Titel:
Nachteilsausgleich, Umwandlung der Prüfungsform, Überkompensation, Dauerleiden, Gebot der Chancengleichheit
Normenkette:
GG Art. 3 Abs. 1, Abs. 3 S. 2
Schlagworte:
Nachteilsausgleich, Umwandlung der Prüfungsform, Überkompensation, Dauerleiden, Gebot der Chancengleichheit
Fundstelle:
BeckRS 2022, 25349
Tenor
1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Der Streitwert wird auf 2.500,00 Euro festgesetzt.
Gründe
1
Die Antragstellerin begehrt von der Antragsgegnerin einen Nachteilsausgleich für schriftliche Prüfungen in zwei Studiengängen.
2
Der Antragstellerin wurde ab dem 16. Oktober 2020 ein Grad der Behinderung von 50 (Schwerbehinderung) zuerkannt.
3
Sie ist seit dem Wintersemester 201.../201... im Studiengang Wirtschaftsingenieurwesen sowie seit dem Wintersemester 201.../201... im Studiengang Materialwissenschaften und Werkstofftechnik (jeweils im Bachelor-Studium) bei der Antragsgegnerin eingeschrieben. Zum Abschluss des Studiums fehlen ihr noch die Leistungsnachweise in drei Modulen (Elektrotechnik, Technische Thermodynamik und Messtechnik).
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Ausweislich der ärztlichen Stellungnahme der Praxis für Psychotherapie (Dipl.-Psych. und Psycholog. Physiotherapeutin Frau ....) vom 19. November 2019 sei die Antragstellerin seit 19. April 2017 in psychotherapeutischer Behandlung. Sie sei bereits 20...... als Schülerin wegen einer depressiven Symptomatik und familiären Schwierigkeiten behandelt worden. In der laufenden Behandlung sei eine rezidivierende depressive Störung (F33.1) und eine Dysthymia (F34.1), insgesamt damit die Diagnose einer Double Depression gestellt worden. Bedingt durch die Symptomatik habe die Antragstellerin zunehmend über Schwierigkeiten berichtet, die Studienanforderungen zu bestehen. Bis vor zwei Jahren sei ihr dies noch einigermaßen gut gelungen durch eine sehr hohe Anstrengung und Lernbereitschaft. Seither habe sie bei sehr guter Intelligenz immer mehr Schwierigkeiten kontinuierlich zu lernen und Lernstoff längerfristig zu behalten und in den Prüfungen wiederzugeben. Es würden zunehmend starke Konzentrationsschwierigkeiten, genereller Antriebs- und Motivationsverlust, Interessenverlust und Schlafprobleme bestehen. Die Symptome seien so beeinträchtigend, dass sie durch Prüfungen häufiger durchfalle und sie die wenigen, noch notwendigen Prüfungen zum Abschluss kaum bewältigen könne. Eine Möglichkeit wäre einen Nachteilsausgleich durch Zeitzugabe z. B. von 20-50% Zeiterhöhung in Klausuren zu gewähren.
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Im darauf Bezug nehmenden ärztlichen Attest der Praxis Dr. A., Prof. Dr. med. F. (Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie) vom 29. November 2019 hält der behandelnde Arzt fest, dass bei der Antragstellerin eine chronische Depression bestehe, bei der gerade neue Therapieversuche, auch medikamentös gestartet würden. Aufgrund der Diagnose, aber auch bei der im Moment nicht sicher vorhersehbaren Wirkung, umgekehrt auch der Möglichkeit von Nebenwirkungen wie Müdigkeit oder Konzentrationsstörungen, bestehe im Moment ein Nachteil bzgl. ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit. Es werde die vorgeschlagene Zeiterhöhung im Umfang von 20-50% bei Prüfungen unterstützt.
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Durch Mitteilungen der Antragsgegnerin vom 13. Dezember 2019 und 24. Januar 2020 wurde der Antragstellerin auf Anträge vom 6. Dezember 2019 und 22. Januar 2020 für den Bachelorstudiengang Wirtschaftsingenieurwesen ein Nachteilsausgleich durch Zeitverlängerung von 25% der regulären Bearbeitungszeit bei Klausuren gewährt. Mit Schreiben vom 16. Dezember 2019 beantragte sie einen Nachteilsausgleich in Form einer Zeitverlängerung für schriftliche Prüfungen auch beim Prüfungsamt Referat … (Studiengang Materialwissenschaften und Werkstofftechnik), der ihr mit am 25. Februar 2020 versendeten Schreiben für das Wintersemester 2019/20 sowie für das Sommersemester 2020 gewährt wurde.
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Am 29. Juni 2020 beantragte die Antragstellerin erstmals einen Nachteilsausgleich durch Umwandlung der schriftlichen in mündliche Prüfungen, da zusätzliche Symptome hinzugekommen seien, die schriftliche Prüfungen selbst mit Zeitverlängerung unmöglich machen würden. Beigefügt war ein ärztliches Attest vom 29. Juni 2020, wonach eine Symptomfreiheit bis auf weiteres nicht absehbar sei. Die Symptomatik sei so schwer, dass die Patientin im Moment krankheitsbedingt und auch wegen der Einnahme mehrerer Medikamente nicht in der Lage sei, schriftliche Prüfungen mit Zeitdauer von einer Stunde oder mehr zu absolvieren, wenngleich mündliche Prüfungen mit einer Dauer von max. 30 Minuten, ggf. verteilt auf mehrere Zeitpunkte im Rahmen eines Nachteilsausgleichs vorstellbar erschienen.
8
Die Antragstellerin war im Sommersemester 2020 wegen Krankheit beurlaubt.
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Mit E-Mail vom 25. August 2020 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag für den Studiengang Wirtschaftsingenieurwesen sowie unter dem 24. September 2020 für den Studiengang Materialwissenschaften und Werkstofftechnik ab. Nach anschließendem Antrag wurde hingegen die Schreibzeitverlängerung von 25% in beiden Studiengängen erneut bestätigt.
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Die Antragstellerin war im Wintersemester 2020/21 und Sommersemester 2021 wegen Krankheit beurlaubt.
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Mit Amtsärztlichem Zeugnis des Landratsamtes zur Vorlage beim Prüfungsamt vom 15. Juni 2021 wurde festgestellt, dass eine Erkrankung aus dem nervenärztlichen Fachgebiet bestehe. Dies führe zu einer deutlichen Verschlechterung des Sehvermögens. Es liege ein chronisches Schmerzsyndrom vor. Hierdurch sei die Antragstellerin bei Prüfungen erheblich eingeschränkt, insbesondere im Erkennen von Schriften und Diagrammen sowie Zahlen. „Aus diesem Grund wäre ein Nachteilsausgleich zu gewähren in Form einer möglichen mündlichen Prüfung mit sehr großen Darstellungen von Diagrammen bzw. mit einer entsprechenden Zeitverlängerung, die doch deutlich die normale Prüfungszeit überschreiten würde, bis zu 100% Zeitverlängerung“.
12
Am selben Tag beantragte die Antragstellerin erneut die Umwandlung der noch ausstehenden Prüfungen in mündliche Prüfungen, da sie bei schriftlichen Prüfungen derzeit erheblich eingeschränkt sei.
13
In einem Aktenvermerk vom 18. Juni 2021 wird festgehalten, dass der Amtsarzt die Antragsgegnerin am 15. Juni 2021 kontaktiert habe, wobei er darauf hingewiesen habe, dass er schlecht Empfehlungen zum Nachteilsausgleich geben könne, da die Möglichkeiten sehr vom Prüfungsziel (welche Kompetenzen seien in der betroffenen Teilprüfung nachzuweisen?) abhängig seien.
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Der Prüfungsausschuss für Materialwissenschaft und Werkstofftechnik lehnte den Antrag der Antragstellerin mit Schreiben vom 5. Juli 2021 hinsichtlich der Klausuren in Elektrotechnik und Technische Thermodynamik 1 und 2 ab. Eine mündliche Prüfung sei nicht möglich. Diese hätten einen gänzlich anderen Charakter als schriftliche Prüfungen. Es könnten praktisch keine Rechnungen abgefragt werden, sondern lediglich Faktenwissen. Gerade im Grundstudium müssten alle anderen Studierenden genau diese oftmals sehr schwierigen Rechnungen durchführen. Man würde die Antragstellerin daher wesentlich besserstellen. Es werde ihr erneut der 25-prozentige Zeitausgleich sowie ein Anspruch auf stark vergrößerte Prüfungsunterlagen angeboten.
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Auch der Prüfungsausschuss für den Bachelorstudiengang Wirtschaftsingenieurwesen lehnte mit E-Mail vom 9. Juli 2021 und im Wesentlichen gleicher Begründung den Antrag ab. Intern wird in einer E-Mail vom 12. August 2021 ausgeführt, dass eine Umwandlung allenfalls im Einzelfall unter Berücksichtigung der fachlichen Besonderheiten in Betracht kommen könnte. Das ärztliche Gutachten sehe eine mündliche Prüfung nicht zwingend vor, sondern es komme auch eine Schreibzeitverlängerung bis zu 100% in Betracht, wobei 100% aus medizinischer Sicht nicht ausgeschöpft werden müssten. 25% seien angemessen, ein höherer Prozentsatz ein unangemessener Vorteil.
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Unter dem 27. Oktober 2021, zugestellt am 16. November 2021, erließ die Antragsgegnerin im Bachelorstudiengang Materialwissenschaft und Werkstofftechnik einen Bescheid, wonach der Antrag auf Gewährung eines Nachteilsausgleichs für die Klausuren Elektrotechnik und Technische Thermodynamik 1 und 2 in Form von mündlichen statt schriftlichen Prüfungen abgelehnt werde (Ziffer 1). Es verbleibe bei dem bereits eingeräumten Nachteilsausgleich mit einem 25%igen Zeitausgleich und Bereitstellung der Prüfungsunterlagen in stark vergrößerter Form (Ziffer 2).
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Der Prüfungsausschuss habe sich in seiner Sitzung vom 30. September 2021 mit dem Anliegen erneut befasst und festgestellt, dass bei einem Wechsel der Prüfungsform die zu ersetzende Form noch geeignet sein müsse, die Befähigung des Kandidaten zu dokumentieren, was bei den streitgegenständlichen Prüfungen nicht der Fall sei. Die Ausführungen im Schreiben vom 5. Juli 2021 werden wiederholt. Der Nachteilsausgleich in der vorgeschlagenen Art würde zu einer Überkompensation der Prüfungsbehinderung führen.
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Unter dem 23. November 2021, zugestellt am 25. November 2021, erließ die Antragsgegnerin im Bachelorstudiengang Wirtschaftsingenieurwesen einen Bescheid, wonach der Antrag auf Gewährung eines Nachteilsausgleichs in Form von mündlichen statt schriftlichen Prüfungen abgelehnt werde (Ziffer 1). Es verbleibe bei dem bereits eingeräumten Nachteilsausgleich mit einem 25%igen Zeitausgleich und Bereitstellung der Prüfungsunterlagen in stark vergrößerter Form (Ziffer 2). Die Begründung entspricht im Wesentlichen der Begründung zum Bescheid vom 27. Oktober 2021. Ergänzend wird ausgeführt, dass sich ein Fokus von längeren und schwierigen Rechnungen auf andere Formen der Fragestellungen verschieben könne. Die in einer mündlichen Prüfung nachgewiesenen Kompetenzen seien im Allgemeinen nicht identisch zu einer schriftlichen Klausur. Die Änderung der Prüfungsform sei daher kein Nachteilsausgleich, sondern bedinge eine Verschiebung der nachgewiesenen Fähigkeiten.
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Die Antragstellerin ließ mit am 13. Dezember 2021 bei Gericht eingegangenen Schriftsatz ihres Bevollmächtigten beantragen,
im Wege der einstweiligen Anordnung die Antragsgegnerin zu verpflichten, der Antragstellerin den Nachteilsausgleich dergestalt zu gewähren, dass die schriftliche Prüfung in den Klausuren Elektrotechnik, technische Thermodynamik 1 und 2 sowie Messtechnik in mündliche Prüfungen umgewandelt werden.
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Zur Begründung lässt sie vortragen, dass sich die Krankheitssymptome auf das Studium auswirken würden. Sowohl bei der Prüfungsvorbereitung als auch bei den Prüfungen würden erhebliche Einschränkungen bestehen. Parallel zur Kopfschmerzsymptomatik würden Probleme beim Erkennen von Schrift, Diagrammen sowie Zahlen auftreten. Dadurch sei die Aufnahme bzw. das Verständnis von schriftlichen Prüfungsfragen eingeschränkt und deren Beantwortung durch die Kopfschmerzen erschwert. In Prüfungssituation entstünden erhebliche Nachteile im Vergleich zu anderen Prüfungsteilnehmern, wodurch die Chancengleichheit nicht mehr gegeben sei.
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Die 25-prozentige Verlängerung der regulären Bearbeitungszeit sei nicht ausreichend, um einen adäquaten Ausgleich zu gewährleisten. Das Argument der Antragsgegnerin, wonach sich der Prüfungsfokus bei der Abfrage von längeren und schwierigen Rechnungen auf andere Formen der Fragestellung verschieben könne, könne man nicht gelten lassen. Der Fokus müsse sich nicht verschieben. Ein Prüfer, welchem die besondere Situation um eine solche mündliche Prüfung bekannt sei, könne sicherlich problemlos dafür sorgen, dass diese Verschiebung gerade nicht stattfinde. Es könne (bspw. durch bewusstes Lenken der Gesprächsführung und spezielle Fragen) sehr wohl sichergestellt werden, dass das Niveau dieser mündlichen Prüfung dem einer schriftlichen Klausur entspreche. Die auf Prüferseite erforderliche erhöhte Aufmerksamkeit und der ggf. erforderliche andere Prüfungsablauf im Vergleich zu einer „normalen“ mündlichen Prüfung sei im Hinblick auf die Chancengleichheit hinzunehmen. In welcher Form eine „Überkompensation“ bei einer objektiv geführten Prüfung, die sich an dem besonderen Fokus orientiere, eintreten solle, erschließe sich in keiner Weise. Es würde sich um die von § 15 Satz 1 PSO geforderte Rücksichtnahme handeln. Die Antragstellerin habe einen Anspruch auf die Bewilligung des Nachteilsausgleiches in der beantragten Form. Der Anordnungsgrund bestehe darin, dass die streitgegenständlichen Prüfungen zum Ende des Semesters, also nur jeweils zweimal jährlich ca. Februar/März und Juli/August angeboten würden. Die Antragstellerin würde nach der gegenwärtigen Situation eine schriftliche Klausur mit einer 25-prozentigen Schreibzeitverlängerung absolvieren müssen, wollte sie zur Prüfung antreten. Trete sie diese bis zur Entscheidung in der Hauptsache nicht an, werde sie dazu gezwungen, ihr Studium in die Länge zu ziehen, was das weitere berufliche Fortkommen und den Berufsstart verzögere sowie (je nach Verfahrensdauer) die Erreichung der Semesterhöchstzahl zur Folge haben würde, wobei eine Exmatrikulation drohe. Bei Ablegen der Prüfung würde die Gefahr bestehen, diese nicht zu bestehen, was sie eines Versuchs beraube; beim letzten Versuch würde dies zur Exmatrikulation führen.
22
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzuweisen.
23
Nach den Prüfungsordnungen seien in den streitgegenständlichen Fächern schriftliche Prüfungen abzulegen. Das Gebot der Chancengleichheit habe besonderes Gewicht. Es müssten für vergleichbare Prüfungen soweit wie möglich vergleichbare Prüfungsbedingungen und Bewertungsmaßstäbe gelten. Die Frage, ob und in welcher Form ein Nachteilsausgleich zu gewähren sei, habe - genauso wie bei der Beurteilung der Prüfungsunfähigkeit - die Prüfungsbehörde in eigener Verantwortung zu beantworten, ohne dabei an die Feststellungen eines Sachverständigen gebunden zu sein. Die Einräumung besonderer Prüfungsbedingungen müsse ihrerseits jedoch im Verhältnis zu den anderen Prüflingen die Chancengleichheit wahren. Sie dürfe nicht zu einer Überkompensation, also einer Übervorteilung des betreffenden Prüflings führen; ebenso wenig dürfe mit ihr eine Modifizierung der Prüfungsinhalte einhergehen. In jedem Fall müsse die andere Prüfungsform noch geeignet sein, die Befähigung des Kandidaten zu dokumentieren; sei sie dies nicht, scheide ein Wechsel der Prüfungsform aus, weil eine solche Prüfung keine gleichwertige Prüfungsleistung in einer anderen Form wäre und die Chancengleichheit verletzen würde. Es sei daher vorher eine genaue Prüfung vorzunehmen, ob nicht doch eine den Prüfungscharakter weniger beeinträchtigende Maßnahme (Schreibzeitverlängerung oder zusätzliche Pausenzeiten) als angemessener Ausgleich ausreichend sei. Der Prüfling sei gehalten, die Erleichterungen zweckgerecht voll zu nutzen, bevor er rüge, sie seien unzureichend bemessen worden. Ein Nachteilsausgleich sei grundsätzlich für jede Prüfung gesondert zu prüfen und könne bzw. müsse ggf. in unterschiedlichen Studiengängen auch bei gleichartiger Modulbezeichnung unterschiedlich entschieden werden. Aus ärztlicher Sicht könnte der Nachteilsausgleich durch zwei Optionen erfüllt werden, wobei beide hinreichend seien, um einen angemessenen Nachteilsausgleich herzustellen. Für Wirtschaftsingenieurwesen sei eine mündliche Prüfung nicht vorgesehen. Der Studiengang bescheinige Kompetenzen, die auf dem Konzept einer schriftlichen Klausur und darauf ausgerichteter Lehre basieren. In schriftlichen Klausuren würden regelmäßig längere und schwierigere Rechnungen verlangt, die in dieser Form nicht Gegenstand mündlicher Prüfungen seien und sein könnten. Eine mündliche Prüfung könnte den Umfang und inhaltlichen Charakter der Prüfung verändern. Es gebe Studierende, die bei einer mündlichen Prüfung bessere Leistungen zeigten als in einer schriftlichen Klausur und umgekehrt. Vor diesem Hintergrund würde eine generelle Wahlmöglichkeit einen Vorteil gegenüber anderen Studierenden begründen. Für eine pauschale Umwandlung bestehe keine Notwendigkeit angesichts der möglichen Schreibzeitverlängerung. Mit 25% liege die Bearbeitungszeit deutlich über der normalen Prüfungszeit und setze die ärztlichen Empfehlungen angemessen um. Der Prüfungsausschuss sei geneigt, der Antragstellerin unter Ausnutzung aller möglichen Ermessensspielräume sehr großzügig entgegen zu kommen und in den Fällen, in denen der/die Dozent/in eine gleichwertige mündliche Prüfung für möglich halte, in einzelnen Ausnahmefällen zuzustimmen. Für das Fach Grundlagen der Elektrotechnik (im Zuge des Bachelorstudiums Wirtschaftswissenschaften) habe der zuständige Dozent festgestellt, dass eine gleichwertige mündliche Prüfung möglich sei und der Prüfungsausschuss habe zugestimmt, worüber die Antragstellerin am 4. Oktober 2021 informiert worden sei, worauf sie aber nicht reagiert habe. Insofern fehle der Antragstellerin das Rechtsschutzbedürfnis.
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Hinsichtlich des Bachelorstudiengangs Materialwissenschaft und Werkstofftechnik sollen breite Grundlagen vermittelt werden, über die Konsens herrsche. Durch ein Bestehen der Prüfung bestätige die Antragsgegnerin ausreichende Kenntnisse, worauf sie sich auch selbst verlasse. Entsprechend breit seien die zugehörigen Klausuren angelegt, die mit beispielsweise vier Stunden für die Prüfung in Technischer Thermodynamik auch recht lang seien, was in einer mündlichen Prüfung aus zeitlichen Gründen nicht abgeprüft werden könnte. Der Nachweis eines kleinen Ausschnitts des Wissens würde als Äquivalent für das gesamte Gebiet dienen. Die zeitliche Dauer der Prüfung sei Teil der Leistungserhebung, da die Leistung im Normalfall in dieser Zeit erbracht werden müsste, woran immer wieder Studierende scheiterten. Die Studierenden müssten eigenständig z. B. komplexe Berechnungen durchführen, was Zeit erfordere. Eine bewusste Lenkung oder spezielle (fokussierte) Fragestellungen sollen gerade vermieden werden. Der Prüfer der Modulprüfung „Technische Thermodynamik“ habe festgestellt, dass die vorgesehene Klausur durch eine mündliche Prüfung nicht gleichwertig ersetzt werden könnte, insbesondere seien Kriterien zu erfüllen, wie beispielsweise Aufgaben rechnerisch zu lösen, wobei es nicht genüge, Fakten zu benennen oder Lösungswege qualitativ in Worten zu skizzieren. Das Lösungsergebnis bestehe in bestimmten Werten, die jeweils als Zahl mit Einheit anzugeben seien. Der Lösungsweg bestehe darin, u.a. die richtigen Gleichungen aufzustellen. Jegliche Kontaktaufnahme führe zu einem Nichtbestehen. Der Prüfer solle auch keine zusätzliche Hilfestellung geben. Zuletzt solle die Lösung mit angemessen ausgewählten Ressourcen materieller Art und in zeitlicher Hinsicht erfolgen, da die Aufgaben unter solchen Randbedingungen zu bewältigen seien. Weder das gründliche Lesen einer komplexen Aufgabenstellung noch deren konkrete schriftliche Lösung ließen sich sinnvoll in einer mündlichen Prüfung bewerkstelligen. Mündliche Prüfungen zeichneten sich durch eine Dialogform aus, wobei Rückfragen an den Prüfer und Hilfestellungen durch ihn als Anschub zu Lösungen üblich seien. Der Prüfungszeitraum sei wesentlich kürzer als bei einer schriftlichen Prüfung.
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Diese Ausführungen würden für das Fach Elektrotechnik analog gelten. Bei diesen beiden Kernfächern müsse das grundständige Studium sicherstellen, dass ein Kanon an Grundfähigkeiten erarbeitet, eingeübt und sicher beherrscht werde, was eine Klausur nachweise. Ein Tausch in eine mündliche Prüfung sei regelmäßig nur mit erheblichen Abstrichen hinsichtlich der Aussagekraft möglich. Bei Wirtschaftsingenieurwesen sei Elektrotechnik dagegen nur ein Nebenfach.
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Hierauf replizierte der Bevollmächtigte der Antragstellerin, dass diese keine freie Wahlmöglichkeit ihrer Prüfungssituation wünsche. Dem amtsärztlichen Vorschlag würden verschiedene Möglichkeiten entspringen (Schreibzeitverlängerung um bis zu 100% oder mündliche Prüfung). Weshalb dann trotzdem lediglich eine Verlängerung von maximal 25% gewährt werde, werde nicht näher begründet. Die Bescheide wären auch dann rechtswidrig, wenn eine Schreibzeitverlängerung von mehr als 25% gewährt werden hätte müssen. Die mündliche Prüfung im Fach Elektrotechnik sei ihr lediglich im Studiengang Wirtschaftsingenieurwesen angeboten worden, nicht bei Materialwissenschaften, was sie dann annehmen würde. Warum hier bei einem identischen Prüfungsfach unterschiedliche Regelungen an den Tag gelegt würden, erschließe sich nicht.
27
Auf Nachfrage der Berichterstatterin, ob der Antrag sich auf alle Prüfungen in beiden Studiengängen beziehe oder ob sich der Antrag nicht auf „Grundlagen der Elektrotechnik“ im Rahmen des Studiengangs Wirtschaftsingenieurwesen beziehe, stellte der Bevollmächtigte der Antragstellerin klar, dass der Antrag sich auf alle Prüfungen in beiden Studienfächern unabhängig des jeweils konkreten Studiengangs beziehe.
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Im Übrigen wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Behördenakte (§ 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO entsprechend).
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Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung). Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, nötig erscheint, um insbesondere wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern (Regelungsanordnung). Eine derartige einstweilige Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO setzt sowohl ein Bedürfnis für die Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes aufgrund Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) als auch einen Anordnungsanspruch voraus, was vom Antragsteller glaubhaft zu machen ist (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO). Maßgeblicher Zeitpunkt für die verwaltungsgerichtliche Beurteilung ist dabei die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 123 Rn. 45 ff.).
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Ist der Antrag - wie vorliegend - auf eine Vorwegnahme der Hauptsache gerichtet, so sind an die Glaubhaftmachung von Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch erhöhte Anforderungen zu stellen. Der Erlass einer einstweiligen Anordnung kommt dann nur in Betracht, wenn ein Obsiegen des Antragstellers in der Hauptsache bei summarischer Prüfung überwiegend wahrscheinlich ist und dem Antragsteller ohne den Erlass einer einstweiligen Anordnung schwere und unzumutbare Nachteile entstünden, die auch bei einem späteren Erfolg in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden könnten.
31
Vorliegend ist ein Obsiegen in der Hauptsache im Hinblick auf den konkret gestellten Antrag nicht überwiegend wahrscheinlich.
32
Nachdem die Antragstellerin trotz Nachfrage der Berichterstatterin bis zuletzt beantragt, für alle Prüfungen unabhängig vom Studiengang eine Umwandlung in mündliche Prüfungen vorzunehmen, fehlt ihrem Antrag das Rechtsschutzbedürfnis, soweit er die Prüfung „Grundlagen der Elektrotechnik für Wirtschaftsingenieure und Materialwissenschaftler“ im Studiengang Wirtschaftsingenieurwesen betrifft. Diesbezüglich hat die Antragsgegnerin über den zuständigen Professor mit E-Mail vom 4. Oktober 2021 mitteilen lassen, dass ein Termin für eine mündliche Prüfung abgestimmt werden solle. Diese Zusage ist weder ohne Anerkennung einer Rechtspflicht noch inhaltlich unter einem Vorbehalt erfolgt, was auch die Antragstellerin nicht in Zweifel zieht. Hieran hält die Antragsgegnerin offensichtlich auch fest. Aufgrund fehlender Einschränkungen besteht nunmehr kein nachvollziehbares und schützenswertes rechtliches Interesse der Antragstellerin an einer Entscheidung des Gerichts über die Frage, ob sie einen entsprechenden Anspruch besitzt. Der Antrag ist insoweit schon unzulässig.
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Im Übrigen kann die Antragstellerin wegen der Erkrankung, die ihr in den ärztlichen Stellungnahmen attestiert worden ist, aller Voraussicht nach keinen Nachteilsausgleich dergestalt beanspruchen, dass die streitgegenständlichen schriftlichen Prüfungen in mündliche Prüfungen umgewandelt werden.
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1. Die Grundlage für die Gewährung eines Nachteilsausgleichs im vorliegenden Fall ergibt sich hinsichtlich der ausstehenden Prüfungen im Studiengang Wirtschaftsingenieurwesen aus § 15 Satz 1 der Prüfungs- und Studienordnung für den Bachelorstudiengang Wirtschaftsingenieurwesen an der Universität … vom … (in der Fassung seit …...), wonach zur Wahrung ihrer Chancengleichheit auf die besondere Lage behinderter Prüfungskandidaten in angemessener Weise Rücksicht zu nehmen ist. Der Prüfungsausschuss legt auf schriftlichen Antrag des Prüfungskandidaten nach der Schwere der nachgewiesenen Prüfungsbehinderung fest, in welcher Form ein behinderter Prüfungskandidat seine Prüfungsleistung erbringt bzw. gewährt eine Arbeitszeitverlängerung. Dem entspricht § 15 Satz 1 und 2 der Prüfungs- und Studienordnung für den Bachelorstudiengang Materialwissenschaften und Werkstofftechnik (seit der Fassung vom …...) im Wesentlichen. Dieser Anspruch beruht auf dem Gebot der Chancengleichheit (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 12 Abs. 1 GG), das sicherstellen soll, dass alle Prüflinge möglichst gleiche Chancen haben, die Leistungsanforderungen zu erfüllen. Zu diesem Zweck sollen die Bedingungen, unter denen die Prüfung abgelegt wird, für alle Prüflinge möglichst gleich sein. Es müssen grundsätzlich einheitliche Regeln für Form und Verlauf der Prüfungen gelten; die tatsächlichen Verhältnisse während der Prüfung müssen gleichartig sein.
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Allerdings sind einheitliche Prüfungsbedingungen geeignet, die Chancengleichheit derjenigen Prüflinge zu verletzen, deren Fähigkeit, ihr vorhandenes Leistungsvermögen darzustellen, erheblich beeinträchtigt ist. Diesen Schwierigkeiten des Prüflings muss durch geeignete Ausgleichsmaßnahmen Rechnung getragen werden. Die Ausgleichsmaßnahme muss im Einzelfall nach Art und Umfang so bemessen sein, dass der Nachteil nicht „überkompensiert“ wird. Die typische Ausgleichsmaßnahme in schriftlichen Prüfungen ist die Verlängerung der Bearbeitungszeit (BVerwG, U.v. 29.7.2015 - 6 C 35/14 - BeckRS 2015, 52457 Rn. 15 f.). Die Maßnahmen des Nachteilsausgleichs haben sich an der konkreten Behinderung und der jeweiligen Prüfung zu orientieren (BayVGH, U.v. 19.11.2018 - 7 B 16.2604 - juris Rn.19; B.v. 28.6.2012 - 7 CE 12.1324 - juris Rn. 25).
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a. Bei der Frage, ob im maßgeblichen Zeitpunkt der Prüfung ein Dauerleiden vorliegt, handelt es sich - genauso wie bei der Beurteilung der Prüfungsunfähigkeit - um eine Rechtsfrage, die von der Prüfungsbehörde in eigener Verantwortung zu beantworten ist (Niehues/Fischer/Jeremias, Prüfungsrecht, 7. Aufl. 2018, Rn. 258). In tatsächlicher Hinsicht hat das Gericht keinen Zweifel an der Richtigkeit der in den vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen gestellten Diagnosen.
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b. Auch die Frage, ob und in welcher Form ein Nachteilsausgleich zu gewähren ist, hat die Prüfungsbehörde in eigener Verantwortung zu beantworten, ohne dabei an die Feststellungen eines Sachverständigen gebunden zu sein (Niehues/Fischer/Jeremias, Prüfungsrecht, 7. Aufl. 2018, Rn. 259). Eine Verpflichtung, die Empfehlungen und Anregungen eines Gutachtens, das eine Vielzahl von denkbaren Maßnahmen zur Erleichterung (z. B. des Lesevorgangs) auflistet, unverändert zu übernehmen, hat der Prüfungsausschuss nicht. Ärzte tragen zur Aufklärung des medizinischen Sachverhalts bei. Sie sind jedoch nicht zur Beantwortung der rechtlichen Frage berufen, ob bei dem festgestellten Sachverhalt die Tatbestandsvoraussetzungen einer bestimmten Rechtsnorm vorliegen (vgl. hierzu allg.: BVerwG, U.v. 5.6.2014 - 2 C 22/13 - BVerwGE 150, 1-17 Rn. 18; VGH BW, B.v. 8.7.2021 - 1 S 2111/21 - juris). Die Entscheidungszuständigkeit verbleibt auch dann, wenn sich die Behörde der Sachkunde von Sachverständigen bedient, bei der Behörde; diese muss die getroffene Entscheidung inhaltlich verantworten können und darf die Entscheidung nicht auf den zugezogenen Sachverständigen delegieren, indem sie das Ergebnis eines Sachverständigengutachtens ungeprüft übernimmt. Sie muss sich vielmehr unter Auseinandersetzung mit dem Inhalt des sachverständigen Votums ihr eigenes - ggf. vom Votum abweichendes - Urteil bilden. Es ist nicht von vornherein auszuschließen, dass Hilfsmaßnahmen, die medizinisch geboten erscheinen, einem Kandidaten in der Prüfung ungerechtfertigte Vorteile gegenüber den Mitprüflingen verschaffen können. Die medizinische Indikation ist eine Grundlage, aber nicht in jedem Falle allein maßgebliches Kriterium für die Beurteilung der Angemessenheit von Ausgleichsmaßnahmen. Demzufolge ist die Entscheidung, welche Prüfungserleichterungen bei einem bestimmten Krankheitsbild rechtlich geboten sind, auch allein Sache des Gerichts (vgl. VG München, U.v. 24.11.2015 - 3 K 15.3025 - BeckRS 2016, 43046; VG Freiburg, U.v. 5.8.2021 - 1 K 3332/20 - BeckRS 2021, 32613 Rn. 34; VGH BW, B.v. 26.8.1993 - 9 S 2023/93 - NVwZ 1994, 598, B.v. 1.6.2017 - 9 S 1241/17 - NJW 2017, 3400 Rn. 14). Bei der von der Prüfungsbehörde getroffenen Entscheidung über entsprechende Ausgleichsmaßnahmen handelt es sich - ungeachtet eines möglichen Wortlauts der prüfungsrechtlichen Vorschrift („kann“) - um eine gerichtlich voll überprüfbare, rechtlich gebundene Verwaltungsentscheidung (VG Ansbach, B.v. 26.4.2013 - 2 E 13.00754 - BeckRS 2013, 50830; Quapp, Der Nachteilsausgleich im deutschen Hochschulprüfungsrecht - aktuelle Rechtsprechung und Empfehlungen, DVBl 2018, 80, 83).
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Bei Beachtung dieser Maßgaben konnte die Antragstellerin einen Anspruch auf die Umwandlung der Prüfungsform nicht glaubhaft machen. Die Nennung einer konkreten Prüfungsart - z. B. in Gestalt einer schriftlichen Prüfung - umfasst mehr als die bloße Bestimmung einer einzuhaltenden Form und damit die Frage, in welcher Form die Prüfungsleistung gegenüber der Prüfungsbehörde kommuniziert wird. Vielmehr dient die Bestimmung der Prüfungsart der Festlegung, auf welche Art und Weise eine Prüfung in ihrem Ablauf ausgestaltet wird. Mit der Festlegung einer Prüfungsart ist das Abfragen unterschiedlicher Kompetenzen (schriftliche Ausdrucksfähigkeit oder mündliche Kommunikationsfähigkeit, konzentriertes ungestörtes Arbeiten an einer Aufgabe oder Interaktionsfähigkeit) verbunden (Niehues/Fischer/Jeremias, Prüfungsrecht, 7. Aufl. 2018, Rn. 28). Die Gewährung einer anderen Prüfungsform als Nachteilsausgleich ist daher nicht unproblematisch. Das Prüfungsverfahren muss gewährleisten, dass die geistige Leistungsfähigkeit der Prüflinge unter gleichen Bedingungen zum Ausdruck kommen kann. Der Nachteilsausgleich darf am Maßstab der Chancengleichheit nicht eingesetzt werden, um durch Prüfungsvergünstigungen Leistungsschwächen auszugleichen, die für Art und Umfang der Eignung und Befähigung, die mit dem Leistungsnachweis gerade festgestellt werden sollen, von Bedeutung sind. Die Erbringung der Prüfungsleistung in einer alternativen Prüfungsform ermöglicht dem Prüfling ggf. das Ausweichen gegenüber den in dem jeweiligen Prüfungstyp gestellten Prüfungsanforderungen (z. B. präsentes Wissen im Rahmen eines eingeschränkten Zeitbudgets abzufragen). Eine Abänderung der Prüfungsform dergestalt, dass eine nach der einschlägigen Prüfungsordnung vorgesehene Prüfung durch eine andere Prüfungsform ersetzt wird, die nicht mehr geeignet ist, die Befähigung des Kandidaten zu dokumentieren, scheidet von vornherein aus (VG Gera, B.v. 21.8.2013 - 2 E 604/13 Ge - BeckRS 2014, 49261). Bei der Beurteilung der Gleichwertigkeit einer Ersatzprüfung sind strenge Maßstäbe anzulegen. Ein Anhaltspunkt, welche Befähigung mit der Prüfung nachgewiesen werden soll, ergibt sich z. B. aus den jeweiligen Modulbeschreibungen für den Studiengang. Die Prüfungsbehörde ist angehalten, sich vor Gewährung des Nachteilsausgleichs, über die Lern- und Prüfungsziele des Moduls zu informieren, das nach dem Prüfungsplan abgeprüft werden soll (Quapp, a.a.O. DVBl 2018, 80, 85 f.; vgl. auch Niehues/Fischer/Jeremias, Prüfungsrecht, 7. Aufl. 2018, Rn. 259).
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Liegt bei einem Prüfling eine dauerhafte krankheitsbedingte Einschränkung der geistigen Leistungsfähigkeit vor, so ist dieser Umstand Bestandteil seines durch die Prüfung zu belegenden Leistungsbildes. Dauerleiden prägen als persönlichkeitsbedingte Eigenschaften die Leistungsfähigkeit des Prüflings. Ihre Folgen bestimmen deshalb im Gegensatz zu sonstigen krankheitsbedingten Leistungsminderungen das normale Leistungsbild des Prüflings. Sie sind mithin zur Beurteilung der Befähigung bedeutsam, die durch die Prüfung festzustellen ist (BVerwG, B.v. 13.12.1985 - 7 B 210/85 - NVwZ 1986, 377). Wenn sich eine persönlichkeitsbedingte generelle Einschränkung der psychischen Leistungsfähigkeit im Prüfungsergebnis negativ niederschlägt, so wird dadurch dessen Aussagewert nicht verfälscht, sondern in besonderer Weise bekräftigt. Ist ein Prüfling etwa aus psychischen Gründen nicht in der Lage, dem Zeitdruck in einer schriftlichen Prüfung standzuhalten, so ist es mit der Chancengleichheit aller Prüflinge nicht zu vereinbaren, ihm dafür einen Ausgleich etwa in Form einer Prüfungszeitverlängerung zu gewähren. Dadurch würde das Leistungsbild des Prüflings zu seinen Gunsten und zu Lasten der im Wettbewerb stehenden Mitprüflinge verfälscht (VG Magdeburg, U.v. 28.1.2016 - 7 B 158/16 - BeckRS 2016, 139027 Rn. 22).
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Der Prüfungsausschuss hat bei seiner Entscheidung die Feststellungen des Amtsarztes zur Kenntnis genommen und eine eigene Entscheidung getroffen. Dass diese Entscheidung einzig auf eine Umwandlung in mündliche Prüfungen lauten muss, ist nicht erkennbar.
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Die in der Akte befindlichen ärztlichen Stellungnahmen sprechen dafür, dass es sich vor allem um eine depressive Symptomatik handelt. Es ist die Rede von Konzentrationsschwierigkeiten und generellem Antriebs- und Motivationsverlust, Verlust der Fähigkeit Gefühle zu empfinden, sodass die Antragstellerin weniger Leistungsdruck verspüre, was verhindere, dass sie die volle Leistungsfähigkeit zeigen könne. Die Antragstellerin schreibt in ihrem Antrag von 2019 selbst von „kompletten Blackouts“.
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Soweit darin eine dauerhafte krankheitsbedingte Einschränkung der geistigen Leistungsfähigkeit zu sehen ist, zumal der weitere Verlauf seit Ende des Jahres 2019 nicht absehbar zu sein scheint, ist es nach obigen Ausführungen mit der Chancengleichheit aller Prüflinge nicht zu vereinbaren, dafür einen Ausgleich durch mündliche Prüfungen zu gewähren. Vielmehr scheinen die beschriebenen - ernst zu nehmenden - Einschränkungen den generellen Leistungszustand darzustellen. Dass die mit der Prüfungssituation typischerweise verbundenen Anspannungen und Belastungen Konzentrationsstörungen fördern können, ist grundsätzlich hinzunehmen und nicht als eine krankhafte Verminderung der Leistungsfähigkeit, sondern vielmehr als prüfungsrelevantes Defizit der persönlichen Leistungsfähigkeit zu bewerten (vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Prüfungsrecht, 7. Aufl. 2018, Rn. 256). Ein psychisches Leiden im Erwachsenenalter erschwert nicht nur die rein mechanische Lese- und Schreibtätigkeit als technischen Vorgang, sondern beeinträchtigt die gedankliche Erarbeitung der Klausurlösung selbst (vgl. VG Magdeburg, U.v. 28.1.2016 - 7 B 158/16 - BeckRS 2016, 139027 Rn. 25).
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Soweit vor allem im ärztlichen Zeugnis vom 15. Juni 2021 erstmals Störungen des Sehvermögens angesprochen werden, bedarf es dagegen jedenfalls für die Phasen der Klausurbearbeitung, die von der Beeinträchtigung der Antragstellerin konkret betroffen sind, eines Ausgleichs (vgl. VG München, B.v. 17.3.2021 - M 27 E 21.1122 - BeckRS 2021, 6326 Rn. 37; U.v. 24.11.2015 - M 3 K 15.3025 - juris Rn. 36 ff.), nicht aber zwingend in Form einer mündlichen Prüfung. Weshalb eine Beeinträchtigung des Sehvermögens nicht durch beispielsweise eine Schreibzeitverlängerung und/ oder größere Grafiken bewältigt werden kann, erschließt sich nicht.
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Der zuständige Medizinaloberrat … hat festgestellt, dass wegen der erheblichen Einschränkung durch die deutliche Verschlechterung des Sehvermögens und das chronische Schmerzsyndrom, insbesondere im Erkennen von Schriften und Diagrammen sowie Zahlen ein Nachteilsausgleich in Form einer möglichen mündlichen Prüfung mit sehr großen Darstellungen von Diagrammen bzw. mit einer entsprechenden Zeitverlängerung zu gewähren wäre, die doch deutlich die normale Prüfungszeit überschreiten würde, bis zu 100% Zeitverlängerung. Eine Nachfrage des Gerichts wie diese Empfehlung konkret gemeint ist, konnte bislang nicht beantwortet werden, da sich Herr … auf unbestimmte Zeit im Krankenstand befindet. Die Antragstellerin konnte im Rahmen der summarischen Prüfung des einstweiligen Rechtsschutzes nicht glaubhaft machen, dass die Empfehlung des Amtsarztes ausschließlich dahingehend auszulegen ist, dass eine generelle Umwandlung der schriftlichen in mündliche Prüfungen zu erfolgen hat, bei denen dann entweder sehr große Darstellungen oder alternativ eine Zeitverlängerung zur Verfügung gestellt werden solle. Vielmehr geht ihr Bevollmächtigter selbst (neben der Antragsgegnerin) davon aus, dass vom Amtsarzt auch eine schriftliche Prüfung mit deutlicher Zeitverlängerung als Nachteilsausgleichsmaßnahme in Betracht gezogen wurde. Hierfür spricht ebenfalls der - wenn auch knappe - Vermerk der Antragsgegnerin, wonach der Amtsarzt ihr gegenüber angegeben habe, dass er schlecht Empfehlungen zum Nachteilsausgleich geben könne, da die Möglichkeiten sehr vom Prüfungsziel abhängig seien. Bestätigend kommt auch die ärztliche Stellungnahme vom 29. Juni 2020 hinzu, wonach schriftliche Prüfungen nicht schlechthin ausgeschlossen sind.
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Darüber hinaus konnte die Antragstellerin auch nicht glaubhaft machen, dass die Antragsgegnerin ihre Einschätzung, dass in den streitgegenständlichen Prüfungen eine Umwandlung nicht infrage kommt, weil sie die Befähigung nicht abbilden würde, fehlerhaft getroffen hätte. Wie ausgeführt, sind bei der Beurteilung der Gleichwertigkeit einer Ersatzprüfung strenge Maßstäbe anzulegen. Dass der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 GG und auch das Verbot der Benachteiligung Behinderter (Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG) es nicht gebieten, der Behinderung durch die Zurücknahme der inhaltlichen Anforderungen an das Bestehen einer Prüfung Rechnung zu tragen, ist im Prüfungsrecht anerkannt (OVG Saarlouis, B.v. 2.10.2006 - 3 W 12/06 - NVwZ-RR 2007, 106). Indem die Antragstellerseite pauschal in Zweifel zieht, dass eine Umwandlung nicht möglich ist, erfüllt sie damit nicht die strengen Maßstäbe, insbesondere ergibt sich bereits aus der Modulbezeichnung „Grundlagen der Elektrotechnik“ gegenüber „Elektrotechnik“ ein Unterschied. Die Lernziele der fraglichen Veranstaltungen werden im Modulhandbuch der Antragsgegnerin beschrieben. Voraussetzung aller streitgegenständlichen Module ist vor allem die höhere Mathematik. Auch wenn die Kammer die Annahme der Antragsgegnerin, dass in mündlichen Prüfungen keine Rechnungen, sondern lediglich Faktenwissen abgefragt werden könnten, in dieser Pauschalität nicht teilt, steht die Geeignetheit unter anderem deswegen infrage, weil es nach allgemeiner Lebenserfahrung sogar einen höheren Schwierigkeitsgrad darstellt, komplizierte Rechnungen auf Universitätsniveau statt schriftlich in einer mündlichen Prüfung abzufragen, zumal das Festhalten von Zwischenschritten bzw. - ergebnissen sowie eine Denkpause nicht in gleicher Weise möglich sind.
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Die Entscheidung steht auch mit den Prüfungsordnungen im Einklang. Nach der seit … geltenden Prüfungsordnung für Materialwissenschaften und Werkstofftechnik werden die Prüfungen unter anderem in Form von schriftlichen und mündlichen Prüfungen abgelegt (§ 11 Abs. 1), wobei im entsprechenden Anhang in dem Modul Elektrotechnik und Technische Thermodynamik eine schriftliche Prüfung vorgeschrieben ist. Dem entspricht im Wesentlichen die seit … geltende Prüfungsordnung für Wirtschaftsingenieurwesen. Auch für Messtechnik ist nach dem entsprechenden Anhang eine Klausur vorgeschrieben. Während eine zweite Wiederholung einer Prüfung nach der Prüfungsordnung für Materialwissenschaften und Werkstofftechnik vom … grundsätzlich als mündliche Prüfung durchgeführt wurde und sich im Anhang noch keine Vorgabe der Prüfungsform für die streitgegenständlichen Module fand, wurde mit der Prüfungsordnung vom …die Wiederholungsvorschrift unter anderem dahingehend reformiert, dass die zweite Wiederholungsprüfung lediglich noch als mündliche oder schriftliche Prüfung durchgeführt werden kann. In der aktuellen Fassung ist eine mündliche Prüfung gar nicht mehr vorgesehen. In der Prüfungsordnung für Wirtschaftsingenieurwesen wird eine mündliche Wiederholungsprüfung ebenfalls nicht erwähnt.
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Eine Gesamtbetrachtung der Erfolgsaussichten der Klage ergibt damit, dass der geltend gemachte Anspruch voraussichtlich nicht besteht. Andernfalls würde die Antragstellerin bei der Leistungsbeurteilung gegenüber ihren Mitprüflingen in nicht gerechtfertigter Weise bevorzugt und der auszugleichende Nachteil ihrer Behinderung überkompensiert. Das wäre jedoch mit dem Grundsatz der Chancengleichheit nicht vereinbar.
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Weil der Antrag allein auf die Durchführung einer mündlichen Prüfung gerichtet ist, war auf weitere Maßnahmen zum Nachteilsausgleich nicht einzugehen. Insoweit ist allerdings darauf hinzuweisen, dass die bereits gewährte Verlängerung der Bearbeitungszeit um 25% weiter in Kraft ist und der Antragstellerin Prüfungsunterlagen in stark vergrößerter Form zur Verfügung gestellt werden.
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2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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3. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 52 Abs. 1 des Gerichtskostengesetzes - GKG - i.V.m. Nr. 1.5, 36.4 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.