesen Bestimmungen zugrundeliegende Rechtsgedanke, nämlich dass weder personensorgeberechtigte noch erziehungsberechtigte Personen vor Ort seien, sei verallgemeinerungsfähig und folglich auch auf das Aufnahmegesetz anzuwenden.
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Zu den Personensorgeberechtigten eines Minderjährigen zählten nach § 7 Abs. 1 Nr. 5 SGB VIII seine Eltern, Stiefeltern, Adoptiveltern, Lebenspartner oder sein Vormund, gegebenenfalls auch die Pflegeeltern. Weiterhin rechneten nach § 7 Abs. 1 Nr. 6 SGB VIII neben den Personensorgeberechtigten auch diejenigen volljährigen Personen zu den Erziehungsberechtigten des Minderjährigen, soweit sie aufgrund einer Vereinbarung mit dem Personensorgeberechtigten nicht nur vorübergehend und nicht nur für einzelne Verrichtungen Aufgaben der Personensorge wahrnehmen. Die geforderte Vereinbarung bedürfe keiner besonderen Form und könne sogar stillschweigend getroffen werden. Werde ein Minderjähriger von einem volljährigen Verwandten begleitet, bilde dies ein Indiz für das Bestehen der erforderlichen Vereinbarung. Daneben müsse die Begleitperson aber Kontakt zu den Eltern oder Personensorgeberechtigten besitzen, da in allen wesentlichen Angelegenheiten die Möglichkeit der Rücksprache gegeben sein müsse. Bei der Prüfung der Frage, ob Unbegleitetheit im Sinne von Art. 7 Abs. 1 AufenthG vorliege, blieben ferner Maßnahmen außer Betracht, die auf Veranlassung oder direkt von Jugendhilfeträgern getroffen würden und die darauf abzielten, einer unzureichenden Betreuung der minderjährigen Person zu begegnen. Demnach könnten kinder- und jugendhilferechtliche Maßnahmen, die eine Trennung des Minderjährigen von der erziehungsberechtigten Begleitperson bewirkten, nicht dazu führen, den Minderjährigen nunmehr als unbegleitet anzusehen.
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4.3 Gemessen an diesen Grundsätzen sei M.während des vorliegend streitgegenständlichen Zeitraums der Leistungsgewährung nicht als unbegleitet anzusehen gewesen. Vom Zeitpunkt der Einreise an habe er sich in Begleitung seines volljährigen Neffen J.befunden. Dieser habe zunächst auch die Fürsorge für ihn übernommen. Sie hätten gemeinsam in einer Gemeinschaftsunterkunft gewohnt. Zu dieser Zeit habe nach Angabe von M.auch Kontakt zu seiner Mutter bestanden. Dies gehe aus dem „Hilfeplan: Sozialpädagogische Diagnostik“ der Klägerin hervor. Es sei daher davon auszugehen, dass eine Vereinbarung zwischen M. Mutter und J., in dessen Obhut sich M. befunden habe, bestanden habe, auf der die Erziehungsberechtigung J.beruhe. Demnach sei M. zunächst als begleiteter Minderjähriger anzusehen gewesen. Soweit er ab dem 30. September 2016 im Rahmen der Jugendhilfegewährung in der Wohngruppe B. für unbegleitete Minderjährige untergebracht worden sei, habe dies zwar zur Trennung von seinem Erziehungsberechtigten geführt, dies aber auf Veranlassung durch die Klägerin als öffentlicher Stelle und aufgrund der Defizite in der Betreuung durch J., der jedoch weiterhin greifbar gewesen sei und als Erziehungsberechtigter grundsätzlich weiter zur Verfügung gestanden hätte. Nach den vorstehenden Grundsätzen sei M. damit durch die Jugendhilfegewährung der Klägerin nicht nachträglich unbegleitet geworden. Der Klägerin komme daher kein Kostenerstattungsanspruch zu.
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4.4 Weiter sei nach § 124a Abs. 1 VwGO, § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO die Berufung zuzulassen gewesen, da „die Rechtssache“ grundsätzliche Bedeutung besitze. Allein bei dem erkennenden Gericht sei eine größere Zahl an ähnlich gelagerten Rechtsstreitigkeiten anhängig, sodass die Bedeutung der „zu klärenden Rechtsfragen“ über den vorliegenden Einzelfall hinausreichen. Eine genaue Benennung der Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung, die die Rechtssache aufwerfen soll, erfolgte indes durch das Verwaltungsgericht nicht.
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5. Mit der gegen dieses Urteil eingelegten Berufung verfolgt die Klägerin ihren Kostenerstattungsanspruch aus Art. 7 Abs. 1 AufnG weiter. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts sei M.während des streitgegenständlichen Zeitraums der Jugendhilfegewährung als unbegleitet anzusehen gewesen. Demgegenüber sei das Verwaltungsgericht zutreffend davon ausgegangen, dass kein Zusammenhang zwischen Einreise und Unbegleitetheit bestehen müsse und es für den Erstattungsanspruch nach Art. 7, 8 AufnG ausreiche, wenn die Unbegleitetheit zu einem späteren Zeitpunkt eintrete. Dem Verwaltungsgericht sei auch insoweit zuzustimmen, als staatliche Maßnahmen, die darauf abzielten, dem gegebenen Zustand der Unbegleitetheit abzuhelfen, wie z.B. die Bestellung eines Vormunds, nicht dazu führten, dass der von einer Jugendhilfemaßnahme Begünstigte fortan nicht mehr als unbegleitet i.S.v. Art. 7 Abs. 1 AufnG anzusehen sei.
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Im konkreten Fall sei der begünstigte M.jedoch als unbegleitet anzusehen, obwohl er sich im Zeitpunkt der Einreise in Begleitung einer volljährigen Person befunden habe. Allerdings sei er später unbegleitet im Sinne des Aufnahmegesetzes geworden bzw. habe sich rückblickend herausgestellt, dass man fälschlicherweise von einer Begleitung ausgegangen sei. Es habe sich insbesondere gezeigt, dass die Beziehung zu seinem Begleiter nicht tragfähig gewesen sei, sodass nicht bzw. nicht mehr vom Bestehen einer Erziehungsberechtigung ausgegangen werden könne.
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Soweit das Verwaltungsgericht darauf abstelle, dass man eine Erziehungsberechtigung dann annehmen könne, wenn die betreffende Person von einem Personensorgeberechtigten beauftragt worden sei und diese Begleitperson Kontakt zu den Eltern oder eigentlich Personensorgeberechtigten besitze, sodass in allen wesentlichen Angelegenheiten die Möglichkeit der Rücksprache bestehe, fehle es vorliegend gerade an diesen Voraussetzungen. Der M.begleitende Erwachsene J., wohl sein Neffe, habe sich um ihn nicht gekümmert. Infolge seines Desinteresses sei es auch nicht möglich gewesen, tragfähige Kontakte zum Inhaber des Sorgerechts herzustellen. Folglich habe man nicht davon ausgehen können, dass die Begleitperson stets mit der erforderlichen Rücksprache und im Sinne der Erziehungsberechtigten, hier der Mutter, gehandelt habe. Vielmehr habe sich die Situation von M. als diejenige eines unbegleiteten Flüchtlings, um den sich niemand kümmere, dargestellt. Aus diesem Grund habe auch der Vormund einen entsprechenden Antrag auf Hilfe zur Erziehung gestellt. Auch nach dessen Aussage habe sich der Neffe J.nicht um M. gekümmert. Insofern habe vorliegend eine Situation vorgelegen, bei der der Minderjährige nach der Einreise allein zurückgelassen worden sei. Die reine Anwesenheit oder „Greifbarkeit“ einer volljährigen Person reiche für die Annahme einer Erziehungsberechtigung nicht aus. Die Person müsse sich auch um den Jugendlichen kümmern. Insoweit sei der Neffe als „Totalausfall“ anzusehen gewesen. Die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass im vorliegenden Fall „nur“ Erziehungsprobleme vorgelegen hätten, greife zu kurz. Es habe vielmehr ein für die Situation von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen typischer Fall vorgelegen. Für diesen Personenkreis sei die Erstattungsnorm des Art. 7 AufnG ausdrücklich geschaffen worden.
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Weiter sprächen im vorliegenden Fall für die Annahme der „Unbegleitetheit“ von M.auch die Anforderungen, die an das Vorliegen einer Erziehungsberechtigung bei volljährigen Verwandten gestellt würden. Aus der Kommentierung zu § 7 Abs. 1 Nr. 6 SGB VIII (Meysen in Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 9. Aufl. 2022, § 7 Rn. 4 ff.) ergeben sich, dass die Erziehungsberechtigung die tatsächliche, wenn auch nicht durchgängige Verantwortungsübernahme für ein Kind oder einen Jugendlichen voraussetze. Bei dritten Personen bildeten Vereinbarungen, die indes keinen besonderen Formerfordernissen unterlägen, die Grundlage der Erziehungsberechtigung. Zumeist werde die Erziehungsberechtigung durch stillschweigendes, schlüssiges Handeln des Personensorgeberechtigten übertragen. Im Fall von M.fehle es bereits an der tatsächlichen Verantwortungsübernahme durch den volljährigen Neffen J., selbst wenn man annehmen würde, er sei von den Eltern mit der Erziehungsberechtigung beauftragt worden. Allein die Tatsache, dass sich ein Minderjähriger in der Begleitung eines Erwachsenen befunden habe, könne nicht dazu führen, vom Vorliegen einer Erziehungsberechtigung auszugehen.
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Schließlich spreche auch die Tatsache, dass M.von der Klägerin in eine Einrichtung für minderjährige Flüchtlinge aufgenommen worden sei, dafür, dass er zum Zeitpunkt der Aufnahme unbegleitet gewesen sei. Im Zuständigkeitsbereich der Klägerin seien viele Minderjährige in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht, selbst, wenn die dort bestehenden Wohnverhältnisse für Kinder und Jugendliche nicht ideal seien. Regelmäßig bildeten indes allein die beengten Wohnverhältnisse oder der Wunsch des Minderjährigen nach einem eigenen Zimmer keinen Grund für eine Inobhutnahme durch die Klägerin. In der Praxis würden daher nur wirklich unbegleitete Minderjährige in Einrichtungen für minderjährige Flüchtlinge aufgenommen.
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Nach alledem sei M.als unbegleitet im Sinne von Art. 7, 8 AufnG anzusehen. Selbst wenn man davon ausginge, er sei bei der Einreise begleitet gewesen, sei er später dadurch unbegleitet geworden, dass sich der Neffe J.nicht mehr um ihn und seine Belange gekümmert habe. Weiter habe im vorliegenden Fall das Jugendamt der Klägerin die Unbegleitetheit nicht selbst herbeigeführt, da die Aufnahme in die Einrichtung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge durch einen Antrag des berufsmäßigen Vormunds begründet worden sei. Die Klägerin habe es nicht in der Hand gehabt, sich selbst einen Kostenerstattungsanspruch zu generieren.
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Ferner habe der Beklagte auch die Höhe der angefallenen Jugendhilfekosten nicht bestritten. Sie könne somit als unstreitig angesehen werden. Die geleisteten Aufwendungen seien auch notwendig und angemessen im Sinne von Art. 7, 8 AufnG. Der Klägerin stehe folglich der Kostenerstattungsanspruch in der geltend gemachten Höhe zu.
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Die Klägerin beantragt daher:
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Unter Aufhebung des angefochtenen Urteils wird der Beklagte verpflichtet, der Klägerin die Kosten für die in der Zeit vom 30.09.2016 bis 31.01.2017 gemäß § 34 SGB VIII erbrachten Jugendhilfekosten in Höhe von 17.304,45 € gemäß Art. 7, 8 AufnG zuzüglich der zustehenden Prozesszinsen ab Rechtshängigkeit in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweils gültigen Basiszinssatz zu erstatten.
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6. Der Beklagte beantragt demgegenüber:
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Die Berufung wird zurückgewiesen.
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Das Verwaltungsgericht habe zutreffend entschieden. Angesichts der Gesamtsituation sei von einer Übertragung der Erziehungsberechtigung auf den volljährigen Neffen von M.durch die Mutter vor der Einreise nach Deutschland auszugehen, die auch nach der Einreise nicht aufgelöst worden sei. Erziehungsberechtigt sei nach § 7 Abs. 1 Nr. 6 SGB VIII neben den Personensorgeberechtigten auch jede volljährige Person, soweit sie aufgrund einer Vereinbarung mit dem Personensorgeberechtigten nicht nur vorübergehend und nicht nur für einzelne Verrichtungen Aufgaben der Personensorge wahrnimmt. An die Vereinbarung könnten keine zu hohen Anforderungen gestellt werden. Sie bedürfte insbesondere keiner besonderen Form und könne sogar konkludent durch stillschweigende Billigung getroffen werden. Werde ein Minderjähriger von einem volljährigen Verwandten begleitet, so bilde dies ein Indiz für das Bestehen einer solchen Vereinbarung. Daneben müsse die Begleitperson jedoch Kontakt zu den Eltern oder Personensorgeberechtigten besitzen, um in allen wesentlichen Angelegenheiten des Minderjährigen die Möglichkeit einer Rücksprache zu ermöglichen. Diese Voraussetzungen hätten entgegen der Auffassung der Klägerin im vorliegenden Fall vorgelegen. Die Klägerin überspanne die Anforderungen, die an die Übertragung der Erziehungsberechtigung zu stellen seien.
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Ferner wurde im vorliegenden Fall die Trennung von M.von seinem erziehungsberechtigten Neffen J.gerade durch die Klägerin veranlasst. Vom Jugendhilfeträger veranlasste Maßnahmen hätten jedoch, wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt habe, bei der Annahme der Unbegleitetheit eines Minderjährigen außer Betracht zu bleiben. Art. 7 Abs. 1 AufnG ziele darauf ab, die Träger der Jugendhilfe gerade von den Kosten derjenigen Maßnahmen zu entlasten, die aufgrund der Unbegleitetheit eines Minderjährigen entstehen, nicht von denjenigen, die der typischen Situation der Leistungsgewährung durch den Jugendhilfeträger entsprechen. Soweit die Klägerin in diesem Zusammenhang vortrage, dass die Unterbringung von M. in einer Einrichtung für unbegleitete minderjährige Ausländer vom Vormund, nicht hingegen von ihr selbst veranlasst worden sei, verkenne sie, dass sie nicht nur als bloße Erfüllungsgehilfin des Vormunds agiere.
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Weiter werde die Behauptung, dem Neffen J.habe der Wille zur Ausübung der Erziehungsberechtigung von Anfang an gefehlt, durch keinerlei valide Fakten belegt. Der Umstand, dass der Neffe sich nicht ausreichend und adäquat um M. habe kümmern können, genüge hierfür ebenso wenig, wie die Feststellung, M. wäre, hätte er nicht den Wunsch geäußert, mit seinem Neffen zusammen untergebracht zu werden, sofort in eine Einrichtung für unbegleitete minderjährige Ausländer aufgenommen worden.
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Darüber hinaus vertrete der Beklagte weiterhin die Auffassung, dass der veränderten Rechtslage auf Bundesebene in Zusammenhang mit dem Paradigmenwechsel bei der Aufnahme und Verteilung unbegleiteter minderjähriger Ausländer im Rechtskreis der §§ 42, 42a und 89d SGB VIII auch auf Landesebene durch eine entsprechend angepasste Auslegung von Art. 7 AufnG rechtsdogmatisch Rechnung getragen werden müsse. Voraussetzung einer Kostenerstattung nach Art. 7 und 8 AufnG sei daher ein Zusammenhang zwischen Einreise, Unbegleitetheit und Jugendhilfegewährung. Dass ein durch die Gewährung von Jugendhilfe Begünstigter später als unbegleitet angesehen werden könne, reiche nach der Rechtsauffassung des Beklagten nicht aus.
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Abschließend werde darauf hingewiesen, dass die Höhe der geltend gemachten Jugendhilfekosten mangels Prüfung nicht unstreitig sei.
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7. Auf entsprechende Anfrage des Senats haben die Klägerin mit Schriftsatz vom 21. Dezember 2021 und der Beklagte mit Schriftsatz vom 16. Dezember 2021 auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die dem Senat vorliegenden Gerichts- und Behördenakten, ferner auf die Parallelverfahren 12 BV 20.2077, 12 BV 20.2079 und 12 BV 20.1934 verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Berufung, über die der Senat nach § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, ist begründet. Der Klägerin kommt für die in der Zeit vom 30. September 2016 bis 31. Januar 2017 dem syrischen Jugendlichen M.gewährte Jugendhilfeleistungen nach Art. 7 Abs. 1 AufnG ein Kostenerstattungsanspruch im geltend gemachten Umfang von 17.304,45 € nebst Prozesszinsen seit Klageerhebung zu.
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Nach Art. 7 Abs. 1 AufnG ist der Freistaat Bayern den Trägern der Jugendhilfe kostenerstattungspflichtig, soweit unbegleitete minderjährige Personen im Sinne von Art. 1 Abs. 1 AufnG Anspruch auf Leistungen der Jugendhilfe nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) besitzen.
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1. Der Kostenerstattungsanspruch aus Art. 7 Abs. 1 AufnG tritt im vorliegenden Fall nicht nach Art. 7 Abs. 3 AufnG gegenüber einem Kostenerstattungsanspruch nach § 89d Abs. 1 SGB VIII zurück.
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Unabhängig von der gebotenen Beachtung des Gesetzeswortlauts des § 89 d Abs. 1 Sätze 1 und 2 SGB VIII oder der rechtswidrigen Anwendung der angeblich „geänderten Auslegung“ der genannten Bestimmung im Rahmen der sog. „Punktuation“ bzw. der „FAQ“ des Bundesfamilienministeriums liegen die Voraussetzungen für einen Kostenerstattungsanspruch nach § 89d Abs. 1 Satz 1 SGB VIII im Fall von M.offenkundig nicht vor. Ausgehend von der erstmaligen Feststellung seines Aufenthalts im Inland am 24. Juli 2015 bzw. der erstmaligen Kenntnis des Jugendamts von seiner Anwesenheit in N. im Zusammenhang mit der Einrichtung der Vormundschaft vor dem 10. November 2015 und der Jugendhilfegewährung ab dem 30. September 2016 ist die Monatsfrist des § 89d Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII nicht gewahrt.
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2. Die Tatbestandsvoraussetzungen des Kostenerstattungsanspruchs aus Art. 7 Abs. 1 AufnG liegen im Hinblick auf die M.im Zeitraum zwischen dem 30. September 2016 und dem 31. Januar 2017 gewährten Jugendhilfeleistungen vor.
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2.1 Im genannten Zeitraum handelt es sich bei M.um eine minderjährige Person im Sinne von Art. 1 Abs. 1 AufnG. Art. 1 Abs. 1 AufnG verweist zunächst auf die Gruppe der nach § 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes leistungsberechtigten Personen. Hierzu rechnen nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 AslybLG Ausländer, die sich tatsächlich im Bundesgebiet aufhalten und die eine Aufenthaltsgestattung nach dem Asylgesetz besitzen. Über eine solche hat M.bis zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG am 23. Januar 2017 verfügt. Weiterhin war er angesichts der Vollendung des 18. Lebensjahrs am 20. Mai 2017 während des vorliegend streitgegenständlichen Zeitraums der Jugendhilfegewährung auch minderjährig.
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2.2 M.ist weiterhin entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts und des Beklagten bereits vor, aber auch während der Jugendhilfegewährung als unbegleitet anzusehen.
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2.2.1. Nach Art. 2 lit. e der RL 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen (Aufnahmerichtlinie) ist ein Minderjähriger Ausländer bzw. Flüchtling unbegleitet, wenn er „ohne Begleitung eines für ihn nach dem einzelstaatlichen Recht oder den Gepflogenheiten des betreffenden Mitgliedstaats verantwortlichen Erwachsenen in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einreist, solange er sich nicht tatsächlich in der Obhut eines solchen Erwachsenen befindet; dies schließt Minderjährige ein, die nach der Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats dort ohne Begleitung zurückgelassen wurden“. Unbegleitete minderjährige Ausländer (umA) sind nach Jugendhilferecht im Falle der unbegleiteten Einreise nach Deutschland nach § 42a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII vorläufig in Obhut zu nehmen, nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII hingegen endgültig in Obhut zu nehmen, wenn sie unbegleitet nach Deutschland kommen und sich weder Personensorge- noch Erziehungsberechtigte im Inland aufhalten. Die Pflicht zur Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII tritt auch dann ein, wenn der ursprünglich mit einem Personensorgeberechtigten oder Erziehungsberechtigten ins Bundesgebiet eingereiste minderjährige Ausländer nach der Einreise allein im Bundesgebiet zurückgelassen wird.
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Personensorgeberechtigte, deren Begleitung bzw. Aufenthalt im Inland zum Begleitetsein des Minderjährigen führen, sind nach der Legaldefinition in § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 SGB VIII diejenigen Personen, denen allein oder gemeinsam mit einer anderen Person nach den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs die Personensorge für den Minderjährigen zusteht. Neben den Personensorgeberechtigten ist nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 SGB VIII weiterhin jede sonstige Person über 18 Jahren Erziehungsberechtigte, soweit sie auf Grund einer Vereinbarung mit dem Personensorgeberechtigten nicht nur vorübergehend und nicht nur für einzelne Verrichtungen Aufgaben der Personensorge wahrnimmt. Dabei sind an die erforderliche Vereinbarung mit dem Personensorgeberechtigten keine hohen Anforderungen zu stellen. Sie können auch konkludent durch stillschweigende Billigung zustande kommen (Wapler in Wiesner/Wapler, SGB VIII, 6. Aufl. 2022, § 7 Rn. 14), setzen in diesem Fall aber voraus, dass die betroffene Person nicht nur vorübergehend und nicht nur für einzelne Verrichtungen Aufgaben der Personensorge wahrnimmt und dies in Kenntnis und mit Billigung im Sinne des Zulassens eines Personensorgeberechtigten geschieht (vgl. hierzu etwa Lack in BeckOGK Sozialrecht, § 7 SGB VIII Rn. 43). Die Erziehungsberechtigung erfordert mithin in jedem Fall neben der entsprechenden Vereinbarung die tatsächliche Verantwortungsübernahme einer volljährigen Person für den Minderjährigen (Meysen in Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 9. Aufl. 2022, § 7 Rn. 4), allerdings nicht nur begrenzt auf die Verrichtung erzieherischer Einzelaufgaben (Lack in BeckOGK Sozialrecht, § 7 SGB VIII Rn. 42). Nicht zwingend erforderlich ist hingegen, dass der Minderjährige mit dem Erziehungsberechtigten in einem Haushalt lebt (Lack in BeckOGK Sozialrecht, § 7 SGB VIII Rn. 46). Im Falle minderjährigen Ausländern ist gegebenenfalls weiter zu fordern, dass zwischen dem erziehungsberechtigten Volljährigen und dem oder den Personensorgeberechtigten Kontakt, beispielsweise über Telefon oder soziale Medien (WhatsApp, etc.,) besteht, sodass ein Austausch über die wesentlichen Entscheidungen für den Minderjährigen erfolgen kann (so etwa Meysen in Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar zum SGB VIII, 9. Aufl. 2022, § 7 Rn. 4; Kontakte über Telefon oder Internet erachtet hingegen Kirchhoff in jurisPK SGB VIII Stand 2.8.2022, § 42 Rn. 129 nicht für ausreichend).
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Reist ein minderjähriger Flüchtling mit einem Erziehungsberechtigten ins Bundesgebiet bzw. hält sich ein Erziehungsberechtigter im Bundesgebiet auf, ist der Minderjährige im Rechtssinne begleitet, nicht unbegleitet.
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2.2.2 Im vorliegenden Fall fehlt es an der für die Annahme einer Erziehungsberechtigung im Sinne von § 7 Abs. 1 Nr. 6 SGB VIII erforderlichen tatsächlichen Verantwortungsübernahme von J., dem angeblichen „Neffen“ von M.
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Außer dem Umstand, dass M.zusammen mit J.ins Bundesgebiet eingereist ist, was durch die Bundespolizei D.entsprechend vermerkt wurde, und er zusammen mit J.in verschiedenen Gemeinschaftsunterkünften z. T. in einem Zimmer mit mehreren anderen Personen untergebracht wurde, lässt sich im Hinblick auf eine tatsächliche Verantwortungsübernahme von J.für M.aus den vorliegenden Akten nichts entnehmen.
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Im „Hilfeplan: Sozialpädagogische Diagnostik“ vom 20. September 2016, den auch das Verwaltungsgericht in Bezug nimmt, ist zum Verhältnis zwischen M.und J.Folgendes ausgeführt (Bl. 17 der Jugendhilfeakte der Klägerin):
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„M. flüchtete ungefähr 1 Monat von Kurdistan (Irak) und kam zusammen mit seinem 20-jährigen Neffen (Sohn seines ältesten Bruders) nach Deutschland. Er wurde zusammen mit ihm in einem Zimmer in der GU I.-Straße untergebracht. Seit 8.3.2016 lebt er in der GU V.-Straße, wobei er in einem Zimmer mit 4 bis 5 erwachsenen Personen (darunter sein Neffe) lebt. Sowohl er als auch der Neffe besuchen seit 6 Monaten die Berufsschule. Diese Gemeinschaft war bisher eher eine Zweckgemeinschaft als eine Unterstützung für M., da der Neffe selbst noch sehr jung ist und eher mit sich selbst beschäftigt zu sein scheint. Der Ältere scheint keine ‚Begleitung‘ für den Jüngeren sein zu können. Dabei kommt erschwerend hinzu, dass seit ca. vier Monaten beide nicht mehr miteinander sprechen würden und die Beziehung seit vier Monaten gestört zu sein scheint, was sich längerfristig negativ auf die psychische Stabilität von M. auswirken könnte. Des Weiteren würde der Neffe rauchen, das Zimmer nicht putzen, nachts nicht schlafen und viel telefonieren.“
44
Weiter wird in der sozialpädagogischen Diagnostik berichtet, dass zwar M., nicht hingegen auch J., Kontakt zu M. Mutter im Irak unterhalte. An dem Gespräch zur Erstellung der Sozialpädagogischen Diagnostik wie auch an den folgenden Hilfeplangesprächen hat J. nicht teilgenommen. Sowohl die Sozialpädagogische Diagnostik wie auch die als Vormund eingesetzte Berufsbetreuerin in ihrem Antrag auf Jugendhilfeleistungen (Bl. 8 der Jugendhilfeakte der Klägerin) gehen daher übereinstimmend davon aus, dass J. sich nicht um M. „kümmert“.
45
Weiter lässt sich aus dem Diagnose- und Entwicklungsbericht der Rummelsberger Diakonie vom 18. April 2017 über den Aufenthalt von M. in der Jugendwohngruppe „B.“ entnehmen (Bl. 61 f. der Jugendhilfeakte), dass er bei der Bewältigung von Alltagsangelegenheiten noch wesentliche Defizite aufgewiesen habe. „Lebenspraktische Bereiche wie Ämter- und Behördengänge sowie Arztbesuche“ habe er noch nicht alleine bewältigen können. „Bürokratische Gegebenheiten in Deutschland“ durchblicke er nicht und wisse sich auch nicht bei der „Praktikums- und Ausbildungssuche“ zu helfen. Es fehle ihm an Selbstsicherheit und Vertrauen sowie das Verständnis, Aufgaben selbständig zu meistern. Insoweit sei er auf externe Hilfe durch seine Betreuer angewiesen. Über eine Hilfestellung, wenn nicht gar „Verantwortungsübernahme“ in den genannten Bereichen durch den Neffen J.enthält der Entwicklungsbericht keine Aussage.
46
Mithin sind anhand der vorliegenden Akten allein die gemeinsame Einreise in die Bundesrepublik von M. und J.sowie deren gemeinsame Unterbringung in verschiedenen Gemeinschaftsunterkünften dokumentiert. Diese Form der „Begleitung“ eines Minderjährigen durch einen volljährigen Verwandten mag damit zwar als Indiz für das Bestehen einer „Vereinbarung“ zwischen dem Personensorgeberechtigten und dem Verwandten über die Übertragung der Erziehungsverantwortung dienen, ersetzt aber nicht die Notwendigkeit der tatsächlichen Verantwortungsübernahme, um vom Vorliegen einer Erziehungsberechtigung im Sinne von § 7 Abs. 1 Nr. 6 SGB VIII ausgehen zu können. Hinzu kommt, dass - ausgehend von der sozialpädagogischen Diagnostik - bereits seit Mai 2015 keine Kommunikation zwischen M. und J.(mehr) stattgefunden hat, was die Übernahme jeder Form von Erziehungsverantwortung ausschließt. Im Sinne der gesetzlichen Definition des § 7 Abs. 1 Nr. 6 SGB VIII fehlt es folglich im vorliegenden Fall an der tatsächlichen, nicht nur vorübergehenden und nicht nur vereinzelten Wahrnehmung von Aufgaben der Personensorge durch J.Er ist mithin nicht Erziehungsberechtigter von M. im Sinne dieser Norm.
47
Sofern des Weiteren für das Vorliegen einer Erziehungsberechtigung bei unbegleiteten minderjährigen Ausländern das Bestehen regelmäßigen Kontakts zwischen dem Erziehungs- und dem Personensorgeberechtigten beispielsweise über soziale Medien gefordert wird, um bei allen „wichtigen Angelegenheiten“ eine entsprechende Rückanbindung zu gewährleisten, so ist auch dieser entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts in den vorliegenden Akten nicht dokumentiert. Zwar findet sich mehrfach der Hinweis, dass M. Kontakt zu seiner sich im Irak aufhaltenden Mutter besitzt, nicht hingegen - was das Verwaltungsgericht unterstellt -, dass es regelmäßigen Kontakt zwischen J. und M. Mutter gegeben habe. Insofern bestehen daher keinerlei Anhaltspunkte, dass J. sich bezüglich wichtiger Angelegenheiten bei der Erziehung M. bei dessen Mutter rückversichert hat.
48
Es ist daher auch aus diesem Grund davon auszugehen, dass der Neffe J.jedenfalls seit dem Aufenthalt in N. nicht Erziehungsberechtigter von M.im Sinne von § 7 Abs. 1 Nr. 6 SGB VIII war, mit der Folge, dass dieser bereits vor der Jugendhilfegewährung durch Unterbringung in der Wohngruppe B. als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling anzusehen war.
49
2.3 Dem Kostenerstattungsanspruch der Klägerin aus Art. 7 Abs. 1 AufnG steht auch nicht das Fehlen eines zeitlichen Zusammenhangs zwischen der Einreise von M.in die Bundesrepublik und der Jugendhilfegewährung entgegen. Entgegen der in der Berufungserwiderung nochmals betonten Auffassung des Beklagten lässt sich ein derartiges Tatbestandsmerkmal nicht im Wege einer „gewandelten Auslegung“ von Art. 7 Abs. 1 AufnG begründen (vgl. hierzu bereits ausführlich BayVGH, U.v. 22.6.2022 - 12 BV 20.1934 - BeckRS 2022, 15809, LS 1).
50
2.3.1 Die Notwendigkeit einer einschränkenden Auslegung von Art. 7 Abs. 1 AufnG durch Herstellung eines „Gleichklangs“ mit § 89d SGB VIII dergestalt, dass der Kostenerstattungsanspruch sowohl einen zeitlichen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der unbegleiteten Einreise des minderjährigen Ausländers und der Jugendhilfegewährung erfordert bzw. bei einer länger als drei Monate andauernden zeitlichen Unterbrechung der Jugendhilfegewährung nicht mehr besteht, lässt sich mit den methodisch anerkannten Auslegungstopoi nicht begründen. Sie folgt insbesondere nicht aus dem systematischen Zusammenhang zwischen der bundesrechtlichen Erstattungsnorm des § 89d SGB VIII und der landesrechtlichen Erstattungsnorm des Art. 7 Abs. 1 AufnG unter Berücksichtigung der jeweiligen Normgenese.
51
Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der ursprünglichen Fassung von Art. 7 AufnG 2002 regelte § 89d SGB VIII (in der bis zum 31.12.2006 geltenden Fassung) bundesrechtlich die Kostenerstattung bei Gewährung von Jugendhilfe nach der Einreise. Nach § 89d Abs. 1 SGB VIII a.F. waren dem örtlichen Jugendhilfeträger vom Land die aufgewandten Jugendhilfekosten zu erstatten, wenn innerhalb eines Monats nach der Einreise eines jungen Menschen diesem Jugendhilfe gewährt wird und sich die örtliche Zuständigkeit nach dem tatsächlichen Aufenthalt der Person oder nach der Zuweisungsentscheidung der zuständigen Landesbehörde richtet. Nach § 89d Abs. 1 Satz 2 SGB VIII a.F. galt dabei als Tag der Einreise der Tag des Grenzübertritts, sofern dieser amtlich festgestellt worden war, andernfalls der Tag, an dem der Aufenthalt im Inland erstmals festgestellt wurde bzw., falls es auch hieran gefehlt hatte, der Tag der ersten Vorsprache bei einem Jugendamt. War der Leistungsberechtigte im Ausland geboren und handelte es sich daher um einen unbegleiteten minderjährigen Ausländer bzw. Flüchtling, wurde nach § 89d Abs. 3 SGB VIII a.F. das nach § 89d Abs. 1 SGB VIII erstattungspflichtige Land auf der Grundlage eines Belastungsvergleichs nach § 89d Abs. 3 Satz 2 a.F. vom Bundesverwaltungsamt bestimmt. Dieses Verfahren diente - insoweit ist der Auffassung des Beklagten zuzustimmen - der Entlastung der in Grenznähe gelegenen Aufgriffsorte bzw. der jeweils örtlich zuständigen Jugendhilfeträger und damit einer bundesweiten Verteilung der Jugendhilfekosten für unbegleitet eingereiste, minderjährige Ausländer.
52
Der Kostenerstattungsanspruch nach § 89d SGB VIII a. F. erwies sich jedoch hinsichtlich verschiedener Fallgruppen als lückenhaft und unzureichend. So stand dem örtlichen Jugendhilfeträger dann kein Kostenerstattungsanspruch zu, wenn er die Monatsfrist zwischen Einreise und Jugendhilfegewährung nicht eingehalten hat, etwa, weil sich die Minderjährigkeit eines unbegleitet eingereisten Flüchtlings erst nach Ablauf der Frist des § 89d Abs. 1 Satz 2 SGB VIII a.F. herausgestellt hat. Daneben bestand regelmäßig kein bundesrechtlicher Kostenerstattungsanspruch bei einem „nachträglichen Unbegleitetwerden“, wenn der zunächst begleitet ins Bundesgebiet eingereiste Minderjährige von seinen Personensorge- oder Erziehungsberechtigten im Bundesgebiet allein zurückgelassen wurde und er deshalb in Obhut genommen werden musste. Schließlich rechneten hierzu auch diejenigen Fälle, in denen nach § 89d Abs. 4 SGB VIII a.F. die Verpflichtung zur Kostenerstattung infolge einer mehr als drei Monate andauernden Unterbrechung der Jugendhilfegewährung entfallen, wo aber nach der Unterbrechung ein erneuter Jugendhilfebedarf des unbegleiteten Minderjährigen aufgetreten war.
53
Demgegenüber sah die zunächst aufgrund eines bayerischen Ministerratsbeschlusses vom 12. Mai 1992 ergangenen Verwaltungsvorschrift vom 2. Februar 1993 eine volle Erstattung der Kosten der Kinder- und Jugendhilfe für asylsuchende unbegleitete minderjährige Flüchtlinge durch den Freistaat Bayern ab dem 1. Januar 1993 vor (vgl. hierzu und zum Folgenden den Gesetzentwurf über die Aufnahme und Unterbringung der Leistungsberechtigten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz [Aufnahmegesetz - AufnG], LT-Drucks. 14/8632 vom 5.2.2002). Da der Bayerische Oberste Rechnungshof in dieser Verwaltungsvorschrift keine hinreichende Rechtsgrundlage für die Kostenerstattung an die öffentlichen Jugendhilfeträger gesehen hatte, wurde mit Art. 7 Abs. 1 des Aufnahmegesetzes eine entsprechende Erstattungsnorm geschaffen, deren Normtext in der Folgezeit unverändert geblieben ist.
54
2.3.2 Dass es sich bei Art. 7 Abs. 1 AufnG um eine zur bundesrechtlichen Erstattungsnorm des § 89d SGB VIII komplementäre, in ihren Tatbestandsvoraussetzungen und Rechtsfolgen indes eigenständige landesrechtliche Erstattungsnorm handelt, die - um die vollständige Kostenerstattung zu gewährleisten - gerade diejenigen Fallgruppen abdecken soll, die bundesrechtlich von der Kostenerstattungspflicht nicht erfasst waren, zeigte sich insbesondere bei der Ergänzung von Art. 7 AufnG durch Art. 7 Abs. 3 AufnG durch das Gesetz zur Ausführung des Berufsbildungsgesetzes und des Aufnahmegesetzes 2012. Nachdem die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung den Kostenerstattungsanspruch nach Art. 7 Abs. 1 AufnG, Art. 8 AufnG als vorrangig gegenüber dem bundesrechtlichen Erstattungsanspruch aus § 89d Abs. 1 SGB VIII angesehen hatte, führte dies zu Nachteilen beim bundesweiten Belastungsausgleich nach § 89d Abs. 3 SGB VIII a.F.. Als Konsequenz hat der Landesgesetzgeber durch die Einfügung von Art. 7 Abs. 3 AufnG den Nachrang der landesgesetzlichen Erstattungsregelung gesetzlich festgeschrieben (vgl. hierzu und zum Folgenden LT-Drucks. 16/12538 vom 15.5.2012). Danach „sind die Leistungen der Jugendhilfe nach dem SGB VIII für die unbegleiteten minderjährigen Personen im Sinne des Art. 1 AufnG in Bayern, wenn sowohl die Voraussetzungen des § 89d SGB VIII als auch die der Art. 7 und 8 AufnG gegeben sind, über das Kostenausgleichsverfahren nach dem SGB VIII zu erstatten. Nur wenn die Voraussetzungen nach § 89d SGB VIII nicht gegeben sind, greift die Kostenerstattung nach Art. 7 und 8 AufnG“ (LT-Drucks. 16/12538, S. 5; Hervorhebung durch den Senat).
55
Aus der komplementären Funktion der Kostenerstattungsregelung der Art. 7 und 8 AufnG, durch die die volle Erstattung der Jugendhilfekosten bei unbegleiteten minderjährigen Ausländern durch den Freistaat Bayern sichergestellt werden sollte, folgt jedoch zwangsläufig, dass die Tatbestandvoraussetzungen des § 89d SGB VIII - also der zeitliche Zusammenhang zwischen unbegleiteter Einreise und Jugendhilfegewährung - ebenso wie das Entfallen des Kostenerstattungsanspruchs nach dreimonatiger Unterbrechung der Jugendhilfegewährung gerade nicht implizite Tatbestandsvoraussetzungen des Erstattungsanspruchs aus Art. 7 Abs. 1 AufnG sein können. Andernfalls ließe sich der Regelungszweck der Art. 7, 8 AufnG - die Anordnung einer vollständigen Kostenerstattungspflicht für Jugendhilfekosten - nicht erreichen. Der vom Beklagten im vorliegenden Verfahren wiederholt postulierte „Gleichklang“ von § 89d SGB VIII und Art. 7 Abs. 1 AufnG steht demnach im Widerspruch zum systematischen Verhältnis von bundes- und landesrechtlicher Erstattungsregelung und zur Intention des Landesgesetzgebers. Bei Art. 7 Abs. 1 AufnG handelt es sich daher um eine eigenständige, gerade nicht an die Tatbestandsmerkmale der bundesrechtlichen Norm des § 89d SGB VIII gebundene Erstattungsvorschrift.
56
2.3.3 Hieran ändert entgegen der Ansicht des Beklagten auch die bundesrechtliche Einführung der vorläufigen Inobhutnahme und des sich daran anschließenden Verteilungsverfahrens für unbegleitete minderjährige Ausländer nach §§ 42a ff. SGB VIII mit Wirkung zum 1. November 2015 sowie die hieran anknüpfende Änderung des Gesetzes zur Ausführung der Sozialgesetze und des Aufnahmegesetzes vom 5.12.2017 (GVBl. 534 ff.) nichts. Zwar wurde insoweit bundesrechtlich das bisherige Kostenverteilungsverfahren nach § 89d Abs. 3 SGB VIII a.F. durch das Verfahren der vorläufigen Inobhutnahme und der anschließenden Verteilung der unbegleiteten minderjährigen Ausländer nach §§ 42a ff. SGB VIII ersetzt. Gleichwohl erfolgte in diesem Kontext keine Änderung von § 89d Abs. 1 SGB VIII (zur insoweit angeblich „gewandelten Auslegung“ der Bestimmung vgl. nachfolgend 2.2), sodass, ungeachtet des jeweils Kostenerstattungspflichtigen, die verschiedenen Fallgruppen, bei denen keine Kostenerstattung geleistet wird - „schuldlose“ Nichteinhaltung der Frist des § 89d Abs. 1 Satz 2 SGB VIII, nachträgliches „Unbegleitetwerden“, erneutes Auftreten eines Jugendhilfebedarfs nach mehr als dreimonatiger Unterbrechung - nach wie vor bestehen geblieben sind (vgl. hierzu etwa Bohnert/Stähr in Hauck/Noftz, SGB VIII, Stand September 2020, § 89d Rn. 11a; Kunkel/Pattar in Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 89d Rn. 12). Folglich ist ausgehend von der beabsichtigten vollständigen Freistellung der öffentlichen Jugendhilfeträger von den Jugendhilfekosten unbegleiteter minderjähriger Ausländer weder der Anwendungsbereich noch der Regelungszweck von Art. 7 Abs. 1 AufnG durch die Gesetzesänderung entfallen.
57
Demzufolge hat der Landesgesetzgeber durch das Gesetz zur Ausführung der Sozialgesetze und des Aufnahmegesetzes vom 5.12.2017 (GVBl. 534 ff.) auch lediglich den Anwendungsbereich von Art. 7 Abs. 1 AufnG durch Einfügung von Art. 10a Abs. 2 AufnG auf vor dem 1. Januar 2018 entstandene Jugendhilfekosten beschränkt. Wenn die Gesetzesbegründung (vgl. LT-Drucks. 17/15589, S. 10 f.) gleichwohl - ohne dass dies Ausdruck im Normtext gefunden hätte - postuliert, dass nach der Abschaffung des bundesweiten Kostenverteilverfahrens kein Erfordernis einer subsidiären landesrechtlichen Kostenerstattung mehr bestehe und der „häufige Anwendungsfall der subsidiären Kostenerstattung nach Art. 7 Abs. 1 AufnG“ der unverschuldeten Versäumnis der Monatsfrist des § 89d Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII durch eine angebliche Änderung der „herrschenden Rechtsauffassung“ nicht mehr auftreten könne, da maßgeblicher Anknüpfungspunkt für die Ausschlussfrist nunmehr die Kenntnis des Jugendamts von der unbegleiteten Einreise sein soll, ist dies nicht nachvollziehbar, da die behauptete Änderung der „herrschenden Rechtsauffassung“ zur Frist des § 89d Abs. 1 Satz 2 SGB VIII sich als unbeachtliche und gegen die eindeutige gesetzliche Regelung verstoßende Verwaltungsauffassung erweist und es - wie insbesondere das vorliegende Verfahrens zeigt - nach wie vor neben dem geschilderten „häufigen Anwendungsfall“ der schuldlosen Fristversäumnis weitere Fallkonstellationen gibt, in denen der subsidiäre Kostenerstattungsanspruch eingreifen muss, will man die Jugendhilfeträger von den Jugendhilfekosten unbegleiteter minderjähriger Ausländer freistellen. Die Notwendigkeit einer einschränkenden Auslegung von Art. 7 Abs. 1 AufnG im „Gleichklang“ mit § 89d SGB VIII lässt sich demzufolge auch nicht mit der Änderung des bundesweiten Verteilverfahrens für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge und der nachfolgenden Änderung des Aufnahmegesetzes begründen.
58
2.3.4 Entgegen der Auffassung des Beklagten lässt sich eine einschränkende Auslegung von Art. 7 Abs. 1 AufnG auch nicht aus dem gewandelten Kontext der Erstattungsregelungen, der Dynamik der Rechtsentwicklung sowie der „inneren Kohärenz“ der Erstattungsregelungen herleiten, nach denen angeblich der Bedarf für eine subsidiäre landesrechtliche Kostenerstattungsregelung entfallen sein soll.
59
Als rechtssystematisch verfehlt erweist sich dabei bereits der Ausgangspunkt, wonach § 89d Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 SGB VIII nunmehr - nach angeblich „herrschender Rechtsauffassung“ - so zu lesen sein soll, dass Ausgangspunkt des Fristlaufs - „innerhalb eines Monats nach der Einreise eines jungen Menschen“ - nicht mehr die eindeutige und normenklare Regelung des § 89d Abs. 1 Satz 2 SGB VIII sein soll, sondern stattdessen die „Kenntnis des Jugendamts von der Einreise des unbegleiteten minderjährigen Ausländers“. Diese allein von der Verwaltung, insbesondere wohl des Bundesfamilienministeriums, geprägte Auffassung steht im Widerspruch zur gesetzlichen Regelung und erweist sich daher nicht nur als unverbindlich, sondern überdies, weil gegen die Gesetzesbindung der Verwaltung aus Art. 20 GG verstoßend, als rechtswidrig (so auch Kunkel/Pattar in Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 8. Aufl. 2022, § 89d Rn. 6, 12: „rechtswidrig“ und „contra legem“). Reine Verwaltungsanweisungen contra legem können eine Gesetzesänderung durch den hierzu allein berufenen parlamentarischen Gesetzgeber nicht ersetzen, mögen sie auch einer vorgeblichen „Verwaltungsvereinfachung“ geschuldet sein. Nachdem § 89d Abs. 1 Satz 2 SGB VIII bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt unverändert den Fristlauf für die Geltendmachung des Kostenerstattungsanspruchs nach § 89d Abs. 1 SGB VIII regelt, ist die Verwaltung verpflichtet, die geltende gesetzliche Regelung anzuwenden.
60
Mit einer normtextkonformen Anwendung von § 89d Abs. 1 SGB VIII entfällt jedoch zugleich die wiederholt vom Beklagten vorgetragene Notwendigkeit einer „gewandelten Auslegung“ von Art. 7 Abs. 1 AufnG, da der behauptete Bedeutungsverlust der subsidiären Kostenerstattungsregelung durch das Entfallen des „Hauptanwendungsfalls“ durch die „geänderte Rechtsauffassung“ zu § 89d Abs. 1 SGB VIII tatsächlich nicht eingetreten ist. Eine vermeintliche Verwaltungspragmatik vermag geltendes Recht nicht zu derogieren. Für die vom Beklagten postulierte einschränkende Auslegung von Art. 7 Abs. 1 AufnG bleibt demnach kein Raum.
61
2.3.5 Soweit sich der Beklagte schließlich auf Vollzugsbekanntmachungen, Auslegungshinweise, FAQs, „Postulationen“ und Ergebnisse von Arbeitsgruppenbesprechungen beruft, sind diese, wie das Verwaltungsgericht zutreffend herausgearbeitet hat, für die Rechtsprechung unverbindlich. Sie verstoßen, wie vorstehend dargestellt, gegen die bestehende gesetzliche Regelung und greifen somit unzulässig in die Gesetzgebungskompetenz des parlamentarischen Gesetzgebers über. Der Verwaltung steht es nicht zu, abweichend von eindeutigen Normtexten eigene Kostenerstattungsregelungen zu generieren. Sie ist vielmehr an die normativen Vorgaben des § 89d Abs. 1 SGB VIII wie auch des Art. 7 Abs. 1 AufnG gebunden.
62
Dem Kostenerstattungsanspruch der Klägerin steht daher im vorliegenden Fall auch nicht der Umstand entgegen, dass es an einem unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang zwischen der Einreise von M.in die Bundesrepublik und der Gewährung von Jugendhilfe fehlt.
63
3. Der Kostenerstattungsanspruch der Klägerin ist vorliegend auch der Höhe nach berechtigt; ebenso stehen ihr die geltend gemachten Prozesszinsen zu.
64
3.1 Nach Art. 8 Abs. 1 Satz 1 AufnG erstattet der Staat unter Anderem den kreisfreien Gemeinden die unter Beachtung der Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit notwendigen Kosten der nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch - Kinder und Jugendhilfe - für Personen im Sinne von Art. 7 erbrachten Leistungen.
65
Insoweit hat die Klägerin ausweislich des dem Senat vorliegenden Jugendhilfeakts die für die Unterbringung von M. in der Jugendhilfeeinrichtung „B.“ im Zeitraum zwischen dem 30. September 2016 und dem 31. Januar 2017 aufgewandten Kosten tabellarisch aufgelistet. In der Jugendhilfeakte finden sich weiterhin die seitens des Einrichtungsträgers an die Klägerin gerichteten monatlichen Abrechnungen. Angesichts dessen sieht der Senat die Höhe der klageweise geltend gemachten Kosten von 17.304,45 € als nachgewiesen an. Soweit der Beklagte in der Berufungserwiderung darauf hinweist, „dass die Höhe der Kosten mangels Prüfung nicht unstreitig“ sei, erweist sich dieses Vorbringen demgegenüber als unsubstantiiert. Anhaltspunkte dafür, dass bei der Unterbringung M. die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit nicht beachtet worden wären, trägt der Beklagte weder vor noch sind sie sonst aus dem Sachverhalt ersichtlich.
66
3.2 Der Anspruch auf die von der Klägerin ausdrücklich geltend gemachten Prozesszinsen folgt aus § 291 BGB analog; ihre Höhe bestimmt sich nach § 288 Abs. 1 Satz 2 BGB.
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4. Die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen trägt nach § 154 Abs. 1 VwGO der Beklagte. Der Streitwert bemisst sich für das Berufungsverfahren nach §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 52 Abs. 3 Satz 1 GKG. Die vorläufige Vollstreckbarkeit bestimmt sich nach § 173 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit §§ 709 Satz 1, 712 Abs. 1 ZPO.
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5. Gründe, nach § 132 Abs. 2 VwGO die Revision zuzulassen, sind nicht ersichtlich.