Inhalt

VG München, Urteil v. 28.09.2022 – M 19L DK 22.549
Titel:

Erfolglose Disziplinarklage auf Entfernung eines Polizeibeamten aus dem Beamtenverhältnis wegen Straftaten – Zurückstufung

Normenketten:
BayDG Art. 10, Art. 14 Abs. 1 S. 2, Art. 25 Abs. 1, Art. 55
StGB § 21, § 133, § 258, § 258a, § 263, § 267
Leitsätze:
1. Fallen einem Beamten mehrere Dienstpflichtverletzungen zur Last, die in ihrer Gesamtheit das einheitliche Dienstvergehen ergeben, so bestimmt sich die zu verhängende Disziplinarmaßnahme in erster Linie nach der schwersten Verfehlung. (Rn. 52) (redaktioneller Leitsatz)
2. Zur konkreten Bestimmung der Disziplinarmaßnahme ist auch bei einem innerdienstlichen Dienstvergehen auf den Strafrahmen zurückzugreifen, weil der Gesetzgeber mit der Strafandrohung seine Einschätzung zum Unwert des Verhaltens verbindlich zum Ausdruck gebracht hat. (Rn. 54) (redaktioneller Leitsatz)
3. Begeht ein Beamter innerdienstlich eine Straftat (hier: Verwahrungsbruch, Strafvereitelung, (versuchter) Beihilfebetrug mit Urkundenfälschung), für die das Strafgesetz als Strafrahmen eine Freiheitsstrafe von bis zu 3 Jahren vorsieht, reicht der Orientierungsrahmen für die mögliche Disziplinarmaßnahme bis zur Entfernung aus dem Beamtenverhältnis. (Rn. 54) (redaktioneller Leitsatz)
4. Von der Höchstmaßnahme ist zugunsten einer weniger strengen Disziplinarmaßnahme abzusehen, wenn ein sog. „anerkannter“ Milderungsgrund vorliegt. Diese erfassen typisierend Beweggründe oder Verhaltensweisen des Beamten, die regelmäßig Anlass für eine noch positive Persönlichkeitsprognose geben. (Rn. 58) (redaktioneller Leitsatz)
5. Der Milderungsgrund der „Entgleisung während einer negativen, inzwischen überwundenen Lebensphase“ setzt außergewöhnliche Verhältnisse voraus, die den Beamten während des Tatzeitraums oder im Tatzeitpunkt „aus der Bahn geworfen“ haben. Die mildernde Berücksichtigung liegt vor allem dann nahe, wenn sich der Pflichtenverstoß als Folge dieser Verhältnisse darstellt. Allerdings muss der Beamte diese Lebensphase in der Folgezeit überwunden haben. Dies ist anzunehmen, wenn sich seine Lebensverhältnisse wieder soweit stabilisiert haben, dass nicht mehr davon die Rede sein kann, er sei weiterhin „aus der Bahn“ geworfen. Eine derartige Stabilisierung indiziert, dass weitere Pflichtenverstöße gleicher Art nicht zu besorgen sind. (Rn. 62) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Disziplinarklage, Zurückstufung, Verwahrungsbruch, versuchte Strafvereitelung, Nichtbearbeitung von Vorgängen sowie vollendeter und versuchter Beihilfebetrug durch Polizeibeamtin, Zu Milderungsgründen (insbes. Entgleisung während einer negativen inzwischen überwundenen Lebensphase, erheblich verminderte Schuldfähigkeit nach § 21 StGB, lange Verfahrensdauer), innerdienstliche Straftat, Orientierungsrahmen, Entfernung aus dem Beamtenverhältnis
Fundstelle:
BeckRS 2022, 27686

Tenor

I. Die Beklagte wird um eine Stufe in das Amt einer Polizeiobermeisterin (Besoldungsgruppe A8) zurückgestuft.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Tatbestand

1
Der Kläger begehrt mit seiner Disziplinarklage die Entfernung der Beklagten aus dem Beamtenverhältnis. Ihr werden als Polizeibeamtin im Amt einer Polizeihauptmeisterin (Besoldungsgruppe A9) Verwahrungsbruch in 3 tatmehrheitlichen Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit versuchter Strafvereitelung im Amt, unzureichende Sachbearbeitung, sowie versuchter und vollendeter Beihilfebetrug vorgeworfen.
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1. Die am … … 1973 geborene Beklagte trat nach Erwerb der Mittleren Reife im September 1991 in den Dienst der Bayerischen Bereitschaftspolizei. Sie ist seit 11. Oktober 2000 Lebenszeitbeamtin. Nach Durchlaufen der Ämter des mittleren Polizeivollzugsdienstes erfolgte mit Wirkung vom 1. November 2010 ihre letzte Ernennung zur Polizeihauptmeisterin (Besoldungsgruppe A 9).
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Die Beklagte war seit 1. Juli 2010 bei der Polizeistation P. beschäftigt. Vom 23. Oktober 2015 bis zum Ausspruch des Verbots der Führung der Dienstgeschäfte am 20. September 2016 war sie an die Polizeiinspektion (PI) K. abgeordnet. In den letzten periodischen Beurteilungen erhielt sie das Gesamtergebnis 8 (2011) und 9 (2014) Punkte.
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Die Beklagte ist verheiratet und hat 4 Kinder, von denen 3 inzwischen volljährig und 2 mehrfachbehindert sind.
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Sie ist mit Ausnahme der hier gegenständlichen Vorwürfe bislang weder straf- noch disziplinarrechtlich in Erscheinung getreten.
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2. Wegen der diesem Disziplinarverfahren zugrunde liegenden Vorwürfe wurden folgende Strafverfahren gegen die Beklagte geführt:
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2.1. Nach vorausgegangenem Strafbefehl, gegen den die Beklagte Einspruch eingelegt hatte, verurteilte das Amtsgericht Kaufbeuren sie mit Urteil vom 23. November 2017 wegen Verwahrungsbruchs in 3 tatmehrheitlichen Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit versuchter Strafvereitelung im Amt (§§ 133 Abs. 1, Abs. 2, 258, 258a Abs. 1, Abs. 2, 22, 23 Strafgesetzbuch - StGB) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 8 Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Nach auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkter Berufung durch die Staatsanwaltschaft Kempten und die Beklagte sprach das Landgericht Kempten mit Urteil vom 13. Februar 2020 (3 Ns 400 Js …) eine Verwarnung gegen sie aus und behielt eine Gesamtgeldauflage von 130 Tagessätzen à 30 € vor.
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Dem Urteil des Amtsgerichts Kaufbeuren, auf das das Landgericht Kempten infolge Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch verweist, liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
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(1) Am .. Mai 2014 erschien Frau A.G. bei der Polizeistation P. und erstattete Anzeige wegen Betrugs, da ein unbekannter Täter mit ihren unrechtmäßig erlangten Kreditkartendaten über das Internet am 20. April 2014 in einem niederländischen Reisebüro Flugtickets zum Preis von 1212,45 € erworben hatte. Nach anfänglicher Ermittlungstätigkeit übersandte die Beklagte entgegen § 163 Abs. 2 Strafprozessordnung (StPO) das Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt in der Folgezeit nicht an die Staatsanwaltschaft Kempten, sondern bewahrte die Unterlagen in ihrem Wohnzimmerschrank auf, wo diese anlässlich einer Durchsuchung am 20. Oktober 2015 aufgefunden wurden.
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(2) Am … November 2014 erschien Herr M.M. bei der Polizeistation P. und teilte mit, dass ein unbekannter Täter mit den Daten seiner Kreditkarte bei der Deutschen Bahn AG am 4. November 2014 unrechtmäßig 2 Online-Tickets für 127 € und 930,80 € erworben hatte. Nach anfänglicher Ermittlungstätigkeit leitete die Beklagte entgegen § 163 Abs. 2 StPO die von ihr erstellte Anzeige gegen Unbekannt wegen Betrugs wiederum nicht an die Staatsanwaltschaft Kempten weiter, sondern warf sie zu einem nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkt zwischen 10. März und 30. September 2015 in die Altpapiertonne der Polizeistation P.
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In den beiden vorgenannten Fällen ging die Beklagte nicht ausschließbar davon aus, dass der unbekannte Täter nicht mehr zu ermitteln sein werde. Tatsächlich mussten die Verfahren nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt werden.
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(3) Am … März 2015 gegen 20:50 Uhr erschien Herr G.B. auf der Polizeistation P. und berichtete, dass ein Lkw … in P. gegen eine Ampel gefahren sei. Aufgrund der Angaben des Zeugen nahm die Beklagte zumindest billigend in Kauf, dass sich der unbekannte Lkw-Fahrer unerlaubt vom Unfallort entfernt hatte und jedenfalls der Anfangsverdacht einer Straftat nach § 142 StGB bestand. Nach anfänglicher Ermittlungstätigkeit warf sie die Erstmeldung zum Verkehrsunfall in die Altpapiertonne der Polizeistation P. und schloss den Vorgang ab, ohne entsprechend ihrer Verpflichtung aus § 163 Abs. 1, Abs. 2 StPO weitere Maßnahmen zur Ermittlung des verantwortlichen Lkw-Fahrers zu treffen und den Vorgang sodann der Staatsanwaltschaft vorzulegen.
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Entgegen ihrer Vorstellung konnte der Lkw-Fahrer festgestellt und vernommen werden. Das Ermittlungsverfahren gegen ihn wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort wurde am 6. Juli 2016 nach Erfüllung einer Geldauflage nach § 153a Abs. 1 StPO durch die Staatsanwaltschaft eingestellt.
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Das Landgericht Kempten nahm in seinem Urteil vom 13. Februar 2020 unter Verweis auf ein von ihm beauftragtes Psychiatrisches Gutachten des Ärztlichen Direktors der Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie am Bezirkskrankenhaus K. O. und des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. W. vom 2. April 2019 sowie der Vernehmung von Dr. W. in der mündlichen Verhandlung eine verminderte Steuerungsfähigkeit der Beklagten an und eine Strafrahmenverschiebung nach §§ 21, 49 StGB vor.
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2.2. Das Amtsgericht Straubing verurteilte die Beklagte mit Urteil vom 31. Oktober 2019 (12 Ds 133 Js …) wegen Betrugs in Tatmehrheit mit versuchtem Betrug jeweils in Tateinheit mit Urkundenfälschung (§§ 263 Abs. 1, Abs. 2, 267 Abs. 1, 22, 23 StGB) zu einer Gesamtgeldstrafe von 110 Tagessätzen à 35 €.
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Der Verurteilung lag folgender Sachverhalt zugrunde:
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(1) Die Beklagte beantragte am 19. Juli [richtig: 8. Juni] 2016 beim Landesamt für Finanzen in St. - Bezügestelle Beihilfe - Beihilfe unter bewusst wahrheitswidriger Angabe von Aufwendungen für ihren Sohn D1. in Höhe von 10.384 €, obwohl diese nicht angefallen waren. Zu diesem Zweck hatte sie eine Rechnung der S.-Klinik am G. gefälscht. Sie hatte zu einem nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkt zwischen 24. Mai und 8. Juni 2016 an ihrem dienstlichen Arbeitsplatz in der PI … eine tabellarische Rechnungsaufstellung erstellt und dann den Kopf- und Fußbereich einer Originalrechnung dazu kopiert. Die gefälschte Rechnung war auf den 30. Mai 2016 datiert und wies einen Krankenhausaufenthalt ihres Sohnes vom 2. bis 23. Mai 2016 aus. Aufgrund der Vorlage der gefälschten Rechnung wurden, wie von Anfang an beabsichtigt, mit Beihilfefestsetzungsbescheid vom 16. [richtig: 14.] Juni 2016 Beihilfeleistungen in Höhe von 8.307,20 € festgesetzt und an sie ausbezahlt.
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(2) Ferner beantragte die Beklagte am 19. Juli 2016 beim Landesamt für Finanzen in St. - Bezügestelle Beihilfe - Beihilfe unter bewusst wahrheitswidriger Angabe von Aufwendungen für ihre Tochter L. in Höhe von 12.109,18 €, obwohl diese nicht angefallen waren. Zu diesem Zweck hatte sie eine Rechnung der S.-Klinik M. H. gefälscht. Sie hatte zu einem nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkt zwischen 24. Mai und 13. Juli 2016 an ihrem dienstlichen Arbeitsplatz in der PI … eine tabellarische Rechnungsaufstellung erstellt und dann den Kopf- und Fußbereich einer Originalrechnung dazu kopiert. Die gefälschte Rechnung war auf den 6. Juli 2016 datiert und wies einen Krankenhausaufenthalt ihrer Tochter vom 6. bis 16. Juni 2016 aus.
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Das Amtsgericht Straubing zog im Strafverfahren das psychiatrische Gutachten vom 2. April 2019 bei. Unter Bezugnahme hierauf verschob es den Regelstrafrahmen nach §§ 21, 49 StGB zugunsten der Beklagten, weil nicht ausgeschlossen werden könne, dass sie zum Tatzeitpunkt unter erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit gelitten habe.
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2.3. Mit Einstellungsverfügung vom 24. Oktober 2016 (400 Js …) stellte die Staatsanwaltschaft Kempten das Ermittlungsverfahren gegen die Beklagte hinsichtlich weiterer Fälle der (versuchten) Strafvereitelung im Zeitraum vom 1. Januar 2014 bis 31. Oktober 2015 aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen nach § 170 Abs. 2 StPO ein. Die Einstellung betraf 5 weitere Vorwürfe zu Vergehen der Strafvereitelung im Amt, Fälschung beweiserheblicher Daten und Urkundenunterdrückung, die nicht von dem schließlich mit Urteil des Landgerichts Kempten vom 13. Februar 2020 beendeten Strafbefehlsverfahren erfasst waren.
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2.4. Ein weiteres Ermittlungsverfahren gegen die Beklagte wegen Unterschlagung wurde mit Verfügung der Staatsanwaltschaft Kempten vom 31. Mai 2017 nach § 154 Abs. 1 StPO eingestellt (400 Js …). Dem Verfahren lag zugrunde, dass nach einer Anzeige des Polizeipräsidiums Schwaben Süd/West bei der Räumung des unverschlossenen dienstlichen Spindes der Beklagten bei der Polizeistation P. am 24. Oktober 2016 7 Patronen Action4-Munition und 4 Patronen 9×19 mm Vollmantelmunition aufgefunden worden waren.
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3. Das Polizeipräsidium Sch. S./W. leitete mit Schreiben vom 6. Juni 2016 wegen unzureichender Sachbearbeitung disziplinarrechtliche Ermittlungen gegen die Beklagte ein und setzte diese gleichzeitig bis zum Abschluss der strafrechtlichen Ermittlungen aus. Unter dem Datum des 20. Juni 2016 wurde von der PI … ein Persönlichkeitsbild für die Beklagte erstellt. Mit Schriftsatz vom 29. Juni 2016 bestellte sich ihr Bevollmächtigter. Nach Kenntniserlangung vom Beihilfebetrug durch die Beklagte sprach das Polizeipräsidium Sch. S./W. am 20. September 2016 mündlich ein Verbot der Führung der Dienstgeschäfte nach § 39 Beamtenstatusgesetz (BeamtStG) gegen sie aus und dehnte das Disziplinarverfahren aus; beides wurde durch Bescheid vom 28. September 2016 schriftlich bestätigt. Das Polizeipräsidium Sch. S./W. setzte das Disziplinarverfahren mit Schreiben vom 22. Mai 2020 fort und dehnte es auf den Vorwurf der Unterschlagung von Munition aus. Mit Schreiben vom 14. September 2020 übernahm das Polizeipräsidium M. das Disziplinarverfahren als Disziplinarbehörde. Dieses teilte der Beklagten mit Schreiben vom 6. Januar 2021 das Ermittlungsergebnis mit. Nach vorheriger Anhörung der Beklagten mit Schreiben vom 19. März 2021 sprach es mit Schreiben vom 2. November 2021 ihre vorläufige Dienstenthebung und die Einbehaltung von 50 v.H. der monatlichen Dienstbezüge sowie der jährlichen Sonderzahlung aus.
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Die Beklagte erhielt im Disziplinarverfahren mehrmals die Gelegenheit zu Akteneinsicht und Äußerung, von der sie mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 10. August 2021 Gebrauch machte.
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4. Am 3. Februar 2022 erhob das Polizeipräsidium M. Disziplinarklage zum Verwaltungsgericht München mit dem Antrag,
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die Beklagte aus dem Beamtenverhältnis zu entfernen.
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Die ihr vorgeworfenen Sachverhalte Nr. 1 bis 3 ergeben sich aus den Urteilen des Amtsgerichts Kaufbeuren vom 23. November 2017 und des Landgerichts Kempten vom 13. Februar 2020. Unter Nr. 4 Buchst. a bis g werden ihr 7 weitere Vergehen der Strafvereitelung im Amt, Fälschung beweiserheblicher Daten und Urkundenunterdrückung im Zeitraum von 1. Januar 2014 bis 31. Oktober 2015 vorgeworfen; die Staatsanwaltschaft Kempten habe das insoweit laufende Ermittlungsverfahren mit Verfügung vom 24. Oktober 2016 nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Die vorgeworfenen Sachverhalte Nr. 5 und 6 lassen sich dem Urteil des Amtsgerichts Straubing vom 31. Oktober 2019 entnehmen. Unter Nr. 7 wird ihr der Besitz von 7 Patronen Action4-Munition vorgeworfen; die Staatsanwaltschaft Kempten habe das Ermittlungsverfahren insoweit mit Verfügung vom 2. Juni 2016 [richtig: 31.5.2016] nach § 154 Abs. 1 StPO eingestellt. Die Sachverhalte aus den Strafurteilen stünden für das Disziplinarverfahren nach Art. 25 Abs. 1 Bayerisches Disziplinargesetz (BayDG) bindend fest.
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Mit ihrem Verhalten habe die Beklagte ein äußerst schwerwiegendes Dienstvergehen begangen, indem sie schuldhaft innerdienstlich die Pflicht zu achtungs- und vertrauenswürdigem Verhalten aus § 34 Abs. 1 Satz 3 BeamtStG (Vorwürfe Nr. 1 bis 3 sowie 5 und 6), die Pflicht zur Beachtung der Gesetze aus Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz (GG), § 36 Abs. 1 BeamtStG i.V.m. §§ 133, 258, 258a bzw. 263, 267 StGB (Vorwürfe Nr. 1 bis 3 sowie 5 und 6), die Pflicht, sich mit vollem persönlichem Einsatz dem Beruf zu widmen, aus § 34 Abs. 1 Satz 1 BeamtStG (Vorwürfe Nr. 1 bis 3 und 4) und die Pflicht, das Amt nach bestem Gewissen zu verwalten, nach § 34 Abs. 1 Satz 2 BeamtStG (Vorwurf Nr. 4) verletzt habe. Als Polizeibeamtin, deren Hauptaufgabe in der Verhinderung oder Aufklärung von Straftaten bestehe, habe sie in besonderem Maße gegen ihre beamtenrechtlichen Kernpflichten verstoßen, indem sie Vorgänge nicht der Bearbeitung zugeführt und selbst Straftaten begangen habe. Dass die Delikte teilweise nur im Versuchsstadium geblieben seien, sei in disziplinarrechtlicher Hinsicht unbeachtlich, weil das Disziplinarrecht nicht zwischen Vollendung und Versuch unterscheide. Wegen Dienstbezugs infolge Schädigung des Dienstherrn liege auch bei den Taten Nr. 5 und 6 eine innerdienstliche Pflichtverletzung vor.
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Das der Beklagten entgegengebrachte Vertrauen des Dienstherrn und der Allgemeinheit habe durch die Taten irreparablen Schaden genommen, weshalb die Disziplinarmaßnahme der Entfernung aus dem Beamtenverhältnis geboten sei. Sowohl der Beihilfebetrug als auch die Strafvereitelung im Amt eröffneten den Orientierungsrahmen bis hin zur Entfernung. Zulasten der Beklagten spreche, dass die Verwaltung auf die Redlichkeit des einzelnen Beamten angewiesen sei und ein betrügerisches Verhalten zur Erreichung nicht zustehender finanzieller Leistungen der Beihilfe disziplinarrechtlich schwer wiege. Zugunsten der Beklagten sprächen das Persönlichkeitsbild vom 20. Juni 2016, ihre Geständigkeit und ihr Bedauern sowie die fehlende Vorbelastung. Auch wenn die Strafgerichte § 21 StGB zu ihren Gunsten berücksichtigt hätten, liege der disziplinarrechtliche Milderungsgrund der verminderten Steuerungsfähigkeit nicht vor. Insoweit bestehe kein Automatismus, sei die Erheblichkeit eigenständig zu prüfen und liege die Erheblichkeitsschwelle umso höher, je schwerer das Delikt wiege. Eine bei der Beklagten möglicherweise gegebene posttraumatische Belastungsstörung könne nicht entschuldigen, dass sie Vorgänge vernichtet oder ein Vermögensdelikt begangen habe. Insgesamt liege dienstliches Versagen der Beklagten gerade im Bereich der leicht einsehbaren Kernpflichten vor und könnten die mildernd zu berücksichtigenden Umstände das zerstörte Vertrauen des Dienstherrn nicht wiederherstellen.
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Die Beklagte beantragt,
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eine mildere Disziplinarmaßnahme als die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis auszusprechen.
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Sie gesteht die Bindungswirkung der Strafurteile zu und verweist auf Passagen aus dem Urteil des Landgerichts Kempten zu innerdienstlichen Konflikten mit dem Dienststellenleiter, der Autismusdiagnose für ihren Sohn D1. im Jahr 2015, einer bei ihr seit mindestens 2012 bestehenden posttraumatischen Belastungsstörung und der Verschärfung ihrer privaten Situation im Sommer 2016, nachdem ihr Ehemann psychisch dekompensiert sei. Hinzugekommen sei die Verdachtsdiagnose Eierstockkrebs, die im Oktober 2015 zu einer Operation geführt habe. Sie sei an ihre Grenzen gestoßen und habe die Vorgänge nicht mehr in korrekter Weise weiter bearbeiten können. Den von Vorwurf Nr. 1 erfassten Vorgang habe sie einen Tag vor der Operation mit nach Hause genommen, weil sie ihren Ehemann um Hilfe fragen wollte. Bei dem von Vorwurf Nr. 3 erfassten Vorgang habe sie bei einer Besichtigung des Tatorts keinen Schaden festgestellt und den Vorgang deshalb abgelegt. Bei ausreichender Ausübung der Dienstaufsicht wäre es zu den Dienstpflichtverletzungen Nr. 1 bis 3 nicht gekommen. Im Hinblick auf Vorwurf Nr. 4 werde eine Pflichtverletzung trotz strafrechtlicher Einstellung zugestanden und mit ihrer Überforderungssituation erklärt. Gleiches gelte für die Vorwürfe Nr. 5 und 6, die sie sehr bedaure. Sie habe den Schaden insoweit bereits im Ermittlungsverfahren wieder gutgemacht. Das Amtsgericht Straubing berücksichtige die Taten mildernd als „Ausrutscher und Spontantaten“. Hinsichtlich des Vorwurfs Nr. 7 werde bestritten, dass die am 24. Oktober 2016 in dem unverschlossenen Spind aufgefundenen Patronen aus ihrem Besitz stammten. Aufgrund ihrer familiären und beruflichen Situation habe die Beklagte sich im Zeitpunkt der Begehung der Taten in einer absoluten Ausnahmesituation befunden.
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Zwar gehe der Kläger zutreffend von einem Orientierungsrahmen bis zur Entfernung aus dem Beamtenverhältnis aus. Ein endgültiger Vertrauensverlust sei jedoch nicht festzustellen. Die ausgesprochenen Strafen lägen jeweils am untersten Rand des Strafrahmens. Die Strafvereitelung habe nur das Versuchsstadium erreicht; für die Mitnahme der Akte habe es nachvollziehbare Gründe gegeben. Zudem seien mildernd die verminderte Schuldfähigkeit, Mobbing oder jedenfalls unsensibles Verhalten des Vorgesetzten und das Versagen von Kontrollmechanismen zu berücksichtigen. Auch im Hinblick auf den Beihilfebetrug komme wegen der verminderten Schuldfähigkeit und eines Augenblicksversagens eine Entfernung nicht in Betracht. Zudem seien die lange Verfahrensdauer, die laufbahn- und beförderungsrechtlichen Nachteile, die Wiedergutmachung des Schadens und die Belastung der Beklagten durch die Strafverfahren zu berücksichtigen.
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Das Polizeipräsidium M. replizierte mit Schreiben vom 7. April 2022, eine mildere Disziplinarmaßnahme als eine Entfernung sei nicht gerechtfertigt. Die Absicht der Beklagten, im Vorwurf Nr. 1 ihren Ehemann um Hilfe zu fragen, führe zu einer Problematik im Hinblick auf etwaige polizeiliche Geheimhaltungsinteressen. Das Strafgericht habe im Hinblick auf Vorwurf Nr. 3 versuchte Strafvereitelung bejaht und damit - unabhängig von den Beweggründen der Beklagten - den subjektiven Tatbestand als erfüllt angesehen. Die Verantwortlichkeit für ihre Handlungen könne auch unter dem Gesichtspunkt unzureichender Dienstaufsicht nicht auf die Dienststellenleitung abgewälzt werden. Zu Vorwurf Nr. 7 gebe es keine andere Erklärung, wie die Patronen in den Spind der Beklagten gelangt sein sollen. Ihre private und berufliche Überforderungssituation sei bedauerlich, führe aber nicht zu einer anderen Einschätzung. Die vorgeworfenen Sachverhalte zeigten vielmehr mehrfach aktives, selbstbestimmtes und beabsichtigtes Verhalten der Beklagten. Der Orientierungsrahmen sei bis zur Entfernung aus dem Beamtenverhältnis eröffnet und wegen des schwerwiegenden Achtungs- und Vertrauensverlusts durch die Vielzahl der überwiegend schwerwiegenden Pflichtverletzungen auch auszuschöpfen. Jedenfalls die Erheblichkeit der disziplinarrechtlichen Vorwürfe begründe eine Ausnahme von der Regel, wonach eine verminderte Schuldfähigkeit zur Tatzeit die Höchstmaßnahme regelmäßig ausschließe. Von einem Augenblicksversagen könne keine Rede sein. Die lange Verfahrensdauer könne ein Absehen von der Entfernung nicht begründen.
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Das Verwaltungsgericht zog das Psychiatrische Gutachten der Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie am Bezirkskrankenhaus K. vom 2. April 2019 bei, das sich nicht bei den vom Kläger vorgelegten Akten befand.
35
Das Verwaltungsgericht hat am 28. September 2022 mündlich verhandelt und die Beklagte ausführlich informativ gehört.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Disziplinarakten des Polizeipräsidiums M. und des Polizeipräsidiums Sch. S./W., die in Kopie vorgelegten Strafakten, das Fachpsychiatrische Gutachten vom 2. April 2019 und die Gerichtsakte verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Gegen die Beklagte wird auf die Disziplinarmaßnahme der Zurückstufung um eine Stufe in das Amt einer Polizeiobermeisterin (Besoldungsgruppe A8) erkannt (Art. 10 BayDG).
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1. Das Disziplinarverfahren weist in formeller Hinsicht keine Mängel auf. Insbesondere erhielt die Beklagte zu allen Verfahrensschritten die Gelegenheit zur Äußerung.
39
2. Das Verwaltungsgericht legt der Beklagten die in der Disziplinarklage unter Nr. 1 bis 6 dargestellten Sachverhalte zur Last. Den unter Nr. 7 dargestellten Vorwurf hält es dagegen nicht für erwiesen.
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2.1. Die der Beklagten im Disziplinarverfahren zur Last gelegten Sachverhalte Nr. 1 bis 3 stehen nach Art. 25 Abs. 1, Art. 55 Halbs. 1 BayDG für das Gericht bindend fest. Danach sind die tatsächlichen Feststellungen eines rechtskräftigen Urteils im Strafverfahren, das denselben Sachverhalt wie das Disziplinarverfahren betrifft, auch im gerichtlichen Verfahren bindend. Die tatsächlichen Feststellungen ergeben sich aus den Strafurteilen des Amtsgerichts Kaufbeuren vom 23. November 2017 und des Landgerichts Kempten vom 13. Februar 2020; infolge der Beschränkung der Berufung auf die Rechtsfolgen hat das Landgericht Kempten seine Entscheidung maßgeblich auf die Feststellungen des Amtsgerichts Kaufbeuren gestützt. Danach hat die Beklagte den Tatbestand des Verwahrungsbruchs in 3 tatmehrheitlichen Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit versuchter Strafvereitelung im Amt erfüllt, indem sie die Betrugsanzeige von Frau A.G. vom 6. Mai 2014, die Betrugsanzeige von Herrn M.M. vom 17. November 2014 und die Anzeige wegen Fahrerflucht von Herrn G.B. vom 27. März 2015 nicht zu Ende bearbeitet und nicht der Staatsanwaltschaft vorgelegt, sondern die Akten in einem Fall in ihrem Wohnzimmerschrank aufbewahrt und in 2 Fällen in die Altpapiertonne der Polizeistation P. geworfen hat.
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Soweit die Beklagte vorbringt, sie habe den Vorgang zur Betrugsanzeige von Frau A.G. am Tag vor ihrer Operation mit nach Hause genommen, um ihren Ehemann insoweit um Rat zu fragen (Vorwurf Nr. 1), und sie habe bei einer Besichtigung des Tatorts keinen Schaden habe feststellen können (Vorwurf Nr. 3), ist dieses Vorbringen nicht geeignet, die Bindungswirkung der Strafurteile zu entkräften.
42
2.2. Auch die der Beklagten im Disziplinarverfahren zur Last gelegten Sachverhalte Nr. 5 und 6 stehen nach Art. 25 Abs. 1, Art. 55 Halbs. 1 BayDG für das Gericht bindend fest. Sie beruhen auf dem rechtskräftigen Urteil des Amtsgerichts Straubing vom 31. Oktober 2019. Danach hat die Beklagte durch Einreichung einer unrichtigen Rechnung über 10.384 € bei der Beihilfestelle am 8. Juni 2016, zu der mit Beihilfebescheid vom 14. Juni 2016 Leistungen in Höhe von 8.307,20 € festgesetzt wurden, einen vollendeten Betrug und durch Einreichung einer unrichtigen Rechnung über 12.109,18 € bei der Beihilfestelle am 19. Juli 2016, zu der eine Auszahlung von Beihilfeleistungen nicht mehr erfolgt ist, einen versuchten Betrug begangen, jeweils in Tateinheit mit Urkundenfälschung.
43
Der Bindung der vorgenannten Urteile unterliegen die „tatsächlichen Feststellungen“ (Art. 25 Abs. 1 BayDG). Hierzu gehören nicht nur die äußeren Aspekte eines Tathergangs, sondern auch Elemente des inneren Tatbestandes wie etwa die Zueignungsabsicht oder die Bereicherungsabsicht. Feststellungen zur Schuldfähigkeit binden das Gericht indessen nur, soweit sie sich auf die Frage beziehen, ob der Betreffende schuldfähig oder schuldunfähig im Sinne des § 20 StGB ist. Ist wie hier die Frage der Schuldunfähigkeit mit bindender Wirkung verneint, bleibt es Sache des erkennenden Gerichts, für die Bemessung der Disziplinarmaßnahme festzustellen, ob bei Vorliegen der Eingangsvoraussetzung des § 20 StGB ein Fall verminderter Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB gegeben ist und welchen Grad die Minderung gegebenenfalls erreicht. Auf Feststellungen, die für diese Frage Bedeutung haben, erstreckt sich die Bindung des Disziplinargerichts nicht. Das Disziplinargericht muss vielmehr selbst die hierzu erforderlichen Tatsachen feststellen und selbst die erforderliche Rechtsentscheidung treffen, ob die Minderung der Schuldfähigkeit erheblich ist (BVerwG, U.v. 29.5.2008 - 2 C 59.07 - juris Rn. 29).
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2.3. Weiter hat die Beklagte, wie ihr unter Nr. 4 Buchst. a bis g der Disziplinarklage vorgeworfen wird, in den dort genannten 7 Fällen im Zeitraum vom 1. Januar 2014 bis 31. Oktober 2015 unzureichende Ermittlungen durchgeführt und keine ordnungsgemäße polizeiliche Sachbearbeitung vorgenommen. Anders als in der Disziplinarklage formuliert, liegt in diesen Fällen jedoch nicht nachgewiesenermaßen eine „Strafvereitelung im Amt, Fälschung beweiserheblicher Daten und Urkundenunterdrückung“ vor, sondern ist der Beklagten aufgrund der sich aus der beigezogenen Strafakte (400 Js …) ergebenden Erkenntnisse lediglich eine unzureichende Sachbearbeitung vorzuwerfen. Dies ergibt sich auch aus dem Polizeibericht im Ermittlungsverfahren, auf den die Staatsanwaltschaft Kempten in ihrer Einstellungsverfügung vom 24. Oktober 2016 verweist. Zudem erfasst diese Einstellungsverfügung nur 5 unterschiedliche Sachverhaltskomplexe und werden der Beklagten unter Nr. 4 insgesamt 7 Vorgänge vorgeworfen. Da sie diese Vorwürfe jedoch zugesteht, bestehen für das Gericht insoweit keine Zweifel und legt ihr dieses alle 7 Vorwürfe zur Last.
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2.4. Als nicht erwiesen erachtet das Gericht jedoch den Sachverhalt Nr. 7, in dem der Beklagten der unrechtmäßige Besitz der am 24. Oktober 2016 in ihrem unverschlossenen Spind in der Polizeistation P. aufgefundenen 7 Patronen Action4-Munition vorgeworfen wird. Dieser Sachverhalt ist von der Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft Kempten vom 2. Juni 2017 erfasst (400 Js …), der keine Bindungswirkung nach Art. 25 Abs. 1 oder Abs. 2, Art. 55 Halbs. 1 BayDG zukommt. Der der Beklagten vorgeworfene Sachverhalt steht hier nicht zur Überzeugung des Gerichts fest. Für die Überzeugungsgewissheit des Gerichts ist eine 100%-ige Wahrscheinlichkeit nicht erforderlich. Die für die Überzeugungsbildung des Gerichts notwendige Gewissheit erfordert nur ein nach der Lebenserfahrung ausreichendes Maß an Sicherheit, demgegenüber vernünftige Zweifel nicht mehr aufkommen, wobei die bloße Möglichkeit eines anderen, gegebenenfalls auch gegenteiligen Geschehensverlaufs die erforderliche Gewissheit nicht ausschließt (BayVGH, U.v. 18.1.2017 - 16a D 14.2483 - juris Rn. 57). Da nach dem Vortrag der Beklagten, den der Kläger nicht widerlegt hat, am 6. Oktober 2015 eine Durchsuchung von Spind, Waffenfach und Rollcontainer in Anwesenheit des Personalrats durchgeführt wurde und sie das Gebäude danach nur noch einmal und in ständiger Begleitung von PHK Z. betreten hat, ist ihr der Besitz der Patronen in ihrem unversperrten Spind über ein Jahr später nicht zweifelsfrei zuzuordnen. Für eine Überzeugungsgewissheit des Gerichts von der Tatbegehung reicht es nicht aus, dass der Kläger keine andere Erklärung dafür hat, wie die Patronen in den Spind gelangt sein sollen.
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3. Die Beklagte hat durch ihr Verhalten ein einheitliches innerdienstliches Dienstvergehen nach § 47 Abs. 1 Satz 1 BeamtStG begangen, weil sie schuldhaft ihr obliegende Dienstpflichten verletzt hat.
47
Durch die Taten Nr. 1 bis 3 sowie Nr. 5 und 6 hat sie gegen ihre Grundpflicht zur Achtung der Gesetze aus § 33 Abs. 1 Satz 3 BeamtStG i.V.m. §§ 133 Abs. 1, Abs. 3, 258a Abs. 1 und 2, 258 Abs. 1 StGB bzw. §§ 263, 267 StGB verstoßen. Durch alle Taten hat sie außerdem ihre Pflicht, sich mit vollem persönlichem Einsatz ihrem Beruf zu widmen, aus § 34 Abs. 1 Satz 1 BeamtStG - die Fälschungen der Arztrechnungen erfolgten während der Dienstzeit - und ihre Pflicht zu achtungs- und vertrauenswürdigem Verhalten aus § 34 Abs. 1 Satz 3 BeamtStG (in der bis 6.7.2021 geltenden Fassung) verletzt. Durch die Taten Nr. 1 bis 4 hat sie zudem gegen die Pflicht, die übertragenen Aufgaben nach bestem Gewissen wahrzunehmen, nach § 34 Abs. 1 Satz 2 BeamtStG verstoßen.
48
Wegen der Verbindung aller Taten zu ihrem Dienst sind sämtliche Pflichtverletzungen als innerdienstliches Dienstvergehen anzusehen. Dies gilt auch für den (vollendeten und versuchten) Beihilfebetrug, weil insoweit der Dienstherr geschädigt wurde bzw. werden sollte (BayVGH, U.v. 20.9.2021 - 16b D 19.2270 - juris Rn. 29; U.v. 3.5.2017 - 16a D 15.1777 - juris Rn. 24).
49
Die Beklagte hat sämtliche Taten vorsätzlich begangen. Anhaltspunkte für eine Schuldunfähigkeit bestehen nicht. Insoweit besteht hinsichtlich der Vorwürfe Nr. 1 bis 3 sowie Nr. 5 und 6 Bindungswirkung durch die Strafurteile.
50
4. Das Fehlverhalten der Beklagten wiegt schwer. Dennoch ist wegen des Milderungsgrundes der „Entgleisung während einer negativen, inzwischen überwundenen Lebensphase“ nicht auf die disziplinarrechtliche Höchstmaßnahme der Entfernung aus dem Beamtenverhältnis, sondern auf eine Zurückstufung zu erkennen.
51
4.1. Nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 BayDG ist die Entscheidung über die Disziplinarmaßnahme nach der Schwere des Dienstvergehens, der Beeinträchtigung des Vertrauens des Dienstherrn oder der Allgemeinheit, dem Persönlichkeitsbild des Beamten und dem bisherigen dienstlichen Verhalten zu treffen. Da die Schwere des Dienstvergehens nach Art. 14 Abs. 1 Satz 2 BayDG maßgebendes Bemessungskriterium für die Bestimmung der erforderlichen Disziplinarmaßnahme ist, muss das festgestellte Dienstvergehen nach seiner Schwere einer der im Katalog des Art. 6 Abs. 1 BayDG aufgeführten Disziplinarmaßnahmen zugeordnet werden. Bei der Auslegung des Begriffs „Schwere des Dienstvergehens“ ist maßgebend auf das Eigengewicht der Verfehlung abzustellen. Hierfür können bestimmend sein objektive Handlungsmerkmale (insbesondere Eigenart und Bedeutung der Dienstpflichtverletzung, z.B. Kern- oder Nebenpflichtverletzungen, sowie besondere Umstände der Tatbegehung, z.B. Häufigkeit und Dauer eines wiederholten Fehlverhaltens), subjektive Handlungsmerkmale (insbesondere Form und Gewicht der Schuld des Beamten, Beweggründe für sein Verhalten) sowie unmittelbare Folgen des Dienstvergehens für den dienstlichen Bereich und für Dritte (vgl. BVerwG, U.v. 10.12.2015 - 2 C 6.14 - juris Rn. 16).
52
4.2. Fallen einem Beamten - wie hier - mehrere Dienstpflichtverletzungen zur Last, die in ihrer Gesamtheit das einheitliche Dienstvergehen ergeben, so bestimmt sich die zu verhängende Disziplinarmaßnahme in erster Linie nach der schwersten Verfehlung (BayVGH, U.v. 11.5.2016 - 16a D 13.1540 - juris Rn. 66). Im vorliegenden Fall wiegen Verwahrungsbruch und Strafvereitelung einerseits und (versuchter) Beihilfebetrug mit Urkundenfälschung andererseits gleich schwer.
53
Für die disziplinarrechtliche Ahndung der vorgenannten Taten ergibt sich ein Orientierungsrahmen bis zur Entfernung aus dem Beamtenverhältnis.
54
Zur konkreten Bestimmung der Disziplinarmaßnahme ist auch bei einem innerdienstlichen Dienstvergehen auf den Strafrahmen zurückzugreifen, weil der Gesetzgeber mit der Strafandrohung seine Einschätzung zum Unwert des Verhaltens verbindlich zum Ausdruck gebracht hat (BVerwG, B.v. 5.7.2016 - 2 B 24.16 - juris Ls. und Rn. 15). Vorliegend stellen die erwiesenen dienstpflichtverletzenden Handlungen schwere Dienstpflichtverletzungen dar. Dies ergibt sich schon daraus, dass für Verwahrungsbruch als Amtsträger sowie für Betrug und Urkundenfälschung ein gesetzlich bestimmter Strafrahmen von bis zu 5 Jahren Freiheitsstrafe besteht (vgl. §§ 133 Abs. 3, 258 Abs. 3, 258a Abs. 1, 263 Abs. 1, 267 Abs. 1 StGB). Begeht ein Beamter innerdienstlich eine Straftat, für die das Strafgesetz als Strafrahmen eine Freiheitsstrafe von bis zu 3 Jahren vorsieht (hier sind es bis zu 5 Jahre), reicht der Orientierungsrahmen für die mögliche Disziplinarmaßnahme bis zur Entfernung aus dem Beamtenverhältnis (vgl. BayVGH, U.v. 20.9.2021 - 16b D 19.1302 - juris Rn. 30; BVerwG, U.v. 10.12.2015 - 2 C 6.14 - juris Rn. 20).
55
Bei Betrachtung der konkreten Taten ist der Orientierungsrahmen auszuschöpfen. Es gehört zu den Kernpflichten der Beklagten als Polizeibeamtin, Straftaten zu verhindern und aufzuklären. Gegen ihre Aufklärungspflicht hat sie durch die unter Nr. 1 bis 3 genannten Taten verstoßen. Im Hinblick auf den (versuchten) Beihilfebetrug unter Nr. 5 und 6 ist zu berücksichtigen, dass die Verwaltung bei ihren Entscheidungen im personellen und fürsorgerischen Bereich auf die absolute Ehrlichkeit ihrer Bediensteten sowie darauf angewiesen ist, dass diese bei der Wahrnehmung ihrer Rechte, insbesondere bei der Geltendmachung von Ansprüchen, der Wahrheits- und Offenbarungspflicht ohne jede Einschränkung genügen. Ein Beamter, der seinen Dienstherrn unter Verletzung der Wahrheitspflicht um des eigenen materiellen Vorteils willen in betrügerischer Weise schädigt, belastet deshalb das zwischen ihm und seinem Dienstherrn bestehende Vertrauensverhältnis schwer und nachhaltig (BayVGH, U.v. 20.9.2021 - 16b D 19.2270 - juris Rn. 38). Unter Zugrundelegung dessen und der hohen Summen, um die der Dienstherr betrogen wurde bzw. werden sollte, sowie der erschwerend zu berücksichtigenden Stellung der Beklagten als Polizeibeamtin ist hier die Höchstmaßnahme Ausgangspunkt der disziplinaren Maßnahmebemessung.
56
4.3. Erschwerend kommen die unter Nr. 4 genannten Taten der unzureichenden Sachbearbeitung in 7 Fällen hinzu.
57
4.4. Obwohl das festgestellte Dienstvergehen schwer wiegt und der Orientierungsrahmen bis zur Entfernung aus dem Beamtenverhältnis eröffnet ist, kommt das Gericht wegen des Vorliegens des Milderungsgrundes der „Entgleisung während einer negativen, inzwischen überwundenen Lebensphase“ zu dem Ergebnis, dass als Disziplinarmaßnahme nicht die Entfernung aus dem Beamtenverhältnis, sondern lediglich die Zurückstufung um eine Stufe auszusprechen ist.
58
4.4.1. Von der Höchstmaßnahme ist zugunsten einer weniger strengen Disziplinarmaßnahme abzusehen, wenn ein - ursprünglich vom Bundesverwaltungsgericht zu den Zugriffsdelikten entwickelter - sog. „anerkannter“ Milderungsgrund vorliegt. Diese erfassen typisierend Beweggründe oder Verhaltensweisen des Beamten, die regelmäßig Anlass für eine noch positive Persönlichkeitsprognose geben. Zum einen tragen sie existenziellen Notlagen sowie körperlichen und psychischen Ausnahmesituationen - auch einer etwa verminderten Schuldfähigkeit - Rechnung, in denen ein an normalen Maßstäben orientiertes Verhalten nicht mehr erwartet werden kann. Zum anderen erfassen sie ein tätiges Abrücken von der Tat, insbesondere durch die freiwillige Wiedergutmachung des Schadens oder die Offenbarung des Fehlverhaltens jeweils vor drohender Entdeckung (BayVGH, U.v. 28.9.2016 - 16a D 13.2112 - juris Rn. 56; U.v. 29.6.2016 - 16b D 13.993 - juris Rn. 44).
59
Diese Milderungsgründe stellen jedoch keinen abschließenden Kanon der bei Dienstvergehen berücksichtigungsfähigen Entlastungsgründe dar. Bei der prognostischen Frage, ob gegenüber einem Beamten aufgrund eines schweren Dienstvergehens ein endgültiger Vertrauensverlust eingetreten ist, gehören zur Prognosebasis außerdem alle für diese Einschätzung bedeutsamen belastenden und entlastenden Ermessensgesichtspunkte, die in eine Gesamtwürdigung einzubeziehen sind. Selbst wenn keiner der vorrangig zu prüfenden anerkannten Milderungsgründe vorliegt, können entlastende Umstände gegeben sein, deren Gewicht in ihrer Gesamtheit dem Gewicht anerkannter Milderungsgründe vergleichbar ist. Entlastungsmomente können sich dabei aus allen denkbaren Umständen ergeben. Solche Umstände können das Absehen von der disziplinarischen Höchstmaßnahme rechtfertigen, wenn sie in ihrer Gesamtheit das Gewicht eines anerkannten Milderungsgrundes aufweisen. Generell gilt, dass das Gewicht der Entlastungsgründe umso größer sein muss, je schwerer das Zugriffsdelikt aufgrund der Schadenshöhe, der Anzahl und Häufigkeit der Zugriffshandlungen, der Begehung von „Begleitdelikten“ und anderen belastenden Gesichtspunkten im Einzelfall wiegt.
60
Entlastungsgründe sind nach dem Grundsatz „in dubio pro reo“ bereits dann einzubeziehen, wenn hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für ihr Vorliegen sprechen. Erforderlich ist stets eine Prognoseentscheidung zum Umfang der Vertrauensbeeinträchtigung auf Grundlage aller im Einzelfall be- und entlastenden Umstände. Bei schweren Dienstvergehen stellt sich dann vorrangig die Frage, ob der Beamte nach seiner gesamten Persönlichkeit noch im Beamtenverhältnis tragbar ist (BayVGH, U.v. 28.9.2016 - 16a D 13.2112 - juris Rn. 57; U.v. 29.6.2016 - 16b D 13.993 - juris Rn. 45).
61
4.4.2. Bei der Beklagten ist hinsichtlich aller Straftaten (Vorwürfe Nr. 1-3 sowie 5 und 6) der Milderungsgrund der „Entgleisung während einer negativen, inzwischen überwundenen Lebensphase“ gegeben. Für diesen von der Rechtsprechung entwickelten Milderungsgrund gilt zwar die regelhafte Herabstufung der angemessenen Disziplinarmaßnahme nicht. Dieser im Rahmen der Gesamtwürdigung zu berücksichtigende Umstand führt aber letztlich zum Absehen von der Höchstmaßnahme (vgl. BVerwG, B.v. 15.6.2016 - 2 B 49.15 - juris Rn. 13).
62
Der Milderungsgrund setzt außergewöhnliche Verhältnisse voraus, die den Beamten während des Tatzeitraums oder im Tatzeitpunkt „aus der Bahn geworfen“ haben. Die mildernde Berücksichtigung liegt vor allem dann nahe, wenn sich der Pflichtenverstoß als Folge dieser Verhältnisse darstellt. Allerdings muss der Beamte diese Lebensphase in der Folgezeit überwunden haben. Dies ist anzunehmen, wenn sich seine Lebensverhältnisse wieder soweit stabilisiert haben, dass nicht mehr davon die Rede sein kann, er sei weiterhin „aus der Bahn“ geworfen. Eine derartige Stabilisierung indiziert, dass weitere Pflichtenverstöße gleicher Art nicht zu besorgen sind (BVerwG, B.v. 15.6.2016 - 2 B 49.15 - juris Rn. 10; B.v. 9.10.2014 - 2 B 60.14 - juris Rn. 32).
63
Diese Voraussetzungen sind hier gegeben.
64
Die Situation der Beklagten als Mutter von 4 Kindern, 2 davon mit schwerster Mehrfachbehinderung, war wegen der für die Kinder erforderlichen Personensorge und Pflegemaßnahmen gerade während der jüngeren Jahre der Kinder kontinuierlich äußerst fordernd und angespannt. Zudem wurde ihr durch das Psychiatrische Gutachten der Klinik für Forensische Psychiatrie und Psychotherapie am Bezirkskrankenhaus K. vom 2. April 2019 jedenfalls im Zeitraum der Taten des Verwahrungsbruchs und der Strafvereitelung, der auf die Zeit von März bis September 2015 eingrenzbar ist, eine posttraumatische Belastungsstörung als psychische Erkrankung bescheinigt. In diesem Zeitraum kamen weitere zusammenwirkende Faktoren hinzu (vgl. BVerwG, B.v. 9.10.2014 - 2 B 60.14 - juris Rn. 43). Das Verhältnis der Beklagten zu ihrem Dienststellenleiter bei der Polizeistation P., der sich ihr gegenüber distanzlos verhielt und wegen ihres vermeintlichen Untergewichts mit unangemessen Äußerungen reagierte, verschlechterte sich noch mehr. Im Sommer 2015 wurde bei ihr eine Eierstockzyste festgestellt und die Verdachtsdiagnose auf Eierstockkrebs gestellt. Außerdem wurde bei ihrem behinderten Sohn die Diagnose Autismus gestellt, woraufhin sich eine für sie und ihren Mann zeitaufwändige Einweisung in den Umgang mit von dieser Störung betroffenen Personen anschloss. Diese Umstände begründen in ihrer Gesamtheit eine Überforderungssituation, aufgrund derer die Delikte des Verwahrungsbruchs und der Strafvereitelung zwar nicht entschuldbar, aber doch erklärbar sind und sich die Pflichtverstöße als Folge der Lebensumstände darstellen.
65
Im Zeitraum der Betrugsdelikte von etwa Juni/Juli 2016 hatte die Beklagte ihren Dienst bereits an ihrer neuen Dienststelle PI … zu leisten, zu der eine tägliche Fahrzeit von mindestens einer Stunde anfiel. Etwa Ende Mai 2016 hielt ihr ebenfalls bei der Polizei beschäftigter Ehemann der beruflichen und familiären Belastung, insbesondere wegen des behinderten Sohnes, nicht mehr stand. Er hinterließ einen Abschiedsbrief, verließ die gemeinsame Wohnung und konnte erst nach einer polizeilichen Suchaktion zurückgebracht werden. Die Beklagte flüchtete vor dem Ausbruch des Ehemannes gemeinsam mit dem behinderten Sohn aus der Wohnung und es gelang ihr mit Mühe und Glück, eine zeitweise externe Unterbringung des Sohnes zu erhalten. Ihr Ehemann wurde daraufhin in einer psychotherapeutischen Klinik untergebracht mit der Folge, dass die Beklagte sich alleine um die 3 zu Hause verbliebenen Kinder und den in einer Einrichtung untergebrachten Sohn kümmern musste. Hinzu kamen dienstliche Sondereinsätze wegen eines Großereignisses, Sorgen wegen der im Hinblick auf ihren Ehemann und ihren behinderten Sohn ungewissen Zukunft sowie Schlafstörungen ihrerseits und ihres jüngsten Sohnes. Die Beklagte schilderte diese Zeit in der mündlichen Verhandlung mehrfach als „schwarze Situation“ mit unendlicher Müdigkeit, Erschöpfung und Angst, was werden solle. Sie habe diese Situation nur noch beenden wollen, egal wie, und schließlich versucht, dies durch Suspendierung vom Dienst infolge ihrer Delikte des Beihilfebetrugs zu erreichen. Bei rationaler Betrachtung, die ihr damals nicht möglich gewesen sei, hätte sie damals andere Wege gehen müssen.
66
Die Situationen, in denen sich die Beklagte in den Zeiträumen der jeweiligen Tatbegehung befand, erachtet das Gericht als so gravierend, dass die Pflichtverletzungen in einem milderen Licht erscheinen, weil ein an normalen Maßstäben orientiertes Verhalten von der Beamtin nicht erwartet und damit nicht mehr vorausgesetzt werden kann (vgl. BVerwG, B.v. 15.6.2016 - 2 B 49.15 - juris Rn. 11). Die Beklagte war durch die gesundheitliche und familiäre Belastung zeitweilig „aus der Bahn geworfen“. Ein unauffälliges Verhalten in sonstigen Lebenslagen, insbesondere im dienstlichen Bereich, das dieser Annahme entgegen stünde (vgl. BVerwG, B.v. 15.6.2016 a.a.O.), steht nach Auffassung des Gerichts nicht fest. Für den Zeitraum des Verwahrungsbruchs und der Strafvereitelung von März bis September 2015 existieren keine Beurteilung und kein Persönlichkeitsbild, aus denen sich ein solches ergeben würde; vielmehr sind gerade für diesen Zeitraum mehrfache Verstöße gegen ihre Pflicht zu ordentlicher und sorgfältiger Sachbearbeitung dokumentiert. Auch für den Zeitraum des versuchten Betrugs, den das Gericht etwa in der Zeit zwischen 20. Juni 2016 (Erstellung der gefälschten Rechnung nach Erhalt des Beihilfefestsetzungsbescheids vom 14.6.2016) und 19. Juli 2016 (Datum des 2. Beihilfeantrags) veranschlagt, existieren keine Beurteilung und kein Persönlichkeitsbild. Der Zeitraum der Begehung des vollendeten Betrugs zwischen 24. Mai und 8. Juni 2016 (Erstellung der gefälschten Rechnung zwischen 24.5. und 8.6.2022; Beihilfeantrag am 8.6.2016) ist zwar von dem positiven Persönlichkeitsbild vom 20. Juni 2016 erfasst, das ihr eine „vollkommen unauffällig(e)“ Art und Weise der Arbeitsverrichtung bescheinigt. Dieses Persönlichkeitsbild bezieht sich jedoch bereits in zeitlicher Hinsicht schwerpunktmäßig den vorher liegenden Zeitraum ab 23. Oktober 2015, zu dem die Abordnung zur PI … verfügt wurde. Es erscheint weiter für den Zeitraum der Tatbegehung nicht allzu aussagekräftig. Zum einen gelang es der Beklagten, die gefälschten Rechnungen im Dienst unbemerkt von Vorgesetzten und Kollegen zu erstellen, zum anderen blieb ihre persönliche Notsituation aufgrund der Eskalation innerhalb der Familie an der Dienststelle unbeachtet, wie etwa das Unterbleiben eines Hilfsangebots oder der Reduzierung ihrer Einsatzverpflichtung zeigt.
67
Die Beklagte hat die negative Lebensphase inzwischen überwunden. Weitere als die in der Disziplinarklage enthaltenen Verfehlungen werden ihr nicht vorgeworfen. Die Beklagte lebt nun zusammen mit ihrem Ehemann und 3 Kindern in Kempten. Die Ehe ist unverändert tragfähig. Auch ihr psychischer Gesundheitszustand hat sich stabilisiert, die Beklagte meint, ihr gehe es inzwischen wieder gut. Die finanziellen Verhältnisse der Familie erscheinen nach ihren Ausführungen in der mündlichen Verhandlung geordnet. Trotz der schweren Behinderung von 2 Kindern scheint eine Normalisierung eingetreten zu sein. Der behinderte Sohn ist extern untergebracht, bei der behinderten Tochter haben sich kontinuierlich Verbesserungen ergeben. Der älteste Sohn hat kürzlich seine Ausbildung beendet. Bei dem jüngsten Sohn haben sich die schulischen Leistungen verbessert. Damit erscheint die Prognose gerechtfertigt, dass mit Pflichtverstößen nicht mehr ernsthaft zu rechnen ist, wobei hier ein normaler, nicht ein hoher Wahrscheinlichkeitsmaßstab anzulegen ist (BVerwG, B.v. 9.10.2014 - 2 B 60.14 - juris Rn. 45).
68
4.4.3. Weitere durchschlagende Milderungsgründe liegen nicht vor.
69
4.4.3.1. Die Beklagte kann sich nicht mit Erfolg auf eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit im Sinne von § 21 StGB berufen. Liegt eine erhebliche Verminderung der Schuldfähigkeit des Beamten im Sinne von § 21 StGB vor, so ist dieser Umstand bei der Bewertung der Schwere des Dienstvergehens mit dem ihm zukommenden erheblichen Gewicht heranzuziehen. In diesem Fall kommt die Höchstmaßnahme regelmäßig nicht mehr, sondern nur im Ausnahmefall in Betracht (BVerwG, U.v. 11.1.2012 - 2 B 78.11 - juris Rn. 5; BayVGH, U.v. 20.9.2021 - 16b D 19.1302 - juris Rn. 35).
70
Erheblich verminderte Schuldfähigkeit gemäß §§ 20, 21 StGB setzt voraus, dass die Fähigkeit, das Unrecht einer Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, wegen einer Störung im Sinne von § 20 StGB bei Tatbegehung erheblich eingeschränkt war. Für die Steuerungsfähigkeit kommt es darauf an, ob das Hemmungsvermögen so stark herabgesetzt war, dass der Betroffene den Tatanreizen erheblich weniger Widerstand als gewöhnlich entgegenzusetzen vermochte (stRspr, vgl. BVerwG, B.v. 27.10.2008 - 2 B 48.08 - juris Rn. 7; BayVGH, U.v. 20.9.2021 - 16b D 19.1302 - juris Rn. 36).
71
Die daran anknüpfende Frage, ob die Verminderung der Steuerungsfähigkeit aufgrund einer krankhaften seelischen Störung „erheblich“ war, ist eine Rechtsfrage, die die Verwaltungsgerichte ohne Bindung an die Einschätzung Sachverständiger in eigener Verantwortung zu beantworten haben. Hierzu bedarf es einer Gesamtschau der Persönlichkeitsstruktur des Betroffenen, seines Erscheinungsbildes vor, während und nach der Tat und der Berücksichtigung der Tatumstände, insbesondere der Vorgehensweise. Die Erheblichkeitsschwelle liegt umso höher, je schwerer die in Streit stehende Verfehlung wiegt. Für die Annahme einer erheblichen Minderung der Schuldfähigkeit sind schwerwiegende Gesichtspunkte heranzuziehen wie etwa Psychopathien, Neurosen, Triebstörungen, leichtere Formen des Schwachsinns, altersbedingte Persönlichkeitsveränderungen, Affektzustände sowie Folgeerscheinungen einer Abhängigkeit von Alkohol, Drogen oder Medikamenten. Dementsprechend hängt im Disziplinarrecht die Beurteilung der Erheblichkeit im Sinne von § 21 StGB von der Bedeutung und Einsehbarkeit der verletzten Dienstpflichten ab. Daher wird man bei Zugriffsdelikten nur in Ausnahmefällen von der Erheblichkeit einer festgestellten verminderten Schuldfähigkeit ausgehen können (vgl. BVerwG, U.v. 15.7.2019 - 2 B 8.19 - juris Rn. 11; U.v. 29.5.2008 - 2 C 59.07 - juris Rn. 30; BayVGH, U.v. 20.9.2021 - 16b D 19.1302 - juris Rn. 37).
72
Gemessen daran lag bei der Beklagten zu den jeweiligen Tatzeitpunkten keine erheblich verminderte Schuldfähigkeit vor, die zu einem Absehen von der disziplinarischen Höchstmaßnahme führen würde. Das Verwaltungsgericht teilt insoweit nicht die Bewertung der Strafgerichte.
73
Im vorliegenden Fall ist schon fraglich, ob bei der Beklagten in den Zeiten der Tatbegehung eines der in § 20 StGB genannten Eingangskriterien gegeben war. Die strafgerichtliche Rechtsprechung ist sehr zurückhaltend mit der Annahme einer Schuldfähigkeitsbeeinträchtigung bei einer posttraumatischen Belastungsstörung (Verrel/Linke/Koranyi in: Laufhütte u.a., StGB Leipziger Kommentar, 13. Aufl. 2021, § 20 Rn. 178). Zudem lässt das Psychiatrische Gutachten vom 2. April 2019 den Schluss zu, dass bei der Beklagten keine gravierende posttraumatische Belastungssituation vorlag und ihr zudem aufgrund bescheinigter Resilienz eine erhebliche Störungsverarbeitung gelungen ist.
74
Jedenfalls ergeben sich aber keine Hinweise für eine erhebliche Minderung der Schuldfähigkeit der Beklagten in den jeweiligen Tatzeiträumen. Sämtliche Dienstvergehen bestehen in der Verletzung elementarer, selbstverständlicher, ohne Weiteres einsehbarer und einfach zu befolgender Grundpflichten einer Polizeibeamtin. Für die Beklagte war ohne Weiteres erkennbar, dass sie ihr zugewiesene dienstliche Vorgänge ordnungsgemäß bearbeiten musste und nur wahre und richtige Beihilferechnungen einreichen durfte. Wegen der Betroffenheit von Kernpflichten sind besonders hohe Anforderungen hinsichtlich deren Einhaltung zu stellen und ein sehr hoher Ausprägungsgrad der Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit zu verlangen. Diesen hält das Gericht nicht für gegeben, weil die Beklagte in den Tatzeiträumen ihren Alltag jedenfalls weitgehend gemeistert und sich über weite Strecken normtreu verhalten hat.
75
4.4.3.2 Auch der Milderungsgrund der persönlichkeitsfremden Augenblickstat kommt der Beklagten nicht zugute. Die Sichtweise des Amtsgerichts Straubing im Urteil vom 31. Oktober 2019, das die dort abgeurteilten Taten des vollendeten und versuchten Beihilfebetrugs jeweils in Tateinheit mit Urkundenfälschung als „Ausrutscher und Spontantaten“ bewertet, teilt das Verwaltungsgericht nicht. Allein die systematisch begangenen Pflichtverletzungen im Zusammenhang mit dem Beihilfebetrug bei mindestens 4 Gelegenheiten über einen Zeitraum von rund 2 Monaten (2 Rechnungsfälschungen, 2 Einreichungen) schließen die Annahme einer einmaligen persönlichkeitsfremden Augenblickstat aus. Ein von Spontaneität und Kopflosigkeit bestimmtes Verhalten der Beklagten liegt auch angesichts ihrer mehrfach geäußerten klaren Absicht, durch den Beihilfebetrug ihre Suspendierung vom Dienst zu erreichen, gerade nicht vor.
76
4.4.3.3. Auch der von der Beklagten geltend gemachte Aspekt fehlender Kontrolle begründet keinen Milderungsgrund. Selbst eine unzureichende Kontrolle - die hier nicht vorliegt - wirkt sich regelmäßig nicht entlastend für einen Beamten aus. Gerade Beamte müssen aufgrund ihres dienstrechtlich gesteigerten Vertrauens- und Treueverhältnisses auch dann zuverlässig Dienst tun, wenn eine lückenlose Kontrolle der Betriebsabläufe und des Personals nicht durchführbar ist. Von einem Beamten muss erwartet werden, dass er sich auch dann redlich verhält, wenn er nicht besonders überwacht wird. Aufgrund der beamtenrechtlichen Treuepflicht darf erwartet werden, dass Beamte fehlende innerdienstliche Kontrollen nicht zur Begehung von Pflichtwidrigkeiten nutzen. Der Beamte hat seine Pflichten ohne Rücksicht darauf zu erfüllen, inwieweit er überwacht wird. Zweck der Dienstaufsicht ist nicht, den Beamten vor pflichtwidrigem Verhalten zu bewahren, sondern die ordnungsgemäße Aufgabenerledigung sicherzustellen (BayVGH, U.v. 20.9.2021 - 16b D 19.1302 - juris Rn. 58). Darüber hinaus war vorliegend nicht damit zu rechnen, dass die Beklagte Akten aus dem Weg schafft oder unrichtige Rechnungen erstellt, um die Beihilfestelle zu betrügen, so dass Kontrollmaßnahmen jedenfalls nicht hierauf erstrecken zu waren.
77
4.4.3.4. Auch die erst nach Entdeckung der Taten erfolgte Einräumung des Fehlverhaltens und die vorgenommene Wiedergutmachung des Schadens durch Erstattung des Betrages, wozu die Beklagte ohnehin zivil- und beamtenrechtlich verpflichtet war, stellen bei der hier vorliegenden Kernpflichtverletzung keinen beachtlichen Milderungsgrund dar. Zudem ist ein Geständnis eines Beamten nur dann disziplinarrechtlich erheblich, wenn es sich als freiwillige, nicht durch Furcht vor Entdeckung bestimmte vollständige und vorbehaltlose Offenbarung des Fehlverhaltens vor Entdeckung der Tat darstellt, was hier nicht der Fall war (BayVGH, U.v. 20.9.2021 - 16b D 19.1302 - juris Rn. 55). Zugunsten der Beklagten ist aber ihr positives Nachtatverhalten in Form von Einsicht und Reue einzubeziehen.
78
4.4.3.5. Auch Mobbing durch den Dienststellenleiter der Polizeistation P. kann die Beklagte nicht als Milderungsgrund anführen. Insoweit führt schon das Amtsgericht Kaufbeuren in seinem Urteil vom 23. November 2017 aus, dass ein solches nicht nachweisbar ist. Selbst ein von Mobbing geprägtes Verhalten im beruflichen Umfeld würde aber nicht zur Begehung von Straftaten berechtigen. Mildernd zu berücksichtigen ist aber ein schwieriges Verhältnis der Beklagten zu ihrem ehemaligen Dienststellenleiter, das durch wenig einfühlsame Äußerungen seinerseits verstärkt wurde.
79
4.4.4. Wie ausgeführt ist wegen des Milderungsgrundes der „Entgleisung während einer negativen, inzwischen überwundenen Lebensphase“ von der Höchstmaßnahme abzusehen. Wegen des Vorliegens weiterer Milderungsgründe sieht das Gericht die Zurückstufung um lediglich eine Stufe in das Amt einer Polizeiobermeisterin (Besoldungsgruppe A8) als ausreichend, aber auch erforderlich an.
80
Die Beklagte ist mit Ausnahme der hier gegenständlichen Vorwürfe nicht straf- und disziplinarrechtlich vorbelastet. Ihre dienstlichen Leistungen sind ausweislich der Beurteilung aus dem Jahr 2014 (9 Punkte) und dem Persönlichkeitsbild vom 20. Juni 2016 ordentlich.
81
Sie ist geständig und bedauert die Taten.
82
Hinzu kommt hier die lange Verfahrensdauer, die von der Einleitung des Disziplinarverfahrens im Juni 2016 bis heute mehr als 6 Jahre beträgt. Diese ist (nochmals) mildernd zugunsten der Beklagten zu berücksichtigen. Angesichts des Umstands, dass die Beklagte schon am 20. September 2016 vom Dienst suspendiert wurde, liegt es auf der Hand, dass die mit dem Disziplinarverfahren verbundenen beruflichen und wirtschaftlichen Nachteile zu einer erheblichen Belastung der über ihre berufliche und wirtschaftliche Existenz im Ungewissen lebenden Beamtin geführt und auf sie eingewirkt haben (BVerwG, U.v. 10.12.2015 - 2 C 50/13 - juris Rn. 44).
83
4.4.5.Bei der ausgesprochenen Disziplinarmaßnahme verkennt das Gericht nicht das Gewicht des von der Beklagten begangenen Dienstvergehens mit einem Verstoß im Kernbereich ihrer Dienstpflichten. Wegen der überwundenen schwierigen Lebensphase ist jedoch eine Wiederholungsgefahr zu verneinen und eine Zurückstufung um eine Stufe unter Absehen von der Höchstmaßnahme als ausreichend zu erachten.
84
5. Die Kostenentscheidung beruht auf Art. 72 Abs. 1 Satz 1 BayDG. Die Beklagte, gegen die im Verfahren der Disziplinarklage auf eine Disziplinarmaßnahme erkannt wurde, trägt die Kosten des Verfahrens.