Inhalt

VG München, Gerichtsbescheid v. 11.10.2022 – M 10 K 22.50217
Titel:

Erfolgreiche Klage in einem asylrechtlichen Verfahren (Dublin, systemische Mängel in Ungarn)

Normenketten:
Dublin-III-VO Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2, Art. 13 Abs. 1 S. 1
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a, § 34a Abs. 1 S. 1
Leitsatz:
Das Asylsystem in Ungarn weist systemische Mängel auf, sodass eine Überstellung im Rahmen der Dublin-III-Verordnung dorthin unzulässig ist. (Rn. 18 – 32) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Abschiebungsanordnung, Dublin-Verfahren, Zielstaat Ungarn, Systemische Mängel (bejaht), Dublin, Ungarn, systemische Mängel
Fundstelle:
BeckRS 2022, 29397

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 10. März 2022 (Geschäfts-Z.: …) wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leisten.

Tatbestand

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Die Kläger sind a. Staatsangehörige t. Volkszugehörigkeit und wenden sich mit ihrer Klage gegen eine Abschiebungsanordnung nach Ungarn im Rahmen des sog. „Dublin-Verfahrens“.
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Der Kläger zu 1 arbeitete seit 2004 für verschiedene ausländische Einrichtungen (N., U. und U1.) sowie die N. in Afghanistan und reiste Ende August 2021 im Zuge der Machtübernahme der T. zusammen mit den Klägern zu 2 bis 5 über den Flughafen K. mithilfe ungarischer Soldaten aus. Nach Zwischenaufenthalten in Usbekistan und Ungarn reisten die Kläger am 31. Oktober 2021 in das Bundesgebiet ein und äußerten Asylgesuche, von denen die Beklagte am gleichen Tag schriftlich Kenntnis erlangte. Der förmliche Asylantrag datiert vom 27. Januar 2022.
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Am 30. Dezember 2021 richtete die Beklagte ein Übernahmeersuchen an die ungarischen Behörden. Diese erklärten mit Schreiben vom 9. und 10. Februar 2022 ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung der Asylanträge gem. Art. 13 Abs. 1 VO (EU) 604/2013 (Dublin-III-VO).
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Mit Bescheid vom 10. März 2022, der den Klägern am 4. April 2022 zugestellt wurde, lehnte die Beklagte die Anträge als unzulässig ab (Nr. 1), verneinte das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG und ordnete die Abschiebung nach Ungarn an (Nrn. 2 und 3). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde gem. § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 11 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4).
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Mit Schriftsatz vom 11. April 2022, bei Gericht eingegangen am gleichen Tag, erhoben die Kläger gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 10. März 2022 Klage. Die Kläger beantragen,
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den Bescheid vom 10. März 2022 aufzuheben.
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Zur Begründung wird insbesondere ausgeführt, dass in Ungarn systemische Mängel des Asylsystems bestehen würden. Dies hätten sowohl der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (unter Verweis auf BayVGH, U.v. 31.1.2018 - 9 B 17.50039 - juris; U.v. 29.1.2018 - 20 B 16.50000 - juris; U.v. 23.3.2017 - 13a B 16.30951 - juris) als auch die neuere verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung (unter Verweis auf VG Aachen, B.v. 24.3.2022 - 5 L 199/22.A - juris; VG Würzburg, B.v. 9.2.2022 - W 1 S 22.50035 - beck online) festgestellt. Es habe sich in der Zwischenzeit auch keine neue Erkenntnismittellage ergeben, aus der sich eine andere Bewertung als in den zitierten Gerichtsentscheidungen ergebe. Auch die zwischenzeitlichen Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union im Jahr 2020 hätten zu keiner grundlegenden Änderung der Rechtspraxis geführt. Die Europäische Kommission habe hinsichtlich der neuen Regelungen gegen Ungarn ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Ferner wird bezüglich der Klägerin zu 2 unter Vorlage einer eidesstattlichen Versicherung und ärztlicher Atteste geltend gemacht, dass diese bereits in Afghanistan wegen eines Herzklappenfehlers operiert worden sei und seit dieser Operation eine ständige medikamentöse Behandlung benötige. Eine medizinische Versorgung der Klägerin zu 2 habe im ungarischen Lager (das nachts geschlossen gewesen sei) nicht stattgefunden. Zudem seien die Kläger mit insgesamt 13 Personen in einem Raum untergebracht gewesen, sodass ein Teil der Kinder auf dem Boden hätte schlafen müssen.
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Die Antragsgegnerin legte die Behördenakte vor, äußerte sich aber nicht zur Sache und stellte keinen Antrag.
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Das Gericht hat mit Beschluss vom 18. Juli 2022 die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet (VG München, B.v. 18.7.2022 - M 10 S 22.50218 - juris) und die Beteiligten mit Schreiben vom 28. Juli 2022, den Klägern am 9. August 2022 und der Beklagten am 1. August 2022 zugegangen, zur Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid angehört.
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Mit Schriftsatz vom 16. August 2022 bekräftigte der Bevollmächtigte der Kläger, dass es sich bei den Klägern um besonders schutzbedürftige Personen handele, für die es unter den aktuellen Umständen unzumutbar sei, nach Ungarn zurückzukehren. Sie würden dort mit hoher Wahrscheinlichkeit von Obdachlosigkeit und Verelendung bedroht sein.
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Mit Schriftsatz vom 10. Oktober 2022 legte die Beklagte folgende Erklärung der ungarischen Behörden vor: “We hereby inform you that in each independent case the application for international protection is processed in acoordance with Directive 2013/32/EU and accomodation is appointed in accordance with the standards of Directive 2013/33/EU.“
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Mit Beschluss vom 28. Juli 2022 wurde der Rechtsstreit gem. § 76 Abs. 1 AsylG zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Verfahren sowie die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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I. Nach Anhörung der Beteiligten kann das Gericht über die Klage ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist (§ 84 Abs. 1 VwGO).
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II. Die zulässige Klage ist begründet.
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Der streitgegenständliche Bescheid vom 10. März 2022 stellt sich im maßgeblichen Zeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) als rechtswidrig dar und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig ist rechtswidrig, da die Zuständigkeit für die Durchführung der Asylverfahren der Kläger auf die Beklagte aufgrund systemischer Mängel im ungarischen Asylverfahren übergegangen ist.
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1. Art. 3 Abs. 1 Dublin III-VO sieht vor, dass der Asylantrag von dem Mitgliedstaat geprüft wird, der nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO als zuständiger Staat bestimmt wird. Bei Anwendung dieser Kriterien - und Unterstellung eines rechtzeitigen Wiederaufnahmegesuchs - wäre Ungarn zunächst für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig. Denn gemäß Art. 13 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO ist derjenige Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags zuständig, über dessen Grenze der Asylbewerber aus einem Drittstaat illegal eingereist ist. Das war bereits nach dem eigenen Vortrag der Kläger Ungarn (vgl. bereits VG München, B.v. 18.7.2022 - M 10 S 22.50218 - juris Rn. 17).
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2. Vorliegend ist die Zuständigkeit aber gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 3 Dublin III-VO auf die Beklagte übergegangen, weil eine Überstellung an Ungarn als den zuständigen Mitgliedsstaat an Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO scheitern würde.
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Es liegen wesentliche Gründe für die Annahme vor, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Ungarn systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) bzw. Art. 3 EMRK mit sich bringen.
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a) Nach dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union darf jeder Mitgliedstaat vorbehaltlich außergewöhnlicher Umstände voraussetzen, dass in anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und die dort anerkannten Grundrechte beachtet werden (vgl. BVerwG U. v. 20.5.2020 - 1 C 34.19 - juris Rn. 16). Um diese Vermutung zu widerlegen, müssen Umstände substantiiert vorgetragen und ggf. belegt werden, die eine besondere Schwelle der Erheblichkeit erreichen. Die Anforderungen hieran sind allerdings hoch. Im Hinblick auf das Ziel der Dublin-III-Verordnung, zügig und effektiv den für das Asylverfahren zuständigen Staat zu bestimmen, können geringfügige Verstöße hierfür nicht ausreichen. Das grundsätzlich gerechtfertigte gegenseitige Vertrauen ist erst entkräftet, wenn ernsthaft zu befürchten ist, dass dem Asylbewerber aufgrund genereller Mängel im Asylsystem des eigentlich zuständigen Mitgliedstaats mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRCh droht (vgl. BVerwG, B.v. 19.3.2014 - 10 B 6.14 - juris Rn. 9; EuGH, U.v. 21.12.2011 - C-411/10 - NVwZ 2012, 417, Rn. 80; VGH Baden-Württemberg, U.v. 16.4.2014 - A 11 S 1721/13 - juris Rn. 41).
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Diese Grundsätze konkretisierend hat der EuGH in seiner „Jawo“-Entscheidung ausgeführt, dass Schwachstellen im Asylsystem nur dann als Verstoß gegen Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK zu werten sind, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt. Diese wäre erreicht, wenn die Gleichgültigkeit des betreffenden Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich aufgrund der Untätigkeit der Behörden eines Mitgliedsstaates unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen und die ihre Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Diese Schwelle ist selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren sich diese Person in einer solch schwerwiegenden Lage befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (vgl. BVerwG, a.a.O. Rn. 19; EuGH U.v. 19.3.2019 - C 297/17 u.a., Ibrahim u.a. - Rn. 89 ff. und C-163/17, Jawo - Rn. 91 ff.).
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b) Ausgehend von diesen Maßstäben ist vorliegend davon auszugehen, dass die im unionsrechtlichen Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens wurzelnde Vermutung, dass die unionsrechtlich vorgeschriebenen Verfahrensgarantien im Asylsystem sowie die Menschenrechte nach der Grundrechte-Charta der Europäischen Union und Europäischen Menschenrechtskonvention von den Mitgliedstaaten gewährleistet werden, erschüttert ist. Die an die Annahme des Bestehens systemischer Mängel im Asylsystem geknüpften rechtlichen Voraussetzungen sind vorliegend bezüglich Ungarn erfüllt.
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aa) Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hatte bereits in den Jahren 2017 und 2018 festgestellt, dass eine Abschiebung nach Ungarn unzulässig ist, weil das Asylverfahren auch für Dublin-Rückkehrer an systemischen Mängeln leidet (vgl. BayVGH, U.v. 31.01.2018 - 9 B 17.50039; B.v. 29.01.2018 - 20 B 16.50000; B.v. 23.1.2018 - 20 B 16.50073, U.v. 23.03.2017 - 13a B 17.50003 - alle bei juris veröffentlicht). Zudem stellte der Gerichtshof der Europäischen Union mit Urteilen vom 14. Mai 2020 (C-924/19 PPU; C-925/19 PPU - juris) und 17. Dezember 2020 (C-808/18 - juris) fest, dass Ungarn mehrfach gegen geltendes Europarecht, insbesondere die EU-Richtlinien 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie), 2013/32/EU (Asylverfahrensrichtlinie) sowie 2013/33/EU (Aufnahmerichtlinie) verstoßen hat.
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Die bisherige Erkenntnismittellage ist nicht durch neuere Erkenntnismittel überholt, die eine andere Bewertung als in den genannten Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs rechtfertigen würde. Auch nach der aktuellen Erkenntnismittellage sind durchgreifende Missstände im ungarischen Asylsystem zu konstatieren.
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bb) Die Europäische Kommission führt derzeit ein Vertragsverletzungsverfahren wegen einer aus ihrer Sicht rechtswidrigen Beschränkung des Zugangs zum Asylverfahren (vgl. Europäische Kommission, Pressemitteilung v. 15.7.2021, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_21_3424 - abgerufen am 23.9.2022).
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cc) Am 12. November 2021 hat die Europäische Kommission Ungarn erneut verklagt, weil die ungarische Regierung das Urteil vom 17. Dezember 2020 dem Verfassungsgericht zur Überprüfung vorgelegt hat und damit aus Sicht der Europäischen Kommission das Urteil nicht befolgt und somit gegen den Vorrang des Europarechts verstoßen soll (vgl. Europäische Kommission, Pressemitteilung v. 12.11.2021, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_21_5801 - abgerufen am 11.8.2022). Das ungarische Verfassungsgericht wies einen Antrag der Justizministerin, dass Ungarn die genannten Entscheidungen des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht befolgen müsse, weil diese die Verfassungsidentität von Ungarn verletzten, am 10. Dezember 2021 (Az.: X/477/2021 - englische Version am 11.8.2022 abgerufen unter https://hunconcourt.hu/uploads/sites/3/2021/12/x_477_2021_eng.pdf) unter Zuständigkeitsgesichtspunkten zurück (s. näher zur Einordnung dieser Entscheidung: European Parliament, “The Primacy of EU Law and the Polish Constitutional Judgment”, S. 57 f.)
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dd) In einem offenen Brief vom 10. Juni 2022 wandte sich ferner die Menschenrechtskommissarin des Europarats an den ungarischen Innenminister und kritisierte den faktischen Ausschluss der Möglichkeit für Drittstaatsangehörige (ausgenommen Geflüchtete aus der Ukraine), in Ungarn einen Asylantrag stellen zu können. Zudem hätte es allein zwischen Januar und März 2022 19.300 Fälle von Pushbacks nach S. gegeben. Die anhaltende Rhetorik seitens der Regierung, die Geflüchtete aus der Ukraine als „wahre Flüchtlinge“ (“real refugees”) und solche, die andernorts vor Grausamkeiten oder Krieg fliehen würde, als „Wirtschaftsmigranten“ (“economic migrants”) bezeichne, sei sehr bedauerlich und ausgesprochen problematisch vor der Abwesenheit eines fairen und effizienten Asylsystems (Commissioner for Human Rights, Letter to the Minister of the Interior of Hungary, CommHR/DM/sf 019-2022, abrufbar unter https://www.ecoi.net/en/document/2074499.html [abgerufen 23.9.2022]).
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c) Die derzeitige verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung, der sich das Gericht unter Berücksichtigung der oben dargestellten Erkenntnismittellage anschließt, hält an der Annahme des Bestehens von systemischen Mängeln im ungarischen Asylverfahren weiterhin fest (vgl. VG München, B.v. 20.9.2022 - M 10 S 22.50494 - BeckRS 2022, 26165, Rn. 17 ff..; VG Aachen, B.v. 1.9.2022 - 5 L 613/22.A. - juris Rn. 45 ff.; VG München, B.v. 11.8.2022 - M 30 S 22.50354 - juris Rn. 23 ff.; VG Aachen, U.v. 21.7.2022 - 5 K 644/22.A. - juris Rn. 50 ff.; VG München, B.v. 18.7.2022 - M 10 S 22.50218 - juris; VG Aachen, B.v. 24.3.2022 - 5 L 199/22.A - juris; U.v. 3.2.2022 - 5 K 5443/17.A - juris; VG Würzburg, B.v. 9.2.2022 - W 1 S 22.50035 - BeckRS 2022, 2913; a.A. mit nicht überzeugender Begründung [wohl] lediglich VG Halle, B.v. 19.4.2021 - 4 B 254/21 HAL - juris; dem Vorliegen systemischer Mängel - unter Vorbehalt von Zusicherungen - grundsätzlich zustimmend auch VG Regensburg, B.v. 7.3.2022 - RN 13 S 22.50079 - juris; ähnlich wohl auch VG Hamburg, B.v. 18.3.2022 - 7 AE 3979/21 - juris). Denn die Situation in Ungarn hat sich seitdem nicht grundlegend zugunsten der Asylbewerber und Dublin-Rückkehrer geändert: Zwar wurden die sogenannten Transit-Zonen nach der grundlegenden Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 14. Mai 2020 (C-924/19 PPU u.a.) mit Wirkung ab dem 21.05.2020 geschlossen; hinsichtlich der Inhaftierung von Asylbewerbern hat dies indessen keine grundlegende Änderung der Rechtspraxis mit sich gebracht (VG Würzburg, a.a.O., Rn. 19). Im Anschluss an die Schließung der Transit-Zonen führte Ungarn ein neues System ein, wonach Asylanträge grundsätzlich, mit wenigen Ausnahmen etwa für bereits anerkannt Schutzberechtigte und ihre Familien, nur noch gestellt werden können, wenn die Schutzsuchenden zuvor bei den ungarischen Botschaften in K. oder B. eine „Absichtserklärung“ abgegeben haben und diese von den Asylbehörden bestätigt werden (AIDA, Country Report: Hungary - 2021 Update, April 2022, https://asylumineurope.org/wp-content/uploads/2022/04/AIDA-HU_2021update.pdf, S. 13, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Länderinformation der Staatendokumentation, Ungarn, 12.4.2022, S. 3). Auch für Dublin-Rückkehrer finden sich hinsichtlich der Voraussetzungen für die Stellung eines Asylantrages keine Ausnahmen (AIDA, a.a.O. S. 48, BFA, a.a.O, S. 4). Folglich ist bei einer Überstellung nach Ungarn weder sichergestellt, dass die Kläger dort einen Asylantrag stellen können, noch, dass rechtsstaatliche Verfahrensbedingungen eingehalten werden (vgl. VG Würzburg, a.a.O., Rn. 19). Ein weiterer Gesichtspunkt für die fortbestehenden systemischen Mängel ergibt sich auch aus dem Umstand, dass im Jahr 2021 lediglich 38 Personen in der Lage waren, ein förmliches Asylverfahren in Ungarn zu eröffnen, Ungarn gleichzeitig im selben Jahr jedoch 72.787 Personen mittels Push-Backs nach S. abgeschoben hat (vgl. AIDA, a.a.O., S. 13; s. auch VG München, GB v. 5.9.2022 - M 30 K 22.50407 - Rn. 26, n.v.; GB v. 5.9.2022 - M 30 K 22.50353 - Rn. 26, n.v.).
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d) Die Vorlage der als „Zusicherung“ bezeichneten Erklärung der ungarischen Behörden führt zu keinem anderen Ergebnis. In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie des Bundesverfassungsgerichts ist anerkannt, dass solche für den zwischenstaatlichen Rechtsverkehr abgegebenen Erklärungen hinreichend belastbar sein müssen. Geprüft werden muss daher insbesondere, ob eine solche Erklärung eine ausreichende Garantie für den Schutz der individuellen Person vor Rechtsverletzungen bietet. Weiter ist zu prüfen, ob die allgemeine Menschenrechtslage im Bestimmungsland es allgemein ausschließt, Zusagen jeglicher Art zu berücksichtigen; dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn die tatsächlichen Gegebenheiten im Zielstaat erheblich von dem zugesicherten Verhalten abweichen (vgl. EGMR, U.v. 17.1.2012 - Othman/Vereinigtes Königreich, Nr. 8139/09 - HUDOC Rn. 187 ff. = NVwZ 2013, 487 [488 f.]; BVerfG, B.v. 4.12.2019 - 2 BvR 1832/19 - juris Rn. 45 m.w.N.).
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Die vom Bundesamt vorgelegte Erklärung der ungarischen Behörden genügt diesen rechtlichen Maßstäben nicht. Diese Erklärung enthält einerseits kein Datum und keine Unterschrift. Darüber hinaus sind nicht mal in Ansätzen einzelfallspezifische Angaben zu den Klägern enthalten, was für die Belastbarkeit einer solchen Zusicherung essentiell ist. Darüber hinaus erscheint die Belastbarkeit dieser „Zusicherung“ auch unter dem Gesichtspunkt der dargestellten Mängel des ungarischen Asylsystems (die von dem Inhalt dieser Erklärung stark abweichen) wenigstens fragwürdig. Auch die die Erklärung übermittelnde E-Mail vom 10. August 2022 enthält keine konkretisierenden Erläuterungen. Aus der Gesamtumstände dieser Erklärung kann daher nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit hergeleitet werden, dass Ungarn tatsächlich eine völkerrechtlich verbindliche Zusicherung für den Einzelfall der Kläger ausstellen wollte und sich auch an diese tatsächlich gebunden fühlt (siehe zuletzt auch VG München, B.v. 20.9.2022 - M 10 S 22.50494 - BeckRS 2022, 26165, Rn. 23; VG München, B.v. 11.8.2022 - M 30 S 22.50354 - juris Rn. 30; a.A., ohne Bezug zur Rechtsprechung des EGMR und BVerfG zur Belastbarkeit einer solchen „Zusicherung“ abstellend, VG Regensburg, B.v. 7.3.2022 - RN 13 S 22.50079 - juris UA S. 8 f.).
31
e) Die weiteren allgemein gehaltenen Ausführungen im Bescheid zu Art. 78 AEUV bzw. den rechtlichen Verpflichtungen Ungarns aus dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem ändern ebenso nichts an der Einschätzung des Bestehens systemischer Mängel im ungarischen Asylsystem, weil diese Verpflichtungen nach der aktuellen ungarischen Gesetzgebung und Verwaltungspraxis gerade nicht eingehalten werden (vgl. VG München, B.v. 11.8.2022 - M 30 S 22.50354 - juris Rn. 29).
32
3. Der Vortrag der Kläger, während ihrer Zeit in Ungarn keinen Kontakt zu staatlichen Einrichtungen oder Institutionen gehabt zu haben und keinen Asylantrag gestellt zu haben, deckt sich mit der aktuellen Erkenntnismittellage zum fehlenden Zugang zu einem rechtsstaatlichen Asylverfahren. Nach Aktenlage waren die Kläger für etwa zwei Monate in (wenigstens teilweise) geschlossenen Aufnahmezentren untergebracht, ohne dass sie in Kontakt mit der zuständigen Asylbehörde gekommen sind und die Möglichkeit gehabt hätten, ein rechtsstaatliches Asylverfahren anzustoßen.
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4. Ob vorliegend zugunsten der Klägerin zu 2 wegen der von ihr geltend gemachten Herzkrankheit ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich Ungarn festzustellen ist, kann dahinstehen. Denn die Entscheidung in Nummer 2 des verfahrensgegenständlichen Bescheids ist vorliegend jedenfalls verfrüht ergangen (BVerwG, U.v. 14.12.2016 - 1 C 4.16 - juris Rn. 21).
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5. Da die Unzulässigkeitsentscheidung in Nummer 1 des Bescheids nach den vorgenannten Gründen rechtswidrig ist, können ebenso die weiteren Bestimmungen des angefochtenen Bescheids keinen Bestand haben und sind aufzuheben.
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III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.