Inhalt

VG Würzburg, Beschluss v. 08.07.2022 – W 5 S 22.926
Titel:

Eilantrag der Nachbarin gegen Anbau an Wohnhaus

Normenketten:
VwGO § 80a Abs. 3
BauGB § 34 Abs. 1
BayBO Art. 6, Art. 59, Art. 68 Abs. 1 S. 1 Hs. 1
Leitsätze:
1. Verfahrensvorschriften sind - mit Ausnahme sog. absoluter Verfahrensrechte - grundsätzlich nicht drittschützend. Sie sind nur dann den Interessen eines Drittbetroffenen zu dienen bestimmt, wenn sie eine nach materiellem Recht geschützte Rechtsstellung des Nachbarn berühren. Der Drittbetroffene hat grundsätzlich nur einen Anspruch auf Schutz seiner materiellen Rechte. Allein durch die Wahl eines „falschen“ Genehmigungsverfahrens können keine Nachbarrechte verletzt sein. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
2. Nach Art. 6 Abs. 7 S. 1 Nr. 1 BayBO ist lediglich eine reine Garagennutzung, d.h. eine ausschließliche Nutzung zum Abstellen von Kraftfahrzeugen bzw. die Lagerung typischer Garagengegenstände, privilegiert. (Rn. 32 – 33) (redaktioneller Leitsatz)
3. Bei der baulichen Änderung eines Gebäudes ist grundsätzlich die bauliche Anlage in der Gestalt bzw. Nutzung, die sie durch die Änderung erhält, Gegenstand einer abstandsflächenrechtlichen Zulässigkeitsprüfung; auf einen Anlagenteil darf sich auch eine abstandsflächenrechtliche Zulässigkeitsprüfung grundsätzlich nur beschränken, wenn der Teil ein von der Gesamtanlage selbständiges Vorhaben sein könnte. (Rn. 38) (redaktioneller Leitsatz)
4. Die Frage der (Neu-)Beurteilung von Abstandsflächen ergibt sich nicht nur bei Neubauten, sondern kann auch bei Nutzungsänderungen oder baulichen Veränderungen neu aufgeworfen werden. (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung, baurechtliche Nachbarklage, Anbau einer Wohnung an ein Wohnhaus mit Überbauung der Garage, Prüfprogramm bei vereinfachtem Genehmigungsverfahren, Abstandsflächen, abstandsflächenrechtliche Neubeurteilung, Gebot der Rücksichtnahme, privilegierte Grenzgarage, Nutzungsänderung
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 19.09.2022 – 9 CS 22.1627
Fundstelle:
BeckRS 2022, 20749

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Beigeladene trägt ihre außergerichtlichen Aufwendungen selbst.
III. Der Streitwert wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
1
Die Antragstellerin wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen eine der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zum Anbau einer Wohnung an das bestehende Wohnhaus auf dem Grundstück Fl.Nr. …5 der Gemarkung E., G. H2. Str. ... in E. (Baugrundstück).
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1. Die Antragstellerin ist Eigentümerin des mit einem Einfamilienhaus bebauten Grundstücks Fl.Nr. …3 der Gemarkung E., G. H2. Str. ... in E., das östlich an das Baugrundstück angrenzt und eine gemeinsame Grundstücksgrenze in einer Länge von ca. 19 m aufweist.
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Das Grundstück der Beigeladenen ist bisher mit einem - wohl in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts genehmigten und errichteten - zweigeschossigen Wohnhaus bebaut, das einen Abstand von ca. 4,50 m (im Norden) bis ca. 5,50 m (im Süden) zur westlichen Grundstücksgrenze der Antragstellerin einhält. Im Bereich der nördlichen Hälfte der östlichen Fassade befindet sich ein eingeschossiger Anbau mit Terrasse und Geländer, der einen Grenzabstand von 2,04 m (im Süden) und ca. 1,50 m (im Norden) einhält. Nördlich schließt sich eine Garage mit einer rückwärtigen Wandlänge von ca. 3,85 m und einem Grenzabstand von 1,50 m (im Süden) bis 1,19 m (im Norden) an. Diese wurde mit Baubescheid des Landratsamtes E. vom 9. November 1954 genehmigt.
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2. Mit Baugesuch vom 31. Mai 2021, eingegangen beim Landratsamt H. am 26. Juli 2021, beantragte die Beigeladene für das Baugrundstück eine Baugenehmigung für den Anbau einer Wohnung an das bestehende Wohnhaus. Ausweislich der Planunterlagen soll der zweigeschossige Anbau an das Wohnhaus in Richtung Norden erfolgen und hier bis zur - nördlich des Baugrundstücks gelegenen - Grenze des Grundstücks Fl.Nr. …6 der Gemarkung E. reichen, wobei die bestehende Garage teilweise überbaut, also aufgestockt werden soll. Im Osten, also zum Grundstück der Antragstellerin, wird durch den Anbau ein Grenzabstand von 3,05 m eingehalten.
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In seiner Sitzung vom 14. Juli 2021 erteilte der Bau- und Umweltausschuss der Stadt E. das gemeindliche Einvernehmen und erklärte eine Abstandsflächenübernahme hinsichtlich des städtischen Grundstücks Fl.Nr. …6 der Gemarkung E. Mit Bescheid vom 11. August 2021 erteilte das Landratsamt H. der Beigeladenen im vereinfachten Baugenehmigungsverfahren die beantragte Baugenehmigung (Ziffer I.1.). Gemäß Satz 1 der Ziffer I.2. der Baugenehmigung umfasst die Prüfung nur die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit und die örtlichen Bauvorschriften i.S.d. Art. 81 Abs. 1 BayBO, beantragte Abweichungen i.S.d. Art. 63 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 BayBO sowie andere öffentlich-rechtliche Anforderungen, soweit wegen dieser Baugenehmigung eine Entscheidung nach anderen öffentlich-rechtlichen Vorschriften entfällt, ersetzt oder eingeschlossen wird. Der Versuch der Zustellung einer Ausfertigung der Baugenehmigung an die Antragstellerin, die die Nachbarunterschrift nicht geleistet hatte, scheiterte Mitte August 2021, weil auf dem Briefkuvert eine falsche Postleitzahl angegeben worden war. Nachdem der Sohn der Antragstellerin das Landratsamt H. am 6. Mai 2022 über stattfindende Bauarbeiten informiert hatte, wurde der Antragstellerin am 10. Mai 2022 die Baugenehmigung zugeleitet.
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3. Mit der am 30. Mai 2022 erhobenen Klage (W 5 K 22.925) begehrt die Bevollmächtigte der Antragstellerin die Aufhebung des Bescheids vom 11. August 2021. Mit Schriftsatz vom 30. Mai 2022, bei Gericht eingegangen am gleichen Tag, stellte sie den Antrag,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
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Zur Begründung trug sie im Wesentlichen mit Schriftsätzen vom 30. Mai 2022 und 15. Juni 2022 vor: Der Antrag sei zulässig und begründet. Die Baugenehmigung vom 11. August 2021 sei formell und materiell rechtswidrig und verletze die Antragstellerin in ihren nachbarschützenden Rechten. Die Klage in der Hauptsache habe überwiegende Erfolgsaussichten. Die formelle Rechtswidrigkeit des angegriffenen Bescheids ergebe sich daraus, dass der Bescheid offenbar nicht nach aktueller, sondern nach veralteter Rechtslage erlassen worden sei. Der in Ziffer I. des Bescheids aufgeführte Prüfungsumfang entspreche dem des vereinfachten Verfahrens nach der Fassung des Art. 59 BayBO bis zum 31. August 2018. Danach sei das Gesetz dergestalt geändert worden, dass die Abstandsflächenvorschriften nach Art. 6 BayBO wieder in den Prüfungsumfang des vereinfachten Verfahrens aufgenommen worden seien. Dies habe der Antragsgegner offensichtlich verkannt.
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Das Vorhaben verletze die Abstandsflächenvorschriften des Art. 6 BayBO. Zwar halte der beantragte Neubau isoliert betrachtet die Vorgaben ein. Nachdem es sich jedoch um einen Anbau an einen Bestandsbau handele, der baulich wie funktionell nicht isoliert betrachtet werden könne, bedürfe es einer Gesamtbetrachtung und erforderlichenfalls Neubewertung. Das Bestandsgebäude möge als solches - ggf. unter Erteilung einer Abweichung - genehmigt worden oder anderweitig bestandsgeschützt sein. Mit der Erweiterung sei aber die abstandsflächenrechtliche Situation für das Gesamtgebäude neu zu bewerten. In Anbetracht der Tatsache, dass der Bestand bereits jetzt die Abstandsflächen deutlich unterschreite, hätte geprüft werden müssen, ob sich die Situation durch das Vorhaben zulasten der Antragstellerin weiter verschlechtere. Eine Prüfung, ob die vom Abstandsflächenrecht geschützten Belange zusätzlich beeinträchtigt würden und ob die Voraussetzung für die (wohl bereits erteilte) Abweichung noch vorlägen, sei offensichtlich nicht erfolgt. Dies sei hinsichtlich des Anbaus nicht der Fall, denn es werde die grenznahe Bebauung erheblich verlängert, so dass nahezu die gesamte Westgrenze des Grundstücks „zugebaut“ sei. Hinzu komme, dass durch die Aufstockung der Garage durch die neuen Wohnräume die Privilegierung nach Art. 6 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 BayBO untergehe. Zwar sei zutreffend, dass die bauliche Verbindung mit einem nichtprivilegierten Gebäude allein nicht zu einem Wegfall der Privilegierung führe. Etwas Anderes gelte aber, wenn das privilegierte Gebäude (und hier insbesondere die Dachfläche) baulich für nicht privilegierte Zwecke in Anspruch genommen werde. Selbst wenn die Nutzung isoliert betrachtet die notwendigen Abstandsflächen einhalte, verliere die Garage damit insgesamt ihre Privilegierung, so dass sie die regulären Abstandsflächen einhalten müsse. Nichts Anderes gelte für die Aufstockung einer privilegierten Grenzgarage durch Aufenthaltsräume. Die Realisierung des Anbaus inklusive der Aufstockung führe dazu, dass die Garage erstmals selbst Abstandsflächen einhalten müsse. Aus den dargestellten Gründen liege auch ein Verstoß gegen das drittschützende, bauplanungsrechtliche Gebot der Rücksichtnahme vor. Dies gelte selbst dann, wenn davon ausgegangen würde, dass die Abstandsflächenvorschriften eingehalten wären.
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Selbst bei offenen Erfolgsaussichten in der Hauptsache rechtfertige die vorzunehmende Abwägung zwischen den öffentlichen Interessen bzw. den Interessen der Beigeladenen und den Interessen der Antragstellerin die Anordnung der aufschiebenden Wirkung.
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4. Das Landratsamt H. stellte für den Antragsgegner den Antrag,
den Antrag abzulehnen.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen vorgetragen: Der Antrag sei zulässig, aber unbegründet. Der Bescheid des Landratsamtes H. vom 11. August 2021 sei nicht rechtswidrig und verletze die Antragstellerin nicht in ihren Rechten. Da es sich bei der Baumaßnahme nicht um einen Sonderbau handele, sei das vereinfachte Baugenehmigungsverfahren nach Art. 59 BayBO durchzuführen gewesen. Die Abstandsflächen seien durch das Landratsamt ausdrücklich geprüft worden. Insoweit sei das Vorbringen der Antragstellerin zurückzuweisen.
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Nachbarschützende Vorschriften des Bauplanungsrechts würden durch die Baugenehmigung vom 11. August 2021 nicht verletzt. Der geplante Anbau füge sich auch mit seinen Maßen in die umgebende Bebauung ein. Es befänden sich in unmittelbarer Umgebung des Bauvorhabens vergleichbare Baukörper. Im Übrigen sei nicht erkennbar, dass durch das Maß der baulichen Nutzung eine bei der Antragstellerin erdrückende Wirkung erzielt werde. Die Baugenehmigung verstoße auch nicht gegen andere öffentlich-rechtliche Vorschriften mit drittschützender Wirkung, insbesondere nicht gegen das Abstandsflächenrecht der Bayerischen Bauordnung. Der Vortrag der Antragstellerin, dass die Abstandsflächenvorschriften durch eine behauptete Entprivilegierung der bestehenden Garage nicht eingehalten seien, könne nicht zum Erfolg des Antrags führen. Die bestehende Garage könne mit einer Grenzlänge von 3,85 m und einer mittleren Wandhöhe deutlich unter 3 m gemäß Art. 6 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 BayBO direkt an die Grundstücksgrenze gebaut werden. Das geplante Vorhaben führe auch nicht zur Entprivilegierung des Garagenbaus aus dem Jahr 1954. Warum nunmehr die 1954 genehmigte Garage selbst Abstandsflächen einhalten müsse, sei nicht ersichtlich. Zwar möge die aufgestockte Garage für die Antragstellerin subjektiv „massiger“ erscheinen, allerdings würden durch die Aufstockung keine neuen baurechtlich relevanten Fragen aufgeworfen, die sich gerade aus der Aufstockung ergäben. Die Errichtung eines Anbaus in demselben Maße, wie sie durch die Aufstockung erreicht worden sei - unter Hinwegdenken des nicht erweiterten Garagenteils - wäre für sich genommen zulässig gewesen. Warum die Kombination von privilegierter Garage und Aufstockung andere abstandsflächenrechtliche Fragen aufwerfe, sei nicht ersichtlich. Eine andere Betrachtungsweise wäre nur zulässig, wenn ein privilegiertes Gebäude unter Missachtung der ansonsten geltenden Abstandsflächen erweitert werden würde. Dann stelle sich die Frage, ob das privilegierte Gebäude seinen Charakter - als in diesem Fall - Grenzgarage verliere. So liege der Fall hier aber nicht, denn die Aufstockung sei für sich genommen zulässig. Bezüglich der von der Antragstellerin ansonsten geltend gemachten Rügen hinsichtlich der Bestandsgebäude sei festzustellen, dass sowohl das Wohngebäude wie auch die Garage seit mindestens 65 Jahren bestünden und deshalb im Rahmen des Baugenehmigungsverfahrens für den Anbau nicht beurteilt worden seien. Für die Garage bestehe zudem eine Baugenehmigung aus dem Jahr 1954. Die hier monierte Grenzgarage genieße Bestandsschutz. Auch mit dem Vorbringen, dass sich durch das Vorhaben gegenüber ihrem Grundstück die grenznahe Bebauung verlängere, könne die Antragstellerin nicht durchdringen. Denn entscheidend sei bzgl. der Abstandsflächen nicht, welchen Umfang eine grenznahe Bebauung habe, sondern ob die Abstandsflächen eingehalten worden seien.
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Das Vorhaben verstoße auch nicht gegen das Rücksichtnahmegebot. Die von der Antragstellerin angeführte Beeinträchtigung geschützter Nachbarbelange sei nicht nachzuvollziehen. Im Übrigen gelte, dass eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots wegen einer Beeinträchtigung der Belichtung, Belüftung oder Besonnung in der Regel ausscheide, wenn - wie hier - die bauordnungsrechtlichen Abstandsflächen eingehalten seien. Abschließend sei festzustellen, dass die Bestandsgarage über einen hinreichend langen Zeitraum geduldet worden sei und deren Beseitigung nicht mehr gefordert werden könne.
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5. Die Beigeladene äußerte sich im hiesigen Verfahren - ohne einen Antrag zu stellen - wie folgt: Das Haus sei 1934 gebaut worden. Im Laufe der Zeit sei das Baugrundstück durch Straßen- und Wegebau immer wieder verändert und verkleinert worden. Die Anbauten - Tierarztpraxis 1953 und Garage 1954 - seien mit Zustimmung aller Nachbarn und genehmigten Bauplänen errichtet und in den vergangenen 68 Jahren an der Grundstücksgrenze und der Bebauung zu den Nachbarn keine Veränderungen vorgenommen worden. Sie selbst sei seit 1990 Eigentümerin und leide seit dieser Zeit unter der Nachbarschaft der Familie der Antragstellerin. Aus dem vorliegenden Bauplan sei nicht ersichtlich, dass ihr Grundstück nahezu 3 m tiefer liege als das Grundstück der Antragstellerin, so dass von einem Schattenwurf oder einem „auf die Pelle rücken“ nicht die Rede sein könne.
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6. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
II.
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Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist zulässig, aber unbegründet.
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1. Der Antrag ist zulässig.
18
Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin (§ 80 Abs. 1 VwGO) entfällt vorliegend, weil sie sich gegen die bauaufsichtliche Zulassung eines Vorhabens wendet (§ 212a BauGB). In einem solchen Fall kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs ganz oder teilweise anordnen (§ 80a Abs. 3 i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO). Ein derartiger Antrag kann unmittelbar bei Gericht gestellt werden.
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Es fehlt der Antragstellerin auch nicht am Rechtsschutzbedürfnis, weil die Klagefrist versäumt worden wäre. Die Monatsfrist des § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO ist eingehalten. Denn die Bekanntgabe der Baugenehmigung an die Antragstellerin als Nachbarin erfolgte erst am 10. Mai 2022, so dass die am 30. Mai 2022 erhobene Klage fristgerecht erfolgte.
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2. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist unbegründet.
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Im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO trifft das Gericht eine eigene Ermessensentscheidung anhand der in § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO normierten Kriterien. Hierbei ist das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung gegen das Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seiner Klage bzw. seines Widerspruchs abzuwägen. Bei dieser Abwägung sind die Erfolgsaussichten in der Hauptsache dann von maßgeblicher Bedeutung, wenn nach summarischer Prüfung von der offensichtlichen Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des streitgegenständlichen Verwaltungsakts und der Rechtsverletzung des Antragstellers auszugehen ist. Jedenfalls hat das Gericht die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs bei seiner Entscheidung mit zu berücksichtigen, soweit diese sich bereits übersehen lassen (vgl. BVerfG, B.v. 24.2.2009 - 1 BvR 165/09 - NVwZ 2009, 581; BayVGH, B.v. 17.9.1987 - 26 CS 87.01144 - BayVBl. 1988, 369; Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 80 Rn. 89 ff.). Sind diese im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vollkommen offen, ist eine reine Interessenabwägung vorzunehmen.
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Vorliegend lässt sich nach der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung anhand der Akten feststellen, dass die Anfechtungsklage der Antragstellerin gegen die Baugenehmigung des Landratsamts H. vom 11. August 2021 mit hoher Wahrscheinlichkeit keinen Erfolg haben wird, da der angefochtene Bescheid die Antragstellerin nicht in nachbarschützenden Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 BayBO ist die Baugenehmigung zu erteilen, wenn dem Vorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind.
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Die Baugenehmigung ist nur dann aufzuheben, wenn sie rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Nachbar eines Vorhabens kann eine Baugenehmigung nur dann mit Erfolg anfechten, wenn öffentlich-rechtliche Vorschriften verletzt sind, die auch seinem Schutz dienen, oder wenn es das Vorhaben an der gebotenen Rücksichtnahme auf seine Umgebung fehlen lässt und dieses Gebot im Einzelfall Nachbarschutz vermittelt. Nur daraufhin ist das genehmigte Vorhaben in einem nachbarrechtlichen Anfechtungsprozess zu prüfen (vgl. BayVGH, B.v. 24.7.2020 - 15 CS 20.1332; B.v. 26.5.2020 - 15 ZB 19.2231; BVerwG, B.v. 28.7.1994 - 4 B 94/94; U.v. 19.9.1986 - 4 C 8.84; U.v. 13.6.1980 - IV C 31.77; alle juris).
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Im vorliegenden Fall ist nach Überzeugung der Kammer ein derartiger Verstoß nicht zu bejahen. Im Einzelnen:
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2.1. Soweit die Antragstellerseite zunächst rügt, dass der angegriffene Bescheid formell rechtswidrig sei, weil er offenbar nicht nach aktueller, sondern nach veralteter Rechtslage - nämlich nach der bis zum 31. August 2018 geltenden Fassung des Art. 59 BayBO - erlassen worden sei, verhilft dies dem Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO nicht zum Erfolg.
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Der Antragstellerseite ist allerdings insoweit uneingeschränkt beizupflichten, dass sich aus Ziffer I Satz 2 des streitgegenständlichen Bescheids unzweifelhaft entnehmen lässt, dass die Prüfung „nur die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit und die örtlichen Bauvorschriften i. S. d. Art. 81 Abs. 1 BayBO, beantragte Abweichungen i. S. d. Art. 63 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 BayBO sowie andere öffentlich-rechtliche Anforderungen, soweit wegen dieser Baugenehmigung eine Entscheidung nach anderen öffentlich-rechtlichen Vorschriften entfällt, ersetzt oder eingeschlossen ist“, umfasst. Dieser in der streitgegenständlichen Baugenehmigung vom 11. August 2021 aufgeführte Prüfungsumfang des vereinfachten Genehmigungsverfahrens nach Art. 59 BayBO entspricht dem des vereinfachten Verfahrens nach der Fassung des Art. 59 BayBO bis zum 31. August 2018 (BayBO a.F.). Mit Wirkung zum 1. September 2019 wurde das Gesetz aber dergestalt geändert, dass die Abstandsflächenvorschriften nach Art. 6 BayBO wieder in den Prüfungsumfang des vereinfachten Verfahrens (vgl. Art. 59 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b BayBO n.F.) aufgenommen wurden. Das Landratsamt H. ist damit offenkundig vom Prüfungsrahmen des vereinfachten Genehmigungsverfahrens nach der Bayerischen Bauordnung a.F. ausgegangen. Es ist auch weder vorgetragen noch sonst wie ersichtlich, dass es sich insoweit um eine offenbare Unrichtigkeit i.S.v. Art. 42 Satz 1 BayVwVfG handeln würde, zumal im Baugenehmigungsverfahren ein Abstandsflächenplan zwar vorgelegt wurde, dieser aber nicht (vgl. Bl. 16 der Bauakte) wie die anderen Planunterlagen (vgl. Bl. 23 - 27 der Bauakte) mittels Genehmigungsvermerk - zum Gegenstand der Baugenehmigung gemacht wurde. An dieser Beurteilung vermag auch die pauschale Aussage des Antragsgegners in der Antragserwiderung, dass die Abstandsflächen durch das „Landratsamt H. ausdrücklich geprüft worden“ seien, nichts zu ändern.
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Allerdings sind Verfahrensvorschriften - mit Ausnahme der sog. absoluten Verfahrensrechte - grundsätzlich nicht drittschützend. Sie sind nur dann den Interessen eines Drittbetroffenen zu dienen bestimmt, wenn sie eine nach materiellem Recht geschützte Rechtsstellung des Nachbarn berühren (Kopp/Schenke, VwGO, 27. Aufl. 2021, § 42 Rn. 95). Der Drittbetroffene hat damit grundsätzlich nur einen Anspruch auf Schutz seiner materiellen Rechte (vgl. VGH BW, B.v. 25.4.2006 - 3 S 547/06 - DÖV 2006, 656; B.v. 23.11.2011 - 14 BV 10.1811 - BeckRS 2012, 52486). Hieraus folgt, dass das Erfordernis der „richtigen“ Verfahrensart - hier des vereinfachten Genehmigungsverfahrens nach BayBO n.F. anstelle des vereinfachten Genehmigungsverfahrens nach der BayBO a.F. - für sich genommen noch keine drittschützende Wirkung vermittelt. Allein durch die Wahl eines „falschen“ Genehmigungsverfahrens können keine Nachbarrechte verletzt sein (vgl. zuletzt OVG Lüneburg, B.v. 15.10.2021 - 1 ME 104/20 - BeckRS 2021, 30667 m.w.N.; s.a. BayVGH, B.v. 23.12.2013 - 15 CS 13.1445 - BeckRS 2014, 46015; U.v. 23.11.2011 - 14 BV 10.1811 - BeckRS 2012, 52486; Molodovsky in Molodovsky/Famers/Waldmann, BayBO, 132. Erg.Lief. Mai 2019, Art. 55 Rn. 4). Der Drittbetroffene kann allenfalls beanspruchen, dass ihm daraus keine Beeinträchtigung seiner materiellen Rechtsposition erwächst.
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2.2. Der Vortrag der Antragstellerseite, die Abstandsflächenvorschriften des Art. 6 BayBO seien verletzt, kann nicht zum Erfolg des Antrags führen. Denn es liegt keine Verletzung abstandsflächenrechtlicher Vorschriften (Art. 59 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b i.V.m. Art. 6 BayBO) zu Lasten der Antragstellerin vor.
2.2.1.
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Gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 BayBO sind vor den Außenwänden von Gebäuden Abstandsflächen von oberirdischen Gebäuden freizuhalten. Diese Abstandsflächen müssen auf dem Grundstück selbst liegen, Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO. Die Tiefe der Abstandsfläche bemisst sich gemäß Art. 6 Abs. 4 Satz 1 BayBO nach der Wandhöhe und beträgt gemäß Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO (in der seit dem 1. Februar 2021 geltenden Fassung - G. v. 23.12.2020, GVBl. S. 663) grundsätzlich (nur noch) 0,4 H, mindestens 3 m.
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Insoweit lässt sich den genehmigten Planunterlagen unzweifelhaft entnehmen, dass bzgl. des genehmigten Anbaus mit einem Abstand von 3,05 m zur Grundstücksgrenze und mit einer Wandhöhe von 5,39 m - wenn man diesen Anbau isoliert betrachtet - die nach Art. 6 Abs. 4 und 5 BayBO erforderlichen Abstandsflächen von 0,4 H, mindestens 3 m eingehalten werden. Dies wird auch von Antragstellerseite nicht bestritten, vielmehr erklärt die Antragstellerbevollmächtigte selbst, dass es „nicht in Zweifel (stehe), dass der streitgegenständliche Anbau an und für sich die Abstandsflächen nach Art. 6 BayBO einhält“.
2.2.2.
32
Darüber hinaus kann die Antragstellerin mit ihrem Vortrag, dass durch die Aufstockung der Garage durch die neuen Wohnräume die Privilegierung nach Art. 6 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 BayBO untergehe, nicht durchdringen.
33
Nach der vg. Vorschrift sind u.a. in den Abstandsflächen sowie ohne eigene Abstandsflächen zulässig Garagen einschließlich ihrer Nebenräume mit einer mittleren Wandhöhe bis zu 3 m und einer Gesamtlänge je Grundstücksgrenze von 9 m. Privilegiert ist aber lediglich eine reine Garagennutzung, d.h. eine ausschließliche Nutzung zum Abstellen von Kraftfahrzeugen bzw. die Lagerung typischer Garagengegenstände. Nicht zulässig ist aber bspw. die Errichtung einer Dachterrasse auf einem nach Abs. 7 privilegierten Gebäude, da die Sondervorschrift nach ihrem Zweck allein auf Garagen oder Gebäude ohne Aufenthaltsräume anzuwenden ist und derartige Gebäudenutzungen ausschließt (BayVGH, B.v. 10.7.2015 - 15 ZB 13.2671 - BeckRS 2015, 50396; Hahn in Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, 144. EL Sept. 2021, Art. 6 Rn. 504). Unzulässig ist auch das nachträgliche Einbauen oder Einrichten einer Dachterrasse, z. B. durch Verlegen von Bodenplatten und Anbringung eines Geländers. Auch eine Dachterrasse, die so ausgeführt wird, z. B. durch Anbringen der Geländer, dass sie die gesetzliche Mindestabstandsfläche von 3 m einhält, ist nicht zulässig (Hahn in Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, 144. EL Sept. 2021, Art. 6 Rn. 504; BayVGH, B.v. 3.10.1983 - 15 CS 83 A.1783 - BayVBl 1984, 115). Einer Privilegierung steht aber auch entgegen ein Dachraum, der nur vom Wohngebäude her zugänglich ist, auch wenn er in einem Abstand von 3 m zur Grundstücksgrenze „abgemauert“ ist (BayVGH, B. v. 21.11.2006 - 15 CS 06.2862 - BeckRS; Molodovsky/Waldmann in Molodovsky/Famers/Waldmann, BayBO, 132. Erg.Lief. Mai 2019, Art. 6 Rn. 269). Eine derartige Konstellation ist vorliegend gegeben, wenn die vorhandene Garage durch eine Wohnbebauung aufgestockt wird, die (nur) vom Wohnbereich aus zugänglich ist.
34
Allerdings handelt es sich bei der bestehenden Garage auf dem Baugrundstück - anders als die Antragstellerin meint - nicht um eine privilegierte Grenzgarage i.S.v. Art. 6 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 BayBO, so dass durch die streitgegenständliche Baumaßnahme auf dieser Garage die Privilegierung (denknotwendigerweise) auch nicht entfallen kann. Denn ausweislich der - vom Gericht angeforderten und zwischenzeitlich durch den Antragsgegner vorgelegten - Bauakte des Landratsamtes E. (Bauplan Nr. 576/54) wurde die Errichtung dieser Garage mit Baubescheid des Landratsamtes E. vom 8. November 1954 („Garagenneubau für Herrn Dr. H. in E.“) bauaufsichtlich genehmigt. Den Planunterlagen lässt sich darüber hinaus entnehmen, dass das tatsächliche Ausmaß und der Standort dieser Garage - wie auch des eingeschossigen, als Bestand gekennzeichneten Anbaus an das Wohnhaus - den eingereichten und genehmigten Planunterlagen entsprechen. Mithin ist auch von einem baurechtlichen Bestandsschutz für die Garage auf dem Baugrundstück auszugehen. Auffallend ist jedoch, dass die damals eingereichten, genehmigten und vom östlichen Grundstücksnachbarn (Rechtsvorgänger der Antragstellerin) unterschiebenen Pläne (vgl. insb. Lageplan 1:1.000) eine parallel zu dem Anbau sowie der im weiteren Verlauf Richtung Norden vorhandenen rückwärtigen Garagenaußenwand verlaufenden Grundstücksgrenze aufzeigen, so dass eine Abstandsflächentiefe von 3 m zum Grundstück des östlichen Nachbarn eingehalten ist. Es spricht nach allem einiges dafür, dass der Verlauf der Grundstücksgrenze zwischen dem Grundstück der Antragstellerin und dem Baugrundstück nachträglich geändert wurde, mit der Folge, dass nun die rückwärtige Garagenwand auf dem Baugrundstück nicht mehr einen Grenzabstand von 3 m, sondern nur noch von 1,50 m (im Süden) bis 1,19 m (im Norden) einhält. Hierfür spricht auch, dass die gemeinsame Grundstücksgrenze im Lageplan 1:1.000 der Bauakte aus dem Jahr 1954 parallel zur westlichen Außenwand des Wohnhauses auf dem Grundstück der Antragstellerin verläuft, während sich der Abstand der westlichen Außenwand dieses Gebäudes zur Grundstücksgrenze im aktuellen Auszug aus dem Liegenschaftskataster (erstellt am 1.7.2021) nach Norden hin vergrößert.
2.2.3.
35
Die Kammer kann die Auffassung der Antragstellerin, dass die Voraussetzungen für die (wohl bereits erteilte) Abweichung beim Bestandsbau nicht mehr vorlägen, für das Gesamtvorhaben aber eine Abweichung nach Art. 63 BayBO von den Abstandsflächenvorschriften erforderlich gewesen wäre, eine solche nicht erteilt worden sei und auch nicht hätte erteilt werden können, damit das Vorhaben zu Lasten der Antragstellerin gegen Art. 6 BayBO verstoße, und die Antragstellerin in eigenen Rechten verletze, nicht teilen.
36
Zunächst bleibt festzustellen, dass nichts dafür ersichtlich ist, dass hinsichtlich der Genehmigung der Garage mit Baubescheid des Landratsamtes E. vom 8. November 1954 eine Abweichung von Abstandsflächenvorschriften erteilt worden wäre. Ausweislich des Lageplans, der Bestandteil der genehmigten Bauantragsunterlagen ist, hält die Garage einen Abstand von 3 m zur östlichen Grundstücksgrenze ein. Gegen die Erteilung einer Abweichung spricht darüber hinaus, dass die zum Zeitpunkt der Genehmigung der Garage der Beigeladenen gültige Fassung der Bayerischen Bauordnung von 1901 gar keine Abstandsflächenregelung vorgesehen hat. Ein entsprechender Regelungsinhalt findet sich erst in den Abstandsflächenvorschriften, die die Bayerische Bauordnung erstmals in ihrer Fassung vom 1. August 1962 enthält (vgl. Art. 6 BayBO 1962).
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Darüber hinaus ist nach Auffassung der Kammer nach Durchführung einer Neubetrachtung für die bauliche Anlage in der Gestalt, die sie durch die Änderung erhält (Gesamtanlage) die Erteilung einer Abweichung nach Art. 63 BayBO von den Abstandsflächenvorschriften nicht erforderlich. Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen:
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Der Antragstellerin ist allerdings beizupflichten, wenn sie ausführt, dass im vorliegenden Fall die abstandsflächenrechtliche Situation für das Gesamtgebäude und nicht eine isolierte Betrachtung des Anbaus (wie der Antragsgegner meint) zugrunde zu legen ist. Denn bei einer baulichen Änderung des Gebäudes - die hier durch den Anbau der Wohnung an das bestehende Wohnhaus auf dem Baugrundstück unstreitig gegeben ist - ist grundsätzlich die bauliche Anlage in der Gestalt bzw. Nutzung, die sie durch die Änderung erhält, Gegenstand einer abstandsflächenrechtlichen Zulässigkeitsprüfung; auf einen Anlagenteil darf sich auch eine abstandsflächenrechtliche Zulässigkeitsprüfung grundsätzlich nur beschränken, wenn der Teil ein von der Gesamtanlage selbständiges Vorhaben sein könnte (Laser in Schwarzer/König, BayBO, 5. Aufl. 2022, Art. 6 Rn. 16 unter Bezugnahme auf BayVGH, B.v. 1.8.2003 - 1 ZB 02.1267 - BeckRS 2003, 32362). Eine auf die Änderung beschränkte Zulässigkeitsprüfung verbietet sich insbesondere dann, wenn durch die Änderung eine neue, einheitliche Wand entsteht (BayVGH, B.v. 5.9.2002 - 26 CS 02.1492 - BeckRS 2002, 27060, B.v. 28.2.2003 - 14 CS 03.163 - BeckRS 2003, 31166). Hier ist von der Entstehung einer einheitlichen Außenwand auszugehen, auch wenn diese vertikal und horizontal versetzt ist.
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Die Frage der (Neu-)Beurteilung von Abstandsflächen ergibt sich nicht nur bei Neubauten, sondern kann auch bei Nutzungsänderungen oder baulichen Veränderungen neu aufgeworfen werden. Eine abstandsflächenrechtliche Neubetrachtung ist bei der Änderung eines Gebäudes immer dann veranlasst, wenn sich entweder die für die Ermittlung der Abstandsflächentiefe relevanten Merkmale ändern oder wenn die Änderung für sich betrachtet zwar keine abstandsflächenrelevanten Merkmale betrifft, das bestehende Gebäude aber die nach dem geltenden Recht maßgeblichen Abstandsflächen nicht einhält und die Änderung möglicherweise zu nicht nur unerheblichen nachteiligen Auswirkungen auf die durch das Abstandsflächenrecht geschützten Belange wie Belichtung, Belüftung, Besonnung und Wohnfrieden führen kann (vgl. BayVGH, B.v. 27.2.2015 - 15 ZB 13.2384 - BeckRS 2015, 43035; Laser in Schwarzer/König, BayBO, 5. Aufl. 2022, Art. 6 Rn. 16 m.w.N.).
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Entgegen der Auffassung der Antragstellerseite liegen diese Voraussetzungen hier aber gerade nicht vor. Soweit aus dortiger Sicht darauf abgestellt wird, dass durch die Aufstockung der Garage durch die neuen Wohnräume die Privilegierung nach Art. 6 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 BayBO untergehe und insoweit eine Abweichung nach Art. 63 Abs. 1 BayBO nicht vorliege, kann sich dem die Kammer (wie bereits dargelegt wurde, s. hierzu unter 2.2.2.) nicht anschließen. Es kann aber vorliegend auch nicht von einer Veränderung der für die Abstandsflächentiefe relevanten Merkmale die Rede sein, insbesondere kommt es hier zu keiner Veränderung der Wandhöhe in dem Bereich der Garage, die sich auf die Tiefe der Abstandsflächen auswirken würde. Dies wird auch von Antragstellerseite so gesehen (s.o.). Eine geänderte Nutzung in dem Bereich, der nach derzeitigem Stand - nach einer Änderung der Grundstücksgrenze - die aktuellen Abstandsflächen nicht einhält (Garage) mit gegebenenfalls intensiverer Nutzung liegt nicht vor, vielmehr verbleibt es insoweit bei der - die Antragstellerin nicht beeinträchtigenden - Garagennutzung. Die bauliche Änderung durch den die Abstandsflächenregelungen des Art. 6 BayBO einhaltenden Anbau beeinflusst die durch das Abstandsflächenrecht geschützten Belange (Belichtung, Belüftung, Besonnung, nachbarlicher Wohnfrieden) auch nicht negativ bzw. die Möglichkeit einer solchen Beeinträchtigung ist auszuschließen. Dass sich die Belichtung, die Belüftung und die Besonnung des Grundstücks durch die die Abstandsflächenvorschriften der Bayerischen Bauordnung einhaltende östliche Außenwand des Anbaus negativ verändern könnte ist von vornherein auszuschließen, zumal das Grundstück der Antragstellerin etwas höher liegt als das der Beigeladenen und das Wohnhaus der Antragstellerin zu dem Anbau der Beigeladenen einen Abstand von immerhin ca. 10 m aufweist. Dass die Bebauung der Antragstellerin „auf die Pelle rücken“ würde, wenn die gesetzlichen Abstandsflächen eingehalten werden, kann nicht nachvollzogen werden. Auch kann sonst nicht davon gesprochen werden, dass der nachbarliche „Wohnfriede“ negativ beeinträchtigt würde, zumal sich an der grenznahen Nutzung (Garage) nichts ändert und auch in dem Anbau - der von der Grenze unter Einhaltung der Abstandsflächenvorschriften zurückgesetzt ist - in Richtung des Grundstücks der Antragstellerin keinerlei Wohnräume, sondern ausschließlich ein Bade- und ein Schlafzimmer aufgeplant sind.
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Schließlich kann hier nicht davon gesprochen werden, dass ein rechtswidriger Zustand herbeigeführt oder ein bestehender - materiell - rechtswidriger Zustand in abstandsflächenrechtlich relevanter Weise zu Lasten des Grundstücksnachbarn verstärkt wird (vgl. hierzu Molodovsky/Waldmann in Molodovsky/Famers/Waldmann, BayBO, 132. Erg.Lief. Mai 2019, Art. 6 Rn. 38).
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2.3. Auch aus bauplanungsrechtlichen Gründen spricht nach summarischer Prüfung nichts für einen Erfolg der Antragstellerin im Hauptsacheverfahren.
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Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens beurteilt sich nach § 34 BauGB, da für das Baugrundstück kein qualifizierter Bebauungsplan existiert und es auch nicht dem Außenbereich nach § 35 BauGB zuzuweisen ist.
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Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile ein Vorhaben zulässig, wenn es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt und die Erschließung gesichert ist. Die Kammer hat keinerlei Bedenken, dass sich das Vorhaben nach den vg. Kriterien einfügen würde, zumal von Antragstellerseite insoweit nichts vorgebracht wurde.
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Im Übrigen werden Nachbarrechte durch einen (objektiven) Verstoß gegen § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB nur dann verletzt, wenn die angefochtene Baugenehmigung gegen das im Tatbestandsmerkmal des „Einfügens“ enthaltene (drittschützende) Gebot der Rücksichtnahme verstößt. Das Gebot der Rücksichtnahme (grundlegend BVerwG, U.v. 25.2.1977 - IV C 22.75 - BVerwGE 52, 122) soll einen angemessenen Interessenausgleich gewährleisten. Ihm kommt drittschützende Wirkung zu, soweit in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist. Die an das Gebot der Rücksichtnahme zu stellenden Anforderungen hängen im Wesentlichen von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab. Die vorzunehmende Interessenabwägung hat sich daran zu orientieren, was dem Rücksichtnahmebegünstigten und dem Rücksichtnahmeverpflichteten jeweils nach Lage der Dinge zuzumuten ist. Dies beurteilt sich nach der jeweiligen Situation der benachbarten Grundstücke. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung des Rücksichtnahmeberechtigten ist, desto mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die Interessen des Bauherrn sind, die er mit dem Vorhaben verfolgt, desto weniger muss er Rücksicht nehmen (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 13.3.1981 - 4 C 1.78 - juris Rn. 33). Das Gebot der Rücksichtnahme ist demnach nur dann verletzt, wenn die dem Antragsteller aus der Verwirklichung des geplanten Vorhabens resultierenden Nachteile das Maß dessen übersteigen, was ihm als Nachbarn billigerweise noch zumutbar ist (Mitschang/Reidt in Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 14. Aufl. 2019, § 35 Rn. 80).
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Bei Anwendung dieser Grundsätze erweist sich das Bauvorhaben der Beigeladenen in seinen Auswirkungen auf das Grundstück der Antragstellerin - entgegen der Auffassung der Antragstellerseite - im Ergebnis nicht als rücksichtslos.
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So spricht vorliegend gegen einen Verstoß des Vorhabens gegen das Rücksichtnahmegebot der Umstand, dass das streitgegenständliche Vorhaben zur Errichtung eines Anbaus einer Wohnung an das Wohngebäude unstreitig die bauordnungsrechtlichen Abstandsflächen nach Art. 6 BayBO einhält. Die Einhaltung der bauordnungsrechtlichen Abstandsflächen, die vor allem den Zielen einer ausreichenden Belichtung, Besonnung und Belüftung der benachbarten Grundstücke dienen, indiziert für das bauplanungsrechtliche Rücksichtnahmegebot in tatsächlicher Hinsicht, dass auch das planungsrechtliche Rücksichtnahmegebot im Regelfall nicht verletzt ist (vgl. BVerwG, B.v. 11.1.1999 - 4 B 128/98 - NVwZ 1999, 879; U.v. 7.12.2000 - 4 C 3/00 - NVwZ 2001, 58; BayVGH, B.v. 6.11.2008 - 14 ZB 08.2327 - juris; B.v. 15.3.2011 - 15 CS 11.9 - juris).
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Dass das Vorhaben der Beigeladenen der Antragstellerin gegenüber erdrückende oder einmauernde Wirkung entfalten würde, kann nicht gesehen werden.
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3. Nachdem die Klage der Antragstellerin nach allem voraussichtlich mit hoher Wahrscheinlichkeit erfolglos bleiben wird, überwiegt das Interesse der Beigeladenen an einer baldigen Ausnutzung der Baugenehmigung das Interesse der Antragstellerin an der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage. Somit konnte der Antrag keinen Erfolg haben und war mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen.
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Da sich die Beigeladene nicht durch eigene Antragstellung am Prozesskostenrisiko beteiligt hat, entsprach es nicht der Billigkeit, ihre eventuell entstandenen außergerichtlichen Aufwendungen der Antragstellerin aufzuerlegen (§ 162 Abs. 3 i.V.m. § 154 Abs. 3 VwGO).
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4. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2 und § 63 Abs. 2 GKG. Nachbarklagen werden nach Nr. 9.7.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 mit 7.500,00 EUR bis 15.000,00 EUR im Hauptsacheverfahren bewertet. Die Kammer hält im vorliegenden Fall in der Hauptsache einen Streitwert von 10.000,00 EUR für angemessen, der für das vorliegende Sofortverfahren zu halbieren ist (Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs).