Titel:
Voraussetzungen für die Entstehung einer fiktiven Terminsgebühr nach Nr. 3104 Abs. 1 Nr. 2 VV-RVG
Normenketten:
VwGO § 84 Abs. 2 Nr. 2
RVG Nr. 3104 Abs. 1 Nr. 2 Anl. 1 § 2 Abs. 2
Leitsätze:
Bei einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid genügt es für die Entstehung einer fiktiven Terminsgebühr nach Nr. 3104 Abs. 1 Nr. 2 Anlage 1 zu § 2 Abs. 2 RVG nicht, dass von irgendeinem Beteiligten Antrag auf mündliche Verhandlung gestellt werden kann. Vielmehr hat nur der Rechtsanwalt, der im konkreten Fall einen zulässigen Antrag auf mündliche Verhandlung hätte stellen können, einen derartigen Vergütungsanspruch. (Rn. 9 – 10)
Bei einer fiktiven Terminsgebühr handelt es sich nicht um eine Vergütung für die echten Mühen eines durchgeführten Termins, sondern um eine Gebühr, die in erster Linie der Entlastung des Gerichts von mündlichen Verhandlungen dient, die möglicherweise nur im Gebühreninteresse erfolgen würden. Deshalb ist für die Frage, ob die fiktive Terminsgebühr angefallen ist, stets nur die Perspektive desjenigen zu betrachten, dessen Vergütungsanspruch in Rede steht. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Gerichtsbescheid, fiktive Terminsgebühr (Anspruch verneint für den Beteiligten, der keinen zulässigen Antrag auf mündliche Verhandlung stellen kann), fiktive Terminsgebühr, Entstehung, Beteiligter, Rechtsanwalt, zulässiger Antrag auf mündliche Verhandlung, Vergütungsanspruch
Vorinstanz:
VG Regensburg, Beschluss vom 18.03.2022 – RN 3 M 22.918
Fundstellen:
LSK 2022, 22290
NVwZ-RR 2022, 971
BeckRS 2022, 22290
Tenor
I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe
1
Die Beteiligten streiten über die Erstattungsfähigkeit einer (fiktiven) Terminsgebühr.
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Mit Gerichtsbescheid vom 15. Dezember 2021 stellte das Verwaltungsgericht das Hauptsacheverfahren in einer rundfunkrechtlichen Streitigkeit - soweit dieses für erledigt erklärt bzw. die Klage zurückgenommen worden war - ein und wies im Übrigen die Klage mit der Kostentragungspflicht für den Kläger nach § 154 Abs. 2 VwGO vollumfänglich ab. Anträge auf Zulassung der Berufung oder auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurden nicht gestellt. Mit Kostenfestsetzungsantrag vom 3. Januar 2022 machten die Bevollmächtigten des Beklagten Kosten in Höhe von 1.483,70 Euro geltend, die auch eine fiktive Terminsgebühr nach Nr. 3104 Abs. 1 Nr. 2 Anlage 1 zu § 2 Abs. 2 RVG (Nr. 3104 Abs. 1 Nr. 2 VV-RVG) in Höhe von 424,80 Euro beinhalteten. Mit Kostenfestsetzungsbeschluss vom 14. Februar 2022 setzte die Urkundsbeamtin des Verwaltungsgerichts die außergerichtlichen Aufwendungen des Beklagten ohne die geforderte fiktive Terminsgebühr fest, weil der Gebührentatbestand nach Nr. 3104 Abs. 1 Nr. 2 VV-RVG nicht gegeben sei. Gegen diese Entscheidung haben sich die Bevollmächtigten des Beklagten mit der Erinnerung gewandt, die das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 18. März 2022 zurückgewiesen hat.
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Mit der Beschwerde verfolgen die Bevollmächtigten des Beklagten das Festsetzungsbegehren weiter.
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Der Kläger äußerte sich nicht.
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Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakten verwiesen.
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Die nach § 146 Abs. 1 und 3 VwGO zulässige Beschwerde, über die der Senat in jedem Fall in seiner vollen Besetzung entscheidet (BayVGH, B.v. 4.8.2016 - 4 C 16.755 - juris Rn. 10; OVG NRW, B.v. 17.7.2017 - 19 E 614/16 - juris Rn. 1), bleibt ohne Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat mit Beschluss vom 18. März 2022 die Erinnerung gegen den Kostenfestsetzungsbeschluss vom zu Recht zurückgewiesen.
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Das Verwaltungsgericht hat zutreffend festgestellt, dass die Voraussetzungen für die Entstehung einer fiktiven Terminsgebühr nach Nr. 3104 Abs. 1 Nr. 2 VV-RVG nicht vorliegen, weil der Beklagte nach Ergehen des klageabweisenden Gerichtsbescheids keinen - zulässigen - Antrag auf mündliche Verhandlung (§ 84 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) hätte stellen können. Auf die Ausführungen des Verwaltungsgerichts im angefochtenen Beschluss wird vollinhaltlich Bezug genommen (§ 122 Abs. 2 Satz 3 VwGO). Ergänzend wird auf folgendes hingewiesen:
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Nach Absatz 3 der Vorbemerkung 3 zu Teil 3 VV-RVG entsteht die Terminsgebühr sowohl für die Wahrnehmung von gerichtlichen Terminen als auch für die Wahrnehmung von außergerichtlichen Terminen und Besprechungen. Darüber hinaus regelt das Vergütungsverzeichnis Ausnahmetatbestände, in denen eine - fiktive - Terminsgebühr auch ohne Wahrnehmung eines Termins vergütet wird. Die Reichweite dieser Ausnahmetatbestände ist durch Auslegung zu ermitteln. Dabei kommt neben dem Wortlaut dem Sinn und Zweck der Ausnahme besondere Bedeutung zu.
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Zu diesen Ausnahmetatbeständen gehört Nr. 3104 Abs. 1 Nr. 2 VV-RVG. Danach entsteht eine Terminsgebühr auch dann, wenn nach § 84 Abs. 1 Satz 1 VwGO durch Gerichtsbescheid entschieden wird und eine mündliche Verhandlung beantragt werden kann. Der Wortlaut der Regelung gibt keine eindeutige Antwort auf die Frage, ob die Terminsgebühr nur derjenige Prozessbevollmächtigte beanspruchen kann, dessen Partei das Recht auf mündliche Verhandlung zusteht (Mayer in Mayer/Kroiß, RVG, 8. Aufl. 2021, VV 3104 Rn. 38). Zwar könnte die Formulierung so verstanden werden, dass ein Antragsrecht irgendeines Beteiligten für die Entstehung der fiktiven Terminsgebühr ausreicht, ein solches Normverständnis lässt sich jedoch weder der Entstehungsgeschichte dieser Ausnahmevorschrift entnehmen noch ist es mit deren Sinn und Zweck vereinbar (so auch BayVGH, B.v. 24.10.2018 - 5 C 18.1932 - juris Rn. 11 ff.; NdsOVG, B.v. 16.8.2018 - 2 OA 1541/17 - juris Rn. 10 ff.; a.A. BayVGH, B.v. 27.2.2020 - 8 C 18.1889 - juris Rn. 13 ff.).
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Während nach der bis zum 31. Juli 2013 gültigen Vorgängerfassung die fiktive Terminsgebühr bereits entstand, „wenn nach § 84 Abs. 1 Satz 1 VwGO oder § 105 Abs. 1 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entschieden wird“, wurde mit dem 2. Kostenrechtsmodernisierungsgesetz im Jahr 2013 (BGBl I S. 2586) Nr. 3104 Abs. 1 Nr. 2 VV-RVG insoweit ergänzt, als die Gebühr nur entsteht, wenn durch Gerichtsbescheid entschieden wird „und eine mündliche Verhandlung beantragt werden kann“. Würde man der Auffassung folgen, wonach für die Entstehung der fiktiven Terminsgebühr das Antragsrecht irgendeines Beteiligten ausreichen soll, wäre die Ergänzung des Gebührentatbestands um den Zusatz „und ein Antrag auf mündliche Verhandlung gestellt werden kann“ ersichtlich überflüssig, da die Terminsgebühr in diesem Fall in Übereinstimmung mit der bis zum 31. Juli 2013 geltenden Rechtslage allein dadurch entstehen würde, dass der Instanzenzug mit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid abgeschlossen wurde (vgl. BayVGH, B.v. 24.10.2018 - 5 C 18.1932 - juris Rn. 12).
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Nach der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 17/11471 [neu] S. 275) soll die Entstehung der fiktiven Terminsgebühr konsequent auf die Fälle beschränkt werden, in denen der Anwalt durch sein Prozessverhalten eine mündliche Verhandlung erzwingen kann, weil nur in diesem Fall eine Steuerungswirkung notwendig ist. Der Gebührentatbestand in Nr. 3104 Abs. 1 Nr. 2 VV-RVG soll damit verhindern, dass für den Anwalt ein gebührenrechtlicher Anreiz entsteht, auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu bestehen und dass dadurch ein Verfahren im Gebühreninteresse unnötig in die Länge gezogen werden kann. Die Entscheidung des Rechtsanwalts, ob auf eine mündliche Verhandlung verzichtet werden kann, soll dahingehend gesteuert werden, dass diese ohne Rücksicht auf finanzielle Erwägungen allein nach verfahrensbezogenen Gesichtspunkten getroffen wird. Die Möglichkeit, eine mündliche Verhandlung zu erzwingen und damit das Verfahren im Gebühreninteresse zu verlängern, steht jedoch nur dem Beteiligten zu, der durch den Gerichtsbescheid (zumindest teilweise) beschwert ist. Eine im Gerichtsbescheid vollumfänglich obsiegende Partei kann keine mündliche Verhandlung erzwingen, dies hat auch das Bundesverwaltungsgericht in der im Beschluss des 8. Senats des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 27. Februar 2020 - 8 C 18.1889 - (juris Rn. 17) zitierten Entscheidung vom 14. März 2002 - 1 C 15.01 - (juris Rn. 10) festgestellt, so dass das Argument, es sei rechtlich umstritten, ob ein unzulässiger Antrag auf mündliche Verhandlung durch Beschluss verworfen werden könne, hier nicht verfängt. Darauf hat das Verwaltungsgericht zutreffend hingewiesen.
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Ebenfalls nicht durchgreifend ist das Argument, die Frage, ob eine Beschwer vorliege, sei nicht in jedem Fall ohne weiteres zu beurteilen und die Beurteilung solcher Fragen in das Kostenfestsetzungsverfahren zu verlagern, sei nicht vereinbar mit dem gesetzgeberischen Ziel, durch das 2. Kostenrechtsmodernisierungsgesetz das Kostenrecht zu vereinfachen (vgl. BayVGH, B.v. 27.2.2020 - 8 C 18.1889 - juris Rn. 18 f.). Ungeachtet dessen, dass die Fälle einer zweifelhaften Beschwer übersichtlich sein dürften und die mit diesem Gesetz bezweckte Vereinfachung nur eines von mehreren Zielen des 2. Kostenrechtsmodernisierungsgesetzes war, das auch die Anpassung der Rechtsanwaltsvergütung an die gestiegenen Kosten und an die allgemeine Einkommensentwicklung sowie anderweitige strukturelle Änderungen und Korrekturen zum Inhalt hatte (vgl. BT-Drs. 17/11471 [neu] S. 2), widerspräche es dem von § 84 VwGO intendierten Beschleunigungs- und Entlastungszweck, wenn man auch der obsiegenden Partei eine fiktive Terminsgebühr mit dem Argument zugestehen würde, diese könne - ohne dass ein tatsächlicher Verhandlungsbedarf erkennbar wäre und damit ausschließlich aus gebührentaktischen Gründen - ebenfalls eine mündliche Verhandlung erzwingen, auch wenn anschließend nur die Unzulässigkeit dieses Verlangens durch Urteil festgestellt werden könnte.
13
Bei einer fiktiven Terminsgebühr handelt es sich nicht um eine Vergütung für die echten Mühen eines durchgeführten Termins, sondern um eine Gebühr, die in erster Linie der Entlastung des Gerichts von mündlichen Verhandlungen dient, die möglicherweise nur im Gebühreninteresse erfolgen würden. Der Gesetzgeber hat die mit der Entlastung der Justiz einhergehende Kostenbelastung des unterlegenen Beteiligten offensichtlich auf die Fälle beschränken wollen, in denen das befürchtete Szenario (Belastung der Justiz mit inhaltlich leerlaufenden, im Gebühreninteresse beantragten mündlichen Verhandlungen) überhaupt entstehen kann. Deshalb ist für die Frage, ob die fiktive Terminsgebühr angefallen ist, stets nur die Perspektive desjenigen zu betrachten, dessen Vergütungsanspruch in Rede steht (vgl. VG Schleswig, B.v. 6.7.2017 - 12 A 945/16 - juris Rn. 12 f.). Kann dieser eine mündliche Verhandlung nicht erzwingen, besteht für eine Kostenbelastung des unterlegenen Beteiligten mit einer nur ausnahmsweise in Betracht kommenden fiktiven Terminsgebühr keine sachliche Rechtfertigung.
14
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Einer Streitwertfestsetzung für das Beschwerdeverfahren bedarf es nicht, weil für das Verfahren eine Festgebühr von 60 Euro vorgesehen ist (vgl. Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses zum Gerichtskostengesetz).
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).