Inhalt

VG München, Urteil v. 24.06.2022 – M 28 K 21.30001
Titel:

Asylverfahren (Herkunftsland, Türkei), Vorfluchtgrund/Rückkehrbefürchtung nicht ausreichend glaubhaft gemacht (Verfolgung wegen Verstecken eines Mitglieds der DHKP-C im Jahr 2010)

Normenketten:
AsylG § 3
AsylG § 4
AufenthG § 60 Abs. 5
AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
Schlagworte:
Asylverfahren (Herkunftsland, Türkei), Vorfluchtgrund/Rückkehrbefürchtung nicht ausreichend glaubhaft gemacht (Verfolgung wegen Verstecken eines Mitglieds der DHKP-C im Jahr 2010)
Fundstelle:
BeckRS 2022, 27682

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger ist nach eigenen Angaben türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit alevitischen Glaubens. Er reiste nach seiner Darstellung Ende des Jahres 2013 aus der Türkei aus, habe sich dann mehrere Jahre in Moldawien und der Ukraine aufgehalten und sei im Januar 2020 auf dem Landweg in das Bundesgebiet eingereist. Am 20. Januar 2020 meldete sich der Kläger als Asylsuchender, sein förmlicher Asylantrag wurde am 27. Februar 2020 aufgenommen.
2
Am ... Dezember 2020 wurde der Kläger durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zu seinem Asylbegehren angehört. Dabei gab der Kläger im Kern an: Ein Verwandter, nachfolgend: „M.C.“, sei vom türkischen Staat wegen Mitgliedschaft in der DHKP-C gesucht worden. Der Kläger habe ihn in seiner Wohnung im Jahr 2010 rund zwei Monate versteckt, bis es gelungen sei, „M.C.“ für einen Asylantrag in die Schweiz zu bringen. „M.C.“ sei in der Schweiz asylberechtigt. Danach habe es ständig Razzien gegeben, die Wohnung sei observiert worden, der Kläger sei auch mehrfach von der Polizei für ein paar Stunden festgenommen worden. Dann hätten 2010 Gerichtsverhandlungen begonnen, die über all die Jahre immer weiter fortgesetzt worden seien, wobei der Kläger Angst gehabt habe, dass einer der Angeklagten den Namen des Klägers als Unterstützer von „M.C.“ benenne. Durch diese Situation sei die Familie des Klägers zerbrochen. Der Sohn K.. … des Klägers sei anders als der Kläger und dessen Sohn A.... zunächst in der Türkei verblieben und ständig befragt worden, er sei dann im August 2019 aus der Türkei ausgereist und habe ebenfalls im Bundesgebiet Asylantrag gestellt. Ein weiterer Grund für die Asylantragstellung sei, dass der Kläger Alevite sei und Aleviten in der Türkei bei der Glaubensausübung unterdrückt werden würden. Der Kläger hätte in der Schweiz wie „M.C.“ sofort Asyl bekommen können, wegen seiner hier lebenden Familienangehörigen sei er aber nach Deutschland gekommen. Mit „M.C.“ stehe er aber von Deutschland aus ständig in Kontakt. Für den Fall der Rückkehr in die Türkei befürchte der Kläger vor allem, dass sich in den Gerichtsprozessen herausstelle, dass er den „M.C.“ versteckt habe und dass ihm deshalb dann selbst eine hohe Strafe drohe. Auf Vorhalt des BAMF räumte der Kläger in der Anhörung ein, dass er bei seiner Erstbefragung einen anderen, unwahren Asylgrund angegeben habe.
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Mit Bescheid des BAMF vom 17. Dezember 2020 wurden die Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1.) und der subsidiäre Schutzstatus (Ziffer 3.) nicht zuerkannt, wurde der Antrag auf Asylanerkennung (Ziffer 2.) abgelehnt sowie festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 4.). Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung (im Fall der Klageerhebung nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens) zu verlassen, anderenfalls würde er in die Türkei oder in einen anderen Staat, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet sei, abgeschoben (Ziffer 5.). In Ziffer 6. des Bescheids wurde ein Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Zur Begründung wurde im Kern ausgeführt: Es gebe ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Angaben des Antragstellers. Es gebe Widersprüche zwischen seinen Angaben bei der Erstbefragung und bei der Anhörung. Der Antragsteller habe auch eingeräumt, zunächst aus asyltaktischen Gründen nicht korrekte Angaben gemacht zu haben. Dies habe die Glaubwürdigkeit des Antragstellers beschädigt. Selbst bei Wahrunterstellung seiner Angaben in der Anhörung bleibe der Asylantrag aber erfolglos. Er berufe sich auf Geschehnisse, die auf das Jahr 2010 zurückgingen und habe danach noch zwei Jahre in der Türkei verbracht. Er sei zwar danach noch von der Polizei befragt worden, dieses Vorgehen habe aber keinen Verfolgungscharakter. Dem Sohn des Antragstellers, der länger in der Türkei verblieben sei, sei auch nichts mehr zugestoßen. Auch sei auf Grund der vergangenen Zeit zwischen dem Verstecken des Cousins und der Asylantragstellung in Deutschland nicht mehr davon auszugehen, dass dem Antragsteller in der Türkei derzeit oder künftig Verfolgung drohe. Auch die Zugehörigkeit zur Religion der Aleviten könne den Asylantrag nicht begründen, eine konkrete Verfolgung sei nicht geltend gemacht, eine Gruppenverfolgung sei nicht anzunehmen. Gleiches gelte für die kurdische Volkszugehörigkeit des Antragstellers. Schließlich ergebe sich auch aus der Asylantragstellung im Bundesgebiet kein Schutzanspruch. Abschiebungsverbote wurden unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen, sozialen und humanitären Situation in der Türkei geprüft, aber verneint. Ebenso wurde ein krankheitsbezogenes Abschiebungsverbot auf Grund eine Herzoperation des Antragstellers geprüft, aber verneint. Dem Bundesamt lag dabei ein Attest eines Klinikums in Garmisch-Partenkirchen vom 27. Oktober 2020 vor. Der Bescheid wurde dem Kläger am 29. Dezember 2020 zugestellt.
4
Am 4. Januar 2021 erhob der Kläger gegen diesen Bescheid Klage zum Verwaltungsgericht München (M 1 K 21. …..). Beantragt wurde mit Schriftsatz vom 14. Januar 2021,
5
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 17. Dezember 2020 zu verpflichten, den Kläger als Flüchtling gemäß § 3 AsylG anzuerkennen, hilfsweise, dem Kläger subsidiären Schutz gemäß § 4 AsylG zu gewähren „bzw.“ festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegt.
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Zur Begründung wurde auf die Angaben des Klägers gegenüber dem BAMF verwiesen. Mit Schriftsatz vom 10. Februar 2021 wurde erneut das vom BAMF bereits im streitgegenständlichen Bescheid gewürdigte Attest vorgelegt.
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Die Beklagte beantragte mit Schriftsatz vom 12. Februar 2021,
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die Klage abzuweisen,
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bezog sich auf die angefochtene Entscheidung und gab verschiedene prozessuale Erklärungen ab.
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Zum 1. Januar 2022 wurde das Verfahren der 28. Kammer zur Bearbeitung zugewiesen (M 28 K 21.30001).
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Mit Beschluss vom 5. April 2022 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
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Am 24. Juni 2022 fand eine mündliche Verhandlung statt, in der von den Beteiligten niemand erschienen ist.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die vorgelegte Behördenakte verwiesen.

Entscheidungsgründe

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In der Verwaltungsstreitsache konnte auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 24. Juni 2022 entschieden werden, obwohl von den ordnungsgemäß geladenen Beteiligten niemand erschienen ist (§ 102 Abs. 2 VwGO).
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Die Klage ist zulässig, aber in den Haupt- und Hilfsanträgen nicht begründet.
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Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheids zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft oder den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen oder zu seinen Gunsten das Vorliegen der Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen. Auch hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung (Ziffer 5. des Bescheids) und der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots (Ziffer 6. des Bescheids) bestehen seitens des Gerichts keine Zweifel. Das BAMF hat den Asylantrag des Klägers zu Recht vollumfänglich abgelehnt (§ 113 Abs. 5 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Zur Begründung wird zunächst auf die Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid verwiesen (§ 77 Abs. 2 AsylG).
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Ergänzend bleibt auszuführen:
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Der Einzelrichter konnte unter Berücksichtigung der Dokumentation der Anhörung des Klägers vor dem BAMF jedenfalls nicht die erforderliche volle Überzeugung davon gewinnen, dass die Angaben des Klägers zu den Gründen seiner Ausreise aus der Türkei und die daraus hergeleiteten Befürchtungen für den Fall der Rückkehr in die Türkei der Wahrheit entsprechen.
20
Der Einzelrichter muss im Asylverfahren sowohl von der Wahrheit - und nicht nur von der Wahrscheinlichkeit - des vom Asylsuchenden behaupteten individuellen Schicksals als auch von der Richtigkeit der Prognose drohender Verfolgung bzw. Gefährdung die volle Überzeugung gewinnen. Dabei obliegt es der Klagepartei, die Gründe für ihr Asylbegehren in schlüssiger Form vorzutragen. Sie hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich ergibt, dass bei verständiger Würdigung des Einzelfalles die Furcht vor Verfolgung begründet und es ihr nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich Asylsuchende insbesondere im Hinblick auf asylbegründende Vorgänge im Herkunftsland vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel die Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings - unter Berücksichtigung des Herkommens, Bildungsstandes und Alters des Asylsuchenden und deshalb möglicher, insbesondere sprachlicher Schwierigkeiten, die eigenen Belange dem Gericht überzeugend und „farbig“ darzustellen - ein detaillierter, in sich schlüssiger und überzeugender Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
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Gemessen hieran in festzustellen:
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Der Kläger machte in seiner Anhörung vor dem BAMF im Hinblick auf die zeitliche Entwicklung und den Inhalt seines Vortrags einen vergleichsweise ungewöhnlichen Sachverhalt geltend. Dies betrifft etwa den bis in das Jahr 2010 zurückreichenden Anlass für seinen Asylantrag, den langjährigen Aufenthalt des Klägers in Drittstaaten, die behauptete Tatsache, dass eine Person, die über umfassende Informationen zu dem behaupteten Asylgrund verfügen müsste, mit dem Kläger fortlaufend in Kontakt stehen und in der Schweiz als Asylberechtigter anerkannt sein soll und schließlich die Tatsache, dass ein Sohn des Klägers - allerdings deutlich später als dieser - wegen des behaupteten Asylgrund inzwischen ebenfalls im Bundesgebiet Asylantrag gestellt hat.
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Vor diesem Hintergrund erstaunte nicht nur, dass der Kläger in seiner Anhörung vor dem BAMF zum Kern seines Asylgrundes eher vage und unstrukturierte Angaben machte, statt einer schlüssigen Darstellung von Hintergründen und Zusammenhängen eher Behauptungen aufstellte, dass einige seiner Angaben übertrieben wirkten (etwa: „Wäre ich in die Schweiz gegangen, hätte ich auf jeden Fall Asyl bekommen“; ich „würde zu zehntausend Jahren Haft verurteilt werden“) und dass der Kläger sich trotz des Zeitablaufs zwischen seiner Einreise und der Anhörung vor dem BAMF nicht darum bemühte, seinen Asylgrund trotz der behaupteten Möglichkeiten hierzu (vgl. Seite 9 der Niederschrift des BAMF: „Wenn Sie die Aussagen [von „M.C.“] kriegen, werden Sie alles verstehen“) nicht erkennbar darum bemühte, seine eigene Darstellung durch objektive Belege oder nachvollziehbare und glaubhafte Angaben Dritter ergänzend glaubhaft zu machen. Auch im vorbereitenden gerichtlichen Verfahren wurde der Vortrag des - anwaltlich vertretenen - Klägers vor dem BAMF in keiner Weise ergänzt, eine inhaltlich seinen Vortrag ergänzende Klagebegründung erfolgte nicht.
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Die Möglichkeit zu einer Aufklärung dieser Aspekte, zu weiterer Glaubhaftmachung und ggf. ergänzender Darstellung seines Vorbringens in der mündlichen Verhandlung vor Gericht nahm der Kläger ohne Angabe von Gründen nicht wahr. Deshalb blieben für das Gericht zu viele Fragen offen, als dass der Einzelrichter von einem glaubhaften und überzeugenden Gesamtsachverhalt ausgehen könnte. Dies betrifft etwa die Fragen, warum trotz des vermeintlich fortwährenden Kontakts des Klägers zu „M.C.“ in der Schweiz von Seiten „M.C.“ nach wie vor keine Informationen in das Asylverfahren eingebracht wurden, warum der Kläger trotz Beginn der ihn vermeintlich gefährdenden Gerichtsprozesse im Jahr 2010 erst im Jahr 2013 aus der Türkei ausgereist sei, wie es möglich sein soll, dass die behaupteten - und gegen wen und wegen welchem Sachverhalt überhaupt geführten? - Gerichtsprozesse in der Türkei nach über 10 Jahren noch nicht abgeschlossen sein sollen, und weitere Fragen.
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Die (gerichtskostenfreie, § 83 b AsylG) Klage war deshalb abzuweisen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m.§§ 708 Nr. 11, 711 Satz 1 ZPO.