Titel:
Unzulässigkeitsentscheidung wegen Gewährung internationalen Schutzes in einem anderen Mitgliedstaat – Rückkehr im Familienverband (hier: Italien)
Normenketten:
EMRK Art. 3
GRCh Art. 4
Dublin III-VO Art. 2 lit. g
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, § 78 Abs. 6
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
VwGO § 132 Abs. 2 Nr. 1, § 134 Abs. 2 S. 1
Leitsätze:
1. Einem arbeitsfähigen, anerkannten Flüchtling bzw. Schutzberechtigten als solchem droht bei einer alleinigen Rückkehr nach Italien aufgrund der ihn dort erwartenden Lebensverhältnisse unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen keine ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung. (Rn. 32 – 51) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es ist höchstrichterlich zu klären, unter welchen Prämissen die Rspr. des BVerwG (s. BVerwG BeckRS 2019, 18363) zur realistischen Rückkehrperspektive bei Prüfung der einem Ausländer bei Abschiebung in den Herkunftsstaat drohenden Gefahren iSv § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG auf sogenannte Drittstaatenfälle zu übertragen ist. (Rn. 52 – 82) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asyl (Somalia), Unzulässigkeitsentscheidung wegen Gewährung internationalen Schutzes in einem anderen Mitgliedstaat (hier: Italien), Rückkehrprognose bei erst in Deutschland gegründeter familiärer Lebensgemeinschaft, Übertragung der Rechtsprechung des BVerwG (U.v. 4.7.2019, 1 C 49/18) auf Drittstaaten-Konstellationen, Zulassung der Sprungrevision, Unzulässigkeitsentscheidung, anerkannter Flüchtling, Rückkehrperspektive, gemeinsame Rückkehrprognose, Familienverband, Drittstaatenfälle, Gefahrenprognose, Unterbringungssystem, vulnerable Personen, italienisches Asylsystem
Fundstelle:
BeckRS 2022, 26166
Tenor
I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 22. Februar 2018 wird in Nr. 4 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, über die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Sprungrevision wird zugelassen.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich gegen einen Bescheid der Beklagten, mit dem sein Asylantrag auf Grundlage des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt und ihm die Abschiebung nach Italien angedroht wurde (sog. Drittstaatenbescheid).
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Der Kläger, eigenen Angaben zufolge ein in Mogadischu geborener somalischer Staatsangehöriger, reiste nach seinen Angaben am 28. Januar 2016 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 11. Juli 2016 einen Asylantrag.
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Auf ein Wiederaufnahmeersuchen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) teilte das italienische Innenministerium mit Schreiben vom 31. März 2016 mit, dass der Kläger in Italien internationalen Schutz und eine Aufenthaltserlaubnis wegen subsidiären Schutzes erhalten habe.
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Im Rahmen des behördlichen Verfahrens gab der Kläger gegenüber dem Bundesamt an, er habe Somalia im Mai 2010 verlassen und sei noch im gleichen Jahr nach Italien eingereist. Dort habe er seine Fingerabdrücke abgegeben und eine Art ID-Card für 3 Jahre erhalten. Danach befragt, ob er in Italien einen Asylantrag gestellt habe, machte der Kläger unterschiedliche Angaben. Bei seiner Anhörung am 3. Januar 2017 erklärte er, er sei sich ziemlich sicher, dass er in Italien keinen Asylantrag gestellt habe. Zugleich gab er im weiteren Verlauf dieser Anhörung an, dass er die vorgetragenen Fluchtgründe auch bei seinen Anhörungen in Italien und Finnland so vorgetragen habe („in Finnland nicht so ausführlich, in Italien aber schon“). Weiter gab der Kläger an, er habe sich zweieinhalb Jahre in Lampedusa aufgehalten. Dann sei er nach Stockholm geflogen und von dort nach Helsinki gereist. In Finnland habe er einen Asylantrag gestellt und sich dort 2 Jahre aufgehalten, bevor er weiter nach Deutschland gereist sei. Der Asylantrag in Finnland sei negativ beschieden worden; auch in Italien habe er nichts bekommen. Unterlagen dazu könne er nicht vorlegen. Zu seinem Aufenthalt in Italien trug der Kläger näher vor, dass er bei seiner Ankunft in Italien 16 Jahre alt gewesen sei. Bis zu seinem 18. Lebensjahr habe er eine Unterkunft zur Verfügung gestellt bekommen, mit 18 Jahren habe er diese jedoch verlassen müssen. Er habe dann von der Caritas Essen bekommen. Weiter gab der Kläger an, in Italien keine Ausbildung und keinen Job bekommen zu haben, da er auch keine Wohnung gehabt habe. Er habe gehört, dass man in Deutschland besser an eine Ausbildung komme, deshalb sei sein Ziel dann Deutschland gewesen. Der Kläger trug weiter vor, dass er mit seiner traditionell angetrauten Ehefrau in Deutschland lebe und sie ein gemeinsames Kind hätten. Hierzu legte er im behördlichen Verfahren eine Geburtsurkunde vor.
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Unter dem 22. März 2017 erließ das Bundesamt einen ersten Drittstaatenbescheid gegenüber dem Kläger. Nachdem der Kläger hiergegen Klage erhoben und um vorläufigen Rechtsschutz ersucht hatte, ordnete das Verwaltungsgericht München mit Beschluss vom 12. Juni 2017 (M 11 S 17.36561) die aufschiebende Wirkung der Klage an. Hintergrund der damaligen Entscheidung war, dass die Auskunft der italienischen Behörden zum damaligen Zeitpunkt in einer dem Gericht nicht vorgelegten Referenzakte abgelegt und auch nach gerichtlicher Anforderung seitens des Bundesamts nicht vorgelegt worden war.
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In der Folge hob das Bundesamt den Bescheid vom 8. Mai 2017 auf und führte das Verfahren gemäß § 37 AsylG fort. Das damalige Klageverfahren (M 11 K 17.36560) wurde nach übereinstimmender Erledigungserklärung der Beteiligten eingestellt.
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Mit Bescheid vom 22. Februar 2018, dem Kläger zugestellt am 22. März 2018, wurde der Asylantrag erneut als unzulässig abgelehnt (Nr. 1) und festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2). Dem Kläger wurde die Abschiebung unter Setzung einer Ausreisefrist von 30 Tagen nach Bekanntgabe des Bescheids bzw. unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens zuvorderst nach Italien angedroht, wobei eine Abschiebung nach Somalia ausgeschlossen wurde (Nr. 3). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gem. § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4). In den Gründen des Bescheids wurde ausgeführt, der Asylantrag sei gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig, da dem Kläger in Italien bereits internationaler Schutz gewährt worden sei. Abschiebungsverbote lägen nicht vor. Auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände des Klägers sei angesichts der humanitären Bedingungen in Italien die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung des Art. 3 EMRK nicht beachtlich. Der Kläger gehöre nicht zu einem vulnerablen Personenkreis, sondern zur Gruppe der erwerbsfähigen jungen Männer, bei denen davon auszugehen sei, dass sie zumindest das erforderliche Existenzminimum erlangen könnten. Soweit der Kläger angegeben habe, dass seine Frau und sein Kind in Deutschland leben würden, sei die Familienbindung erst in Deutschland entstanden. Es lägen keine schriftlichen Nachweise im Sinne einer Heiratsurkunde oder Vaterschaftsanerkennung vor. Sofern sich ergebe, dass der Kläger das elterliche Sorgerecht für sein Kind in Deutschland ausübe, könne in einer Trennung des Klägers von seinem Kind ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis zu sehen sein, das allein von der Ausländerbehörde und nicht seitens des Bundesamts im Rahmen des Asylverfahrens zu berücksichtigen sei. Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 30 Monate sei angemessen, die geltend gemachte Familienbindung führe nicht zu einer Fristreduzierung. Unter Lebenspartnern im Sinne des § 26 Abs. 1 AsylG seien Personen zu verstehen, die bereits im Land der Verfolgung eine auf Lebenszeit angelegte Partnerschaft eingegangen seien. Auch gem. Art. 2 Buchst. g) Dublin III-VO würden als Ehegatten und Lebensgefährten die Personen definiert, deren Familienbindung bereits im Herkunftsland bestanden habe. Vorliegend sei die Familienbindung jedoch erst in Deutschland entstanden. Eine Heiratsurkunde oder ein anderweitiger geeigneter Nachweis einer Ehe/ Lebenspartnerschaft seien weder vom Kläger noch der angeblichen Ehefrau vorgelegt worden. Der Hinweis auf die Vaterschaft in der Geburtsurkunde werde als nicht ausreichend für die Vaterschaftsvermutung angesehen, da die Vaterschaft erst gemäß § 1592 Nr. 2 BGB nachzuweisen sei. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt des Bescheids verwiesen.
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Der Kläger hat durch seine damalige Bevollmächtigte am 29. März 2018 Klage zum Verwaltungsgericht München erhoben und beantragt,
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den Bescheid der Beklagten vom 22. Februar 2018 aufzuheben.
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Zur Begründung der Klage wurde zunächst die Vorgeschichte näher ausgeführt und vorgetragen, dass aus dem Bescheid vom 22. Februar 2018 nicht hervorgehe, dass neue Erkenntnisse hinsichtlich einer Schutzgewährung in Italien vorliegen würden. Der Bescheid sei unwirksam und das Asylverfahren gemäß § 37 Asylgesetz fortzuführen.
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Nachdem das Gericht auf die - umstrittene - Frage der Übertragung der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. Juli 2019 (1 C 45/18) auf sog. Drittstaats-Konstellationen hingewiesen hatte, trug die Klagepartei mit Schriftsatz vom 22. April 2021 zur Familiensituation des Klägers vor, dass der Kläger mit seiner Frau und drei gemeinsamen Kindern zusammenlebe. Die Frau des Klägers sei erneut schwanger und zwingend auf die Hilfe des Klägers angewiesen. Der Kläger habe die Vaterschaft für seine Kinder anerkannt. Eine gemeinsame Sorgerechtserklärung habe bislang nicht abgegeben werden können, weil sich die Termine wegen der Covid 19- Pandemie verschoben hätten. Die Abschiebung des Klägers nach Italien sei rechtswidrig. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts habe das Bundesamt jedenfalls bei der Abschiebung von Familien mit Kleinstkindern bis zum Alter von 3 Jahren nach Italien angesichts der hochrangigen Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 6 Abs. 1 GG sowie des bei der Durchführung von Überstellungen vorrangig zu beachtenden Grundsatzes der Einheit der Familie und der Gewährleistung des Kindeswohls in Abstimmung mit den Behörden des Zielstaats sicherzustellen, dass die Familie dort eine gesicherte Unterkunft erhalte, um erhebliche konkrete Gesundheitsgefahren für die in besonderem Maße auf ihre Eltern angewiesenen Kinder auszuschließen. Vorliegend sei nicht sichergestellt, dass der Kläger und dessen Familie in Italien eine Unterkunft erhalten würden. Eine individuelle Zusicherung Italiens liege nicht vor. Zwar werde im angefochtenen Bescheid nur die Abschiebung des Klägers nach Italien angedroht, allerdings sei davon auszugehen, dass der Kläger die Bundesrepublik nicht alleine verlasse. Gerade weil seine Kinder noch so klein seien und der Kläger bald ein weiteres Baby erwarte, sei nicht davon auszugehen, dass die schutzberechtigte Frau und die Kinder des Klägers allein in der Bundesrepublik bleiben würden. Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. Juli 2019 sei auf den vorliegenden Fall entsprechend anwendbar, weil dem Kläger und seiner Familie nach einer gemeinsamen Rückkehr nach Italien vergleichbare Gefahren drohen würden, wie bei einer Rückkehr in deren Heimatland. Nach der Erkenntnislage sei davon auszugehen, dass der Kläger und dessen Familie nach einer Einreise mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zunächst keine Unterkunft und keinen Zugang zu sozialen und medizinischen Leistungen hätten. Die Familie mit bald vier Kleinstkindern, von denen eines bereits jetzt auf physiotherapeutische Behandlungen angewiesen sei, sei aber auf diesen Zugang zwingend angewiesen. Damit bestehe eine ernsthafte Gefahr, dass dem Kläger eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung in Italien widerfahren werde.
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Mit Schriftsatz vom 29. April 2021 beantragte das Bundesamt für die Beklagte,
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die aktuelle Rechtsprechung den streitgegenständlichen Bescheid stütze. Insoweit wurde u.a. auf das Urteil des EGMR vom 23. März 2021 (Az. 46595/19 - M.T) verwiesen, wonach die Rückführung einer alleinerziehenden Mutter mit 2 kleinen Kindern nach Italien zulässig sei. Im Übrigen wurde auf die Begründung des angefochtenen Bescheids Bezug genommen.
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Die Klagepartei trug daraufhin mit Schriftsatz vom 3. Mai 2021 vor, dass sich die zitierte Entscheidung des EGMR auf vulnerable Personengruppen beziehe, denen in Italien vorrangig der Zugang zu staatlicher Unterkunft gewährt werde. Familien mit Kindern würden in der Entscheidung nicht als vulnerable Personengruppe aufgezählt. Daraus sei zu schließen, dass dem Kläger und seiner Familie im Falle einer gemeinsamen Rückkehr nach Italien bei der Vergabe von Unterkunftsplätzen kein Vorrang gewährt werde. Dies werde auch bestritten. Es sei vielmehr damit zu rechnen, dass dem Kläger eine Unterkunft verwehrt werde, weil er Italien ohne Ankündigung verlassen habe. Selbst wenn ein Antrag auf Aufnahme in einer Unterkunft bewilligt werde, sei aufgrund bestehender Kapazitätsengpässe nicht gesichert, dass der Kläger auch einen Platz erhalte. Er müsse dann jeden Monat erneut einen Platz in einer Unterkunft beantragen. Bis dahin hätten der Kläger und seine Familie keine Unterkunft. Ohne Unterkunft bestehe auch kein Zugang zu Essen. Dies bedeute, dass der Kläger und dessen Familie alsbald nach einer Rückkehr nach Italien einer konkreten Lebensgefahr ausgesetzt seien.
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Mit Schreiben vom 5. September 2021 wiederholte das Bundesamt, dass eine Rückführung Schutzberechtigter nach Italien keine Verletzung des Art. 3 EMRK darstelle, da die Lebensbedingungen von Personen mit zuerkanntem Schutzstatus in Italien grundsätzlich ausreichend seien. Diesbezüglich wurde im Wesentlichen auf die jüngere Rechtsprechung des EuGH Bezug genommen. Im Rahmen der Prüfung des Art. 3 EMRK sei lediglich darauf abzustellen, ob dem Kläger aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls in Italien eine erniedrigende oder unmenschliche Behandlung drohe. Hiervon sei nicht auszugehen. Nach den Erkenntnissen des Bundesamts stellte sich die Situation von Schutzberechtigten in Italien im Vergleich zu früheren Jahren deutlich besser dar, was im Einzelnen näher ausgeführt wurde. Zusammenfassend wurde festgestellt, dass sich aus den Erkenntnismitteln weder systemische Mängel noch eine Knappheit an Unterkunftsplätzen für anerkannte Schutzberechtigte in Italien ergeben würden. Gerade vor diesem Hintergrund lasse sich nicht stichhaltig prognostizieren, dass es einem jungen gesunden, erwerbsfähigen Mann misslingen werde, sich zumindest mit Gelegenheitsarbeiten eine ausreichende Existenzgrundlage zu schaffen.
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Das Gericht hat die Behördenakte der Lebensgefährtin des Klägers - Frau A. - beigezogen. Frau A. und dem am 21. Oktober 2016 geborenen Kind wurde demnach mit Bescheid der Beklagten vom 30. März 2017 subsidiärer Schutz gewährt. Nach Aktenlage gab Frau A. dabei im Rahmen ihres Asylverfahrens an, den Kläger am 20. Januar 2015 in Deutschland geheiratet und ihn auch erst hier kennen gelernt zu haben. Zugleich erklärte sie, am 3. Dezember 2015 ins Bundesgebiet eingereist zu sein. Weiter gab Frau A. an, sich nach ihrer Einreise nach Europa in Italien lediglich eine Woche aufgehalten und dort keinen Asylantrag gestellt zu haben.
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In der mündlichen Verhandlung am 18. August 2022 legte der Kläger vier Sorgerechtserklärungen für seine am 21. Oktober 2016, 18. November 2018, 22. Februar 2020 und 30. Juni 2021 in der Bundesrepublik geborenen Kinder vor.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten in diesem Verfahren, die beigezogene Behördenakte der Lebensgefährtin des Klägers (Az. …*) sowie auf die Niederschrift der mündlichen Verhandlung Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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I. Das Gericht konnte den Rechtsstreit trotz Ausbleibens der Beklagtenseite verhandeln und entscheiden, da die Beklagte ordnungsgemäß geladen und in der Ladung darauf hingewiesen wurde, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).
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II. Die Klage ist überwiegend unbegründet.
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Im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG) ist die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig (Ziff. 1), die Feststellung des Nichtvorliegens von Abschiebungsverboten (Ziff. 2) rechtlich nicht zu beanstanden. Auch die Abschiebungsandrohung (Ziff. 3) verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Allerdings war die Beklagte zu verpflichten, über Ziff. 4 des Bescheids unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 VwGO).
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1. Das Bundesamt hat den Asylantrag des Klägers zu Recht als unzulässig abgelehnt.
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Gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt, da Italien dem Kläger internationalen Schutz in Gestalt des subsidiären Schutzes gewährt hat.
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Dies ergibt sich aus dem Schreiben des italienischen Innenministeriums vom 31. März 2016 (Bl. 133 f. der Behördenakte), wonach der Kläger in Italien internationalen Schutz („international protection“) und eine Aufenthaltserlaubnis wegen subsidiären Schutzes („a permit of stay for subsidiary protection“) erhalten habe. Bestätigt wird dies durch die Angaben des Klägers im behördlichen und gerichtlichen Verfahren. Anhaltspunkte dafür, dass dem Kläger der internationale Schutz in Italien mittlerweile entzogen wurde oder dieser erloschen ist, sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Der Schutzstatus wird unbefristet gewährt und bleibt unabhängig vom Aufenthaltsort bis zu einer förmlichen Beendigung bestehen (vgl. Art. 19 QualifikationsRL). Der bloße Ablauf einer ausländerrechtlichen Aufenthaltsbescheinigung ist insoweit unerheblich (vgl. etwa VG Berlin, U.v. 7.4.22 - 28 K 626.18 A - juris; OVG RhPf, U.v. 15.12.2020 - 7 A 11038/18 - juris Rn. 30; VG Karlsruhe, U.v. 14.9.2020 - A 9 K 3639/18 - juris Rn. 64).
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2. Die Anwendung des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist vorliegend auch nicht aus Gründen vorrangigen Unionsrechts ausgeschlossen.
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2.1 Dies ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) nur der Fall, wenn die Lebensverhältnisse, die den Kläger als anerkannten Schutzberechtigten in dem anderen Mitgliedstaat erwarten, ihn der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Grundrechtscharta (GRCh) bzw. Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) aussetzen würden (vgl. EuGH, B.v. 13.11.2019 - C-540/17 (Hamed) - juris Rn. 43). Im Rahmen des gemeinsamen europäischen Asylsystems gilt dabei zunächst der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens bzw. die Vermutung, dass die Behandlung der Betroffenen im Einklang mit den Erfordernissen der Genfer Flüchtlingskonvention, der GRCh und der EMRK steht (EuGH, U.v. 19.3. 2019 - C-297/17 (Ibrahim) - juris Rn. 83; U.v. 19.3.2019 - C-163/17 (Jawo) - juris Rn. 80). Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass dieses System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem Mitgliedstaat stößt, so dass ein ernsthaftes Risiko („real risk“) besteht, dass Personen bei einer Überstellung dorthin in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar ist (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-163/17 - juris Rn. 82 f.).
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Eine auf Grund der Lebensumstände drohende konventionswidrige Behandlung ist jedoch nur anzunehmen, wenn eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreicht wird, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt. Diese Schwelle wäre erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-297/17 - juris Rn. 89 ff.; U.v. 19.3.2019 - C-163/17- juris Rn. 91 ff.). Diese Schwelle ist selbst bei durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern diese nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund derer die betreffende Person sich in solch einer schwerwiegenden Situation befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (BVerwG, U.v. 21.4.2020 - 1 C 4719 - juris Rn. 37; EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-297/17 - juris Rn. 89 ff.; U.v. 19.3.2019 - C-163/17 - juris Rn. 91 ff.). In Bezug auf vulnerable Personen kann die Schwelle der Erheblichkeit dabei schneller erreicht sein, als in Bezug auf gesunde und erwerbsfähige erwachsene Personen, hinsichtlich derer die Feststellung, sie seien vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängig und befänden sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not, im Lichte des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens grundsätzlich gesteigerten Anforderungen an die Entkräftung der Vermutung der Vereinbarkeit der Behandlung solcher Personen in dem betreffenden Mitgliedstaat mit den Erfordernissen der GRCh und der EMRK unterliegt (vgl. BVerwG, B.v. 28.3.2022 - 1 B 9.22 - juris Rn. 13; U.v. 7.9.2021 - 1 C 3.21 - juris Rn. 20 und 23; EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-297/17 - juris Rn. 93).
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Der bloße Umstand, dass in dem anderen Mitgliedstaat die Sozialhilfeleistungen und/oder die Lebensverhältnisse ungünstiger sind als in der Bundesrepublik, kann für sich gesehen angesichts der fundamentalen Bedeutung des Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens ebenso wie der fehlende Rückgriff auf familiäre Solidarität keine ausreichende Grundlage für die Feststellung einer Situation extremer materieller Not darstellen (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-163/17 - juris Rn. 93 ff., BVerwG, U.v. 21.4.2020 - 1 C 4/19 - juris Rn. 38). Auch Mängel bei der Durchführung von Programmen zur Integration von Schutzberechtigten reichen für einen Verstoß gegen Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK nicht aus (vgl. EuGH, B.v. 13.11.2019 - C-540 und C-541/17 - juris Rn. 39; U.v. 19.3.2019 - C-163/17 - juris Rn. 93 f. und 96 f).
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Für die Erfüllung der vorbezeichneten Grundbedürfnisse gelten nur an dem Erfordernis der Wahrung der Menschenwürde orientierte Mindestanforderungen. So kann etwa der Umstand, dass der betreffenden Person bezogen auf die Unterkunft ein Schlafplatz in einer von Kirchen, Nichtregierungsorganisationen oder Privatpersonen gestellten Notunterkunft oder in einer staatlich geduldeten „informellen Siedlung“ zur Verfügung steht, genügen (BVerwG, B.v. 28.3.2022 - 1 B 9.22 - juris Rn. 14). In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist zudem geklärt, dass das wirtschaftliche Existenzminimum immer dann gesichert ist, wenn erwerbsfähige Personen durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit oder durch Zuwendungen von dritter Seite (seien es private Dritte, seien es nichtstaatliche Hilfsorganisationen) jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können. Zumutbar sind dabei auch Arbeiten und Tätigkeiten, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs, beispielsweise während der Tourismussaison, ausgeübt werden können. Dies gilt selbst dann, wenn diese Tätigkeiten im Bereich der sog. Schatten- oder Nischenwirtschaft angesiedelt sind (BVerwG, B.v. 28.3.2022 - 1 B 9.22 - juris Rn. 14; U.v. 7.9.2021 - 1 C 3.21 - juris Rn. 23).
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Bei der Gefahrenprognose ist auf den Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit abzustellen (ständige Rspr., vgl. BVerwG, B.v. 28.3.2022 - 1 B 9.22 - juris Rn. 12 a.E.; U.v. 20.5.2020 - 1 C 34/19 - juris Rn. 15; U.v. 17.6.2020 - 1 C 35.19 - juris Rn. 27). Ein ernsthaftes Risiko eines Verstoßes gegen Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK besteht nicht bereits dann, wenn nicht sicher festzustellen ist, ob im Falle einer Rücküberstellung die Befriedigung der bezeichneten Grundbedürfnisse sichergestellt ist, sondern nur für den Fall, dass die Befriedigung der bezeichneten Grundbedürfnisse mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht zu erwarten ist und der Drittstaatsangehörige dadurch Gefahr läuft, erheblich in seiner Gesundheit beeinträchtigt oder in einen menschenunwürdigen Zustand der Verelendung versetzt zu werden.
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2.2 Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs ist nicht anzunehmen, dass dem Kläger als solchem bei einer Rückkehr nach Italien aufgrund der ihn dort erwartenden Lebensverhältnisse unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung droht.
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Das Gericht schließt sich insoweit der Bewertung des umfangreichen aktuellen Erkenntnismaterials in der ganz überwiegenden verwaltungsgerichtlichen und auch obergerichtlichen Rechtsprechung an (vgl. etwa VGH BaWü, U.v. 7.7.2022 - A 4 S 3696/21 - juris Rn. 28; B.v. 8.11.2021 - A 4 S 2850/21; SächsOVG, U.v. 15.3.2022 - 4 A 506/19.A; OVG Greifswald, U.v. 19.1.2022 - 4 LB 135/17 und 4 LB 68/17 - juris; OVG des Saarlandes, 15.2.2022, 2 A 46/21; OVG Koblenz, U.v. 15.12.2020 - 7 A 11038/18; NdsOVG, U.v. 21.12 2018 - 10 LB 201/18; U.v. 6.4.2018 - 10 LB 109/18; VG Bayreuth, U.v. 15.3.2022 - B 7 K 20.30066; VG Würzburg, U.v. 29.1.2021 - W 9 K 20.30260; VG Aachen, U.v. 10.11.2020 - 9 K 6001/17.A; VG Cottbus, U.v. 24.11.2020 - 5 K 122/20.A; VG Karlsruhe, U.v. 14.9.2020 - A 9 K 3639/18 - jew. juris).
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Zuletzt setzte sich u.a. das VG Bayreuth in dem zitierten Urteil vom 15. März 2022 (B 7 K 20.30066 - juris Rn. 41 ff.) sehr ausführlich mit der Situation für anerkannt Schutzberechtigte in Italien auseinander:
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„(1) Anerkannte Flüchtlinge bzw. Schutzberechtigte können in Italien für einen Zeitraum von sechs Monaten in einem sog. SAI-Zentrum (vorher SIPROIMI-Zentren) untergebracht werden, sofern es dort freie Plätze gibt und die Person nicht bereits zuvor in einem System der Zweitaufnahme untergebracht war. Dieses Unterbringungssystem besteht derzeit aus 760 kleineren, dezentralisierten Projekten und ist primär für die Unterbringung für bereits anerkannte Schutzberechtigte und unbegleitete Minderjährige vorgesehen (Aida, Country Report: Italy, 31.12.2020, S. 180 f.) Im Januar 2021 gab es in SAI-Zentren 30.049 Unterkunftsplätze, von denen zum 31. Dezember 2020 25.574 belegt waren (vgl. hierzu Aida, Country Report: Italy, 31.12.2020, S. 182 u. 180).
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Auch Rückkehrern mit einem abgelaufenen Aufenthaltstitel - wie im Fall des hiesigen Klägers - kann dabei eine Unterkunft in einem SAI-Zentrum zugeteilt werden. Jeder Fall eines internationalen Schutztitelinhabers, der sich in einen anderen EU-Staat begeben hatte und dort nochmal Asyl beantragt hat und in der Folge nach Italien rücküberstellt wird, wird vom sog. „Servizio Centrale“ geprüft. Bei der Prüfung durch den Servizio Centrale ist es nicht unbedingt nötig, im Besitz eines gültigen Aufenthaltspapiers zu sein. Wichtig ist vielmehr, dass das Aufenthaltspapier ohne rechtliche Probleme verlängerbar ist. Rückkehrerinnen und Rückkehrer können dabei auch bereits im Vorfeld vor ihrer Rückkehr nach Italien einen Antrag beim Servizio Centrale stellen (vgl. hierzu VG Berlin, U.v. 19.5.2021 - 28 K 84.18 A - juris Rn. 29; ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020, S. 7 f; VG Würzburg, U.v. 5.10.2021 - W 4 K 20.30192 - juris Rn.39).
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Die gesetzlich vorgesehene Aufenthaltsdauer von sechs Monaten in einem SAI-Zentrum kann dabei um sechs weitere Monate verlängert werden, beispielsweise um Integrationsmaßnahmen abzuschließen oder wenn besondere Umstände, wie z.B. gesundheitliche Probleme, vorliegen. Gleiches gilt für vulnerable Personen, zu denen unter anderem unbegleitete Minderjährige, Behinderte, ältere Menschen, schwangere Frauen, Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern, Opfer von Menschenhandel sowie Menschen mit ernsthaften Krankheiten oder psychischen Störungen zählen. Bei schwerwiegenden gesundheitlichen Einschränkungen kann der Aufenthalt im SAI-Zentrum sogar ein zweites Mal um sechs Monate verlängert werden (vgl. hierzu Aida, Country Report: Italy, 31.12.2020, S. 182). In den SAI-Zentren stehen anerkannten Schutzberechtigten spezielle Integrationsmaßnahmen zur Verfügung, bestehend aus Sprachtraining, Vermittlung von Grundkenntnissen zu Rechten und Pflichten, die in der Verfassung der Italienischen Republik verankert sind, Orientierung bezüglich wesentlicher öffentlicher Dienstleistungen sowie Orientierung bezüglich der Arbeitsvermittlung (vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, 10.6.2021, S. 12, Aida, Country Report: Italy, 31.12.2020, S. 183).
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Die Möglichkeit über ein SAI-Zentrum Unterstützung zu erhalten hängt dabei vor allem davon ab, ob und in welchem Umfang ein Schutzberechtigter bereits Leistungen der Sekundärunterbringung in Anspruch genommen hat. Das Recht auf Unterbringung in einem SAI-Zentrum besteht insbesondere dann nicht mehr, wenn einer Person bereits dort untergebracht war oder aber wenn eine Person die ihr vom Servizio-Centrale zugewiesene Unterkunft trotz entsprechender Zuteilung nicht genutzt hat und ihr daher der entsprechende Anspruch entzogen wurde (vgl. hierzu SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, Januar 2020, S. 56; zu den Entzugsgründen im Einzelnen vgl. Aida, Country Report: Italy, 31.12.2020, S. 183).
39
Neben den staatlich finanzierten SAI-Projekten gibt es für anerkannte Schutzberechtigte auch die Möglichkeit eine Sozialwohnung zu beantragen. Ein solcher Antrag ist direkt in der jeweiligen Stadt bzw. Gemeinde zu stellen, wobei die Zugangsvoraussetzungen unterschiedlich geregelt sind. Dabei hat jede Provinz in Italien ein Netzwerk von Sozialdiensten (ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020, S. 9).
40
Anerkannte Flüchtlinge und Schutzberechtigte haben dabei das selbe Recht auf Zugang zu sozialen Wohnraum wie italienische Staatsbürger (vgl. hierzu Aida, Country Report: Italy, 31.12.2020, S. 183 f; ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020, S. 9 f.). In einigen Regionen Italiens erfordert der Zugang zu Sozialwohnungen jedoch einen Mindestaufenthalt im Land, wie z.B. in der Region Friaul - Venezien, wo der Zugang zu Sozialwohnungen auf Personen beschränkt ist, die nachweislich und ununterbrochen fünf Jahre in der Region gewohnt haben. Darüber hinaus ist die Warteliste für derartige Sozialwohnungen vielerorts lang, in Rom beispielsweise beträgt die entsprechende Wartezeit rund sieben Jahre. Zudem muss regelmäßig nachgewiesen werden, dass bereits ein Wohnsitz in der Gemeinde besteht, in der eine Sozialwohnung beantragt wird. Das bedeutet in der Praxis, dass es Personen mit internationalem Schutzstatus regelmäßig sehr schwer fällt, Zugang zu öffentlichem Wohnraum bzw. Sozialwohnungen zu erhalten (vgl. hierzu ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020, S. 9 f.).
41
Neben dem staatlichen Unterbringungssystem bieten auch karitative Einrichtungen, Nichtregierungsorganisationen und einzelne Kirchen Unterkünfte und Schlafmöglichkeiten an, auf die sich Rückkehrer zumindest für eine Übergangszeit verweisen lassen müssen (vgl. VG Bremen, U.v. 30.11.2021 - 6 K 3133/17 - juris m.w.N.). Nicht selten leben Menschen mit internationalem Schutzstatus jedenfalls vorübergehend auch in Notunterkünften, die lediglich einen Platz zum Schlafen anbieten und die nicht speziell für Flüchtlinge gewidmet sind, sondern auch italienischen Staatsbürgern in Notsituationen offenstehen (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 11.11.2020, S. 23). Des Weiteren gibt es in ganz Italien informelle Siedlungen oder besetzte Häuser, in denen Fremde leben, unter ihnen Asylbewerber und Schutzberechtigte. Die Personen, die dort unter prekären Umständen leben, werden von Nichtregierungsorganisationen wie Sant‘Egidio und MEDU unterstützt. Für die Erfüllung der Grundbedürfnisse gelten - gerade bei nichtvulnerablen Personen - nur an dem Erfordernis der Wahrung der Menschenwürde orientierte Mindestanforderungen. So kann der Umstand, dass der betreffenden Person bezogen auf die Unterkunft ein Schlafplatz in einer von Kirchen, Nichtregierungsorganisationen oder Privatpersonen gestellten Notunterkunft oder in einer staatlich geduldeten „informellen Siedlung“ zur Verfügung steht, genügen, sofern die zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten zumindest zeitweise Schutz vor den Unbilden des Wetters bieten und Raum für die notwendigsten Lebensbedürfnisse lassen (BVerwG, B.v. 17.1.2022 - 1 B 66.21 - juris).
42
Letztlich können verfügbare Wohnungen und Unterkunftsmöglichkeiten auf diversen frei zugänglichen Onlineplattformen - auch bereits vom Ausland aus - eruiert werden (vgl. VG Gießen, U.v. 15.9.2021 - 8 K 1520/19.GI.A - juris).
43
Unter Berücksichtigung der vorstehenden Angaben besteht für anerkannte Schutzberechtigte in Italien zwar eine gewisse Gefahr der (vorübergehenden) Obdachlosigkeit (vgl. SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, 10.6.2021, S. 12 f.). Es liegen jedoch keine Erkenntnismittel vor, wonach tatsächlich ein größerer Teil der anerkannten Schutzberechtigten obdachlos ist. Vielmehr ist ein im Verhältnis zu ihrer Gesamtzahl ein eher kleiner Teil der Migranten tatsächlich obdachlos bzw. lebt in besetzten Häusern. Nach Schätzungen der MÈDECINS SANS FRONTIÈRES (= Ärzte ohne Grenzen) gibt es in Italien ungefähr 10.000 obdachlose Menschen (MSF, „OUT of sight“ - Second edition, Stand: 8.2.2018), unter denen sich auch anerkannte Schutzberechtigte befinden. Dass anerkannt Schutzberechtigte damit regelhaft bzw. systematisch der Obdachlosigkeit anheimfallen würden, lässt sich den aktuellen Erkenntnismitteln somit gerade nicht entnehmen, selbst wenn es auch unter diesen immer wieder zu Obdachlosigkeit kommen kann (vgl. hierzu BFA, Länderinformationsblatt - Italien, Stand: 26.2.2019, S. 25 sowie zum Ganzen auch VG Würzburg, U.v. 5.10.2021 - W 4 K 20.30192 - juris).
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(2) Anerkannte Schutzberechtigte haben Zugang zum italienischen Arbeitsmarkt bzw. zu einer Berufsausübung wie italienische Staatsangehörige. Das italienische Asylsystem geht dabei davon aus, dass anerkannte Schutzberechtigte durch eigene Arbeit ihren Lebensunterhalt selbst besorgen. Besondere Bedeutung für die Integration von anerkannten Flüchtlingen bzw. subsidiär Schutzberechtigten in den Arbeitsmarkt kommt dabei den örtlichen Arbeitsämtern sowie den SAI-Zentren zu. Anerkannte Personen können sich bei den örtlichen Arbeitsämtern anmelden und werden nach einer entsprechenden Registrierung über Stellenangebote informiert (ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020, S. 10). Anerkannte Schutzberechtigte haben somit rein rechtlich den gleichen Zugang zum Arbeitsmarkt wie italienische Staatsangehörige. Die Situation für Arbeitssuchende stellt sich in Italien aufgrund der hohen Arbeitslosenzahl generell als schwierig dar. Allerdings erweist sich der italienische Arbeitsmarkt auf regionaler Ebene als sehr heterogen, mit stark industrialisierten Regionen im Norden und solchen im Süden, in denen Tätigkeiten in der Landwirtschaft und im Tourismus überwiegen. Die Erwerbsmöglichkeiten und Arbeitslosenquoten schwanken damit auch regional stark (vgl. auch OVG Koblenz, U.v. 15.12.2020 - 7 A 11038.18 - juris). Weitere tatsächliche Zugangshindernisse zum Arbeitsmarkt stellen häufig fehlende Sprachkenntnisse und eine fehlende Berufsqualifikation bzw. die fehlende Anerkennung von solchen Qualifikationen dar (vgl. ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020, S. 10). Nicht selten finden Schutzberechtigte nur Arbeit auf dem „informellen Arbeitsmarkt“, wo sie häufig ausgebeutet werden (vgl. hierzu etwa SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, 10.6.2021, S. 13). Unabhängig von der insbesondere im Vergleich zur Bundesrepublik schwierigeren Arbeitsmarktsituation in Italien, die sich durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie zunächst deutlich verschlechtert hat, ging die Erwerbslosenquote in Italien zuletzt allerdings wieder zurück und liegt damit aktuell sogar unter den Arbeitslosenquoten in den Jahren 2019 und früher, als die Arbeitslosigkeit in Italien durchgängig (und teilweise deutlich) über 10,0 Prozent lag (vgl. VG Würzburg, U.v. 5.10.2021 - W 4 K 20.30192 - juris m.w.N.). Für Januar 2022 wir die Erwerbslosenquote in Italien beispielsweise mit 8,8% angegeben (vgl. https://www.destatis.de/Europa/DE/Thema/Bevoelkerung-Arbeit-Soziales/Arbeitsmarkt/EU ArbeitsmarktMonat.html). Die Wirtschaft Italiens ist im Jahr 2021 wieder gewachsen, und dies voraussichtlich sogar stärker als zunächst prognostiziert (die Wachstumsprognose für Italien lag bei 5,8 Prozent; vgl. hierzu etwa VG Würzburg, U.v. 5.10.2021 - W 4 K 20.30192 - juris mit Verweis auf Wirtschaftswoche, Italienische Regierung hält 2021 stärkstes Wirtschaftswachstum seit Jahrzehnten für möglich, 5.9.2021). Die wirtschaftliche Lage in Italien stellt sich damit derzeit durchaus als robust dar (vgl. z.B. Augsburger Allgemeine: Warum Italiens Wirtschaft ein überraschendes Comeback feiert, vom 6.11.2021; Süddeutsche Zeitung: Wirtschaftswachstum in Europa: „So etwas gibt es nur einmal im Leben“, vom 11.11.2021; Süddeutsche Zeitung: Italien - Die Methode Draghi, vom 6.1.2022: Das Comeback Italiens), was freilich auch positive Effekte für die Situation auf dem Arbeitsmarkt mit sich bringt (vgl. hierzu auch VG Bayreuth, U.v. 28.1.2022 - B 7 K 21.30265). Zwischen 2020 und 2024 sind dem italienischen Wirtschaftssystem über 2,5 Mio. der gegenwärtig Beschäftigten zu ersetzen (vgl. auch OVG Koblenz, U.v. 15.12.2020 - 7 A 11038.18 - juris). Insbesondere im Handwerk und im Hotel- und Gaststättengewerbe fehlt es an Arbeitskräften. So fehlten im Hotel- und Gaststättengewerbe zuletzt 50.000 Arbeitskräfte (vgl. hierzu etwa VG Würzburg, U.v. 5.10.2021 - W 4 K 20.30192 - juris mit Verweis auf Reuters, Harder to attract staff than visitors at Italy`s tourist hotspots, 29.6.2021; Südtirol-News, Handwerk in Südtirol: Zwischen Tradition und Digitalisierung, 8.4.2021). Auch im Handwerk besteht jedenfalls regional ein erheblicher Bedarf an entsprechenden Fachkräften und Lehrlingen (vgl. hierzu etwa VG Würzburg, U.v. 5.10.2021 - W 4 K 20.30192 - juris mit Verweis auf Eures, Arbeitsmarktinformationen zu Italien nach Regionen, Stand: 11/2020; Nachrichten für Südtirol, Handwerk in Südtirol: Zwischen Tradition und Digitalisierung, 8.4.2021, www.stol.it/artikel/wirtschaft/handwerk-in-suedtirol-zwischen-tradition-und-digitalisierung). Für ungelernte Arbeiterinnen und Arbeiter bleiben zudem in den Bereichen Hausarbeit, Reinigungsgewerbe und insbesondere Landwirtschaft, in dem die Corona-Pandemie sogar zeitweise eine stark erhöhte Nachfrage zur Folge hatte, weil die sonst regelmäßig nach Italien reisenden Saisonarbeiter in Folge der eingeschränkten Mobilität in Europa ausgeblieben sind, auch weiterhin Arbeitsmöglichkeiten (vgl. hierzu VG Würzburg, U.v. 5.10.2021 - W 4 K 20.30192 - juris; Eures, Kurzer Überblick über den Arbeitsmarkt in Italien, Stand: 11/2020). Auch wenn gerade im Bereich der italienischen Landwirtschaft eine nicht unerhebliche Quote an illegal Beschäftigten anzutreffen sein dürfte (vgl. hierzu etwa SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, 10.6.2021, S. 13), so liegen doch keine Erkenntnismittel vor, dass in diesem Bereich auch nur überwiegend allein eine illegale Beschäftigung möglich wäre (vgl. zum Ganzen auch VGH Mannheim, B.v. 8.11.2021 - A 4 S 2850.21 - juris Rn. 12 ff.).
45
(3) Anerkannte Schutzberechtigte haben in Italien zwar keinen Anspruch auf staatliche Sozialhilfe, die mit der in Deutschland gewährten Sozialhilfe vergleichbar wäre (SFH, Aufnahmebedingungen in Italien, 8/2016, S. 52). Einen solchen Anspruch haben aber auch italienische Staatsangehörige nicht. Das italienische Sozialsystem ist insgesamt sehr schwach ausgebildet, was daran liegt, dass es auf die in Italien traditionell starken Familienstrukturen aufsetzt und daher insbesondere keinerlei Nothilfen garantiert (vgl. hierzu BFA, Länderinformation der Staatendokumentation: Italien, 11.11.2020, S. 24 f.). Gleichwohl gibt es seit März 2019 eine Art Grundeinkommen, ein sog. Bürgergeld. Voraussetzung für dessen Bezug ist jedoch, dass man mindestens die letzten zehn Jahre in Italien gewohnt hat, so dass anerkannt Schutzberechtigte diese Voraussetzungen in aller Regel nicht erfüllen (vgl. hierzu ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020 S. 11; BFA, Länderinformation der Staatendokumentation: Italien, 11.11.2020, S. 24). Weiterhin gibt es in Italien einzelne, in den Zuständigkeitsbereich der Regionen oder Kommunen fallende Fürsorgeleistungen, die hinsichtlich ihrer Voraussetzungen, des Empfängerkreises und der Leistungshöhe jedoch stark variieren (Raphaelswerk, 6/2020, S. 14 f.; ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020 S. 11 f.).
46
(4) Hinsichtlich der medizinischen Versorgung haben Anerkannte in Italien die gleichen Rechte und Pflichten wie italienische Staatsbürger, sobald sie beim Nationalen Gesundheitsdienst registriert sind. Die Registrierung gilt für die Dauer der Aufenthaltsberechtigung und erlischt auch nicht in der Verlängerungsphase. Für die Registrierung ist dabei eine gültige Aufenthaltserlaubnis oder ein Nachweis, dass die Verlängerung bzw. Ausstellung angefordert wurde, ein Wohnnachweis oder bei Nichtvorhandensein eine Erklärung zum aktuellen Wohnort sowie eine Steuernummer notwendig (ACCORD, Anfragenbeantwortung zu Italien, 18.9.2020, S. 11). Zwar bestehen für anerkannte Flüchtlinge ohne Aufenthaltsbewilligung und Wohnsitzmeldung Probleme beim Erhalt der Gesundheitskarte, welche umfassende medizinische Leistungen wie kostenlose Arztbesuche und kostenlose Aufenthalte in Krankenhäusern gewährleistet. Im Falle der Zuweisung in eine Zweitaufnahmeeinrichtung bestünde jedoch ein Wohnsitz, so dass die Beantragung der Gesundheitskarte möglich wäre. Im Falle einer Nichtzuweisung könnten zunächst die Adressen von Hilfsorganisationen angegeben werden, welche jedoch nicht von allen Behörden akzeptiert werden. Es gibt jedoch verschiedene Organisationen, welche beim Zugang zur medizinischen Versorgung behilflich sind. Nach der neueren Rechtslage ist die Einschreibung beim Nationalen Gesundheitsdienst auch bereits auf Basis des sog. „domicilio“ garantiert, der üblicherweise im Aufnahmezentrum liegt (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 11.11.2020, S. 20). Unabhängig davon besteht auch für anerkannte Schutzberechtigte bis zur Registrierung im Gesundheitssystem ein Zugang zu medizinischen Basisleistungen und insbesondere zu einer medizinischen Notfallversorgung in öffentlichen Krankenhäusern (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Italien, 11.11.2020, S. 19 u. S. 20).“
47
Ausgehend hiervon betonte das Gericht, dass der Kläger des dortigen Verfahrens als arbeitsfähige Person nicht vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängig sei und er aufgrund seiner Rechte als anerkannter Schutzberechtigter seine Situation durch persönliche Entscheidungen wie die Suche nach einer Erwerbstätigkeit selbst beeinflussen könne. Auch in Bezug auf die Unterbringungssituation in Italien liege keine Situation vor, die zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRCh führe. Die Tatsache, dass der Kläger in Italien erwerbsfähig sei, werde ihm die - wenn auch für eine Übergangszeit möglicherweise schwierige - Suche nach einer Unterkunft erleichtern. Zugute komme ihm dabei, dass er in Deutschland erwerbstätig sei und damit nicht völlig mittellos nach Italien zurückkehren werde. Weiterhin könne der Kläger die Rückkehr nach Italien und insbesondere die Suche nach einer Unterkunft in Italien bereits von Deutschland aus in die Wege leiten. Hervorgehoben wurde ferner, dass die Unterbringung für in Italien anerkannte Schutzberechtigte nicht mit einem bürgerlichen Leben vergleichbar sein müsse, sondern sich (nur) an den dem Erfordernis der Wahrung der Menschenwürde genügenden Mindestanforderungen zu orientieren habe.
48
2.3 Dieser Einschätzung schließt sich das erkennende Gericht in Bezug auf die Person des Klägers auch unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls und der im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt neu hinzugekommenen Erkenntnismittel an.
49
Zwar geht das Gericht nach den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung davon aus, dass dieser in der Vergangenheit bereits in einem Vorgängerprojekt der SAI-Einrichtungen aufgenommen wurde, sodass ihm im nach einer Rückkehr nach Italien kein Unterbringungsanspruch in einem SAI-Zentrum mehr zusteht. Hierfür spricht, dass der Kläger unter Zugrundelegung seiner Angaben als damals unbegleiteter Minderjähriger in Italien bis zum Zeitpunkt seiner Volljährigkeit in verschiedenen Einrichtungen untergebracht wurde, in Italien einen Sprachkurs erhielt und eine Mittelschule besuchte sowie eine Ausbildung zum „Housekeeper“ in einem Hotel absolvierte. Der Umstand, dass die verschiedenen Einrichtungen nach seinen Angaben von der Kirche betreut worden seien, steht dem nicht entgegen. Nach der Erkenntnislage werden auch die staatlichen Einrichtungen in Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Akteuren betrieben (vgl. BFA, Länderinformation der Staatendokumentation Italien, Stand 11.11.2020, S. 22; AIDA, Country Report: Italy, Stand Mai 2022, S. 214).
50
Dessen ungeachtet ist nicht zu erwarten, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Italien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keinerlei Erwerbsmöglichkeiten finden und er dementsprechend unabhängig von seinem Willen verelenden wird. Er lebte nach seinen Angaben bereits 2,5 Jahre in Italien, besuchte dort Sprachkurse und eine Mittelschule, zudem absolvierte er eine Ausbildung in einem Hotelbetrieb. Es handelt sich für den Kläger mithin nicht um ein ihm völlig unbekanntes Land und die dortigen Gepflogenheiten sind ihm bekannt. Sowohl seine Sprachkenntnisse, als auch die Ausbildung zum „Housekeeper“ in Italien wie auch seine Arbeitserfahrung als Lagerhelfer in Deutschland werden es dem Kläger dabei erleichtern, in Italien Arbeit zu finden. Aufgrund seiner Erwerbstätigkeit im Bundesgebiet ist schließlich nicht anzunehmen, dass der Kläger völlig mittellos ist.
51
Soweit das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfahlen (U.v. 20.7.2021 - 11 A 1674/20.A; B.v. 25.11.2021 - 11 A 571/20.A - jew. juris) für die Personengruppe der alleinstehenden und arbeitsfähigen Männer eine andere Auffassung vertritt, vermag das Gericht dem mit Blick auf den Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit und die o.g. strengen Anforderungen an die Feststellung einer „Extremgefahr“ nicht zu folgen (zur dezidierten Gegenauffassung s.a.: VGH BaWü, B.v. 8.11.2021 - A 4 S 2850/21 - juris Rn. 9 ff.). Hervorzuheben bleibt, dass anders als etwa im Falle Griechenlands der Hohe Flüchtlingskommissar zu keinem Zeitpunkt einen Abschiebestopp hinsichtlich Italiens gefordert hat. Schließlich sind etwaige Mängel des italienischen Asyl- und Aufnahmesystems jedenfalls nicht auf staatliche Gleichgültigkeit zurückzuführen (vgl. auch VG Karlsruhe, U.v. 14.9.2020 - A 9 K 3639/18 - juris Rn. 59 ff.) und Betroffene im Übrigen generell auf die Möglichkeit eines etwaigen Nachsuchens um Rechtsschutz bei den italienischen Gerichten zu verweisen (ausführlich: VG Aachen, U.v. 10.11.2020 - 9 K 6001/17.A - juris Rn. 73 ff. m.w.N.). Es ist mitnichten ersichtlich, dass die italienische Gerichtsbarkeit nicht imstande wäre, über die Einhaltung der GRCh und der EMRK zu wachen. So erklärte etwa der Corte costituzionale die durch das sog. Salvini-Dekret geschaffenen Erschwernisse bei der Registrierung für verfassungswidrig (vgl. dazu: SächsOVG, U.v. 15.3.22 - 4 A 506/19.A - juris Rn. 51 m.w.N.; zum erfolgreichen Eilrechtsbehelf eines afghanischen Schutzberechtigten s.a.: AIDA, Country Report: Italy, Stand Mai 2022, S. 192).
52
2.4 Grundlegend anders zu bewerten ist die Rückkehrsituation indes, wenn im Rahmen der Prognoseentscheidung nicht der Kläger allein in den Blick zu nehmen ist, sondern davon auszugehen wäre, dass dieser zusammen mit seiner im Bundesgebiet gegründeten Familie nach Italien zurückkehrt (nachfolgend Ziff. 2.4.1). Nach Auffassung des Gerichts kann die Entscheidung des BVerwG vom 4. Juli 2019 (Az. 1 C 45.18) indes nicht auf die vorliegende Fallkonstellation übertragen werden (nachfolgend Ziff. 2.4.2).
53
2.4.1 Während gesunde und arbeitsfähige Schutzberechtigte - wie eben dargelegt - in Italien grundsätzlich nicht unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen der Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK ausgesetzt werden, kann bei vulnerablen Menschen im Einzelfall anderes gelten. Denn vulnerable Asylantragsteller, zu denen insbesondere Kinder zählen, haben spezielle Bedürfnisse und einen deutlich höheren Versorgungsbedarf. Kinder bedürfen eines besonderen Schutzes und geraten dabei wesentlich schneller unabhängig von ihrem eigenen Willen in eine Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK widersprechende Situation extremer Not (vgl, EGMR, U.v. 4.11.2014 -„Tarakhel“ v. Switzerland, Nr. 29217/12, Rn. 129).
54
Dies zugrunde gelegt droht der Familie des Klägers bei einer prognostischen gemeinsamen Rückkehr nach Italien aufgrund der sie dort erwartenden Lebensverhältnisse das ernsthafte Risiko einer gegen Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRCh verstoßenden Behandlung.
55
Der Kläger lebt nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung in familiärer Lebensgemeinschaft mit seiner traditionell angeheirateten Lebensgefährtin und zwischenzeitlich vier Kindern, wobei sich der Kläger und Frau A. gemeinsam um die Kinder kümmern. Das Gericht hat keinen Anlass, die Angaben des Klägers in Zweifel zu ziehen, zumal der Kläger in der mündlichen Verhandlung für alle Kinder entsprechende Sorgerechtserklärungen vorgelegt hat. Weder die Lebensgefährtin des Klägers noch die Kinder haben dabei einen Bezug zu Italien. Die „Ehe“ wurde nach den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung zwar zu einer Zeit geschlossen, als sich der Kläger noch in Italien aufhielt. Es handelte sich dabei jedoch um eine von den Familien in Somalia in Abwesenheit der Eheleute arrangierte „Ehe“. Der Kläger und Frau A. hatten zuvor nur über das Internet Kontakt, sodass sie sich persönlich erstmals in Deutschland kennen gelernt haben. Die Lebensgefährtin hielt sich nach ihren Angaben bei ihrer Einreise nach Europa nur etwa eine Woche in Italien auf, wobei sich allerdings die im behördlichen Verfahren seitens Frau A. angegebenen Einreisedaten ins Bundesgebiet mit dem Datum der angeblichen Eheschließung nicht in Einklang bringen lassen. Eurodac-Daten sind in der Akte der Lebensgefährtin indes nicht enthalten, sodass jedenfalls auch vor diesem Hintergrund nicht von einem Asylverfahren der Frau A. in Italien auszugehen ist. Die gemeinsamen Kinder wurden alle in der Bundesrepublik geboren.
56
Für den Fall, dass der Kläger mit seiner Lebensgefährtin und den vier Kindern (darunter drei Kleinkinder) nach Italien zurückkehren wird, erscheint unter Zugrundelegung der Erkenntnislage eine den Mindestanforderungen an eine kindgerechte Unterbringung entsprechende Unterkunft nicht hinreichend gesichert (vgl. auch: VGH BaWü, U.v. 7.7.2022 - A 4 S 3696/21 - juris Rn. 41 ff.; VG Bremen, U.v. 4.7.2022 - 6 K 2242/21 - juris, letzteres auch unabhängig von einer etwaigen Aufnahme der Familie in einem SAI-Zentrum).
57
Zwar hat der EGMR mit Urteil vom 23. März 2021 (Az. 46595/19) in einem eine al-leinerziehende Frau mit zwei Kleinkindern betreffenden Fall entschieden, dass infolge der zu erwartenden Unterbringung der Familie in einer SAI-Einrichtung keine Verletzung des Art. 3 EMRK droht. Wie ausgeführt, hat der Kläger indes keinen (erneuten) Anspruch auf eine Unterkunft in einer SAI-Einrichtung, sondern wäre in Italien vielmehr auf sich allein gestellt (s.o.). Der Erkenntnislage lässt sich auch nicht entnehmen, dass der Kläger aufgrund der zwischenzeitlich in Deutschland gegründeten Familie erneuten Zugang zu einer SAI-Einrichtung erhalten würde.
58
In Hinblick auf die seitens des EGMR stets betonte extreme Verletzlichkeit von Kindern erscheinen dem Gericht die mit einer Rücküberstellung nach Italien verbundenen Unwägbarkeiten in Bezug auf eine gesicherte Unterbringung der Familie vorliegend - jedenfalls ohne entsprechende Zusicherung seitens der italienischen Behörden (s. dazu allerdings Rn. 69) - als zu groß. Ein mehr als nur vorübergehender Aufenthalt in einer Notunterkunft wäre gerade den besonders vulnerablen Kleinkindern des Klägers nicht zumutbar. Auch der dem Grunde nach berechtigte Verweis auf die Inanspruchnahme gerichtlicher Hilfe in Italien (s.o.) trägt bei Familien mit vulnerablen Kleinkindern, die einer unmittelbaren kindgerechten Unterbringung bedürfen, nicht.
59
2.4.2 Allerdings ist der Maßstab einer gemeinsamen Rückkehrprognose nach der Rechtsauffassung des erkennenden Gerichts auf die vorliegende Drittstaats-Konstellation nicht anwendbar.
60
(1) Das Bundesverwaltungsgericht hat in seiner grundlegenden Entscheidung vom 4. Juli 2019 (Az. 1 C 49/18 - juris) in Bezug auf die im Rahmen des nationalen Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 5 AufenthG anzustellende Prognose, welche Gefahren dem Betroffenen bei einer Rückkehr ins Herkunftsland drohen, entschieden, dass im Rahmen einer möglichst realitätsnahen, wenngleich hypothetischen Beurteilung im Regelfall davon auszugehen sei, dass eine im Bundesgebiet in familiärer Gemeinschaft lebende Kernfamilie im Familienverband in ihr Herkunftsland zurückkehren werde und dies - in Abkehr zur früheren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. etwa BVerwG, U.v. 27.7.2000 - 9 C 9/00 - juris Rn. 10) - auch dann gelte, wenn einzelnen Mitgliedern der Kernfamilie im Bundesgebiet bereits ein Schutzstatus zuerkannt oder nationaler Abschiebungsschutz festgestellt worden sei.
61
Die Formulierung der „im Bundesgebiet gelebten Kernfamilie“ wie auch der Umkehrschluss aus den - nicht vertieften - Hinweisen unter Rn. 23 der Entscheidung („Näherer Betrachtung mögen bei tatsachengestütztem Missbrauchsverdacht auch Fälle bedürfen, in denen die familiäre Lebensgemeinschaft nicht schon im Herkunftsland bestanden hat, sondern erst nach der Einreise begründet worden ist, oder es sich nicht um leibliche Kinder zumindest eines der Ehegatten handelt.“) deuten darauf hin, dass diese Rechtsprechung dem Grunde nach auch auf solche Familienverbände Anwendung finde soll, die im Herkunftsland noch nicht bestanden haben. Zugleich hat das Bundesverwaltungsgericht gerade in Bezug auf diese Frage (Übertragbarkeit der Regelvermutung einer gemeinsamen Rückkehr auf familiäre Lebensgemeinschaften, die im Herkunftsland noch nicht bestanden haben) mit Beschluss vom 15. August 2019 (Az. 1 B 33/19 u.a.) die Revision zugelassen.
62
(2) Die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung nimmt unter Zugrundelegung der im Urteil vom 4. Juli 2019 aufgestellten Grundsätze soweit ersichtlich ganz überwiegend eine prognostische gemeinsame Rückkehr (ins Heimatland) auch dann an, wenn ein (relevanter) Familienverband erst im Bundesgebiet gegründet wurde (vgl. ausdrücklich etwa: BayVGH, U.v. 29.1.2020 - 13a B 20.30347 - juris Rn. 18; OVG Lüneburg, U.v. 14.3.2022 - 4 LB 20/ 19 - juris Rn. 93 f.). Dem steht nicht entgegen, dass sich vielen Entscheidungen durchaus entnehmen lässt, dass im jeweiligen Fall keine gemeinsame Rückkehr mit einem/ einer im Bundesgebiet lebenden „traditionell“ angeheirateten Lebensgefährten/ Lebensgefährtin angenommen wurde. Denn dies dürfte häufig darauf zurückzuführen sein, dass der jeweiligen „ehelichen“ Verbindung kein hinreichendes Gewicht beigemessen wurde. Auch vorliegend kommt es maßgeblich auf die elterliche Beziehung des Klägers zu den Kindern an, sodass eine Bewertung des vorgetragenen „ehelichen“ Verhältnisses nach deutschem oder auch somalischem Recht dahinstehen kann.
63
Anzumerken ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass der im Urteil vom 4. Juli 2019 (juris Rn. 22) seitens des Bundesverwaltungsgerichts angesprochene Gesichtspunkt der Minderung von Friktionen, die sich daraus ergeben können, dass über die Schutzanträge einzelner Mitglieder der Kernfamilie nicht gleichzeitig, sondern zeitversetzt entschieden werde, für die Fälle eines bereits im Heimatland gegründeten Familienverbands zutreffend ist. Die Verbescheidungspraxis des Bundesamts mag insoweit durchaus zur Rechtsprechungsentwicklung beigetragen haben. Verfahrensfriktionen, die sich bei erst nachträglich im Bundesgebiet gegründeten Familien ergeben, haben jedoch regelmäßig nichts mit Zufälligkeiten der Verfahrensgestaltung des Bundesamts zu tun und lassen sich behördlicherseits in der Regel kaum vermeiden - gerade in Bezug auf im Bundesgebiet nachgeborene Kinder und die teils verzögerte Vorlage entsprechender Vaterschafts- und Sorgerechtsnachweise.
64
(3) Von der Frage einer gemeinsamen Rückkehrprognose der Kernfamilie als Grundlage der Verfolgungs- und Gefahrenprognose im Rahmen der Prüfung von § 60 Abs. 5 AufenthG für den Fall einer Rückkehr ins Heimatland ist die vorliegende Fallkonstellation der Rückführung in einen anderen EU-Mitgliedstaat zu unterscheiden.
65
(a) Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Frage bislang nicht entschieden, die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung stellt sich - entgegen der in einer aktuellen Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vertretenen Auffassung (U.v. 7.7.2022 - A 4 S 3696/21 - juris Rn. 36, 56) - keineswegs einheitlich dar. Klarzustellen ist, dass es insoweit nicht um Fälle geht, in denen aufgrund eines an eine Familie gerichteten Bescheids eine (reale) Rückführung der Familie in einen anderen Mitgliedstaat angedroht wurde und damit eine gemeinsame Rückkehr (real) zugrunde zu legen ist, sondern Fälle, in denen eine Berücksichtigung der Familienangehörigen allein im Wege einer (hypothetischen) Rückkehrprognose erfolgt.
66
Das Sächsische Oberverwaltungsgericht hat in einer Entscheidung vom 15. Juni 2020 (Az. 5 A 382/18 - juris Rn. 32 ff.) eine gemeinsame Rückkehr des Betroffenen mit seiner in Deutschland geborenen Tochter und deren Mutter in einen anderen EU-Mitgliedstaat mit der Begründung abgelehnt, dass die Lebensgefährtin - welche die deutsche Staatsangehörigkeit besaß - keinen Bezug zu dem anderen Mitgliedstaat aufweise und ein gemeinsamer Verbleib der Familie in dem anderen Mitgliedstaat daher „nicht realitätsnah“ erscheine; die grundsätzliche Frage einer Übertragbarkeit der Entscheidung vom 4. Juli 2019 wurde dabei nicht weiter problematisiert. Hieran anknüpfend hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg in seinem Urteil vom 7. Juli 2022 (Rn. 37) in generalisierender Form hervorgehoben, dass der realitätsnahen Betrachtung bei der Rückführung von Sekundärmigranten in einen anderen EU-Mitgliedstaat „besondere Aufmerksamkeit“ zu schenken sei. Fehle es an einem „Bezug“ der Mitglieder der Kernfamilie des Sekundärmigranten zu dem jeweiligen Mitgliedsstaat, könne sich im Einzelfall auch unter Berücksichtigung von Art. 6 GG/ Art. 8 EMRK ein dortiger gemeinsamer Verbleib der Familie nicht als wahrscheinlich darstellen und realitätsnah daher eine alleinige Rückkehr des Sekundärmigranten in den anderen Mitgliedstaat anzunehmen sein.
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(b) Mit dem Abstellen auf einen etwaigen „Bezug“ der Familie bzw. der einzelnen Familienmitglieder zu dem anderen Mitgliedstaat treten aus Sicht des erkennenden Gerichts zunächst die in tatsächlicher Hinsicht bestehenden Probleme und Grenzen von „realitätsnahen“, jedoch zwingend hypothetischen Betrachtungen im Asylverfahren zu Tage. Wenn es auf einen „Bezug“ (einzelner/ aller) Mitglieder der Kernfamilie zu dem anderen EU-Mitgliedstaat ankommen soll, welcher Art sollte dieser „Bezug“ sein bzw. welche ansatzweise verallgemeinerungsfähigen Kriterien wären insoweit anzulegen? Oder wäre nicht vielmehr (auch) danach zu fragen, ob und in welchem Grad ein „Bezug“ der Familienmitglieder zur Bundesrepublik besteht? Ist es entsprechend dem zitierten Urteil des VGH Baden-Württemberg „realitätsnah“ anzunehmen, dass eine Familie gemeinsam nach Italien zurückkehren wird, weil die Ehe dort geschlossen und die Kinder dort geboren wurden, die Familie möglicherweise sogar einige Jahre in Italien gelebt hat? Oder tritt dieser vormalige Aufenthalt in dem anderen EU-Mitgliedstaat angesichts des zwischenzeitlich möglicherweise ebenfalls schon mehrere Jahre dauernden Aufenthalts der Familie im Bundesgebiet eher in den Hintergrund? Auch im Falle der zitierten Entscheidung des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 15. Juni 2020 ließe sich aufgrund der deutschen Staatsangehörigkeit der Kindsmutter ebenso auf deren Bezug zur Bundesrepublik abstellen. Zumindest in der Realität handelt es sich bei der Frage einer gemeinsamen Rückkehr im Familienverband um sehr individuelle Entscheidungen, welche die Familienmitglieder wohl (auch) unter Abwägung etwaiger außerhalb der Kernfamilie im Bundesgebiet und/oder außerhalb vorhandener Unterstützung durch Angehörige, Freunde und Bekannte, den vielfältigen Möglichkeiten zur Aufrechterhaltung des Kontakts etwa durch gegenseitige Besuche und moderne Kommunikationsmedien und möglicherweise auch unter Berücksichtigung der in Anspruch genommen sozialstaatlichen Unterstützungsleistungen treffen werden. Eine „realitätsnahe“ Prognose der gemeinsamen Rückkehr erscheint angesichts der Vielzahl der individuellen Entscheidungsfaktoren im Rahmen des behördlichen und verwaltungsgerichtlichen Verfahrens dabei letztlich kaum möglich - zumal sich maßgebliche Faktoren fortlaufend und teils auch sehr kurzfristig ändern können. Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Urteil vom 4. Juli 2019 (juris Rn. 21) demgegenüber betont, dass das Bundesamt (entsprechendes gilt für die Gerichte) im Rahmen der Prognoseentscheidung keine einzelfallbezogene Inzidentprüfung inlandsbezogener Vollstreckungshindernisse vorzunehmen habe - eine in die Details gehende Einzelfallbetrachtung ist demnach seitens des Bundesverwaltungsgerichts offenbar nicht angedacht.
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Ergänzend hierzu ist darauf hinzuweisen, dass eine (hypothetisch) anzunehmende gemeinsame Rückkehr weitere Folgefragen aufwirft, die auch in den beiden zitierten obergerichtlichen Entscheidungen bislang nicht problematisiert wurden. So wenden einige Gerichte (ausdrücklich etwa: VGH BaWü, U.v. 7.7.2022, a.a.O., juris Rn. 41 ff.; VG Freiburg, BG v 27.8.2020 - A 1 K 7629/17 - juris Rn. 50) auch im Falle einer nicht real angedrohten, sondern allein hypothetisch prognostizierten Rückkehr im Familienverband unkritisch die Grundsätze der sog. Tarakhel-Rechtsprechung des EGMR (U.v. 4.11.2014 - Nr. 29217/12) an, wonach im Falle der Überstellung von Familien mit (Klein-)Kindern nach Italien durch besondere Kooperation mit den italienischen Behörden sichergestellt werden müsse, dass bei einer Rücküberstellung dorthin ohne Zeitverzug eine kind- und familiengerechte Unterbringung erfolge. Es bleibt die Frage, was insoweit von Behördenseite konkret gefordert wird. Wird erwartet, dass sich deutsche Behörden mit - hypothetischen - Anfragen an ihre italienischen KollegInnen wenden oder ist „realitätsnah“ zu unterstellen, dass derartige Anfragen von italienischer Seite von vornherein negativ verbeschieden werden? Die hieran anschließende Problematik einer kaum zu rechtfertigenden Besserstellung (hypothetisch) rückzuführender Familienverbände gegenüber (realen) Familienrückführungen, bei denen entsprechende (reale) Zusicherungen ggf. tatsächlich rechtzeitig eingeholt werden könnten, dürfte in der Praxis zumindest im Falle Italiens nicht drohen, da sich der Erkenntnislage - anders als bei Rückführungen im Rahmen des Dublin-Regims - keine derartigen Zusicherungen der italienischen Behörden für die Rückführung Schutzberechtigter entnehmen lassen. Auch das Rundschreiben des italienischen Innenministeriums vom 8. Februar 2021 bezieht sich allein auf Dublin-Rückführungen.
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(c) Ungeachtet dieser offenen Fragen bestehen vor allem auch rechtssystematische Bedenken. Insoweit darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die von der deutschen Rechtsprechung entwickelte Rechtsfigur der „gemeinsamen Rückkehrprognose“ zwangsläufig in einem gewissen Kontrast zu dem Grundsatz steht, dass das Asylverfahren - von den Fällen des § 26 AsylG abgesehen - einschließlich des nationalen Abschiebungsschutzes für jede(n) AusländerIn einzeln und gesondert zu prüfen ist. Dies hat auch das Bundesverwaltungsgericht seiner Entscheidung vom 4. Juli 2019 (juris Rn. 14) ausdrücklich vorangestellt.
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Eine Übertragung der Rechtsprechung zur gemeinsamen Rückkehrprognose ins Heimatland auf Rückführungen innerhalb des einheitlichen europäischen Asylsystems kann indes - wie auch der vorliegende Fall veranschaulicht - unmittelbar zur Folge haben, dass es nicht mehr nur um die Frage einer Gefahrenprognose im Rahmen des nationalen Abschiebungsschutzes geht. Vielmehr schlägt die insoweit getroffene Prognoseentscheidung aufgrund der jüngeren Rechtsprechung des EuGH (B.v. 13.11.2019 - C-540/17 - Rn. 35; U.v. 19.3.2019 - C-297/17 - Rn. 88) unmittelbar auf die Frage der Rechtsmäßigkeit der ergangenen Unzulässigkeitsentscheidung durch. Die von der deutschen Rechtsprechung entwickelte Rechtsfigur der „gemeinsamen Rückkehrprognose“ kann demnach ausschlagend dafür sein, ob der Asylantrag als unzulässig abgelehnt werden durfte oder nicht bzw. ob ein weiteres Asylverfahren in der Bundesrepublik durchlaufen werden darf oder nicht.
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Derart weitreichende Folgewirkungen können nach Auffassung des Gerichts jedoch nicht an die oben beschriebene, zwangsläufig „hypothetische“ Betrachtungsweise geknüpft werden. Letztlich würde es Asylsuchenden damit anheimgestellt, durch Familiengründungen nachträglich die Voraussetzungen für die Zulässigkeit ihres Asylantrags im Bundesgebiet zu schaffen. Die Frage der Zulässigkeit eines Asylantrags sollte indes allein von objektiv nachprüfbaren Umständen abhängig sein und möglichst nicht mit - häufig erst nach Antragstellung eintretenden - hypothetischen Fragestellungen aufgeladen werden.
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(d) Mit den hier aufgeworfenen Fragestellungen setzen sich die Gerichtsentscheidungen, welche eine Übertragung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur gemeinsamen Rückkehrprognose auf Drittstaats-Konstellationen annehmen, nicht auseinander. Soweit in den Entscheidungen (VGH BaWü, U.v. 7.7.2022, a.a.O. - juris Rn. 35) primär damit argumentiert wird, dass die „gemeinsame Rückkehrprognose“ Ausfluss der grund- und konventionsrechtlichen Gewährleistungen des Schutzes von Ehe und Familie in Art. 6 GG/ Art. 8 EMRK sei und dieser grund- und konventionsrechtliche Schutz eines bestehenden Kernfamilienverbands unabhängig davon gelte, ob es sich bei dem Staat, in den ein Mitglied der Kernfamilie abgeschoben werden solle, um den Herkunfts- oder einen EU-Mitgliedstaat handelt, überzeugt dies in dieser Pauschalität schon deshalb nicht, weil eine grund- und konventionsrechtliche Schutzlücke nicht erkennbar ist (dazu sogleich). In der Konsequenz dieser Argumentation müsste die Rechtsfigur der „gemeinsamen Rückkehrprognose“ zudem generell zu Anwendung kommen, wenn geprüft wird, ob ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK droht - etwa auch im Rahmen der Gewährung subsidiären Schutzes. Auch dies wurde in vereinzelten Entscheidungen bereits vertreten (ausdrücklich etwa: VG Minden, U.v. 4.11.2020 - 1 K 2163/18.A - juris Rn. 203; in diese Richtung wohl auch VG Freiburg (Breisgau), GB.v 27.8.2020 - A 1 K 7629/17 - juris Rn. 24 a.E.). Der Rahmen einer auf den/die einzelne(n) AusländerIn bezogenen Asylentscheidung würde damit indes vollends verlassen.
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In Hinblick auf die seitens des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg im Rahmen der Entscheidung vom 7. Juli 2022 weiter herangezogenen Regelungen der VO (EU) Nr. 604/2013 (Dublin III-VO) ist ferner anzumerken, dass die Rückführung Schutzberechtigter gerade nicht dem Dublin-Regime unterfällt und die Dublin III-VO darüber hinaus ein sehr ausdifferenziertes Regelungssystem beinhaltet, wobei überwiegend an eine bereits im Heimatland bestehende Familienverband (Art. 2 Buchst. g Dublin III-VO) angeknüpft und daneben generell auf die Situation zum Zeitpunkt der ersten Antragstellung in einem Mitgliedstaat (Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO) abgestellt wird. Die Heranziehung der Verfahrensregelungen des Dublin-Regims scheint insoweit kaum geeignet, eine Ausweitung der deutschen Rechtsfigur zur „gemeinsamen Rückkehrprognose“ argumentativ abzustützen.
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(e) Eine grund- und konventionsrechtliche Schutzlosigkeit eines in Bundesgebiet nachträglich gegründeten Familienverbandes folgt aus der hier vertretenen Auffassung nicht. Die Konstellationen von in verschiedenen Mitgliedstaaten der Europäischen Union anerkannt Schutzberechtigten, deren Familienverband (erst) in einem Mitgliedstaat begründet wurde, werden letztlich nicht asylsondern aufenthaltsrechtlich zu bewältigen sein. Mögliche familiäre Bindungen der Betroffenen im Bundesgebiet sind daher erst durch die zuständige Ausländerbehörde vor Durchführung der Abschiebung zu berücksichtigen (ebenso: VG Augsburg, U.v. 23.7.2021 - Au 4 K 20.31273 - juris Rn. 38; VG Minden, B.v. 13.7.2022 - 12 L 238/22.A - juris Rn. 31). Die dem deutschen Asylsystem innewohnende „Arbeitsteilung“ zwischen dem Bundesamt (welches im Rahmen des Asylverfahrens zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse prüft) und den jeweiligen Ausländerbehörden (welche inlandsbezogene Abschiebungshindernisse wie insbesondere die jeweilige familiäre Situation des/der Betroffenen prüfen), erscheint dabei durchaus sachgerecht. Denn regelmäßig stehen die örtlich zuständigen Ausländerbehörden in einem sehr viel engeren Kontakt mit den Betroffenen und deren Familien und können die familiären Verbindungen schon aus diesem Grund besser und auch fortdauernd im Blick behalten, als dies dem Bundesamt im Rahmen des Asylverfahrens möglich wäre. Insgesamt wird durch die deutsche Rechtslage und Rechtsanwendung damit eine hinreichende Berücksichtigung der familiären Belange einschließlich des Kindeswohls gewährleistet, sodass es auch vor diesem Hintergrund keines Rückgriffs auf die Rechtsfigur der „gemeinsamen Rückkehrprognose“ bedarf, um etwaige Schutzlücken zu vermeiden.
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Der Umstand, dass das Bundesverwaltungsgericht mit Beschluss vom 8. Juni 2022 (Az. 1 C 24/21 - juris) die Frage der Vereinbarkeit der Berücksichtigung inlandsbezogener Abschiebungshindernisse (erst) durch die vollziehende Ausländerbehörde mit den Vorgaben der Rückführungsrichtlinie (RL 2008/115/EG) dem EuGH zur Vorabentscheidung vorgelegt hat, hat für die vorliegende Fallkonstellation schon deshalb keine Auswirkungen, weil die Rückführungsrichtlinie nur in Bezug auf Rückführungen ins Herkunftsland bzw. Transit- oder Drittstaaten (Art. 3 Nr. 3 RL 2008/115/EG) Anwendung findet, nicht aber auf Überstellungen zwischen verschiedenen Mitgliedstaaten der europäischen Union (vgl. Tym/Hailbronner, EU-Immigration and Asylum Law, 2. Aufl. 2016, Part. C VII, Art. 3, Rn. 11 f.; ebenso: VG Minden, B.v. 13.7.2022 - 12 L 238/22.A - juris Rn. 33 ff.).
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3. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG sind in Bezug auf die Person des Klägers hinsichtlich Italiens nicht ersichtlich.
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Dem Kläger droht in Italien weder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK noch eine sonstige konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird gem. § 77 Abs. 2 AsylG auf die zutreffende Begründung des streitgegenständlichen Bescheids und die obigen Ausführungen Bezug genommen.
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Soweit sich der Kläger auf seine in Deutschland bestehende familiäre Lebensgemeinschaft mit seiner Frau und den Kindern beruft, ist dies für die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung ohne Belang, weil es sich insoweit nicht um ein im Rahmen des Asylverfahrens seitens der Beklagten zu berücksichtigendes zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot handelt. Das Gericht folgt insoweit den Ausführungen des streitgegenständlichen Bescheids, auf die gemäß § 77 Abs. 2 AsylG Bezug genommen wird. Das vorliegend anzunehmende inlandsbezogene Abschiebungsverbot ist seitens der zuständigen Ausländerbehörde zu berücksichtigen.
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4. Die Abschiebungsandrohung der Ziff. 3 des angefochtenen Bescheids erweist sich zwar in Hinblick auf Beginn und Länge der gesetzten Ausreisefrist als objektiv rechtswidrig. Dies führt indes nicht zu einer Verletzung der Rechte des Klägers (vgl. ausführlich: VG Magdeburg, U.v. 14.10.2019 - 8 A 18/19 - juris Rn. 57 f. m.w.N.; BVerwG, U.v. 15.1.2019 - 1 C 15.18 - juris).
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5. Allerdings erweist sich die Entscheidung über das Einreise- und Aufenthaltsverbot (Ziff. 4 des Bescheids) als rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Die Beklagte hat bei ihrer Befristungsentscheidung betreffend das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 AufenthG - die zugleich als Anordnung dieses Verbots zu verstehen ist (vgl. BVerwG, U.v. 21.8.2018 - 1 C 21.17 - juris Rn. 25) - nicht berücksichtigt, dass der Kläger nicht nur eine Geburtsurkunde für sein erstgeborenes Kind, sondern zwischenzeitlich auch Sorgerechtserklärungen für alle seine Kinder vorgelegt hat. Da das Bundesamt seinen Bescheid fortlaufend kontrollieren muss, liegt insoweit ein Ermessensausfall vor, sodass die Befristung aufzuheben und die Beklagte zu einer erneuten Entscheidung über die Anordnung des Einreise- und Aufenthaltsverbot sowie über die Länge der Frist zu verpflichten war.
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III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83 b AsylG gerichtskostenfrei. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
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IV. Die Sprungrevision wird gemäß § 78 Abs. 6 AsylG, § 134 VwGO zugelassen. Die Rechtssache hat gemäß § 134 Abs. 2 Satz 1, § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO grundsätzliche Bedeutung, als bislang nicht höchstrichterlich durch das Bundesverwaltungsgericht geklärt ist, ob und wenn ja unter welchen Prämissen die Rechtsprechung zur gemeinsamen Rückkehrprognose eines im Bundesgebiet gelebten Familienverbands (BVerwG, U.v. 4.7.2019 - Az. 1 C 45.18 - juris) auf Rückführungen innerhalb des einheitlichen europäischen Asylsystems und konkret die Rückführung von in einem anderen Mitgliedstaat Schutzberechtigten zu übertragen ist. Diese Frage hat fallüber-greifende Bedeutung und wird in der bislang ergangenen erstinstanzlichen und obergerichtlichen Rechtsprechung - soweit ersichtlich - uneinheitlich beantwortet (für eine Übertragbarkeit sprechen sich etwa aus: VGH BaWü, U.v. 7.7.2022 - A 4 S 3696/21 - juris; SächsOVG, U.v. 15.6.2020 - 5 A 382/18 - juris; VG Freiburg (Breisgau), GB.v. 27.8.2020 - A 1 K 7629/17 - juris; VG Würzburg (4. Kammer), U.v. 5.10.2021 - W 4 K 20.31210 - juris; wohl auch VG Aachen, U.v. 7.3.2022 - 5 K 1494/18.A - juris, wobei der dortige Fall eine reale Familienrückführung betraf; gegen eine Übertragung sprechen sich etwa aus: VG Minden, B.v. 13.7.2022 - 12 L 238/22.A - juris; VG Würzburg (9. Kammer), U.v. 29.1.2021 - W 9 K 20.30260 - juris; wohl auch VG Augsburg, U.v. 23.7.2021 - Au 4 K 20.31273 - juris Rn. 29, 38; daneben lässt sich den Gründen zahlreicher Entscheidungen entnehmen, dass eine gemeinsame Rückkehrprognose implizit nicht angewandt wurde, vgl. etwa OVG Koblenz, B.v. 20.10.2020 - 7 A 10889/18 - juris Rn. 10, 31 und 68 ff.; VG Cottbus, U.v. 24.11.2020 - 5 K 122/20.A - juris Rn. 6, 33 und 49; VG Berlin, U.v. 7.4.2022 - 28 K 626.18 A - juris Rn. 40; VG Aachen, U.v. 10.11.2020 - 9 K 6001/17.A - juris Rn. 4 und 97; VG Bayreuth, U.v. 15.3.2022 - B 7 K 20.30066 - juris Rn. Rn 56).