Inhalt

VG Würzburg, Urteil v. 04.08.2022 – W 5 K 22.30297
Titel:

Erfolglose Asylklage einer algerischen Familie mit minderjährigen Kindern 

Normenketten:
AsylG § 3e, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
EMRK Art. 3
Leitsatz:
Im Fall der Rückkehr einer Familie mit zwei erwerbsfähigen Elternteilen und minderjährigen Kindern nach Algerien, wo  familiäre Bindungen bestehen, ist nicht von einer Verletzung des Art. 3 EMRK wegen defizitärer humanitärer Verhältnisse im Herkunftsland auszugehen. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asyl, Algerien, Familie mit minderjährigen Kindern, Verfolgungsgeschehen unglaubhaft, kein Abschiebungsverbot, Asylverfahren, Sicherung der wirtschaftlichen Existenz, inländische fluchtalternative
Fundstelle:
BeckRS 2022, 22042

Tenor

I.Die Klage wird abgewiesen.
II.Die Kläger haben die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.  

Tatbestand

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Die Kläger, algerische Staatsangehörige mit arabischer Volkszugehörigkeit, reisten am 6. April 2021 über Italien in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten am 2. Juni 2021 Asylanträge. Das Asylverfahren wurde nach abgelaufener Überstellungsfrist im nationalen Verfahren durchgeführt.
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1. Zur Begründung der Asylanträge gab der Kläger zu 1) bei seiner Anhörung am 24. Juni 2021 gegenüber dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Wesentlichen an: Eine Lehrerin sei in der Schule gegenüber seinem Sohn gewalttätig gewesen, in dessen Folge es gerichtliche Auseinandersetzungen gegeben habe. Der Bruder der Lehrerin habe den Kläger zu 1) bedroht und den Halbbruder des Klägers zu 1) mit einem Schwert verletzt, so dass dieser drei Finger verloren habe. Der Neffe des Bruders der Lehrerin habe Kampfhunde auf den Cousin des Klägers zu 1) losgelassen; dieser habe sich verteidigt und den Neffen des Bruders der Lehrerin getötet. In Sidi Salem habe der Bruder der Lehrerin die Kläger zu 1) und 2) sowie eine der Töchter beinahe angefahren. Die asthmakranke Tochter des Klägers zu 1) (= Zwillingsschwester der Klägerin zu 5) sei von Kriminellen entführt worden, anschließend von einem Familienmitglied wieder nach Hause geholt und vor der Ausreise zu den Schwiegereltern gebracht worden. Bei einer Rückkehr nach Algerien habe er - der Kläger zu 1) - Angst, umgebracht zu werden oder jemanden umbringen zu müssen und im Gefängnis zu landen. Die Klägerin zu 2) schilderte im Rahmen ihrer Anhörung, dass sie persönlich bei Rückkehr nach Algerien nichts befürchte, aber Angst um ihre Kinder habe. Sie fühle sich unsicher, da die Bande die Familie nicht in Ruhe lasse. Von einer Beschwerde über die Lehrerin habe sich die Sache zu einem Familienkonflikt entwickelt. Sie hätten mit den drei Kindern ausreisen und eine Tochter bei ihren Eltern zurücklassen müssen. Zum näheren Vorbringen der Kläger wird auf die Anhörungsprotokolle Bezug genommen.
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2. Mit Bescheid vom 24. März 2022 erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Klägern die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Nr. 1), lehnte die Anträge auf Asylanerkennung ab (Nr. 2) und erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nr. 3). Weiter stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Die Kläger wurden aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung, im Falle der Klageerhebung innerhalb von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens zu verlassen. Die Abschiebung nach Algerien oder einen anderen Staat wurde angedroht (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Zur Begründung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus: Die Kläger seien keine Flüchtlinge i.S.v. § 3 AsylG. Den vorgetragenen Handlungen liege kein Verfolgungsgrund im Sinne des § 3b AsylG zugrunde. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen nicht vor. Aus dem Vorbringen der Kläger sei nicht ersichtlich, dass ihnen bei Rückkehr nach Algerien die Todesstrafe drohen würde. Ebenfalls nicht erkennbar sei ein ernsthafter Schaden durch Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung. Eine Schutzfeststellung nach § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG scheide ebenfalls aus. Im Herkunftsland der Kläger herrsche kein innerstaatlicher Konflikt. Abschiebungsverbote lägen ebenfalls nicht vor. Die derzeitigen humanitären Bedingungen in Algerien führten nicht zu der Annahme, dass bei Abschiebung der Kläger eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Die hierfür vom EGMR geforderten hohen Anforderungen an den Gefahrenmaßstab seien nicht erfüllt. Eine Unterschreitung des wirtschaftlichen Existenzminimums sei aufgrund der Lage in Algerien nicht zu befürchten. Insbesondere erscheine es zumutbar, den Lebensunterhalt durch einfache und gegebenenfalls befristete Tätigkeiten zu sichern. Auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände der Kläger sei die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung des Art. 3 EMRK durch die Abschiebung nicht beachtlich. Auch vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen und humanitären Auswirkungen der CoronaPandemie in Algerien sei nicht festzustellen, dass die hohen Anforderungen des § 60 Abs. 5 AufenthG in Verbindung mit Art. 3 EMRK hinsichtlich der Personen der Kläger vorliegen. Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 AufenthG, die den Klägern bei Rückkehr nach Algerien drohen könnten, seien weder vorgetragen worden noch lägen objektive Anhaltspunkte hierfür vor. Das gelte auch vor dem Hintergrund der pandemischen Lage.
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3. Am 16. April 2022 erhoben die Kläger über ihren Bevollmächtigten Klage mit dem Antrag,
die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 24. März 2022 zu verpflichten, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen;
hilfsweise den Klägern den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen;
weiter hilfsweise festzustellen, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt.
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Zur Begründung der Klage bezogen sich die Kläger auf ihre Anhörung vor dem Bundesamt. Eine Abschiebung sei unzulässig, weil dies zumindest zu Gefahren für Leib, Leben und Freiheit der Klagepartei führen würde. Auf die vom Klägerbevollmächtigten vorgelegten Unterlagen wird Bezug genommen.
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4. Die Beklagte beantragte,
die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung wurde auf die angefochtene Entscheidung verwiesen.
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5. Mit Beschluss vom 10. Mai 2022 übertrug die Kammer den Rechtsstreit auf den Einzelrichter zur Entscheidung.
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In der mündlichen Verhandlung am 4. August 2022 nahm der Klägerbevollmächtigte die Klage hinsichtlich der Flüchtlingseigenschaft zurück. Insoweit wurde das Verfahren abgetrennt, unter dem Aktenzeichen W 5 K 22.30586 fortgeführt und eingestellt. Zum weiteren Sitzungsverlauf wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.
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6. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakten sowie die beigezogenen Behördenvorgänge (einschließlich der Verfahren W 5 K 21.50202, W 5 S 21.50203 und W 5 K 22.30586) verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage, über die gemäß § 102 Abs. 2 VwGO entschieden werden konnte, obwohl von der Beklagtenseite niemand erschienen war, hat keinen Erfolg.
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Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 24. März 2022 ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten. Die Kläger haben keinen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG sowie auf die Verpflichtung zur Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung sowie die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots sind ebenfalls nicht zu beanstanden (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO). Das Gericht folgt im Ergebnis sowie in der wesentlichen Begründung dem angefochtenen Bescheid und sieht insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 77 Abs. 2 AsylG). Lediglich ergänzend wird Folgendes ausgeführt:
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1. Die Kläger haben keinen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG).
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Subsidiär Schutzberechtigter ist ein Ausländer gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG dann, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht, wobei als ernsthafter Schaden gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1); Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3) gelten. Gemäß § 4 Abs. 3 AsylG gelten die §§ 3c bis 3e AsylG entsprechend.
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1.1. Den Klägern droht zur Überzeugung des Gerichts nicht die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG. Hierzu haben sie bereits keine Tatsachen vorgetragen.
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1.2. Die Kläger haben auch keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihnen in ihrem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden durch Folter oder durch unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG droht.
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Der Begriff der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ist im Gesetz nicht näher definiert. Da die zuletzt genannte Vorschrift der Umsetzung der Qualifikationsrichtlinie 2011/95/EU vom 13. Dezember 2011 (ABl. L 337, S. 9) - QRL - dient, ist dieser Begriff jedoch in Übereinstimmung mit dem entsprechenden Begriff in Art. 15b QRL auszulegen. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) legt Art. 15b QRL wiederum in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg zu Art. 3 EMRK aus (z.B. EuGH, U.v. 17.2.2009 - Elgafaji, C - 465/07 - juris Rn. 28; ebenso BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 15/12 - juris Rn. 22 ff. m.w.N.). Danach ist eine unmenschliche Behandlung die absichtliche, d.h. vorsätzliche Zufügung schwerer körperlicher oder seelischer Leiden (EGMR, U.v. 21.1.2011 - 30696/09 - ZAR 2011, 395, Rn. 220 m.w.N.; Jarass, Charta der Grundrechte, Art. 4 Rn. 9), die im Hinblick auf Intensität und Dauer eine hinreichende Schwere aufweisen (EGMR, U.v. 11.7.2006 - Jalloh, 54810/00 - NJW 2006, 3117/ 3119 Rn. 67). Es muss zumindest eine erniedrigende Behandlung in der Form einer einen bestimmten Schweregrad erreichenden Demütigung oder Herabsetzung vorliegen. Diese ist dann gegeben, wenn bei dem Opfer Gefühle von Furcht, Todesangst und Minderwertigkeit verursacht werden, die geeignet sind, diese Person zu erniedrigen oder zu entwürdigen und möglicherweise ihren psychischen oder moralischen Widerstand zu brechen. Eine Bestrafung oder Behandlung ist nur dann als unmenschlich oder erniedrigend anzusehen, wenn die mit ihr verbundenen Leiden oder Erniedrigungen über das in der Bestrafungsmethode enthaltene, unausweichliche Leidens- oder Erniedrigungselement hinausgehen, wie z.B. bei bestimmten Strafarten wie Prügelstrafe oder besonders harten Haftbedingungen.
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Die Kläger haben keinen Lebenssachverhalt dargestellt, der geeignet ist, einen ihnen in Algerien drohenden ernsthaften Schaden im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG in hinreichend substantiierter Art und Weise aufzuzeigen. Das Gericht hat im Rahmen der mündlichen Verhandlung die Überzeugung gewonnen, dass das von den Klägern zu 1) und 2) geschilderte Fluchtvorbringen in zentralen Teilen erhebliche Ungereimtheiten und Widersprüche aufweist. Dies betrifft vor allem das vor der Flucht geschilderte Ereignis der Entführung der Tochter der Kläger zu 1) und 2). Denn die Kläger zu 1) und 2), die in der mündlichen Verhandlung getrennt voneinander angehört wurden, haben die vorgebliche Entführung in wesentlichen Details komplett unterschiedlich geschildert. So gab der Kläger zu 1) an, dass sich die entführte Tochter alleine im Hof aufgehalten habe und seine Ehefrau zu ihm in den Kiosk gegangen und sich mit ihm unterhalten habe. Als seine Ehefrau zurück in den Hof gekommen sei, sei die Tochter verschwunden gewesen. Demgegenüber schilderte die Klägerin zu 2), die Zwillingstöchter hätten gemeinsam im Hof gespielt und die eine Zwillingstochter habe die Klägerin zu 2) im Haus über das Verschwinden der anderen Zwillingstochter informiert. Der Kläger zu 1) sei ca. eineinhalb bis zwei Stunden unterwegs gewesen, um Dinge für den Kiosk einzukaufen. Weiterhin schilderte der Kläger zu 1), er habe am Folgetag gemeinsam mit einem Verwandten die Tochter an einem abgelegenen Ort vorgefunden. Die Klägerin zu 2) führte hingegen aus, der Kläger zu 1) sei - am selben Tag - noch von der Polizeiwache aus mit einem Taxi zu dem Ort gefahren und mit der Tochter nach drei Stunden wieder nach Hause zurückgekommen. Zu diesen Widersprüchlichkeiten tritt hinzu, dass in kaum nachvollziehbarer Weise dargelegt werden konnte, woher der Kläger zu 1) den Aufenthaltsort der Tochter in Erfahrung bringen konnte und dass er diesen Ort ohne polizeiliche Unterstützung aufgesucht haben will. Die näheren Hintergründe des Familienstreits wurden ferner nur vage und oberflächlich geschildert. Die weiteren Übergriffe auf Familienmitglieder des Klägers zu 1) sind von einer wenig lebensnahen Aneinanderreihung von Extremereignissen (z.B. Abschneiden von Fingern des Halbbruders, Blutrache aufgrund versehentlicher Tötung, Messerattacke an öffentlichem Ort, Einsatz von Kampfhunden gegen Cousin) geprägt und wurden detailarm wiedergegeben, so dass sie ebenfalls nicht von einem tatsächlich erlebten Geschehensablaufs zeugen. Nach alldem drängt sich dem Gericht der Eindruck auf, dass das geschilderte Fluchtgeschehen in weiten Teilen frei erfunden oder zumindest erheblich aufgebauscht bzw. dramatisiert worden ist, um Vorteile im Asylverfahren zu haben.
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Im Übrigen - ohne dass es hierauf noch ankommt - droht den Klägern bei einer eventuellen Rückkehr nach Algerien schon deshalb nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein ernsthafter Schaden durch unmenschliche oder erniedrigende Behandlung seitens Dritter, weil sie insoweit zum einen gehalten sind, sich an die staatlichen Stellen zu wenden, um um Schutz nachzusuchen (vgl. § 4 Abs. 3 AsylG i.V.m. § 3d AsylG), und weil zum anderen für sie eine zumutbare inländische Flucht- bzw. Aufenthaltsalternative besteht (vgl. § 4 Abs. 3 AsylG i.V.m. § 3e AsylG). Für die Kläger besteht in Algerien eine zumutbare inländische Aufenthaltsalternative, wenn sie sich in einen anderen Teil des Landes, insbesondere in einer anderen Großstadt Algerien niederlassen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der demokratischen Volksrepublik Algerien vom 11.7.2020, Stand: Juni 2020, S. 18). Die Kläger müssen sich auf interne Schutzmöglichkeiten in ihrem Herkunftsland verweisen lassen. Die Kläger konnten nicht überzeugend begründen, wieso vom Bruder der Lehrerin und dessen Familie eine landesweite Gefahr für sie ausgehen sollte. Die Vermutung bzw. die theoretische Möglichkeit, dass die Kläger gleichwohl entdeckt werden könnten, reicht nicht aus, zumal sich die Kläger schon längere Zeit außerhalb des Landes aufhalten. Eine Verfolgung der Kläger im ganzen Land ist bei einer Rückkehr nach Algerien nicht beachtlich wahrscheinlich. Das Auswärtige Amt sieht selbst für den Fall der Bedrohung durch islamistische Terroristen in den größeren Städten Algerien ein wirksames (wenngleich nicht vollkommenes) Mittel, um einer Verfolgung zu entgehen. Es ist nicht erkennbar, dass der Bruder der Lehrerin und dessen Familie die Kläger ohne weiteres auffinden können sollten, wenn sie ihren ursprünglichen Heimatort meiden und in andere Großstädte gehen. Angesichts der Größe Algeriens und der Größe der dortigen Städte hält es das Gericht nicht für beachtlich wahrscheinlich, dass die Kläger fürchten müssten, von ihren vermeintlichen Verfolgern entdeckt und gefährdet zu werden. Darüber hinaus ist nicht auszuschließen, dass bei gewalttätigen Übergriffen nicht doch die Polizei schutzwillig und schutzfähig wäre, wenn auch ein absoluter Schutz naturgemäß nicht gewährleistet werden kann (vgl. VG Minden, B.v. 30.8.2019 - 10 L 370/19.A - juris; U.v. 28.3.2017 - 10 K 883/16.A - juris; U.v. 22.8.2016 - 10 K 821/16.A - juris; VG Magdeburg, U.v. 6.12.2018 - 8 A 206/18 - juris; BayVGH, B.v. 29.10.2018 - 15 ZB 18.32711 - juris; VG Köln, B.v. 24.8.2016 - 3 L 1612/16.A - juris; SaarlOVG, B.v. 4.2.2016 - 2 A 48/15 - juris).
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Das Gericht hat des Weiteren auch keine durchgreifenden Zweifel, dass den Klägern im Anschluss an ihre Rückkehr die Sicherung ihrer wirtschaftlichen Existenz möglich sein wird. Den Klägern, insbesondere dem Kläger zu 1), ist es zuzumuten, sich eine Arbeit zu suchen, bzw. es besteht die Möglichkeit der Unterstützung von noch in Algerien lebenden Familienmitgliedern - z.B. durch die Mutter, Schwester und Halbgeschwister des Klägers zu 1) und/oder durch die Eltern und Geschwister der Klägerin zu 2) -, so dass die Kläger sich jedenfalls ihr Existenzminimum sichern können. Gegenteiliges folgt auch nicht aus der wirtschaftlichen und sozialen Lage Algeriens. In Algerien ist die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und auch die medizinische Grundversorgung gewährleistet (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Demokratischen Volksrepublik Algerien vom 11.7.2020, Stand: Juni 2020, S. 6, 8 f. und 21; BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Algerien vom 26.6.2020, S. 27 ff.). Algeriens Sozialsystem wird aus Öl- und Gasexporten finanziert. Das Land war als einiges der wenigen in der Lage in den letzten 20 Jahren eine Reduzierung der Armutsquote von 25% auf 5% zu erreichen. Gesundheitsfürsorge ist kostenlos. Energie, Wasser und Grundnahrungsmittel werden stark subventioniert. Ein Menschenrecht auf Wohnraum wird anerkannt. Für Bedürftige wird Wohnraum kostenlos zur Verfügung gestellt (vgl. hierzu ausführlich BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Algerien vom 26.6.2020, S. 22). Die Kläger zu 1) und 2) sind gesund und erwerbsfähig. Ihnen ist es zuzumuten, zur Sicherung ihres Existenzminimums den notwendigen Lebensunterhalt durch Erwerbstätigkeit zu verdienen und gegebenenfalls auf die Unterstützung durch Familienangehörige der in Algerien noch lebenden (Groß-)Familien zurückzugreifen oder auf sonstige Hilfemöglichkeiten zurückzugreifen. Letztlich ist den Klägern eine (Re-)Integration in die Lebensverhältnisse ihres Heimatstaates möglich und zumutbar (ebenso VG München, B.v. 2.7.2020 - M 26 S 20.31428 - juris; VG Frankfurt, U.v. 5.3.2020 - 3 K 2341/19.F.A - juris; SaarlOVG, B.v. 25.9.2019 - 2 A 284/18 - juris; VG Minden, B.v. 30.8.2019 - 10 L 370/19.A - juris; U.v. 28.3.2017 - 10 K 883/16.A - juris; U.v. 22.8.2016 - 10 K 821/16.A - juris; BVerwG, U.v. 25.4.2019 - 1 C 46/18 - InfAuslR 2019, 309; U.v. 27.3.2018 - 1 A 5/17 - Buchholz 402.242, § 58a AufenthG Nr. 12; VG Stade, U.v. 1.4.019 - 3 A 32/18 - juris; VG Magdeburg, U.v. 6.12.2018 - 8 A 206/18 - juris; VG Köln, B.v. 24.8.2016 - 3 L 1612/16.A - juris).
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Jedenfalls ist die Annahme einer extremen Gefährdungslage für eine Familie mit Kindern nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gegeben, zumal es bei einer (freiwilligen) Rückkehr auch die Möglichkeit finanzieller und anderer Hilfen gibt (so ausdrücklich auch VG Stade, U.v. 1.4.2019 - 3 A 32/18 - juris sowie schon VG Würzburg, U.v. 24.7.2020 - W 8 K 20.30188; B.v. 14.1.2020 - W 8 S 20.30008 - juris). Das Auswärtige Amt hat in seinem Lagebericht darauf hingewiesen, dass IOM im letzten Jahr ein Programm zur Unterstützung der freiwilligen Rückkehr nach und die Integration in Algerien ins Leben gerufen habe. Das Programm werde aus EU-Mitteln und auch bilateral von deutscher Seite unterstützt (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage der Demokratischen Volksrepublik Algerien vom 11.7.2020, Stand: Juni 2020, S. 22).
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Eine abweichende Beurteilung ergibt sich auch nicht im Hinblick auf etwaige negative wirtschaftliche Auswirkungen aufgrund der weltweiten COVID-19-Pandemie. Das Gericht hat keine triftigen Anhaltspunkte geschweige denn konkrete Belege, dass sich die Lebensverhältnisse und die humanitären Lebensbedingungen infolge der Corona-Pandemie in Algerien in der Weise verschlechtert hätten oder alsbald verschlechtern würden, dass generell für jeden Rückkehrenden davon ausgegangen werden müsste, dass keine zumutbare inländische Aufenthaltsalternative nach § 3e AsylG vorliegt und dass den Klägern bei einer Rückkehr eine gegen Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung droht (vgl. schon VG Würzburg, U.v. 28.9.2020 - W 8 K 20.30307 - juris; U.v. 24.7.2020 - W 8 K 20.30188). Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass gerade hinsichtlich der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie Ausgleichsmaßnahmen zur Unterstützung notleidender Bevölkerungsteile geschaffen wurden. Hilfsmaßnahmen kommen vor allem aus der Zivilgesellschaft. Außerdem kommt es zur Stundung von Steuerzahlungen und Krediten sowie weiteren staatlichen wirtschaftlichen Erleichterungen. Anzeichen für eine Wasser- oder Lebensmittelknappheit bestehen nicht (siehe Auswärtiges Amt, Algerien: Reise- und Sicherheitshinweise; Deutsche Botschaft Algier, Aktuelle Corona-Maßnahmen in Algerien; BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Kurzinformation der Staatendokumentation, Afrika, COVID-19 - aktuelle Lage, vom 9.7.2020, S. 14 f.; Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Algerien, v. 26.6.2020, S. 30).
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1.3. Den Klägern droht auch keine individuelle und konkrete Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG aufgrund der Sicherheitslage in Algerien.
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Nach dieser Vorschrift ist subsidiärer Schutz zuzuerkennen, wenn der Ausländer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht. Vorliegend haben die Kläger keinerlei Anhaltspunkte vorgebracht, die für einen bewaffneten Konflikt i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG und einer daraus resultierenden ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt sprechen. Auch die aktuellen Erkenntnismittel weisen darauf nicht ansatzweise hin.
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2. Die Kläger haben keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots.
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2.1. Es liegt insbesondere kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vor. Eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.v. Art. 3 EMRK ist im Fall der Rückkehr der Kläger nach Algerien nicht zu erwarten. Die humanitären Verhältnisse in Algerien stellen sich nicht generell als derartig defizitär dar, als dass aufgrund dessen unterschiedslos für alle Personen bzw. den Personenkreis, dem die Kläger angehören, von einer Verletzung von Art. 3 EMRK auszugehen ist. Insbesondere geht das Gericht im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt davon aus, dass die Kläger nach der Rückkehr in der Lage sein werden, sich eine Lebensgrundlage zumindest am Rande des Existenzminimums gegebenenfalls unter Inanspruchnahme des - zwar nicht europäischem Niveau, jedoch für die Möglichkeiten des Landes aufwendigen - algerischen Sozialsystems sowie familiärer Unterstützung zu sichern. Diesbezüglich wird auf die vorstehenden Ausführungen zu § 4 AsylG verwiesen.
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2.2. Die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen nicht vor.
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Insbesondere führt die COVID-19-Pandemie nicht zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Zunächst ist festzustellen, dass der Klägerseite mangels entgegenstehender Anhaltspunkte nicht mit dem neuartigen SARS-CoV-2 („Coronavirus“) infiziert ist bzw. nicht an der hierdurch hervorgerufenen Lungenerkrankung COVID-19 leidet. Weiter ist darauf hinzuweisen, dass gemäß § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG Gefahren nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, bei Anordnung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen sind. Fehlt - wie hier - ein solcher Erlass kommt ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG allenfalls ausnahmsweise in verfassungskonformer Auslegung in Betracht, wenn es zur Vermeidung einer verfassungswidrigen Schutzlücke, d.h. zur Vermeidung einer extremen konkreten Gefahrenlage erforderlich ist (BVerwG, U.v. 13.6.2013 - 10 C 13.12 - BVerwGE 147, 8). Allgemeine Gefahren können aufgrund der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG die Feststellung eines Abschiebungsverbotes grundsätzlich nicht rechtfertigen. Die Kläger haben aber keinen Anspruch wegen einer extremen Gefahrenlage. Eine verfassungswidrige Schutzlücke liegt nur dann vor, wenn der Schutzsuchende bei einer Rückkehr in das Aufnahmeland mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Die drohenden Gefahren müssen nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise Opfer einer extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahr ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Eine Abschiebung müsste dann ausgesetzt werden, wenn der Ausländer ansonsten „gleichsam sehenden Auges“ dem sicheren Tod oder schweren Verletzungen ausgeliefert würde. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren (OVG NRW, U.v. 24.3.2020 - 19 A 4470/19.A - juris m.w.N., vgl. auch schon VG Würzburg, B.v. 27.3.2020 - W 8 S 20.30378).
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Eine solche konkrete außergewöhnliche Gefahrenlage für die Kläger ist vorliegend im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt im Hinblick auf die Verbreitung des Corona-Virus (SARS-CoV-2) auch vor dem Hintergrund des erforderlich hohen Wahrscheinlichkeitsgrades für das Gericht nicht erkennbar.
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Die Kläger müssen sich letztlich - genauso wie bei etwaigen anderen Erkrankungen, bei denen die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung um ein Vielfaches höher liegt als bei dem Corona-Virus (vgl. OVG NRW, U.v. 24.3.2020 - 19 A 4470/19.A - juris; VG Karlsruhe, U.v. 26.2.2020 - A 4 K 7158/18 - juris) - gegebenenfalls mit den Behandlungsmöglichkeiten in Algerien behelfen. Darüber hinaus bestehen - wie auch in anderen Staaten - individuell persönliche Schutzmöglichkeiten, wie das Tragen einer Gesichtsmaske oder die Wahrung von Abstand zu anderen Personen, um das Risiko einer Ansteckung durch eigenes Verhalten zu minimieren.
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3. Hinsichtlich der Ausreiseaufforderung, der Abschiebungsandrohung sowie der Anordnung und Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots bestehen keine rechtlichen Bedenken.
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4. Nach alledem war die Klage mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG abzuweisen.