Inhalt

VGH München, Beschluss v. 25.07.2022 – 15 CS 22.1438
Titel:

Eilantrag des Nachbarn gegen Erweiterung eines Wohngebäudes

Normenketten:
VwGO § 80 Abs. 5, § 80a, § 86 Abs. 3, § 123
BauGB § 31 Abs. 2
BauNVO § 15 Abs. 1 S. 2
Leitsatz:
Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung sowie zu Baugrenzen und zu Flächen für Garagen mit ihren Einfahrten sind regelmäßig nicht nachbarschützend; ein ausnahmsweiser Drittschutz hängt vom Planungswillen der Gemeinde ab. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nachbarantrag, Erweiterung Wohngebäude, Befreiungen, Rücksichtnahmegebot, dynamische Verweisung, Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung, Hinweispflicht des Gerichts
Vorinstanz:
VG Regensburg, Beschluss vom 24.05.2022 – RO 7 S 22.1304
Fundstelle:
BeckRS 2022, 22231

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Die Antragsteller tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens gesamtschuldnerisch einschließlich der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 7.500 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Antragsteller wenden sich gegen die dem Beigeladenen vom Landratsamt C. mit Bescheid vom 6. Dezember 2021 erteilte Baugenehmigung zur Erweiterung eines bestehenden Wohnhauses.
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Mit Unterlagen vom 4. Oktober 2021 beantragte der Beigeladene die Erteilung einer Baugenehmigung zur Erweiterung des bestehenden Wohnhauses auf seinem Grundstück FlNr. … Gemarkung A. … sowie verschiedene Abweichungen vom Bebauungsplan Haidhäuser der Stadt C.. Das Baugrundstück liegt südöstlich des Grundstücks FlNr. … Gemarkung A. … der Antragsteller, das mit einem Wohngebäude bebaut ist. Sämtliche Grundstücke liegen im Geltungsbereich des Bebauungsplans Haidhäuser.
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Das Landratsamt C. erteilte mit Bescheid vom 8. Dezember 2021 die beantragte Baugenehmigung sowie Befreiungen vom Bebauungsplan Haidhäuser hinsichtlich einer Überschreitung der Baugrenze im Nordosten und Südwesten, der Errichtung eines Flachdaches im Zwischenbau, der Lage der Zufahrt und einer Torbreite über 2,5 m. Hiergegen erhoben die Antragsteller Klage zum Verwaltungsgericht Regensburg (RO 7 K 21.2540), über die noch nicht entschieden ist.
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Anlässlich einer Baukontrolle am 31. März 2022 stellte das Landratsamt fest, dass auf dem Baugrundstück Stützmauern an der südwestlichen und südöstlichen Grundstücksgrenze errichtet wurden sowie eine Grube für die Errichtung eines Pools ausgehoben wurde. Mit Schriftsatz vom 6. April 2022 wurde der Beigeladene darauf hingewiesen, dass diese Baumaßnahmen genehmigungspflichtig und nicht Gegenstand der Baugenehmigung vom 6. Dezember 2021 seien.
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Mit Schriftsatz vom 28. April 2022 beantragten die Antragsteller vorläufigen Rechtsschutz beim Verwaltungsgericht Regensburg, den dieses mit Beschluss vom 24. Mai 2022 ablehnte. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Bebauungsplan auf die jeweils geltende Fassung des Abstandsflächenrechts verweise und die erforderliche Abstandsflächentiefe eingehalten sei. Aus den erteilten Befreiungen ergebe sich keine Rechtsverletzung der Antragsteller. Weder aus der Formulierung der Festsetzungen noch aus der Begründung des Bebauungsplans ergebe sich der eindeutige Wille der Stadt C., die an das Vorhabengrundstück angrenzenden Nachbarn durch Festsetzungen zur Baugrenze, zur Dachform, zu den Flächen für Nebenanlagen (Zufahrt) sowie zur Garagentorbreite in ihren Rechten schützen zu wollen. Die Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans erwiesen sich weder einzeln noch in der Gesamtschau gegenüber den Antragstellern als rücksichtslos. Die Errichtung der grenzständigen Stützmauer sowie die Errichtung eines Swimmingpools seien nicht Gegenstand der angefochtenen Baugenehmigung. Sofern der Antrag dahin auszulegen sei, dass ein bauaufsichtliches Einschreiten gegen eine etwaige planabweichende Bauausführung begehrt werde, bleibe der Antrag mangels Glaubhaftmachung des Anordnungsgrundes erfolglos.
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Mit ihrer Beschwerde verfolgen die Antragsteller ihre Begehren weiter. Sie sind der Ansicht, das Verwaltungsgericht gehe hinsichtlich des Abstandsflächenrechts unzutreffend von einer dynamischen Verweisung des Bebauungsplans aus. Nach § 9 Abs. 1 Nr. 2a BauGB abweichend festgesetzte, insbesondere größere Abstandsflächen gölten jedoch weiter, da es hierfür „sicher harte städtebauliche Gründe“ gebe. Hinsichtlich der Abstandsflächen sei von städtebaulichen Erwägungen und nachbarschützenden Festsetzungen auszugehen, so dass sich eine statische Lesart der Verweisungen aus Sicht der Plangeberin aufdränge. Bezüglich des Maßes der baulichen Nutzung hänge es vom Willen der Plangeberin ab, ob Nachbarschutz gewollt sei; entscheidend sei ein wechselseitiges nachbarliches Austauschverhältnis. Dementsprechend dienten alle Festsetzungen, von denen befreit wurde, dem Nachbarschutz. Unabhängig hiervon führe eine Gesamtschau der erteilten Befreiungen dazu, dass eine gewisse Rücksichtslosigkeit des Bauvorhabens zulasten der Antragsteller zu konstatieren sei. Schließlich hätten die Anträge beim Verwaltungsgericht auch eine Einschreitensrichtung und das Verwaltungsgericht habe im Hinblick auf den von ihm angenommenen fehlenden Anordnungsgrund keinen Hinweis erteilt.
7
Einen ausdrücklichen Antrag stellen die Antragsteller nicht.
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Der Antragsgegner beantragt,
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die Beschwerde zurückzuweisen.
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Eine statische Verweisung auf das Abstandsflächenrecht komme angesichts des klaren Wortlauts der textlichen Festsetzung des Bebauungsplans nicht in Betracht. Das Vorbringen, die Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung seien nachbarschützend, stelle eine Behauptung ins Blaue hinein dar und ergebe sich nicht aus dem Bebauungsplan. Dies gelte auch für die festgesetzten Baugrenzen, zumal der Bebauungsplan ausdrücklich auf die jeweils geltenden Abstandsflächenvorschriften abstelle und die betroffenen Baugrenzen, von denen befreit wurde, nicht den Antragstellern zugewandt seien. Nicht ersichtlich sei auch, dass die erteilten Befreiungen in ihrer Gesamtschau eine besondere Summationswirkung im Hinblick auf das Anwesen der Antragsteller entfalten würden. Den Anordnungsgrund für einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz müssten die Antragsteller unaufgefordert und ohne Hinweis glaubhaft machen; angesichts der erkennbar verlangten gesetzlichen Voraussetzungen sei das Abstellen des Verwaltungsgerichts hierauf auch nicht überraschend.
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Der Beigeladene beantragt,
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die Beschwerde zurückzuweisen.
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Eine subjektive Rechtsverletzung der Antragsteller sei nicht ersichtlich.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
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Die zulässige Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg.
16
Das Verwaltungsgericht hat die Anträge auf vorläufigen und einstweiligen Rechtsschutz zu Recht abgelehnt. Die allein zu prüfenden Beschwerdegründe (vgl. § 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO) rechtfertigen keine Abänderung des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses. Bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage, wie sie das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes kennzeichnet, hat das Verwaltungsgericht die Anträge der Antragsteller zu Recht abgelehnt. Die Klage der Antragsteller gegen die Baugenehmigung vom 6. Dezember 2021 bleibt im Hauptsacheverfahren voraussichtlich erfolglos, weil die angefochtene Baugenehmigung nicht gegen öffentlich-rechtliche Vorschriften verstoßen dürfte, die - worauf es allein ankommt - zumindest auch dem Schutz der Antragsteller zu dienen bestimmt sind (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Darüber hinaus hat das Verwaltungsgericht hinsichtlich des beantragten bauaufsichtlichen Einschreitens im Wege einstweiligen Rechtsschutzes zutreffend auf das Fehlen eines Anordnungsgrundes abgestellt. Die vorzunehmende Abwägung der gegenseitigen Interessen geht hier demnach zulasten der Antragsteller aus.
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1. Das Vorbringen, das Verwaltungsgericht gehe bei der Prüfung der Abstandsflächenvorschriften ohne Begründung von einer dynamischen Verweisung aus, zeigt keinen Fehler auf.
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Das Verwaltungsgericht hat ausgeführt, dass in Nr. 7 der textlichen Festsetzungen des Bebauungsplans „Haidhäuser“ auf die jeweils geltende Fassung des Art. 6 Abs. 4 und 5 BayBO verwiesen werde (A. I. der Beschlussbegründung, BA S. 7). Dies entspricht der im Bebauungsplan festgesetzten Regelung. Nr. 7 der textlichen Festsetzungen des Bebauungsplans lautet dabei wörtlich: „Die Gebäudeabstände innerhalb des Geltungsbereiches des Bebauungsplanes regeln sich nach der Bayerischen Bauordnung gem. Art. 6 Abs. 4 und 5 in der jeweils geltenden Fassung“, so dass es keiner weiteren Begründung bedarf. Die Ausführungen der Antragsteller zur Festsetzung abweichender größerer Abstandsflächen und dazu, dass eine dynamische Verweisung seitens des Plangebers nicht gewollt gewesen sein kann, entsprechen damit eindeutig nicht den Festsetzungen des Bebauungsplans und liegen neben der Sache.
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2. Soweit die Antragsteller geltend machen, alle Festsetzungen von denen befreit worden sei, insbesondere aber die Festsetzungen bezüglich der Zufahrt und der Baugrenzen, hätten nachbarschützende Wirkung, bleibt die Beschwerde erfolglos.
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Dem Beschwerdevorbringen ist darin zuzustimmen, dass Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung (§ 9 Abs. 1 Nr. 1 BauGB) sowie zu Baugrenzen (§ 9 Abs. 1 Nr. 2 BauGB) und zu Flächen für Garagen mit ihren Einfahrten (§ 9 Abs. 1 Nr. 4 BauGB) regelmäßig nicht nachbarschützend sind, sondern ein ausnahmsweiser Drittschutz vielmehr vom Planungswillen der Gemeinde abhängt (vgl. BVerwG, B.v. 9.8.2018 - 4 C 7.17 - juris Rn. 14; BayVGH, B.v. 28.3.2017 - 15 ZB 16.1306 - juris Rn. 7). Hiervon ist das Verwaltungsgericht zutreffend ausgegangen (BA S. 8). Es hat dann ausgeführt, dass sich weder aus der Formulierung der Festsetzungen noch aus der Begründung der erkennbare Wille der Stadt C. als Plangeberin ergebe, die an das Vorhabengrundstück angrenzenden Nachbarn durch Festsetzungen zur Baugrenze, zur Dachform, zu den Flächen für Nebenanlagen (Zufahrt) sowie zur Garagentorbreite in ihren Rechten schützen zu wollen (BA S. 9). Das Beschwerdevorbringen zeigt insoweit keine Anhaltspunkte auf, mit denen sich die entgegengesetzte Ansicht begründen ließe. Mit dem nur pauschalen Hinweis auf eine nötige „Wechselseitigkeit“ legt die Beschwerde auch nicht einzelfallbezogen dar, aus welchen Umständen sich der Wille des Plangebers ergeben solle, ein besonderes Austauschverhältnis zwischen den Nachbarn zu begründen (vgl. BayVGH, B.v. 11.8.2021 - 15 CS 21.1775 - juris Rn. 19).
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3. Dem Beschwerdevorbringen lässt sich auch keine Rücksichtslosigkeit des Bauvorhabens zulasten der Antragsteller entnehmen.
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Dem Rücksichtnahmegebot kommt drittschützende Wirkung zu, soweit in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist. Die Anforderungen, die das Gebot der Rücksichtnahme im Einzelnen begründet, hängen wesentlich von den jeweiligen Umständen ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem gegenüber Rücksicht genommen werden muss, desto mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Abzustellen ist darauf, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist (vgl. BVerwG, U.v. 18.11.2004 - 4 C 1.04 - juris Rn. 22; BayVGH, B.v. 17.11.2021 - 15 CS 21.2324 - juris Rn. 17).
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Das Verwaltungsgericht hat ausgeführt, dass sich die erteilten Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplans „Haidhäuser“ weder einzeln noch in der Gesamtschau als rücksichtslos gegenüber den Antragstellern erwiesen (BA S. 10) und begründet dies im Einzelnen. Diesem zutreffenden Ansatz und den weiteren Ausführungen des Verwaltungsgerichts (vgl. BayVGH, B.v. 24.7.2020 - 15 CS 20.1332 - juris Rn. 31) tritt die Beschwerde allein durch das Vorbringen der bloß gegenteiligen Ansicht der Antragsteller nicht substantiiert entgegen.
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4. Soweit die Beschwerde formelle Mängel geltend macht, bleibt sie ebenfalls erfolglos.
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Die Antragsteller tragen vor, die im erstinstanzlichen Verfahren gestellten Anträge beinhalteten auch eine Einschreitensverpflichtung und nicht nur eine reine Anfechtungssituation. Entgegen dem Beschwerdevorbringen hat das Verwaltungsgericht die Anträge aber nicht nur im Rahmen einer Anfechtungssituation behandelt (vgl. A. II. 6. der Beschlussgründe, BA S. 12 und B. der Beschlussgründe, BA S. 13), sondern vielmehr auch dahingehend ausgelegt, dass bauaufsichtliches Einschreiten in Form der Baueinstellung und Nutzungsuntersagung gegen eine etwaige planabweichende Bauausführung begehrt werde (C. der Beschlussgründe, BA S. 13). Dies übersieht die Beschwerde.
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Erfolglos bleibt auch der Einwand, das Verwaltungsgericht habe hinsichtlich des Fehlens eines Anordnungsgrundes keinen entsprechenden Hinweis erteilt. Die Hinweispflicht des Gerichts nach § 86 Abs. 3 VwGO konkretisiert den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs und zielt mit dieser Funktion insbesondere auf die Vermeidung von Überraschungsentscheidungen. Eine solche liegt vor, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen braucht (vgl. BVerwG, B.v. 15.5.2014 - 9 B 57.13 - juris Rn. 19 m.w.N.). Dies ist hier jedoch nicht der Fall, denn der Anordnungsgrund ist Tatbestandsvoraussetzung für die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nach § 123 Abs. 1 VwGO (vgl. BayVGH, B.v. 16.4.2019 - 15 CE 18.2652 - juris Rn. 17) und von den Antragstellern glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2, § 294 ZPO). Im Übrigen hätten die Antragsteller im Rahmen des Beschwerdeverfahrens Gelegenheit gehabt, Ausführungen hierzu nachzuholen, was allerdings innerhalb der Beschwerdefrist des § 146 Abs. 4 VwGO nicht geschehen ist.
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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2, § 159 Satz 2 VwGO. Da der Beigeladene im Beschwerdeverfahren einen eigenen Antrag gestellt hat und damit auch ein Kostenrisiko übernommen hat (vgl. § 154 Abs. 3 VwGO), entspricht es der Billigkeit, dass dieser seine außergerichtlichen Kosten erstattet erhält (§ 162 Abs. 3 VwGO).
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG i.V.m. Nr. 1.5, 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013. Sie folgt der Festsetzung des Verwaltungsgerichts, gegen die keine Einwendungen erhoben wurden.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).