Inhalt

VG München, Urteil v. 30.06.2022 – M 17 K 17.41910
Titel:

Voraussetzungen der Eingriffe in die Religionsfreiheit als Verfolgungshandlungen

Normenketten:
EMRK Art. 3
GRCh Art. 10 Abs. 1
Anerkennungs-RL Art. 2 lit. d, Art. 4 Abs. 4, Art. 6, Art 9 Abs. 1 lit. a
AsylG § 3 Abs. 1, § 3a, § 3b, § 3d
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
Leitsätze:
1. Bei der Prüfung, ob ein Eingriff in die Religionsfreiheit eine Verfolgungshandlung darstellt, ist im Hinblick auf die persönlichen Umstände des Betroffenen zu prüfen, ob er aufgrund der Ausübung der Religionsfreiheit in seinem Herkunftsland u.a. tatsächlich Gefahr läuft, durch einen der in Art. 6 Anerkennungs-RL genannten Akteure verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
2. Arbeitsfähige, gesunde junge Männer sind auch ohne besondere Qualifikation, nennenswertes Vermögen und familiären Rückhalt in der Lage, durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Einkommen zu erwirtschaften und damit ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten, so dass für alleinstehende männliche Staatsangehörige keine extreme Gefahrenlage in den palästinensischen Autonomiegebieten besteht. (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylverfahren, Herkunftsland: Israel (Palästinensisches, Autonomiegebiet/Gazastreifen), Bedrohung durch Mitglieder der Hamas, Bedrohung durch israelische Armee, Religionsfreiheit, Verfolgungshandlung, staatsähnliches Gebiet, Gewaltmonopol, Palästinenserstaat, Rückkehr in den Gazastreifen, Existenzminimum, extreme Gefahrenlage, erniedrigende Behandlung oder Bestrafung, RL 2011/95/EU
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 06.09.2022 – 15 ZB 22.30907
Fundstelle:
BeckRS 2022, 25928

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1
Der Kläger ist staatenloser Palästinenser, stammt aus dem Gazastreifen und ist der islamischen Religion zugehörig. Nach eigenen Angaben reiste er am 31. Januar 2017 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 7. Juli 2016 einen Asylantrag.
2
Bei seiner persönlichen Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 17. Oktober 2016 gab der Kläger im Wesentlichen an, dass er den Gaza-Streifen verlassen habe, da er Angst vor willkürlichen Angriffen habe. Am 20. März 2015 sei er von vermummten Männern angegriffen und mit einer Eisenstange geschlagen worden, als er mit zwei Freunden am Strand in der Nähe einer Moschee Musik gehört habe. Er vermute, die Männer hätten sich daran gestört, dass der Kläger und seine Freunde neben der Moschee Musik gehört und nicht gebetet hätten. Er sei nach dem Angriff eine Woche im Krankenhaus in Behandlung gewesen. Er habe Anzeige erstattet, aber die Polizei sei untätig geblieben. Er vermute, dass die Untätigkeit der Polizei darauf zurückzuführen sei, dass die Angreifer der Hamas angehört hätten. Am 16. Oktober 2015 sei ihm auf dem Nachhauseweg von der israelischen Armee ins Knie geschossen worden. Es komme immer wieder vor, dass die israelische Armee ohne Grund auf Passanten schieße, die an der Grenze vorbeilaufen. Es gebe im Gazastreifen immer wieder kriegerische Auseinandersetzungen.
3
Mit Bescheid vom 22. Mai 2017 erkannte das Bundesamt weder die Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1) noch den subsidiären Schutzstatus (Nr. 3) zu, lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Nr. 2) und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde die Abschiebung in die Palästinensischen Autonomiegebiete oder in einen anderen Staat angedroht, in den der Kläger einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise und Aufenthaltsverbot wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6).
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Auf die Begründung des Bescheids wird verwiesen.
5
Der Kläger erhob, vertreten durch seinen Prozessbevollmächtigten, mit Schriftsatz vom … Mai 2017, das am 30. Mai 2017 beim Verwaltungsgericht München einging, Klage mit dem Antrag, 
die beklagte Bundesrepublik Deutschland unter Aufhebung des Bescheids vom 22. Mai 2017 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen (§ 3 Abs. 4 AsylG), hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungshindernisse nach §§ 60 Abs. 2 bis 5 und 7 AufenthG vorliegen.
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Die Beklagte übersandte die Behördenakten und stellte keinen Antrag.
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Mit Schriftsatz vom … Juli 2017 trug der Klägerbevollmächtigte vor, dass dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sei, da er wegen seiner Auffassung von Religion von der Hamas verfolgt worden sei und da die israelische Armee ihn angegriffen habe, weil sie ihm zuschreiben würde, Mitglied der Hamas zu sein.
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Mit Beschluss vom 31. Oktober 2019 übertrug das Gericht den Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte sowie auf die vorgelegte Behördenakte und die Niederschrift über die mündliche Verhandlung am 30. Juni 2022 verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Das Gericht konnte trotz Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten über die Sache verhandeln und entscheiden, da die Beklagte ordnungsgemäß geladen und in der Ladung darauf hingewiesen wurde, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).
11
Die Klage hat keinen Erfolg. Sie ist zulässig, aber unbegründet. Der Bescheid des Bundesamtes vom 22. Mai 2017 ist - soweit er angegriffen wurde - rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).
12
Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) weder einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG noch auf die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Die vom Bundesamt nach Maßgabe des § 34 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG erlassene Abschiebungsandrohung sowie das dreißigmonatige Einreise- und Aufenthaltsverbot sind nicht zu beanstanden.
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Zur Begründung wird auf die zutreffende Begründung in dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG).
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Ergänzend hierzu wird ausgeführt: 1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
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Gemäß § 3 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
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Die einzelnen Verfolgungshandlungen werden in § 3a AsylG näher umschrieben, die einzelnen Verfolgungsgründe werden in § 3b AsylG einer näheren Begriffsbestimmung zugeführt. Eine Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG kann nach § 3c AsylG ausgehen vom Staat (Nr. 1), von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2), oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern der Staat oder die ihn beherrschenden Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3).
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Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer die oben genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich drohen. Hinsichtlich des Prognosemaßstabs ist bei der Prüfung der Flüchtlingseigenschaft in Orientierung an der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK („real risk“) der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen, wie er vormals auch in Art. 2 Buchst. c) RL 2004/83/EG enthalten war und nunmehr in Art. 2 Buchst. d) RL 2011/95/EU in der Umschreibung „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung“ zu Grunde liegt (vgl. BVerwG, U.v. 1.3.2012 - 10 C 7.11 - juris). Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht aller Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 20.2.2013 - 10 C 23.12 - juris; BVerwG, U.v. 5.11.1991 - 9 C 118.90 - juris).
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Die Tatsache, dass ein Drittstaatsangehöriger bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist gem. Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Betroffene erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Zur Privilegierung des Vorverfolgten bzw. Vorgeschädigten wird in Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU (sowohl für die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz als auch für die Gewährung subsidiären Schutzes) eine tatsächliche (aber im Einzelfall widerlegbare) Vermutung normiert, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden, sofern ein innerer Zusammenhang zwischen der erlittenen Verfolgung bzw. dem erlittenen Schaden und der befürchteten Verfolgung bzw. dem befürchteten Schaden besteht. Dadurch wird der Vorverfolgte / Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadensstiftenden Umstände bei der Rückkehr erneut realisieren werden (BVerwG, U.v. 07.09.2010 - 10 C 11.09 - juris; BVerwG, U.v. 27.04.2010 - 10 C 5.09 - juris).
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Es ist Sache des jeweiligen Schutzsuchenden darzulegen, dass in seinem Falle die tatsächlichen Grundlagen für eine Schutzgewährung, insbesondere also ein Verfolgungsschicksal und eine (noch) anhaltende Gefährdungssituation gegeben sind. Eine Glaubhaftmachung derjenigen Umstände, die den eigenen Lebensbereich des Asylbewerbers betreffen, erfordert insoweit einen substantiierten, im Wesentlichen widerspruchsfreien und nicht wechselnden Tatsachenvortrag, der geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen, und der auch mit den objektiven Umständen in Einklang zu bringen ist. Der Asylsuchende hat seine guten Gründe für eine ihm drohende Verfolgung unter Angabe genauer Einzelheiten und in sich stimmig zu schildern (BVerwG, B.v. 10.5.1994 - 9 C 434.93 - NVwZ 1994, 1123 f., B.v. 26.10.1989 - 9 B 405.89 - InfAuslR 1990, 38 ff.; OVG NW, B.v. 22.6.1982 - 18 A 10375/81).
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Diese Anforderungen zugrunde gelegt, kann dem Vorbringen des Klägers weder mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit entnommen werden, dass er zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung von staatlichen oder nichtstaatlichen Akteuren im Gazastreifen aus asylrelevanten Gründen verfolgt worden ist, noch dass er bei einer Rückkehr in den Gazastreifen mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit von diesen verfolgt werden würde.
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1.1. Der Kläger war vor seiner Ausreise keiner Verfolgung wegen seiner Religion ausgesetzt.
22
Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat durch Urteil vom 5. September 2012 (Rs. C-71/11 und C-99/11 - juris) für die Anerkennung als Flüchtling oder als Person mit subsidiärem Schutzstatus entschieden, unter welchen Voraussetzungen Eingriffe in die Religionsfreiheit als Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a des Gesetzes zur Umsetzung der RL 2011/95/EU (nachfolgend QRL) angesehen werden können. Dieser Rechtsprechung des EuGH hat sich das Bundesverwaltungsgericht angeschlossen (BVerwG, U.v. 20.2.2013 - 10 C 23/12 - juris, B.v. 25.8.2015 - 1 B 40/15 - juris). Hiernach ist nicht jeder Eingriff in das Recht der Religionsfreiheit, der gegen Art. 10 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-GRCharta) verstößt, bereits eine „Verfolgungshandlung“ im Sinne der QRL. Maßgeblich ist, wie gravierend die Maßnahmen und Sanktionen sind, die gegenüber dem Betroffenen ergriffen werden oder ergriffen werden können. Bei der Prüfung, ob ein Eingriff in die Religionsfreiheit eine Verfolgungshandlung darstellt, ist im Hinblick auf die persönlichen Umstände des Betroffenen zu prüfen, ob er aufgrund der Ausübung der Religionsfreiheit in seinem Herkunftsland u.a. tatsächlich Gefahr läuft, durch einen der in Art. 6 QRL genannten Akteure verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden.
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Der Umstand, dass der Kläger am 20. März 2015 von vermummten Personen am Strand in der Nähe einer Moschee angegriffen und verletzt worden ist, kann nicht die Annahme rechtfertigen, dass sich der Kläger aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Religion außerhalb des Gazastreifens befindet. Die Annahme, dass der Angriff stattgefunden hat, weil der Kläger mit seinen Freunden Musik gehört hatte, anstatt zu beten, beruht nur auf Vermutungen. In der mündlichen Verhandlung gab der Kläger an, dass die Angreifer nur gesagt hätten „Halt die Klappe!“ und sofort auf ihn und seine Freunde losgegangen seien. Es bestehen damit keine auf Tatsachen beruhenden Anhaltspunkte dafür, dass der Angriff im Zusammenhang damit gestanden hat, dass der Kläger und seine Freunde am Strand Musik gehört hatten anstatt in die Moschee zu gehen und zu beten. Auch nach diesem Ereignis ist der Kläger nicht mehr persönlich auf seine Auffassung von Religion angesprochen oder befragt worden und in diesem Zusammenhang bedroht worden, obwohl er sich bis zu seiner Ausreise noch 13 Monate im Gazastreifen aufgehalten hat. Der erstmals in der mündlichen Verhandlung erfolgte Vortrag, dass Mitglieder der Hamas öfter im Elternhaus des Klägers erschienen seien und nach ihm gefragt hätten, ist bereits deshalb nicht glaubhaft, weil der Kläger dies in seiner Anhörung beim Bundesamt nicht erwähnt hat. Es entspricht der allgemeinen Lebenserfahrung, dass Betroffene an solche Ereignisse und Erlebnisse die sie zu dem einschneidenden Verlassen ihres Heimatlandes veranlasst haben, genaue Erinnerungen haben, und diese bei der Frage nach ihren Fluchtgründen durch das Bundesamt nicht zu erwähnen vergessen. Zudem schilderte der Kläger diesbezüglich keinen Zusammenhang mit seiner Auffassung von Religion, sondern stellte dar, dass die Hamas ihn gefragt hätten, ob er für sie arbeiten wolle. Außerdem hätten sie verhindern wollen, dass er Informationen, die er von seinem Onkel in Israel hatte, weitergebe.
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Soweit der Kläger in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat, von Hamas-Mitgliedern angesprochen worden zu sein, als er auf dem Platz vor seinem Haus gesessen habe, er solle beten und nicht Frauen hinterherschauen, stellt dies keine konkrete Bedrohung dar. Ein Zusammenhang zu dem Angriff am 20. März 2015 wurde nicht vorgetragen und ist auch nicht ersichtlich.
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1.2. Der Kläger war vor seiner Ausreise auch keiner Verfolgung wegen seiner politischen Überzeugung als Fatah-Mitglied durch die Hamas ausgesetzt.
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Unterstellt, der Gazastreifen ist - obwohl ein neuer Palästinenserstaat noch nicht entstanden ist - als autonomes staatsfreies, jedoch „staatsähnliches“ Gebiet anzusehen, in dem die Hamas das Gewaltmonopol besitzt und in dem der Hamas asylerhebliche Verfolgungsfähigkeit hinsichtlich der in ihrem Gebiet aufhältigen Bevölkerung beizumessen ist (vgl. dazu VG Hannover, U.v. 11.01.2011 - 7 A 4031710; OVG Nds, U.v. 26.01.2012 - 11 LB 97/11 - juris), so führt auch dies vorliegend nicht zu einem Flüchtlingsanspruch des Klägers, da aus dem Vortrag des Klägers keinerlei Anhaltspunkte ersichtlich sind, dass zum Zeitpunkt seiner Ausreise eine unmittelbar drohende Verfolgung im Herkunftsland bestanden hat.
27
In der mündlichen Verhandlung äußerte der Kläger die Vermutung, dass es Mitglieder der Hamas gewesen seien, die ihm am 16. Oktober 2015 auf dem Nachhausweg ins Knie geschossen haben. Für diese Vermutung bestehen keine auf Tatsachen beruhenden Anhaltspunkte. In der Anhörung beim Bundesamt gab der Kläger an, der Angriff sei von Soldaten der israelischen Armee ausgegangen; es komme immer wieder vor, dass die israelische Armee ohne Grund auf Passanten schieße, die an der Grenze vorbeiliefen. Mit Schriftsatz vom … Juli 2017 ließ er schließlich vortragen, dass die isrealische Armee ihm zugeschrieben habe, Mitglied der Hamas zu sein und ihn deshalb angegriffen habe. Diese changierenden Angaben zeigen, dass der Kläger selbst nicht weiß, von wem der Angriff ausgegangen ist. In der mündlichen Verhandlung hat er geschildert, dass er nach dem Schuss zusammengebrochen sei und nicht gesehen habe, wer ihn abgefeuert hat.
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Eine Verfolgung des Klägers durch die Hamas aufgrund seiner politischen Überzeugung erscheint auch deshalb nicht wahrscheinlich, weil die Hamas den Kläger nach eigenen Angaben gefragt haben, ob er für sie arbeiten wolle. Dies zeigt, dass sie ihn nicht für einen überzeugten Fatah-Anhänger hielten.
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1.3. Selbst wenn die behaupteten Bedrohungssituationen im Jahr 2015 aus asylrelevanten Gründen erfolgt wären, was nicht der Fall ist (s. 1.1. und 1.2.), bestehen keine konkreten Anhaltspunkte, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in den Gazastreifen eine Gefahr droht. Bis zu seiner Ausreise ist dem Kläger im Gazastreifen nichts zugestoßen, obwohl er noch 13 Monate nach dem Angriff vom 20. März 2015 bzw. sechs Monate nach dem Angriff vom 16. Oktober 2016 in seinem Heimatort geblieben ist. Da dem Kläger in dieser Zeit nach eigenen Angaben nichts passiert ist, ist das Gericht davon überzeugt, dass ihm auch bei einer Rückkehr nach mehr als sechs Jahren keine Gefahr durch die Hamas droht. Nach diesem langen Zeitraum ist eine Gefährdung nicht mehr wahrscheinlich. In diesem Zusammenhang ist zu konstatieren, dass sich der Kläger unter Berücksichtigung des geschilderten Verfolgungsschicksals nicht derart exponiert hat, dass er über sein engeres Umfeld hinaus landesweit eine Verfolgung fürchten müsste. Es ist nicht nachvollziehbar, dass ein entsprechend hohes Interesse der vermeintlichen Verfolger an der Habhaftwerdung des Klägers auch mehr als sechs Jahre nach dessen Ausreise aus dem Gazastreifen noch besteht.
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Soweit der Kläger in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht hat, dass auch nach seiner Ausreise noch Ladungen der Palästinensischen Polizeibehörde Gaza an ihn bei seinen Eltern eingegangen seien, dass er sich unverzüglich wegen eines noch offenen Verfahrens einzufinden habe, sind diese nicht geeignet, eine flüchtlingsrelevante Verfolgung zu belegen. Dass im Zusammenhang mit den Vorfällen am 20. März 2015 bzw. 16. Oktober 2015 ein Verfahren gegen den Kläger eröffnet worden war, wurde nicht vorgetragen und ist auch nicht ersichtlich. Ggf. handelt es sich um das Verfahren seiner eigenen Anzeige gegen die Angreifer vom 20. März 2015.
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Eine weitere Ermittlung des Sachverhalts von Amts wegen (§ 86 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 VwGO) war nicht geboten, da es der Kläger unter Verstoß gegen seine Mitwirkungslast unterlassen hat, von sich aus einen ausreichend schlüssigen Sachverhalt zu schildern (vgl. Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 86 Rn. 47). Es ist nichts dafür ersichtlich, dass der Kläger im Gazastreifen im Falle seiner Rückkehr verfolgt würde.
32
Damit lag keine Gefährdung vor, die sich schon so weit verdichtet hat, dass der Kläger für seine Person ohne weiteres mit dem jederzeitigen Verfolgungseintritt aktuell hat rechnen müssen (vgl. BVerwG, U.v. 24.11.2009 - 10 C 24.08 - juris.). Dies reicht für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht aus.
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1.4. Der Kläger kann sich auch nicht erfolgreich auf den Umstand der Asylantragstellung in Deutschland oder seiner illegalen Ausreise berufen. Die Asylbeantragung ist ein subjektiver Nachfluchtgrund, der vom Tatbestand des § 3 AsylG nur dann erfasst wird, wenn sich der Ausländer vor dem Verlassen seines Heimatstaates aus flüchtlingsrelevanten Gründen in einer latenten Gefährdungslage befunden hat. Auch bei der Entstehung des subjektiven Nachfluchtgrundes muss für den Asylsuchenden eine ausweglose Lage bestanden haben, der subjektive Nachfluchtgrund muss also die Folge einer im Heimatstaat vorhandenen Gefährdungslage gewesen sein (vgl. BVerwG, U.v. 31.03.1992 - 9 C 57.91 - juris). Da für den Kläger nach den obigen Ausführungen keine latente Gefährdungslage vor dem Verlassen seines Heimatstaates bestand, scheidet ein subjektiver Nachfluchtgrund bereits aus diesem Grund aus.
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2. Das Bundesamt hat auch zu Recht das Vorliegen von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG abgelehnt. Das Gericht nimmt auch insoweit auf die Begründung des Bundesamts Bezug (§ 77 Abs. 2 AsylG).
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Bei den national begründeten Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK und dem nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG handelt es sich um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand (BVerwG, U.v. 8.9.2011 - 10 C 14.10 - BVerwGE 140, 319 Rn. 16f.).
36
2.1. § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK steht einer Abschiebung entgegen, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Maßgeblich sind die Gesamtumstände des jeweiligen Falls und Prognosemaßstab ist die beachtliche Wahrscheinlichkeit. Ein Abschiebungsverbot infolge der allgemeinen Situation der Gewalt im Herkunftsland kommt nur in Fällen ganz extremer Gewalt in Betracht und auch schlechte humanitäre Bedingungen können nur in besonderen Ausnahmefällen ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK begründen.
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In den Palästinensischen Autonomiegebieten ist die allgemeine bzw. humanitäre Lage aber nicht so ernst, dass eine Abschiebung ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten würde. Für das Vorliegen eines Abschiebeverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG wurde nichts vorgetragen und ist auch in Bezug auf den Kläger als arbeitsfähigen, gesunden jungen Mann unter den in den Palästinensischen Autonomiegebieten derzeit herrschenden Rahmenbedingungen im Allgemeinen nichts ersichtlich (vgl. zur Reichweite der Schutznorm des § 60 Abs. 5 AufenthG BayVGH, B.v. 30.9.2015 - 13a ZB 15.30063 und die darin zit. obergerichtliche Rspr.).
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2.2. Auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG liegt nicht vor.
39
Die allgemeine Gefahr in den Palästinensischen Autonomiegebieten hat sich für den Kläger nicht derart zu einer extremen Gefahr verdichtet, dass eine entsprechende Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG geboten ist. Wann allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Die drohenden Gefahren müssten nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Dies setzt voraus, dass der Ausländer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach seiner Ausreise in sein Heimatland in eine lebensgefährliche Situation gerät, aus der er sich weder allein noch mit erreichbarer Hilfe anderer befreien kann, der Ausländer somit gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 29.6.2010 - 10 C 10.09 - juris Rn. 15).
40
Arbeitsfähige, gesunde junge Männer sind auch ohne besondere Qualifikation, nennenswertes Vermögen und familiären Rückhalt in der Lage, durch Gelegenheitsarbeiten ein kleines Einkommen zu erwirtschaften und damit ein Leben am Rande des Existenzminimums zu bestreiten, so dass für alleinstehende männliche Staatsangehörige keine extreme Gefahrenlage besteht. Im Hinblick auf eine mögliche Eigenexistenzsicherung hat der Kläger die hierfür erforderliche Leistungsfähigkeit eines gesunden jungen Mannes. Die Chancen des Klägers im Verdrängungskampf um die knappen Arbeitsmarktressourcen sind zum gegenwärtigen Entscheidungszeitpunkt als nicht aussichtslos im Vergleich bei der derzeitigen Konkurrenzsituation einzuschätzen. Es ist davon auszugehen, dass sich der Kläger ein Existenzminimum selbst erwirtschaften kann.
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So gab er an, die Schule bis zur zwölften Klasse besucht zu haben und anschließend Berufserfahrung durch Gelegenheitsarbeiten auf dem Bau und als Gehilfe bei einem Metallschmied gesammelt zu haben. Zudem leben nach eigenen Angaben des Klägers seine Eltern, seine vier Brüder und zwei Schwestern sowie die Großfamilie im Heimatland. Es ist mithin davon auszugehen, dass er auf das soziale Netz seiner Familie in den Palästinensischen Autonomiegebieten zurückgreifen kann.
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Nach alledem ist vorliegend davon auszugehen, dass der Kläger in dem nach § 77 Abs. 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der verwaltungsgerichtlichen Beurteilung der Sach- und Rechtslage im Falle einer zwangsweisen Rückführung in sein Heimatland in der Lage wäre, jedenfalls durch Gelegenheitsjobs in den Palästinensischen Autonomiegebieten wenigstens ein geringes Einkommen zu erzielen, damit zumindest ein Leben am Rand des Existenzminimums zu finanzieren und sich allmählich wieder in die Gesellschaft zu integrieren.
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Somit kann von einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht ausgegangen werden.
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3. Nach alledem ist auch die vom Bundesamt nach Maßgabe des § 34 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG erlassene Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung rechtmäßig.
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4. Schließlich begegnet auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG in Nr. 6 des Bescheids vom 22. Mai 2017 keinen rechtlichen Bedenken. Die Ermessenserwägungen der Beklagten sind im Rahmen der auf den Maßstab des § 114 Satz 1 VwGO beschränkten gerichtlichen Überprüfung nicht zu beanstanden, zumal die Klägerseite diesbezüglich keine substantiierten Einwendungen vorgebracht und insbesondere kein fehlerhaftes Ermessen gerügt hat.
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5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83 b AsylG gerichtskostenfrei. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.