Titel:
Erfolglose Nachbarklage gegen isolierte Befreiung für grenzständigen Sichtschutzzaun
Normenketten:
BauGB § 31 Abs. 2
BayBO Art. 63 Abs. 3, Art. 81 Abs. 1
Leitsätze:
1. Bei einer Befreiung von einer nichtnachbarschützenden Festsetzung richtet sich der Nachbarschutz nach den Grundsätzen des bauplanungsrechtlichen Gebots der Rücksichtnahme, das aufgrund der gem. § 31 Abs. 2 BauGB gebotenen „Würdigung nachbarlicher Interessen“ Eingang in die bauplanungsrechtliche Prüfung findet. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ob der Plangeber z.B. eine Festsetzung über das Maß der baulichen Nutzung oder zur überbaubaren Grundstücksfläche auch zum Schutze des Nachbarn trifft oder ausschließlich objektiv-rechtlich ausgestaltet, darf er regelmäßig selbst und ohne Bindung an das Eigentumsrecht des Nachbarn entscheiden. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
3. Örtliche Bauvorschriften nach Art. 81 Abs. 1 BayBO dienen grundsätzlich nur dem öffentlichen Interesse - insbesondere der Durchsetzung gestalterischer Ziele der Gemeinde - und räumen dem Nachbarn grundsätzlich keine subjektiv-öffentlichen Abwehrrechte ein. Nachbarschutz vermag eine örtliche Bauvorschrift nur ausnahmsweise zu vermitteln, wenn die Gemeinde der Festsetzung erkennbar eine entsprechende Wirkung geben wollte. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Baurecht, Nachbarklage, Isolierte Befreiung, Sichtschutzzaun, Rücksichtnahmegebot, Örtliche Bauvorschriften, Anliegergebrauch
Fundstelle:
BeckRS 2022, 21113
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen als Gesamtschuldner.
3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte oder die Beigeladenen vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
Tatbestand
1
Die Kläger wenden sich gegen eine den Beigeladenen von der Beklagten erteilte isolierte Befreiung von den Festsetzungen eines Bebauungsplans bezüglich eines bereits errichteten, grenzständigen Sichtschutzzauns.
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Die Beigeladenen sind Eigentümer des Grundstücks FlNr. … (…) der Gemarkung … (nachfolgend wird auf die Angabe der Gemarkung verzichtet; alle erwähnten Flurnummern beziehen sich auf die Gemarkung …). Das Grundstück ist mit einem Einfamilienhaus, einem Carport sowie weiteren Nebengebäuden bebaut und in südwestlicher Richtung an der … situiert. Der Carport sowie die zugehörige Grundstückseinfahrt sind grenzständig zum Grundstück FlNr. … errichtet.
3
Die Kläger sind Eigentümer des Grundstücks FlNr. … (…). Das Grundstück ist mit einer Doppelhaushälfte sowie einer Einzelgarage bebaut. Die Garage sowie die zugehörige Grundstückseinfahrt sind grenzständig zum Grundstück der Beigeladenen errichtet. Die Doppelhaushälfte ist grenzständig zum Grundstück FlNr. … situiert.
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Für die … gilt im Abschnitt vor den Grundstücken der Beteiligten das Tempolimit 30. Auf beiden Straßenseiten finden sich in diesem Bereich Gehwege.
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Die genannten Grundstücke liegen im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. … „…“ der Beklagten, welcher seit 15. April 1981 rechtsverbindlich ist. Der Bebauungsplan setzt ein allgemeines Wohngebiet sowie ein Mischgebiet fest. Darüber hinaus enthält der Bebauungsplan Festsetzungen bezüglich Baugrenzen, der Zahl der Vollgeschosse sowie der Dachform und -neigung. Unter der Überschrift „Weitere Festsetzungen“ finden sich unter anderem Vorgaben hinsichtlich der Bauweise (Ziffer 2, offene Bauweise mit Einzel- und Doppelhäusern), der Zulässigkeit von Nebenanlagen und Garagen (Ziffern 3 und 4), der Baugestaltung (Ziffer 5) und der Begrünung (Ziffer 6). In Ziffer 5.9 der textlichen Festsetzungen heißt es wörtlich:
„Alle Einfriedungen entlang der Straße sind einschließlich Sockel als höchstens 1,20 m Höhe, im Bereich der Sichtdreiecke höchstens 1,00 m Höhe, hölzerne Scheren- oder Lattenzäune, beziehungsweise schmiedeeiserne Zäune auszuführen, ohne Unterbrechung durch gemauerte oder betonierte Einzelpfeiler ausgenommen an Grenzen, Zugängen oder Einfahrten. Trennzäune zwischen den Grundstücken können auch mit Maschendraht bis 1,20 m Höhe erstellt werden, wobei die Höhe den Nachbarzäunen anzupassen ist. Farbgebung der Zäune nur einfarbig und in gedeckten Tönen. Das gilt unbeschadet der Beschränkung innerhalb von Sichtdreiecken. Rohrmattenzäune und dergleichen sind nicht zulässig.“
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In der Begründung zum Bebauungsplan finden sich keine weiteren Erläuterungen hinsichtlich der Einfriedungen.
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Mit Antrag vom 12. Dezember 2019 begehrten die Beigeladenen von der Beklagten die Erteilung einer isolierten Befreiung von der Festsetzung Ziffer 5.9 des Bebauungsplans Nr. … „…“ für das Vorhaben „Errichtung eines Gartenzauns an der Einfahrt“ auf dem Grundstück der Beigeladenen. Ausweislich des Antrags sollten zwei verzinkte Doppelstabmattenzaunfelder von je 1,80x1,80 m samt Sichtschutzlamellen in hellgrau errichtet werden, welche ohne Sockel an verzinkten Profilen befestigt werden sollen. Zur Begründung des Antrags wurde vorgetragen, dass der Zaun als Ersatzsichtschutz dienen solle. Zuvor hätten an dieser Stelle mit Lebensbäumen bepflanzte Betontröge gestanden. Da durch den Kläger das Betreten dessen Grundstücks untersagt worden sei, hätten die notwendigen Pflegemaßnahmen nicht mehr durchgeführt werden können. Dem Antrag war ein Ansichtsplan beigefügt, wonach der Zaun im Bereich des Carports der Beigeladenen und der Garage der Kläger eine Höhe von 1,80 m und im unteren Bereich der Einfahrt in Richtung Straße aufgrund des Gefälles der Einfahrt eine Höhe von 1,96 m aufweisen sollte. Die Länge des Zauns wurde mit 5,15 m angegeben. Das südlichere Zaunelement sollte dabei einen Abstand von circa 0,70 m zum angrenzenden Gehweg aufweisen.
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Mit Bescheid vom 6. Mai 2020 lehnte die Beklagte den Antrag der Beigeladenen ab.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen angeführt, dass der geplante Zaun den Festsetzungen unter Ziffer 5.9 des Bebauungsplans Nr. … widerspreche. Diese Festsetzungen gälten nach dem klaren Wortlaut auch für die Einfriedung zwischen privaten Grundstücken. Es bedürfe daher vorliegend einer Befreiung gemäß § 31 Abs. 2 BauGB. Die beantragte Befreiung berühre dabei keine Grundzüge der Planung. Ebenso wäre die Befreiung städtebaulich vertretbar. Es seien jedoch gravierende öffentliche Belange in Form des Schutzes von Leben und Gesundheit berührt. Überdies kollidiere die Errichtung des Sichtschutzzauns mit nachbarlichen Interessen. Durch die Errichtung des blickdichten Sichtschutzzauns in der geplanten Ausführung werde die Sicht bei der Ausfahrt aus dem klägerischen Grundstück und in einigen Fällen auch aus dem Grundstück der Beigeladenen selbst erheblich eingeschränkt. Durch die Höhe und fehlende Transparenz des Sichtschutzes sei ein Ausfahren auf den Gehsteig und die öffentliche Straße teils nur „blind“ möglich. Nach erfolgter Ortseinsicht könne nach Auffassung der Beklagten davon ausgegangen werden, dass circa die Hälfte des PKWs bei der Ausfahrt „blind“ bewegt werden müsse, bevor eine ausreichende Sichtbeziehung möglich sei. Die Kläger hätten diesen Einwand bereits gegenüber der Beklagten und dem Landratsamt … vorgebracht und dem Vorhaben auch nicht durch Unterschrift zugestimmt. Durch dieses „blinde“ Ausfahren entstehe eine Gefährdung für den öffentlichen Verkehrsraum. Dies betreffe neben dem Verkehr auf der Straße auch und vor allem den Fußgängerverkehr. Der entsprechende Gehsteigabschnitt werde vielfach durch alte Menschen und insbesondere auch durch Kinder auf dem Schulweg genutzt. Die Beklagte sehe hier eine Gefahr für Leben und Gesundheit anderer und besonders schutzbedürftiger Verkehrsteilnehmer. Daher sei es vorliegend ermessensgerecht, den Antrag auf Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans abzulehnen. Das öffentliche Interesse am Schutz von Leben und Gesundheit anderer Verkehrsteilnehmer, insbesondere von Fußgängern und Radfahrern, überwiege hier das private Interesse der Beigeladenen an der Errichtung des Sichtschutzzauns.
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Mit Antrag vom 28. September 2020 begehrten die Beigeladenen erneut die Erteilung einer isolierten Befreiung für die Errichtung eines Gartenzauns an der Einfahrt. Im Gegensatz zu dem ersten Antrag sollte nunmehr eines der Elemente mit Sichtfeld auf den Straßenverkehr der … errichtet werden. Hierzu wurde in den schon ursprünglich eingereichten Plänen mit Rotstift ein Sichtfenster in das südlichere, straßenseitige Sichtschutzelement auf circa 2/3 der Höhe des Zauns eingezeichnet. Um das Sichtfenster zu ermöglichen, sollten hierzu zwei Sichtschutzlamellen des Zauns wieder entfernt werden. Außerdem wurde dem Antrag ein Lichtbild beigefügt. Im Übrigen entsprachen der Antrag und die eingereichten Baupläne dem ursprünglichen Antrag.
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Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 9. November 2020 erteilte die Beklagte in Ziffer 1 des Bescheids die beantrage isolierte Befreiung. In Ziffer 2 des Bescheids wurden die Plandarstellungen innerhalb des Antrags hinsichtlich Lage, Aussehen und Abmessungen zum Bestandteil des Bescheids gemacht.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die erteilte Befreiung nicht im Widerspruch zu öffentlichen Belangen stehe. Die Abweichung durch ein planerisch eher unbedeutendes Element (untergeordnete Nebenanlage), welche aufgrund der Lage zwischen Privatgrundstücken und der geringen Höhe zudem nur geringe Fernwirkung habe, berühre keine Grundzüge der Planung. Öffentliche Belange stünden nicht entgegen. Nachteilige städtebauliche Auswirkungen seien nicht ersichtlich. Durch das Sichtelement auf circa 2/3 der Höhe sei ein Ausfahren mit Sichtbezug zum Gehweg beziehungsweise zur öffentlichen Fahrbahn möglich. Es entstünden so keine Gefahren für Fußgänger, Radfahrer und andere Verkehrsteilnehmer. Eine sonstige Verkehrsgefährdung sei nicht ersichtlich. Nachbarliche Interessen würden nicht beeinträchtigt. Insbesondere würden die Vorschriften der BayBO bezüglich Einfriedungen und zur Zulässigkeit von Grenzbebauung eingehalten. Nachteilige Auswirkungen hinsichtlich Belüftung, Belichtung beziehungsweise Verschattung ergäben sich durch die geringe Höhe nicht. Rein bauordnungsrechtlich wäre das Vorhaben regelzulässig. Die Befreiung verletze den Nachbarn nicht in seinen Rechten. Bei der Wahl des Sichtfensters sei sichergestellt worden, dass ein Ausfahren aus dem Nachbargrundstück ohne wesentliche Einschränkungen der Sichtbeziehung möglich sei. Daher sei es vorliegend ermessensgerecht, die Befreiung zu erteilen. Im Hinblick auf die Gleichbehandlung aller Bauherren sowie unter Abwägung der öffentlichen und nachbarlichen Interessen sei die Erteilung der Befreiung vorliegend ermessensgerecht.
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Die Kläger haben am 9. Dezember 2020 Klage gegen diesen Bescheid erhoben.
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Zur Begründung wird im Wesentlichen vorgetragen, dass die Erteilung der isolierten Befreiung rechtswidrig sei und die Kläger insbesondere in ihren öffentlich-rechtlich geschützten Rechten verletze. Das Vorhaben der Beigeladenen verstoße gegen die Festsetzungen unter Ziffer 5.9 des Bebauungsplans Nr. … der Beklagten. Eine Befreiung hiervon könne jedoch entgegen der Ansicht der Beklagten nicht erteilt werden, da die Abweichung die Grundzüge der Planung berühre, sie städtebaulich nicht vertretbar sei und insbesondere die Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange die beantragte und bereits ausgeführte Errichtung des streitgegenständlichen Zauns nicht erlaube. Die Angaben in dem geänderten Befreiungsantrag entsprächen dabei nicht den tatsächlichen Verhältnissen. Es handele sich dabei auch nicht um ein unbedeutendes Element beziehungsweise eine untergeordnete Nebenanlage, da sich der Doppelstabmattenzaun nicht im hinteren Bereich des Grundstücks befinde, sondern vor den Häusern und insbesondere anliegend zu dem Bereich der öffentlichen … Gerade aufgrund der Massivität und beinahe durchgängigen Bestückung mit Sichtschutzstreifen wirke der Zaun wie eine monströse Wand und damit wie eine bauliche Anlage mit einer Höhe von 1,96 m (beziehungsweise 2,00 m Pfosten) und einer Länge von über 5,00 m. Die nachbarlichen Interessen der Kläger seien überdies völlig unzureichend gewürdigt worden. Das vorhandene Sichtelement reiche keinesfalls aus, um ein gefahrloses Ausfahren aus der Einfahrt der Kläger hin zur öffentlichen Straße zu ermöglichen. Das minimale Sichtelement, das heißt die konkrete Herausnahme nur zweier Sichtschutzstreifen, lasse eine Beobachtung des Verkehrs auf der öffentlichen Straße beim Ausfahren von dem Grundstück der Kläger nicht ausreichend zu. Die Sicht werde sowohl beim Ausfahren mit einem Pkw als auch mit einem Fahrrad durch den streitgegenständlichen Zaun erheblich eingeschränkt und damit das Einfahren in die öffentliche Straße unnötig gefahrenerhöhend erschwert. Es sei insoweit gerade kein Ausfahren mit Sichtbezug zum Gehweg beziehungsweise zur öffentlichen Fahrbahn möglich. Insbesondere werde durch die Überschreitung der maximalen nach den Festsetzungen des Bebauungsplans zulässigen Höhe von 1,20 m und der auch oberhalb dieser Höhe hier vorliegend angebrachten Sichtschutzstreifen im Doppelstabmattenzaun der Sichtbezug zum Gehweg beziehungsweise zur öffentlichen Fahrbahn konkret versperrt.
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Die Kläger beantragen,
Der Bescheid der Beklagten vom 9. November 2020, Aktenzeichen …, wird aufgehoben.
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Die Beklagte beantragt,
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Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, dass die erteilte Befreiung die Kläger nicht in subjektiv-öffentlichen Rechten verletze. Dabei komme es im vorliegenden Verfahren nicht auf eine objektive Rechtswidrigkeit der erteilten Befreiung an, sondern ausschließlich ob gegen nachbarschützende Vorschriften verstoßen worden sei. Diesen Prüfungsumfang würden die Kläger offensichtlich verkennen, da insoweit kein substantiierter Vortrag mit der Klagebegründung erfolgt sei. Unter Berücksichtigung dieses Grundsatzes liege kein Verstoß gegen öffentlich-rechtliche Vorschriften durch die genehmigte Zaunanlage vor, die auch dem Schutz der Kläger bestimmt seien. Das geplante Vorhaben verstoße nicht gegen solche Festsetzungen im einschlägigen Bebauungsplan, die nachbarschützend seien oder denen nach dem Gebot der Rücksichtnahme eine nachbarschützende Wirkung zukomme. Die Festsetzung, von welcher befreit worden sei, könne nicht als drittschützend bewertet werden. Weder der Bebauungsplan (Begründung des Bebauungsplans) noch sonstige Anhaltspunkte bei der Ermittlung eines planerischen Willens der Gemeinde würden zur Annahme führen, die Festsetzung habe den Zweck, die Rechte der Nachbarn zu schützen. Das Klagevorbringen setzte sich hiermit nicht andeutungsweise auseinander. Dementsprechend komme es nicht darauf an, ob die angefochtene isolierte Befreiung die Grundzüge der Planung berühre oder städtebaulich vertretbar sei.
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Aus dem Klagevorbringen ergebe sich auch nicht, dass im Rahmen der isolierten Befreiung von nichtnachbarschützenden Festsetzungen nicht die gebotene Rücksicht auf die Interessen der Kläger genommen worden sei. Die konkretisierende Würdigung der nachbarlichen Interessen gehe aus dem Bescheid sowie dem Inhalt des Verwaltungsvorgangs hervor. Insbesondere sei durch die Wahl des Sichtfensters sichergestellt worden, dass ein Ausfahren aus dem Nachbargrundstück ohne wesentliche Einschränkungen der Sichtbeziehung möglich sei. Die Positionierung der Einfriedung ermögliche es, eine ausreichende Einsichtnahme beim Ausfahren in die Verkehrsfläche zu nehmen. Insoweit könnten die Kläger eine Rücksichtnahme erwarten. Stelle man darauf ab, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach der Lage der Dinge zuzumuten sei, werde den Klägern zugemutet, aus ihrem Grundstück unter Beachtung der gebotenen Vorsicht auf die öffentliche Verkehrsfläche herauszufahren. Der Nachbar habe bei dieser Befreiungslage über die das Rücksichtnahmegebot konkretisierende „Würdigung nachbarlicher Interessen“ hinaus keinen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung oder gar auf eine Einhaltung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 BauGB.
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Die Beigeladenen beantragen,
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Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, dass die Vorgaben des Bebauungsplans für den hier streitgegenständlichen Sichtschutzzaun zwischen den beiden Grundstücken der Kläger und der Beigeladenen eigentlich nicht gälten. In den Auflagen zum Bebauungsplans in der … sei aufgenommen, dass Zäune entlang der Straße lediglich eine Höhe von 1,20 m aufweisen dürften. Nach Ansicht der Beigeladenen sei jedoch der Zaun nicht entlang der Straße, sondern entlang der Grundstücksgrenze zwischen dem Grundstück der Kläger und den Beigeladenen errichtet worden. Jedenfalls sei der erteilte Bescheid der Beklagten auf isolierte Befreiung von der Festsetzung des Bebauungsplans nicht zu beanstanden. Das Ausfahren aus dem klägerischen Grundstück sei aufgrund der Entfernung des dichten Sichtschutzzauns möglich und beeinträchtige die Kläger daher in keiner Weise. Insoweit sei auch darauf hinzuweisen, dass es sich bei dem Bebauungsplan … und Umgebung um ein reines Wohngebiet handele. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit sei in diesem Bereich auf 30 km/h herabgesetzt, sodass ohnehin von einem verkehrsberuhigten Bereich auszugehen sei. Eine Gefährdung der Kläger sei hierdurch als gering anzusehen. Nach Auffassung der Beigeladenen sei daher ohnehin eine gefahrlose Ausfahrt aus dem Grundstück der Kläger möglich. Im Übrigen sei zu berücksichtigen, dass der Sichtschutzzaun der Beigeladenen nicht einmal an die Grundstücksgrenze heranreiche und über einen Meter zurückgesetzt sei, damit eben ein gefahrloses Ausfahren aus dem Grundstücken für beiden Nachbarn möglich sei. Ein Eingriff in örtliche Bauvorschriften sei zudem nicht gegeben.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Behörden- und Gerichtsakte sowie auf die Niederschrift der mündlichen Verhandlung vom 6. Juli 2022 und die durch die Kammer gefertigten Lichtbilder im Rahmen der Augenscheineinnahme Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
22
Die zulässige Klage ist unbegründet.
23
Die Kläger sind durch den streitgegenständlichen Bescheid nicht in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Die Kläger als Dritte können sich mit einer Anfechtungsklage nur dann mit Aussicht auf Erfolg gegen eine erteilte Befreiung von den Festsetzungen eines Bebauungsplans zur Wehr setzen, wenn diese rechtswidrig ist sowie die Rechtswidrigkeit auf der Verletzung einer Norm beruht, die gerade dem Schutz des betreffenden Dritten zu dienen bestimmt ist (sog. Schutznormtheorie, vgl. u.a. BayVGH, B.v. 30.7.2021 - 1 CS 21.1506 - juris Rn. 9 m.w.N.). Ein unmittelbarer Rückgriff auf Art. 14 Abs. 1 GG zur Begründung des Nachbarrechtsschutzes kommt dabei grundsätzlich nicht in Betracht, weil der Gesetzgeber in Ausfüllung seines legislatorischen Gestaltungsspielraums aus Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG nachbarliche Abwehrrechte verfassungskonform ausgestaltet hat und unter Einschluss der Grundsätze des bauplanungsrechtlichen Gebots der Rücksichtnahme ein geschlossenes System des nachbarlichen Drittschutzes bereitstellt (vgl. BayVGH, B.v. 26.4.2021 - 15 CS 21.1081 - juris Rn. 23 m.w.N.).
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Vorliegend besteht keine Verletzung solcher drittschützender Rechte der Kläger.
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1. Die Rechtsgrundlage für die isolierte Befreiung ist § 31 Abs. 2 BauGB i.V.m. Art. 63 Abs. 3 BayBO i.V.m. Art. 57 Abs. 1 Nr. 7 a) BayBO.
27
Es war für das Vorhaben der Beigeladenen keine Erteilung einer Baugenehmigung durch das Landratsamt … erforderlich. Es wurde zwar klägerseits vorgetragen, dass der Zaun teilweise über 2 m hoch sei - was sich auch im Rahmen der Inaugenscheinnahme des Zauns durch die Kammer bestätigte -, jedoch führt dies nicht dazu, dass tatsächlich eine Baugenehmigung zu beantragen gewesen wäre. Laut den Bauvorlagen soll der Zaun eine maximale Höhe von 1,96 m aufweisen, sodass auch nur eine solche Höhe zu genehmigen war. Die Erteilung einer isolierten Befreiung durch die Beklagte ist daher aus diesem Blickwinkel betrachtet nicht zu beanstanden. Dass der Zaun nun höher ausgeführt wurde, ist in dieser Hinsicht unbeachtlich und führt auch nicht zu einer Rechtsverletzung der Kläger.
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Die Erteilung einer isolierten Befreiung durch die Beklagte war folglich ausreichend, aber - anders als die Beigeladenen meinen - auch erforderlich. Der Zaun der Kläger fällt nach dem Wortlaut der textlichen Festsetzung unter Ziffer 5.9 eindeutig unter deren Geltungsbereich bezüglich der Höhe der Einfriedungen. Diese umfasst nämlich auch die Zäune zwischen den Grundstücken und nicht nur solche entlang der Straße. Dies ergibt sich aus der Formulierung „… auch mit Maschendraht bis 1,20 m Höhe …“, welche klarstellt, dass Trennzäune zwischen den Grundstücken nur hinsichtlich des Materials privilegiert sein sollen, im Übrigen jedoch ebenfalls unter die Höhenbegrenzung fallen.
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2. Die Voraussetzungen des § 31 Abs. 2 BauGB sind nicht Prüfungsgegenstand, da vorliegend die Befreiung von einer nichtnachbarschützenden Festsetzung angefochten wird. Auch lässt sich kein Drittschutz aus einer „Schicksalsgemeinschaft“ der Planbetroffenen herleiten.
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a) Es liegt eine nichtnachbarschützende Festsetzung vor.
31
Nach § 31 Abs. 2 BauGB kann von den Festsetzungen des Bebauungsplans befreit werden, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden, einer der in Nrn. 1 bis 3 genannten Tatbestände erfüllt ist und wenn die Abweichung auch unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist. Der Umfang des Rechtsschutzes des Nachbarn hängt dabei davon ab, ob die Festsetzungen, von deren Einhaltung dispensiert wird, dem Nachbarschutz dienen. Bei einer Befreiung von einer nachbarschützenden Festsetzung führt jeder Fehler bei der Anwendung des § 31 Abs. 2 BauGB zur Aufhebung der Baugenehmigung. Bei einer Befreiung von einer nichtnachbarschützenden Festsetzung richtet sich der Nachbarschutz hingegen nach den Grundsätzen des bauplanungsrechtlichen Gebots der Rücksichtnahme, das aufgrund der gemäß § 31 Abs. 2 BauGB gebotenen „Würdigung nachbarlicher Interessen“ Eingang in die bauplanungsrechtliche Prüfung findet (BayVGH, B.v. 8.11.2021 - 15 CS 21.2447 - juris Rn. 19 m.w.N.). Während Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung grundsätzlich generell und unabhängig davon, ob der Nachbar durch die gebietswidrige Nutzung unzumutbar oder auch nur tatsächlich spür- und nachweisbar beeinträchtigt wird, schon kraft bundesrechtlicher Vorgabe als drittschützend angesehen werden (vgl. BVerwG, B.v. 27.8.2013 - 4 B 39.13 - ZfBR 2013, 783 = juris Rn. 3 m.w.N.), folgt aus Art. 14 GG kein Gebot, sonstige Festsetzungen drittschutzfreundlich auszulegen. Ob der Plangeber z.B. eine Festsetzung über das Maß der baulichen Nutzung oder zur überbaubaren Grundstücksfläche auch zum Schutze des Nachbarn trifft oder ausschließlich objektiv-rechtlich ausgestaltet, darf er regelmäßig selbst und ohne Bindung an das Eigentumsrecht des Nachbarn entscheiden (BVerwG, U.v. 16.9.1993 - 4 C 28.91 - BVerwGE 94, 151 = juris Rn. 11; U.v. 9.8.2018 - 4 C 7.17 - BVerwGE 162, 363 = juris Rn. 17; BayVGH, B.v. 7.10.2019 - 1 CS 19.1499 - juris Rn. 17; B.v. 5.8.2019 - 9 ZB 16.1276 - juris Rn. 5 m.w.N.). Ausschlaggebend für die Frage des Nachbarschutzes ist mithin, ob die Festsetzung nach dem Willen des Plangebers ausschließlich aus städtebaulichen Gründen getroffen wurde oder (zumindest auch) einem nachbarlichen Interessenausgleich im Sinne eines Austauschverhältnisses dienen soll. Ob dies der Fall ist, ist durch Auslegung des Schutzzwecks der jeweiligen Festsetzung im konkreten Einzelfall zu ermitteln, wobei sich ein entsprechender Wille unmittelbar aus dem Bebauungsplan selbst (etwa kraft ausdrücklicher Regelung von Drittschutz), aus seiner Begründung, aus sonstigen Vorgängen im Zusammenhang mit der Planaufstellung oder aus einer wertenden Beurteilung des Festsetzungszusammenhangs ergeben kann (zusammenfassend BayVGH, B.v. 24.7.2020 - 15 CS 20.1332 - NVwZ-RR 2020, 961 = juris Rn. 21 ff. m.w.N.).
32
Diese Grundsätze gelten entsprechend bei Abweichungen von örtlichen Bauvorschriften, die gemäß Art. 81 Abs. 2 BayBO, § 9 Abs. 4 BauGB auch in einem Bebauungsplan geregelt werden können, wobei auch hier § 31 Abs. 2 BauGB entsprechend gilt (vgl. BayVGH, U.v. 14.2.2012 - 15 B 11.801 - juris Rn. 18 ff.), wobei ggf. ergänzend Art. 63 BayBO heranzuziehen ist (BayVGH, U.v. 14.2.2012 a.a.O - juris Rn. 23 f.; OVG RhPf, B.v. 22.11.2019 - 8 A 11277/19 - juris Rn. 23; VG Freiburg, B.v. 9.1.2019 - 5 K 6358/18 - juris Rn. 7; VG Neustadt / Weinstr., U.v. 10.5.2017 - 3 K 812/16.NW - juris Rn. 50). Örtliche Bauvorschriften nach Art. 81 Abs. 1 BayBO dienen grundsätzlich nur dem öffentlichen Interesse - insbesondere der Durchsetzung gestalterischer Ziele der Gemeinde - und räumen dem Nachbarn grundsätzlich keine subjektiv-öffentlichen Abwehrrechte ein. Nachbarschutz vermag eine örtliche Bauvorschrift nur ausnahmsweise zu vermitteln, wenn die Gemeinde der Festsetzung erkennbar eine entsprechende Wirkung geben wollte (vgl. VGH BW, B.v. 1.8.2018 - 5 S 272/18 - BauR 2018, 1997 = juris Rn. 41; BayVGH, B.v. 16.3.2021 - 15 CS 21.545 - juris Rn. 57).
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Nach diesen Grundsätzen handelt es sich bei der streitgegenständlichen Festsetzung um eine solche, die keinen Nachbarschutz vermittelt.
34
Festsetzungen zum Maß der baulichen Nutzung, wie vorliegend über die zulässige Höhe und die Gestaltung von Einfriedungen im Bebauungsplan Nr. … der Beklagten, haben nicht schon kraft Gesetzes eine nachbarschützende Funktion. Der für den Nachbarschutz erforderliche Planungswille der Gemeinde lässt sich der streitgegenständlichen Festsetzung jedoch nicht entnehmen. Ein solcher Wille ergibt sich anhand einer Auslegung weder aus der Festsetzung selbst noch aus dem Bebauungsplan noch aus den zugehörigen Materialien. Vielmehr ergibt sich in einer Gesamtschau, dass die streitgegenständliche Festsetzung ausschließlich städtebauliche Gründe hat und der Gestaltung des Ortsbilds dient. Dafür spricht zum einen schon der Wortlaut der Festsetzung selbst und zum anderen auch der Festsetzungszusammenhang.
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Der Wortlaut der Festsetzung selbst spricht deutlich dafür, dass es dem Plangeber hier rein um gestalterische Zwecke und um das Ortsbild gegangen ist. So wurden hier sehr ausdifferenzierte Regelungen hinsichtlich der Gestaltung der Zäune getroffen. Beispielsweise ist in der Festsetzung detailliert aufgezählt, welche Art von Zäunen verwendet werden darf und welche nicht. Außerdem dürfen die Zäune nicht durch gemauerte oder betonierte Einzelpfeiler unterbrochen werden. Die Höhe der Trennzäune soll an die Höhe der Nachbarzäune angepasst werden. Des Weiteren wurde sogar geregelt, in welcher Farbgebung die Zäune ausgeführt werden dürfen.
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Auch der Festsetzungszusammenhang deutet auf eine gestalterische und nicht auf eine nachbarschützende Festsetzung hin. Die Festsetzung findet sich unter der Überschrift „Baugestaltung“ (Ziffer 5) wieder. Unter dieser Überschrift sind ausschließlich Festsetzungen vorhanden, die gestalterische Aspekte sowie das Maß der Bebauung betreffen. Es weist nichts darauf hin, dass nach dem Willen des Plangebers der Festsetzung drittschützender Charakter zukommen sollte.
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Der Begründung des Bebauungsplans ist keinerlei Drittschutz zu entnehmen. Die streitgegenständliche Festsetzung findet dort keine Erwähnung.
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Nach alldem ist die streitgegenständliche Festsetzung keine nachbarschützende Festsetzung (vgl. zu ähnlichen Fällen BayVGH, B.v. 27.7.2022 - 9 ZB 22.376; B.v. 16.3.2021 - 15 CS 21.545 - juris; U.v. 7.8.2009 - 15 B 09.1239 - juris; U.v. 22.11.2000 - 26 B 95.3868 - juris; B.v. 22.11.1999 - 15 ZB 99.2187 - juris; VG Ansbach, U.v. 6.5.2021 - AN 17 K 20.00444 - juris; U.v. 12.5.2009 - AN 9 K 08.01321 - juris; U.v. 14.9.2005 - AN 9 K 05.01350 - juris).
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b) Ebenso wenig können sich die Kläger mit Erfolg auf das Vorliegen eines Austauschverhältnisses und einer „Schicksalsgemeinschaft“ berufen, wie sie in Bezug auf die Festsetzungen zur Art der baulichen Nutzung anzunehmen ist. Im Unterschied dazu lassen Abweichungen von den Festsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung, ebenso wie örtliche Bauvorschriften, in aller Regel den Gebietscharakter unberührt und haben nur Auswirkungen auf das Baugrundstück und die unmittelbar anschließenden Nachbargrundstücke. Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung reicht daher zum Schutz der Nachbarn das drittschützende Rücksichtnahmegebot des § 31 Abs. 2 BauGB grundsätzlich aus, das eine Abwägung der nachbarlichen Interessen ermöglicht und den Nachbarn vor unzumutbaren Beeinträchtigungen schützt (vgl. BVerwG, B.v. 23.6.1995 - 4 B 52.95 - juris Rn. 3 f.; BayVGH, B.v. 14.1.2021 - 9 ZB 19.2168 - juris Rn. 11 m.w.N.; vgl. auch BVerwG, U.v. 9.8.2018 - 4 C 7.17 - juris Rn. 21; OVG Hamburg, B.v. 25.6.2019 - 2 Bs 100/19 - juris Rn. 30). Vorliegend liegt ein solches Austauschverhältnis nicht vor, da die streitgegenständliche Festsetzung im Rahmen einer Gesamtschau ausschließlich städtebauliche Gründe hat und der Gestaltung des Ortsbildes dient (siehe obige Ausführungen), was gerade auch der Typik örtlicher Bauvorschriften über besondere Anforderungen an die äußere Gestaltung baulicher Anlagen entspricht (vgl. BayVGH, B.v. 16.3.2021 - 15 CS 21.545 - juris Rn. 59 m.w.N.). Der Umstand, dass die Festsetzung ausnahmslos im gesamten Geltungsbereich des Bebauungsplans gilt, ändert daran nichts. Daraus lässt sich nicht ableiten, dass es an städtebaulichen Auswirkungen fehle, sodass nur eine nachbarschützende Zielsetzung verbleibe. Vielmehr können nach dem Willen einer Gemeinde auch Festsetzungen hinsichtlich Einfriedungen zwischen den Grundstücken aus städtebaulichen Motiven festgesetzt werden. Es trifft gerade nicht zu, dass solche Einfriedungen - anders als diejenigen zu öffentlichen Straßen hin - aufgrund der mangelnden Sichtbarkeit keine derartigen Auswirkungen haben könnten. Vielmehr ergibt sich nicht nur aus der allgemeinen Lebenserfahrung, sondern auch aus den von den Beteiligten vorgelegten Lichtbildern, dass die Einfriedungen zwischen den einzelnen Grundstücken nach außen ohne Weiteres wahrnehmbar sind und etwa zu Beeinträchtigungen des Orts- und Straßenbildes führen können (vgl. BayVGH, B.v. 27.7.2022 - 9 ZB 22.376 - BA S. 6 Rn. 11). Es ist nicht erkennbar, dass die Festsetzungen hier ausnahmsweise deshalb Teil eines nachbarlichen Austauschverhältnisses sein könnten, weil mit ihnen die spezifische Qualität des Plangebiets und damit dessen Gebietscharakter begründet werden soll (vgl. dazu OVG Hamburg, B.v. 25.6.2019 - 2 Bs 100/19 - juris Rn. 29). Allein der Umstand, dass alle Planbetroffenen an eine (lediglich das Ortsbild gestaltende) Festsetzung in gleicher Weise gebunden sind, vermag noch nicht zu begründen, dass diese Festsetzung nach der Konzeption des Plangebers in einem wechselseitigen, die Planbetroffenen zu einer rechtlichen Schicksalsgemeinschaft verbindenden Austauschverhältnis steht, sodass ihr nach dem objektiven Gehalt Schutzfunktion zugunsten der am Austauschverhältnis beteiligten Grundstückseigentümer zukommen würde (vgl. BVerwG, U.v. 9.8.2018 - 4 C 7.17 - juris Rn. 15).
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3. Das folglich nur noch zu prüfende Gebot der Rücksichtnahme aus § 31 Abs. 2 BauGB ist durch die erteilte isolierte Befreiung nicht verletzt. Der von den Beigeladenen errichtete Sichtschutzzaun ist gegenüber den Klägern nicht rücksichtslos. Insbesondere entsteht hierdurch weder eine Gefährdungssituation bei der Ausfahrt aus dem klägerischen Grundstück noch kommt dem Zaun eine erdrückende oder abriegelnde Wirkung zu.
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Dem Rücksichtnahmegebot kommt drittschützende Wirkung zu, soweit in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist. Die Anforderungen, die das Gebot der Rücksichtnahme im Einzelnen begründet, hängen wesentlich von den jeweiligen Umständen ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zu Gute kommt, desto mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Abzustellen ist darauf, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist (zum Ganzen vgl. BayVGH, B.v. 4.12.2019 - 15 CS 19.2048 - juris Rn. 23 m.w.N.; B.v. 9.6.2020 - 15 CS 20.901 - juris Rn. 27).
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a) Hinsichtlich der vorgetragenen versperrten Einsichtsmöglichkeit in die „…“ bei der Ausfahrt aus dem klägerischen Grundstück durch den errichteten Zaun sowie der damit korrespondierenden Gefährdungen für die Kläger und die Verkehrsteilnehmer ist die Kammer aufgrund der Inaugenscheinnahme der örtlichen Verhältnisse davon überzeugt, dass die Kläger bei der Ausfahrt aus ihrem Grundstück nicht wesentlich in ihrer Sicht eingeschränkt sind. Überdies wäre selbst bei einer Annahme einer verschlechterten Einsehbarkeit der Straße nicht von einer Rücksichtslosigkeit auszugehen.
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Es ist diesbezüglich schon fraglich, ob sich die Kläger auf diesen Einwand berufen können (vgl. BayVGH, U.v. 12.2.1998 - 19 B 96.1858 - juris Rn. 41). Jedenfalls könnte allein der in Betracht zu ziehende, durch Art. 14 Abs. 1 GG eigentumsrechtlich geschützte Kern des Anliegergebrauchs verletzt sein. Dieser reicht grundsätzlich nur so weit, wie die angemessene Nutzung des Grundeigentums eine Benutzung der Straße erfordert. Gewährleistet sind danach vor allem der Zugang zur Straße und die Zugänglichkeit des Grundstücks von der Straße her. Hierzu zählt unter heutigen Verhältnissen des Straßenverkehrs die ausreichende Möglichkeit, das Grundstück mit Kraftfahrzeugen zu erreichen. Insoweit garantiert Art. 14 Abs. 1 GG aber nur eine genügende Anbindung an das öffentliche Verkehrsnetz. Diese Gewährleistung der Zugänglichkeit umfasst keine Bestandsgarantie hinsichtlich der Ausgestaltung und des Umfangs der Grundstücksverbindung mit der Straße. Erst recht vermittelt sie keinen Anspruch auf die Beibehaltung vorteilhafter Verkehrsverbindungen sowie der Bequemlichkeit oder Leichtigkeit der Zu- und Abfahrt (OVG NRW, B.v. 28.2.2001 - 21 B 1889/00 - juris Rn. 14).
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Dabei ist auch zu beachten, dass, wer aus einem Grundstück auf eine Straße einfahren will, sich nach § 10 StVO dabei so zu verhalten hat, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist; erforderlichenfalls hat er sich einweisen zu lassen. Der Einfahrende muss ohnehin durch besonders vorsichtige Fahrweise Rücksicht auf den fließenden Verkehr nehmen, weil er davon ausgehen muss, dass der fließende Verkehr sich im Allgemeinen darauf verlässt, dass ein aus einem Grundstück Ausfahrender besonders vorsichtig ist. In diesem Zusammenhang kann eine verkehrswidrige bzw. unangepasste Fahrweise anderer Verkehrsteilnehmer nicht den beigeladenen Bauherren angelastet werden; ihr ist mit sicherheitsbehördlichen oder polizeilichen Maßnahmen zu begegnen (BayVGH, B.v. 17.6.2010 - 15 CS 10.1077 - juris Rn. 7 ff.).
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Gemessen an diesen Grundsätzen ist keine Rücksichtslosigkeit gegenüber den Klägern erkennbar.
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Ausgehend von dem durch die Inaugenscheinnahme der örtlichen Verhältnisse, der Grundstückssituation der Beteiligten sowie des streitgegenständlichen Zauns gewonnen Eindruck, ist die Kammer davon überzeugt, dass ein gefahrloses Befahren der Straße vom klägerischen Grundstück aus möglich und die Einsehbarkeit nicht relevant eingeschränkt ist. Der Zaun der Beigeladenen ist ausweislich der Pläne circa 0,7 m und tatsächlich circa 0,86 m von der Grundstücksgrenze zurückversetzt. Bei der Ausfahrt aus dem Grundstück kann alleine durch diese Zurückversetzung der Straßen- und Fußgängerverkehr ausreichend beobachtet werden. Hinzu kommt die Möglichkeit der Einsichtnahme durch den im Zaun vorhandenen Sichtstreifen, welcher nach dem vor Ort gewonnen Eindruck der Kammer auch ausreichend groß und angemessen platziert ist. Durch die Zurückversetzung des Zauns und das vorhandene Sichtfenster ist es den Klägern zumindest möglich, sich mit ihrem Fahrzeug aus der Einfahrt zu „tasten“ und die Straße einzusehen. Die „…“ ist im Bereich vor den Grundstücken der Beteiligten ohnehin auf das Tempo 30 begrenzt und verläuft geradlinig, sodass ein solches „Heraustasten“ den Klägern ohne Weiteres zumutbar ist.
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Selbst wenn man eine eingeschränkte Einsehbarkeit aufgrund des Sichtschutzzauns annehmen würde, wäre das Rücksichtnahmegebot nicht verletzt. Wie oben geschildert, ist es ausreichend, dass das Grundstück von der Straße aus zugänglich ist. Es besteht kein Anspruch auf die Beibehaltung vorteilhafter Verkehrsverbindungen sowie der Bequemlichkeit oder Leichtigkeit der Zu- und Abfahrt. Jedenfalls steht außer Zweifel, dass die Grundstückszufahrt bei Beachtung der durch § 10 StVO gebotenen Vorsicht, die den Klägern bei der Grundstücksausfahrt mit Kraftfahrzeugen obliegt, uneingeschränkt nutzbar bleibt.
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b) Das Gebot der Rücksichtnahme ist auch nicht aufgrund der Ausmaße des streitgegenständlichen Zauns verletzt. Insbesondere ist aufgrund des vor Ort gewonnenen Eindrucks keine abriegelnde oder erdrückende Wirkung erkennbar. Die Kammer konnte auch keine „Gefängnishofsituation“ erkennen oder nachvollziehen, inwiefern es sich bei dem Zaun um eine „monströse Mauer“ handeln soll.
49
Eine Rücksichtslosigkeit aufgrund einer vom Baukörper ausgehenden „abriegelnden“ oder „erdrückenden“ Wirkung kann ungeachtet des grundsätzlich fehlenden Nachbarschutzes bezüglich des Maßes der baulichen Nutzung als unzumutbare Beeinträchtigung nur bei nach Höhe und Volumen übergroßen Baukörpern in geringem Abstand zu benachbarten Wohngebäuden in Betracht kommen (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 13.3.1981 - 4 C 1.78 - DVBl. 1981, 928 = juris Rn. 32 ff.: elf- bzw. zwölfgeschossiges Gebäude in naher Entfernung zu zweieinhalb geschossigem Wohnhaus; BVerwG, U.v. 23.5.1986 - 4 C 34.85 - DVBl. 1986, 1271 = juris Rn. 15: grenznahe 11,5 m hohe und 13,31 m lange, wie eine „riesenhafte metallische Mauer“ wirkende Siloanlage bei einem 7 m breiten Nachbargrundstück). Es besteht diesbezüglich kein Recht des Nachbarn, vor jeglicher Beeinträchtigung der Belichtung und Belüftung seines Grundstücks verschont zu bleiben (BayVGH, B.v. 23.4.2014 - 9 CS 14.222 - juris Rn. 12). Insbesondere besteht für die Annahme einer erdrückenden Wirkung eines Nachbargebäudes grundsätzlich dann kein Raum, wenn dessen Baukörper nicht erheblich höher ist als der des betroffenen Gebäudes oder wenn die Gebäude so weit voneinander entfernt liegen, dass eine solche Wirkung ausgeschlossen ist (vgl. BayVGH, B.v. 5.9.2016 - 15 CS 16.1536 - juris Rn. 30; B.v. 8.2.2017 - 15 NE 16.2226 - juris Rn. 22; B.v. 23.8.2018 - 1 NE 18.1123 - juris Rn. 24; VGH BW, U.v. 15.9.2015 - 3 S 975/14 - BauR 2015, 1984 = juris Rn. 29). Auch wenn aus einer Nichteinhaltung bauordnungsrechtlich geforderter Abstandsflächen nicht automatisch auf eine unzumutbare Beeinträchtigung und damit auf eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots geschlossen werden kann (BayVGH, B.v. 5.4.2019 - 15 ZB 18.1525 - BeckRS 2019, 7160 Rn. 10 m.w.N.), scheidet eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots regelmäßig aus tatsächlichen Gründen aus, wenn die Vorgaben des Art. 6 BayBO eingehalten sind (zu dieser Indizwirkung vgl. BayVGH, B.v. 22.6.2011 - 15 CS 11.1101 - juris Rn. 17; B.v. 3.6.2016 - 1 CS 16.747 - juris Rn. 7 m.w.N.; B.v. 15.2.2019 - 9 CS 18.2638 - juris Rn. 23 m.w.N.). Das Rücksichtnahmegebot kann allerdings auch dann verletzt sein, wenn die landesrechtlichen Abstandsflächenvorschriften eingehalten sind. Da das Abstandsflächenrecht im Hinblick auf die Belichtung, Belüftung und Besonnung von Nachbargrundstücken aber zumindest indizielle Bedeutung auch für die Einhaltung des Rücksichtnahmegebots hat, kommen für seine Verletzung nur seltene Ausnahmefälle in Betracht. Ein Verstoß gegen das nachbarschützende Gebot der Rücksichtnahme unter dem Aspekt der „Einmauerung“ setzt nach allgemeiner Rechtsprechung voraus, dass die genehmigte Anlage das Nachbargrundstück regelrecht abriegelt, d.h. dort ein Gefühl des „Eingemauertseins“ oder eine „Gefängnishofsituation“ hervorruft (vgl. BayVGH, U.v. 11.4.2011 - 9 N 10.1373 - juris Rn. 56; B.v. 22.8.2012 - 14 CS 12.1031 - juris Rn. 13; OVG RhPf, B.v. 27.4.2015 - 8 B 10304/15 - juris Rn. 6; OVG Berlin-Bbg, B.v. 27.2.2012 - OVG 10 S 39.11 - juris Rn. 4).
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Nach diesen Maßstäben ist eine erdrückende oder abriegelnde Wirkung durch den am höchsten Punkt in der tatsächlichen Ausführung 2,02 m hohen Sichtschutzzaun ausgeschlossen. Ausgehend von dem vor Ort im Rahmen der Inaugenscheinnahme gewonnen Eindruck ist die Kammer zu der Überzeugung gelangt, dass der Zaun nicht rücksichtslos gegenüber den Klägern ist. Der Zaun reicht nicht annähernd an die Höhe des klägerischen Gebäudes heran und unterschreitet sogar die Höhe der klägerischen Garage. Es kann daher bei diesem nicht von einem übergroßen Baukörper ausgegangen werden. Er erstreckt sich auch nur auf einer Länge von 5,09 m zwischen den Grundstückseinfahrten der Kläger und Beigeladenen. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass dieser Bereich des klägerischen Grundstücks als nicht sehr schützenswert einzustufen ist. Es handelt sich bei diesem Bereich um die Zufahrt zu der klägerischen Garage, welche auf der gegenüberliegenden Seite in Richtung des klägerischen Gartens ebenfalls durch die Kläger eingefriedet und mit Bepflanzung versehen wurde.
51
Es ist in diesem Zusammenhang auch die Wertung des Gesetzgebers in Art. 6 Abs. 7 Satz 1 Nr. 3 BayBO zu beachten, wonach grundsätzlich geschlossene Einfriedungen bis zu einer Höhe von 2 m in den Abstandsflächen sowie ohne eigene Abstandsflächen zulässig sind. Der Gesetzgeber ging demnach davon aus, dass Einfriedungen bis zu einer Höhe von 2 m an der Grundstücksgrenze für den Nachbarn noch als zumutbar hinzunehmen sind. Diese Höhe überschreitet der Zaun in seiner tatsächlichen Ausführung um 2 cm. Relevant ist insoweit jedoch die genehmigte Höhe und hier unterschreitet der Zaun diese Grenze von 2 m. In der Gesamtschau sind bauliche Situationen, wie sie hier für die Kläger durch die Errichtung des Zauns entstanden ist, in innergemeindlichen bzw. innerstädtischen Lagen nicht ungewöhnlich.
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4. Auch das übrige Vorbringen der Kläger verhilft diesen nicht zum Erfolg der Klage.
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Es ist im vorliegenden Verfahren irrelevant, ob der vorhandene Zaun der genehmigten Planung entspricht. Hieraus kann keine Rechtsverletzung der Kläger erwachsen.
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Des Weiteren ist es auch unerheblich, ob es einen Bedarf für den streitgegenständlichen Zaun gibt oder ob sich in der Nachbarschaft ähnliche Zäune befinden. Hierauf können sich die Kläger nicht mit Erfolg berufen.
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Außerdem kommt es nicht darauf an, ob die Situation vor Errichtung des streitgegenständlichen Zauns für die Kläger vorteil- oder nachteilhafter gewesen ist. Auch spielt es keine Rolle für das vorliegende Verfahren, wer für die Errichtung des Zauns „verantwortlich“ ist.
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Im Ergebnis war die Klage vollumfänglich abzuweisen.
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5. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 und Abs. 3, 162 Abs. 3 VwGO. Es entsprach vorliegend der Billigkeit, dass die Kläger die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen tragen, da sich diese durch die Antragstellung einem Prozesskostenrisiko aussetzten.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit fußt auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.