Inhalt

VG München, Urteil v. 26.07.2022 – M 4 K 22.995
Titel:

Verlustfeststellung der Freizügigkeit mit achtjähriger Wiedereinreisesperre

Normenketten:
FreizügG/EU § 4a, § 6 Abs. 1, Abs. 4
StGB § 64, § 243, § 244
Leitsätze:
1. Vom Bestehen einer Wiederholungsgefahr der Begehung von Straftaten ist auszugehen, wenn die Taten auf der Suchterkrankung des Ausländers beruhen und er eine Drogentherapie nicht erfolgreich abgeschlossen hat sowie die damit verbundene Erwartung eines künftig straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft macht. (Rn. 58) (redaktioneller Leitsatz)
2. Das Verhalten eines Ausländers begründet eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft aus schwerwiegenden Gründen berührt, und deshalb die Verlustfeststellung der Freizügigkeit rechtfertigt, wenn er wegen einer Vielzahl von besonders schweren Fälle des Diebstahls und Sachbeschädigungen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren verurteilt wurde. (Rn. 59 und 60) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
FreizügG/EU, Verlustfeststellung mit achtjähriger Wiedereinreisesperre, Staatsangehörigkeit Italien und Türkei, ARB-Berechtigung, Erwerb des Daueraufenthaltsrechts unterstellt, Straffälligkeit (Eigentums- und Vermögensdelikte), Gesamtfreiheitstrafe fünf Jahre und zwei Monate, Kokain- und Spielsucht, Maßregelvollzug., Drogentherapie, Wiederholungsgefahr
Fundstelle:
BeckRS 2022, 20663

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger wendet sich gegen die Feststellung des Verlusts seines Rechts auf Einreise und Aufenthalt nach dem FreizügG/EU mit achtjähriger Wiedereinreisesperre.
2
Der am ... in … geborene Kläger ist 35 Jahre alt und italienischer und türkischer Staatsangehöriger. Sein Vater ist italienischer Staatsangehöriger, seine Mutter türkische Staatsangehörige. Die Eltern wurden jeweils im Land ihrer Staatsangehörigkeit geboren. Die Mutter des Klägers reiste nach Angaben der Beklagten in der mündlichen Verhandlung erstmals 1979 im Alter von zehn Jahren in das Bundesgebiet ein; der Vater des Klägers erstmals im Jahr 2012. Die Eltern des Klägers ließen sich im Jahr 1991 oder 1992 scheiden; danach brach der Kontakt des Klägers zu seinem Vater ab und er wuchs mit drei Geschwistern bei seiner zunächst alleinerziehenden Mutter auf. Der Kläger besuchte den Kindergarten und wurde altersgerecht eingeschult. Bereits in den ersten Schuljahren kam es zu Verhaltensauffälligkeiten, beim Kläger wurde ADHS diagnostiziert. Die empfohlene Medikation wurde nicht durchgeführt, die Erkrankung somit nicht behandelt. Als der Kläger zwölf Jahre alt war, lagen gegen ihn bereits 21 Strafanzeigen vor, beginnend mit einer Anzeige wegen Sachbeschädigung vom ... 1997. Die übrigen Anzeigen beziehen sich auf Sachbeschädigung an Kfz, Nötigung, gefährliche Körperverletzung, schweren Diebstahl, Diebstahl, Trickdiebstahl, Beleidigung mit sexuellem Hintergrund, Sachbeschädigung durch Brandlegung und Raub. In der 6. Klasse besuchte der Kläger eine Heimsonderschule. Die Schule wandte sich an das Jugendamt, das auf Anordnung des Amtsgerichts München (Bl. …) eine intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung (ISE) veranlasste (Bl. … f.).
3
Ab dem … … 1999 war der damals 12-jährige Kläger nicht mehr bei seiner Mutter gemeldet (Bl. …). Mit Schreiben vom 30. März 1999 verwarnte die Ausländerbehörde den Kläger erstmals mit an die Mutter gerichtetem Schreiben (Bl. ...). Aus den Akten ergibt sich, dass der Kläger zusammen mit zwei anderen Jugendlichen in Dänemark, Schweden, Köln und Frankreich im Rahmen der sozialpädagogischen Maßnahme zusammenlebte. Er erhielt täglich zwei Stunden Einzelunterricht von seinem Betreuer. Während der Maßnahme sah die Staatsanwaltschaft Köln von der Verfolgung des Klägers wegen Sachbeschädigung am ... 2000 gemäß § 45 Abs. 2 JGG bzw. wegen Sachbeschädigung und Bedrohung am … … 2000 gemäß § 45 Abs. 1 JGG ab (Bl. … ...).
4
Am ... 2001 meldete sich der Kläger mit Zuzug aus Toulouse/Frankreich wieder bei seiner Mutter an (Bl. ...). Er besuchte noch für kurze Zeit die Regelschule, wurde dann von der Schulpflicht befreit und verließ die Schule ohne Abschluss. Seitdem der Kläger 16 Jahre alt ist, hat die Mutter des Klägers einen italienischen Lebensgefährten, mit dem sich der Kläger nach seinen Angaben nach anfänglichen Schwierigkeiten gut versteht.
5
Am 11. September 2002 beantragte der mittlerweile 16-jährige Kläger erstmals die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis (Bl. … ff.) und begann am 15. September 2002 eine Ausbildung zum Maler und Lackierer.
6
Mit Urteil vom 9. Oktober 2002 sprach das Amtsgericht München (Bl. ...) den Kläger wegen Taten vom ... 2002 und vom … … 2002 wegen Diebstahls und gefährlicher Körperverletzung schuldig und verhängte gegen ihn einen Jugendarrest in Form von zwei Freizeitarresten.
7
Nach sechs Monaten, somit im Frühjahr 2003, brach der Kläger seine Ausbildung ab (Bl. ...). Danach arbeitete er drei Monate nach seinen Angaben als Einzelhandelskaufmann bzw. absolvierte in diesem Zeitraum eine entsprechende Ausbildung und war anschließend arbeitslos (Bl. ...).
8
Am ... 2003 wurde der Kläger vorläufig festgenommen und befand sich bis zum ... 2003 in Untersuchungshaft. Am ... 2003 kam der Kläger wieder in Untersuchungshaft, die bis zum … … 2003 dauerte (Bl. ...). Während der Untersuchungshaft trat der Kläger zweimal disziplinarisch in Erscheinung. Mit Urteil vom 17. November 2003 sprach das Amtsgericht München (Bl. … … ...) den Kläger wegen Taten vom 16. Mai 2003, vom 15. Juli 2003 und vom 26. Juli 2003 des Diebstahls, der räuberischen Erpressung in fünf selbstständigen Fällen sowie der versuchten räuberischen Erpressung schuldig und verurteilte ihn zu einer Jugendstrafe von einem Jahr, deren Vollstreckung bis zum 24. November 2005 zur Bewährung ausgesetzt wurde. Letzteres wurde damit begründet, dass der Kläger sich nach seiner Haftentlassung um eine Arbeitsstelle bemüht und bei ihm anscheinend durch die Untersuchungshaft ein Lernprozess stattgefunden habe.
9
Am 17. Februar 2004 beantragte der Kläger die Verlängerung (sic) einer Aufenthaltserlaubnis (Bl. ...) und erhielt eine bis zum ... 2019 befristete Aufenthaltserlaubnis EU (Bl. ...).
10
Am ... 2004 fand in der Familienwohnung des Klägers eine Durchsuchung statt. Am ... 2004 wurde der Kläger in der Wohnung seiner Mutter vorläufig festgenommen (Bl. … ff.). Er befand sich bis zu seiner Verurteilung am 3. Februar 2005 in Untersuchungshaft (Bl. ...). Mit Urteil vom 3. Februar 2005 sprach das Amtsgericht München den Kläger wegen Taten vom 15. Mai 2004 und vom 16. September 2004 der gefährlichen Körperverletzung in Tatmehrheit mit vorsätzlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit vorsätzlicher Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter Nötigung schuldig und verurteilte ihn unter Einbeziehung der Verurteilung vom 17. November 2003 zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und sechs Monaten, deren Vollstreckung - wenn auch mit Bedenken - bis zum 10. Februar 2007 zur Bewährung ausgesetzt wurde (Bl. … … ...).
11
Am 14. Februar 2005 wurde der Kläger erneut vorläufig festgenommen und befand sich zunächst in Untersuchungshaft (Bl. ...). Am 1. März 2005 wurde die Aussetzung der Vollstreckung der Jugendstrafe aus der Verurteilung vom 3. Februar 2005 widerrufen; am 16. März 2005 trat der Kläger seine Jugendstrafe aus dieser Verurteilung in der Justizvollzugsanstalt … an (Bl. … f.). Mit Urteil vom 25. Juli 2005 sprach das Amtsgericht München den Kläger wegen Taten vom 10. Juli 2004, von Anfang/Mitte des Jahres 2003 und vom 12. Februar 2005 auf den 13. Februar 2005 der gefährlichen Körperverletzung in zwei tatmehrheitlichen Fällen in Tatmehrheit mit gemeinschaftlicher Nötigung in zwei tateinheitlichen Fällen sowie der Beihilfe zum Diebstahl in einem besonders schweren Fall schuldig und verhängte gegen ihn unter Einbeziehung des Urteils vom 3. Februar 2005 eine Einheitsjugendstrafe von zwei Jahren und vier Monaten (Bl. … ff.). Im Rahmen der Strafzumessung berücksichtigte das Gericht zu Lasten des Klägers u.a., dass er zu den Tatzeiten unter Bewährung gestanden hatte und die letzte Bewährungsstrafe nur zehn Tage vor der letzten Tat am 12./13. Februar 2005 verhängt worden war und dass der Kläger sich zuvor mehrere Monate in Untersuchungshaft befunden hatte (Bl. ...). Mit Schreiben vom 27. September 2005 hörte die damals zuständige Ausländerbehörde den Kläger wegen der Verurteilung vom 25. Juli 2005 zu einer beabsichtigten Feststellung des Verlusts seines Rechts auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland an (Bl. ...). Mit Führungsbericht vom 4. November 2005 (Bl. … … ...) beschrieb die Justizvollzugsanstalt … die Führung des Klägers im dortigen Vollzug als „durchwachsen“. Dem Kläger sei es nicht gelungen, sein Verhalten den Erfordernissen des Arbeitsbetriebs anzupassen, weshalb er schon zwei Mal von seinem Arbeitseinsatz habe abgelöst werden müssen. Es sei anzumerken, dass der Kläger nie bösartig aufgetreten sei, sondern einfach nicht ruhig seiner Arbeit nachgehen könne. In der Wohngruppe habe der Kläger von Anfang auffälliges Verhalten gezeigt. Grenzen müssten dem Kläger sehr klar und deutlich gesetzt werden. Allerdings habe sich sein Verhalten insgesamt verbessert, so dass eine positive Entwicklung festzustellen sei. Der Kläger sei in der Anstalt insgesamt sieben Mal disziplinarisch auffällig geworden. Er halte kontinuierlichen Kontakt zu seiner Familie und werde auch sehr regelmäßig besucht. Mit Nachbericht vom … …er 2005 (Bl. ...) teilte die Justizvollzugsanstalt … der Ausländerbehörde mit, dass der Kläger seit der letzten Stellungnahme massiv in der Haft auffällig geworden sei und dabei verschiedene Straftatbestände erfüllt habe. Die Anstalt habe Strafanzeige wegen Beleidigung, Bedrohung, Erpressung und Körperverletzung gestellt. Aus Gründen des Opferschutzes werde der Kläger in die Justizvollzugsanstalt … verlegt. Mit Urteil vom 13. November 2006 sprach das Amtsgericht Bamberg den inhaftierten Kläger wegen Taten vom 8. Dezember 2005, vom Oktober 2005, vier Taten im Zeitraum von Oktober 2005 bis Dezember 2005, vom 29. November 2005, vom 12. Dezember 2005, der Tat im Zeitraum vom September bis Dezember 2005, der Taten zwischen dem 17. März 2005 und dem 15. Dezember 2005 der räuberischen Erpressung rechtlich mit vorsätzlicher Körperverletzung, der versuchten Nötigung, des Diebstahls sowie der vorsätzlichen Körperverletzung in neun Fällen schuldig und verhängte gegen ihn unter Einbeziehung des Urteils vom 25. Juli 2005 eine Einheitsjugendstrafe von drei Jahren und zwei Monaten (Bl. … ff.). Im Rahmen der Strafzumessung berücksichtigte das Gericht u.a., dass die Straftaten in der Haft begangen wurden. Außerdem sei das Verhalten des Klägers in der Justizvollzugsanstalt auch nach den abgeurteilten Straftaten nicht beanstandungsfrei gewesen (Bl. ...). Mit Schreiben vom 1. Dezember 2006 stellte die damals zuständige Ausländerbehörde das Verfahren zur Beendigung des Aufenthalts des Klägers ein und verwarnte ihn ausländerrechtlich (Bl. ...). Am 12. März 2007 wurde der Kläger unter Aussetzung der Vollstreckung der Reststrafe zur Bewährung aus der Justizvollzugsanstalt … entlassen (Bl. … f.). Er nahm wieder Wohnung bei seiner Mutter (Bl. ...).
12
Mit Urteil vom 8. Januar 2009 sprach das Amtsgericht München den damals arbeitslosen Kläger wegen Taten vom 22. Mai 2008 bzw. vom 23. Mai 2008 zweier tatmehrheitlicher Fälle der vorsätzlichen Körperverletzung schuldig und verurteilte ihn zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Monaten (Bl. … ff.). Das Strafgericht berücksichtigte im Rahmen der Strafzumessung u.a., dass der Kläger die Taten in offener einschlägiger Reststrafenbewährung begangen hatte und erst gut ein Jahr vor der ersten Tat aus der Strafhaft entlassen worden war (Bl. ...).
13
Mit Urteil vom 4. Mai 2009 sprach das Amtsgericht München (Bl. … ff.) den Kläger des unbefugten Gebrauchs eines Fahrzeugs schuldig und verurteilte ihn zu einer Geldstrafe von 150 Tagessätzen. Ausweislich des Strafurteils war der Kläger als Aushilfe im elterlichen Betrieb tätig und erledigte dabei teilweise die Buchhaltung. Feste Einkünfte erzielte er hieraus nicht, er wurde von seinen Eltern, bei denen er auch wohnte, unterstützt (Bl. ...).
14
Am 9. September 2009 trat der Kläger die Verbüßung der Freiheitsstrafe aus dem Urteil vom 8. Januar 2009 in der Justizvollzugsanstalt München an und wurde am 15. September 2009 in die Justizvollzugsanstalt … verlegt (Bl. … f.). Mit Urteil vom 2. Dezember 2009 sprach das Amtsgericht Starnberg (Bl. … ff.) den Kläger wegen einer Tat vom 23. Januar 2009 der Nötigung schuldig und verurteilte ihn unter Einbeziehung der Geldstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts München vom 4. Mai 2009 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Monaten, deren Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde, weil der Kläger sich als Bewährungsversager erwiesen hatte und ihm keine günstige Sozialprognose gestellt werden konnte (Bl. ...). Mit Schreiben vom 11. Mai 2010 verwarnte die damals zuständige Ausländerbehörde den Kläger (Bl. ...). Am 12. Juli 2011 wurde der Kläger aus der Haft entlassen (Bl. ...).
15
Mit Urteil vom 17. September 2013 sprach das Amtsgericht München den Kläger wegen einer Tat vom 30. November 2012 wegen Diebstahls schuldig und verhängte eine Geldstrafe in Höhe von 120 Tagessätzen (Bl. … ...). Mit Urteil vom 25. November 2013 (Bl. ...) sprach das Amtsgericht München den Kläger wegen Computerbetrugs gemäß § 263a Abs. 1 StGB schuldig und verhängte unter Einbeziehung der Entscheidung vom 17. September 2013 eine Geldstrafe in Höhe von 180 Tagessätzen (Bl. ...). Mit Urteil vom 20. März 2014 sprach das Amtsgericht Starnberg den Kläger wegen Taten vom 20. Januar 2013 des versuchten Diebstahls in einem besonders schweren Fall in zwei Fällen schuldig und verhängte eine Freiheitsstrafe von acht Monaten, die auf drei Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurde (Bl...).
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Am 21. April 2014 wurde der Kläger festgenommen und befand sich bis zum 13. Mai 2014 zunächst in Untersuchungshaft. Im Anschluss verbüßte er bis zum 9. November 2014, ab dem 20. Mai 2014 in der Justizvollzugsanstalt … (Bl. ...), eine Ersatzfreiheitsstrafe und im Anschluss in der Justizvollzugsanstalt … wieder Untersuchungshaft. Mit Urteil vom 30. September 2014 sprach das Amtsgericht München (Bl. … ff.) den Kläger wegen Betrugs in 15 Fällen in Tatmehrheit mit Diebstahl in drei Fällen in Tatmehrheit mit Erpressung in drei Fällen schuldig und verurteilte ihn zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren (Bl. ...). Am 23. Februar 2016 hob das Landgericht München I in der Berufungsinstanz das Urteil des Amtsgerichts München vom 30. September 2015 (sic) teilweise auf, stellte das Verfahren teilweise ein und änderte das Urteil im Rechtsfolgenausspruch dahingehend ab, dass der Kläger unter Einbeziehung des Urteils des Amtsgerichts Starnberg vom 20. März 2014 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und vier Monaten verurteilt wurde (Bl. … f.). Das Berufungsgericht legte seiner Entscheidung die Einschätzung des Sachverständigen zugrunde, wonach es sich beim Spielverhalten des Klägers um einen Bestandteil seiner dissozialen Entwicklung handele, der keine primäre Suchtkomponente zu Grunde liege (Bl. ...). Auf die Revision des Klägers hob das Oberlandesgericht München mit Beschluss vom 14. Juli 2016 das Urteil des Landgerichts München I vom 23. Februar 2016 teilweise auf. Am 17. August 2016 wurde der Kläger aus der Untersuchungshaft entlassen (Bl. ...).
17
Mit Urteil vom 22. September 2016 (Bl. … ff.) hob das Landgericht München I auf die Berufung des Klägers das Urteil des Amtsgerichts München vom 30. September 2015 (sic) auf und sprach den Kläger wegen Taten vom 3. Oktober 2013, vom 4. Oktober 2013, vom 5. Oktober 2013, vom 13. November 2013, vom 30. November 2013 und vom 18. Dezember 2013 des Betrugs in vier Fällen in Tatmehrheit mit Diebstahl schuldig und verurteilte ihn zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und fünf Monaten. Sowohl hinsichtlich der Betrugsdelikte als auch des Diebstahls habe der Kläger jeweils das Regelbeispiel des § 263 Abs. 3 Nr. 1 StGB bzw. des § 243 Abs. 2 Nr. 3 StGB verwirklicht, weil er gewerbsmäßig vorgegangen sei (Bl. ...). Die Spielleidenschaft des Klägers habe keinen Krankheitswert. Das Strafgericht führte u.a. aus, dass der Kläger auf dem Arbeitsmarkt zu keinem Zeitpunkt habe Fuß fassen können. Er werde von seiner Mutter unterstützt und übe kurzfristige Tätigkeiten als Barmann oder Türsteher aus. Erst nach der letzten Haftentlassung - mithin im Juli 2011 - bis zur erneuten Inhaftierung im dortigen Verfahren - mithin bis zum 21. April 2014 - habe er kontinuierlich im Restaurant des Partners seiner Mutter auf 400 €-Basis gearbeitet (Bl. ...). Seit einer Woche arbeite der Kläger als Barmann in Teilzeit und lebe seit der Entlassung am 17. August 2016 wieder im Haushalt der Mutter. Der Kläger habe mit 14 Jahren erstmals Cannabisprodukte konsumiert und seinen Konsum schnell gesteigert. Im Alter von 16/17 Jahren habe er mehrmals täglich Cannabisprodukte konsumiert. Im Alter von 17 Jahren habe er erstmals Kokain und Amphetamin konsumiert und in den folgenden Jahren noch verschiedene andere Drogen, außer LSD und Heroin (Bl. ...). Etwa im Jahr 2008 habe der Kläger begonnen, an Automaten zu spielen. Das Spielverhalten des Klägers habe auf seiner dissozialen Entwicklung beruht und keine primäre Suchtkomponente enthalten (Bl. ...). Derzeit lebe der Kläger von der Unterstützung seiner Familie. Die verhängten Einzelstrafen betrugen zwischen sechs Monaten und einem Jahr (Bl. ...). Mit Schreiben vom 30. Mai 2017 verwarnte die Beklagte den Kläger ausländerrechtlich (Bl. ...).
18
Mit Strafbefehl vom 3. April 2019 verhängte das Amtsgericht München gegen den Kläger wegen eines Diebstahls im Zeitraum von Januar 2019 bis März 2019 eine Geldstrafe in Höhe von 90 Tagessätzen (Bl. ...).
19
Im Zeitraum vom 1. Dezember 2019 bis zum 6. April 2020 beging der Kläger zahlreiche Diebstähle unter Verursachung von Sachschäden.
20
Am … … 2020 wurde der Kläger festgenommen und befand sich anschließend bis zur Verlegung in den Maßregelvollzug im Oktober 2021 in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt …, unterbrochen durch die Verbüßung einer Ersatzfreiheitsstrafe vom 10. Juni 2020 bis zum 31. Juli 2020. In ihrer Anklageschrift vom 25. November 2020 (Bl. … … ...) führte die Staatsanwaltschaft M. u.a. aus, dass das Verhältnis zur Familie aufgrund der etlichen kriminellen Machenschaften des Klägers zerrüttet sei. Nach kriminalpolizeilichen Erkenntnissen sei der Kläger in der Vergangenheit Mitglied der Gruppierung „… …“ gewesen. Inwieweit dies noch zutreffe, habe nicht ermittelt werden können (Bl. ...). Am … … 2021 erstattete der Sachverständige … … ein Psychiatrisches Fachgutachten, das sich u.a. auf eine persönliche Befragung und Exploration des Klägers am … … 2021 stützte. Der Kläger hatte bei dieser angegeben, er spreche fließend Deutsch, Türkisch und Italienisch, absteigend in dieser Reihenfolge. Der Sachverständige diagnostizierte beim Kläger eine Polytoxikomanie mit stofflichen und nicht-stofflichen Abhängigkeiten, derzeit abstinent unter beschützenden Bedingungen (F19.21). Beim Kläger bestehe seit vielen Jahren ein Missbrauch von BtM-Substanzen, der seit 2016/2017 in eine abhängige Suchterkrankung von stofflichen und nicht-stofflichen Substanzen übergegangen sei. Bis dahin sei die Suchterkrankung hauptsächlich durch einen Missbrauch von zunächst THC sowie dann von einem Probier- und Partykonsum von Kokain und Amphetaminen gekennzeichnet. Erst ab der Zeit nach der Entlassung aus der … … habe sich die Spielsucht intensiviert - wie auch schon nach der Entlassung aus der … … - und mit dem inflationären Konsum von Kokain und Amphetaminen vergesellschaftet.
21
Mit Urteil vom 2. Juni 2021 sprach das Landgericht München I den Kläger wegen Diebstahls mit Waffen in Tateinheit mit Sachbeschädigung in Tatmehrheit mit Diebstahl in acht tatmehrheitlichen Fällen jeweils in Tateinheit mit Sachbeschädigung unter Anwendung von § 244 Abs. 1 Nr. 1 lit. a), § 303 Abs. 1, §§ 242, 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, Nr. 2, Nr. 3, StGB schuldig, verurteilte ihn zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und zwei Monaten und ordnete die Unterbringung des Klägers in einer Entziehungsanstalt an. Der Kläger wurde für die Tat vom 1. Dezember 2019 wegen Diebstahls mit Waffen § 244 Abs. 1 Nr. 1 lit. a) StGB verurteilt; die Einzelstrafe für diese Tat betrug ein Jahr und zwei Monate. Hinsichtlich der Tat im Zeitraum zwischen dem 20. Dezember 2019 und dem 2. Januar 2020 ging das Gericht wegen der Verwirklichung der beiden Regelbeispiele des § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und Nr. 3 StGB von einem besonders schweren Fall des Diebstahls gemäß § 243 Abs. 1 Satz 1 StGB aus (Bl. ...), die Einzelstrafe hierfür betrug zwei Jahre und zehn Monate (Bl. ...). Bei allen übrigen Diebstahlstaten sah das Gericht jeweils die drei Regelbeispiele gemäß § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1, Nr. 2 und Nr. 3 StGB als verwirklicht an und legte für diese Einzelstrafen von einem Jahr und zwei Monaten, elf Monaten, einem Jahr und sechs Monaten, einem Jahr und acht Monaten, elf Monaten, sowie zwei Mal acht Monaten fest. Ausweislich der Urteilsgründe führte der Kläger zwischen 2016 und 2019 eine längere Beziehung, die aufgrund des Erlasses eines Strafbefehls gegen den Kläger endete (Bl. ...). Im Zeitpunkt der Verurteilung habe der Kläger seit sieben Monaten eine Freundin, die er während seiner Inhaftierung kennengelernt habe (Bl. ...). Der Kläger habe Schulden in Höhe von 10.000 € bis 20.000 €. Er habe „während seiner Inhaftierung in …“ mehrfach Subutex konsumiert und zwei bis drei Mal Heroin geschnupft (Bl. ...). Nach seiner Entlassung aus … habe er zu spielen begonnen. Seit 2011 spiele er täglich. Maximal habe der Kläger täglich bis zu 500 € für Kokain und 30.000 € beim Glücksspiel ausgegeben (Bl. ...).
22
Im Rahmen des Anhörungsverfahrens zur beabsichtigten Verlustfeststellung trug der Kläger mit Schreiben vom 17. Juli 2021 vor, er sei in Deutschland geboren und aufgewachsen und habe hier seinen einzigen Lebensmittelpunkt. Alle sozialen Kontakte habe er in Deutschland, auch seine Lebenspartnerin lebe hier. Verwandte habe er weder in Italien noch in der Türkei. Seine Sprachkenntnisse der italienischen und türkischen Sprache schätze er als sehr schlecht ein, er könne sich kaum in beiden Sprachen mit anderen Personen verständigen. Wegen seiner Spiel- und Drogensucht sei er leider in der Beschaffungskriminalität gelandet. Er trete demnächst auf eigenen Wunsch eine Therapie nach § 64 StGB an und gehe davon aus, seine Süchte zu überwinden. Er ergänzte, dass es sich bei der „Waffe“, die er bei einem Diebstahl verwendet habe, lediglich um ein Messer gehandelt habe, das er am Tatort vorgefunden habe; verwendet habe er es ausschließlich, um einen Spind aufzubrechen; er sei also weder bewaffnet zu seinem Diebstahl aufgebrochen noch habe er das vor Ort gefundene Messer als Waffe benutzt.
23
Am 7. Oktober 2021 wurde der Kläger aus der Justizvollzugsanstalt … in den Maßregelvollzug gemäß § 64 StGB in das Bezirksklinikum … verlegt.
24
Aus dem Versicherungsverlauf des Klägers bei der Deutschen Rentenversicherung vom … … 2021 (Bl. ...) ergibt sich, dass der Kläger im Zeitraum vom 15. Oktober 2002 bis zum 31. Juli 2019 insgesamt ungefähr 32 Monate sozialversicherungspflichtig beschäftigt war. Gegenüber dem Sachverständigen … … hatte der Kläger angegeben, nach dem Abbruch seiner Lehre bis zum 16./17. Lebensjahr immer wieder gearbeitet zu haben, dann aber zunehmend straffällig geworden und zu Jugendstrafen verurteilt worden zu sein. Nach seiner Entlassung aus den Justizvollzugsanstalten … und … habe er versucht, wieder Fuß zu fassen und bei seiner Mutter und seinem „Stiefvater“ in deren italienischem Lokal gearbeitet. Zeitweise sei er bei Media-Markt beschäftigt gewesen. Nach seiner Entlassung aus der Justizvollzugsanstalt … habe er viel gearbeitet und in einer Wohnung über dem Lokal gewohnt, wo er als Küchenhilfe beschäftigt gewesen sei. Nach der Trennung von seiner Freundin habe er beim „Stiefvater“ acht Monate lang als Hausmeister gearbeitet.
25
Mit Bescheid vom 25. Januar 2022 stellte die Beklagte fest, dass der Kläger sein Recht auf Einreise und Aufenthalt verloren hat (Nr. 1), untersagte die Einreise und den Aufenthalt beginnend mit der Ausreise für die Dauer von acht Jahren (Nr. 2), setzte eine Ausreisefrist von einem Monat und drohte die Abschiebung nach Italien oder einen anderen aufnahmebereiten oder zur Rückübernahme verpflichteten Staat an (Nr. 3). Die Beklagte legte ihrer Entscheidung zu Grunde, dass die Kontinuität des Aufenthalts seit der Inhaftierung am … … 2020 unterbrochen ist und der Kläger nicht den verstärkten Schutz vor einer Verlustfeststellung gemäß § 6 Abs. 5 FreizügG/EU besitzt. Es sei trotz des langjährigen Aufenthalts auch nicht ausnahmsweise von einem Fortbestand der mit der Bundesrepublik Deutschland geknüpften Integrationsverbindungen auszugehen. Zwar sei die soziale Integration des Klägers zu sehen. Aber der Kläger habe nur sporadisch gearbeitet, keinen Schulabschluss und keine Berufsausbildung. Er sei zu keinem Zeitpunkt in der Lage gewesen, seinen Lebensunterhalt dauerhaft selbstständig zu bestreiten, und es sei auch nicht davon auszugehen, dass sich diese Situation nach seiner langjährigen Inhaftierung ändern werde. Zudem sei der Kläger aufgrund seiner Suchterkrankung immer wieder straffällig geworden und habe sich mehrfach auch längere Zeit in Haft befunden. Die Vielzahl der Verurteilungen sowie die Höhe der letzten Verurteilung ließen erahnen, wie sehr sich der Kläger von der Gesellschaft in Deutschland entfernt habe. Die Integration des Klägers sei nachhaltig gescheitert. Der langjährige Aufenthalt werde jedoch im Rahmen der Ermessensentscheidung berücksichtigt. Nachdem der Kläger sich bereits seit fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalte, habe er jedoch ein Daueraufenthaltsrecht erworben. Deshalb dürfe die Verlustfeststellung gemäß § 6 Abs. 4 FreizügG/EU nur aus schwerwiegenden Gründen getroffen werden. Als Kind einer türkischen Arbeitnehmerin stehe dem Kläger auch ein Aufenthaltsrecht gemäß Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 zu, weshalb er auch erhöhten Ausweisungsschutz gemäß § 53 Abs. 3 AufenthG genieße. Gemäß § 11 Abs. 14 Satz 1 FreizügG/EU sei § 53 Abs. 3 AufenthG anzuwenden, weil dieser Schutz vor einer Aufenthaltsbeendigung weitreichender sei. Die Einzelfallbetrachtung ergebe, dass die danach erforderliche Gefährdungslage sei gegeben. Die Straftaten des Klägers seien im Bereich der Schwerkriminalität anzusiedeln. Angesichts seiner kriminellen Energie könne nicht davon ausgegangen werden, dass die Erfahrung mit dem Strafvollzug den Kläger künftig abschrecken werde, zumal er bereits wegen ähnlicher Delikte lange Haftstrafen verbüßt habe. Die Drogentherapie sei noch nicht abgeschlossen, sein familiäres Umfeld habe den Kläger nicht zu einer Abkehr vom Drogenmilieu bewegen können. Der Kläger konsumiere seit seinem 13. Lebensjahr die unterschiedlichsten Drogen. Mit 24 Jahren habe er zu spielen begonnen. Eine Kokain- und Spielsucht sei festgestellt worden. Beim Kläger bestehe auf Grund des jahrelangen Drogenmissbrauchs und der Spielsucht nach wie vor eine konkrete Wiederholungsgefahr für weitere Straftaten aus dem Bereich der Beschaffungskriminalität. Die Taten berührten auch ein Grundinteresse der Gesellschaft. Die Straftaten des Klägers hätten sich gegen die besonders wichtigen Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und das Eigentum/Vermögen (Art. 14 GG) gerichtet. Diese Schutzgüter nähmen in der Hierarchie der in den Grundrechten enthaltenen Werteordnung einen hohen Rang ein und lösten auch entsprechende staatliche Schutzpflichten aus. Bei einer Gesamtwürdigung des klägerischen Verhaltens komme man zu dem Ergebnis, dass zum Schutz der möglichen künftigen Opfer die Gefahr weiterer derartiger Straftaten der hier lebenden Allgemeinheit nicht zugemutet werden könne. Da die erhöhten Voraussetzungen für eine Aufenthaltsbeendigung des § 53 Abs. 3 AufenthG gegeben seien, stünden auch die Schutzregelungen des nachrangigen § 6 Abs. 4 FreizügG/EU der Aufenthaltsbeendigung nicht entgegen. Das Ermessen, ob die Feststellung des Rechtsverlusts geboten sei, werde zu Ungunsten des Klägers ausgeübt. Auf Seiten des öffentlichen Interesses werde die erhebliche Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch die abgeurteilten Straftaten und deren künftige weitere schwerwiegende Gefährdung durch den Kläger berücksichtigt. Auf Seiten des privaten Interesses des Klägers werde berücksichtigt, dass er faktischer Inländer sei und einen Schulabschluss besitze (sic!), aber keine Berufsausbildung abgeschlossen habe. Eine berufliche Integration habe somit nicht stattgefunden. Selbst schlechte Sprachkenntnisse der türkischen und italienischen Sprache stellten kein Rückkehrhindernis dar. Der Kläger könne seine Sprachkenntnisse noch in der Unterbringung bzw. Haft verbessern und sich im Übrigen in einer deutschsprachigen Region in Italien niederlassen. Eine eigene Kernfamilie habe der Kläger nicht. Eine einfache Partnerschaft oder ein Verlöbnis würden nicht von der Ausstrahlungswirkung des Art. 6 GG erfasst. Dem Kläger und seiner Lebensgefährtin sei es zuzumuten, nach der Entlassung des Klägers aus der Unterbringung/Haft jedenfalls zeitweise eine Beziehung auf Distanz zu führen. Wegen der hohen Wiederholungsgefahr müssten beim Kläger die privaten Belange zurückstehen. Der Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt habe ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zur Folge. Ein Befristungszeitraum von mehr als fünf Jahren sei möglich. Wegen des Gewichts der gefährdeten Rechtsgüter und der sehr hohen Wiederholungsgefahr erachte man auch im Hinblick auf die familiären und persönlichen Bindungen im Bundesgebiet zu Eltern, Geschwistern und Lebensgefährtin einen Zeitraum von acht Jahren für erforderlich. Auf die Begründung des Bescheids im Übrigen wird verwiesen, § 117 Abs. 3 VwGO.
26
Mit Schriftsatz vom 23. Februar 2022, bei Gericht am selben Tag eingegangen, ließ der Kläger durch seine Prozessbevollmächtigte Klage erheben und beantragen,
27
den Bescheid auf Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt aufzuheben.
28
Mit Schriftsatz vom 2. März 2022 übermittelte die Beklagte die Ausländerakte in elektronischer Form und beantragte,
29
die Klage abzuweisen.
30
Mit Schriftsatz vom 18. Mai 2022 begründete die Prozessbevollmächtigte die Klage damit, dass die Staatsanwaltschaft M. prüfe, ob der Kläger als Kronzeuge in einem Strafverfahren benötigt werde. Somit sei seine weitere Anwesenheit in Deutschland erforderlich. Mit Schriftsatz vom 3. Juni 2022 trug die Prozessbevollmächtigte vor, ob vom Kläger eine Wiederholungsgefahr ausgehe, könne nicht beantwortet werden, da das Bezirkskrankenhaus … die Fortsetzung der Therapie „für dringend erforderlich“ halte.
31
Mit gutachterlicher Stellungnahme gemäß § 67e StGB vom … … 2022 beurteilte das Bezirksklinikum … eine weitere Unterbringung des Klägers gemäß § 64 StGB aus Gründen, die in der Person des Klägers liegen, als aussichtslos und empfahl einen Abbruch der Behandlung gemäß § 64 StGB und eine Rückführung des Klägers in den Strafvollzug. Beim Kläger handele es sich um einen Patienten mit jahrzehntelanger Sozialisation in der kriminellen Subkultur. Die vom Kläger verbalisierte Therapiemotivation während des dortigen Aufenthalts habe auf den zuständigen Behandlungsstationen keinen ausreichenden Eingang auf der Handlungsebene gefunden. Auf der Verhaltensebene habe sich im Hinblick auf einen Fund von über 1.000 € Bargeld beim Kläger im hochstrukturierten Rahmen eine „doppelte Buchführung“ offenbart, die im klaren Gegensatz zu den Bekundungen des Patienten gestanden habe.
32
Mit Schriftsatz vom 19. Juli 2022, bei Gericht am 25. Juli 2022 eingegangen, führte die Beklagte u.a. aus, dass sie ihre Rechtsauffassung, wonach § 53 Abs. 3 AufenthG die höherwertige Schutzvorschrift sei, nicht aufrechterhalte. Maßgeblich sei § 6 Abs. 4 FreizügG/EU. Der Bescheid sei dennoch rechtmäßig. Es lägen schwerwiegende Gründe i.S.v. § 6 Abs. 4 FreizügG/EU vor. Wesentlich für die Gewichtung sei die Gesamtstrafe bzw. die Gesamtheit der zugrundeliegenden Straftaten. Die Sozialschädlichkeit der Delinquenz, d.h. die Belastung der Tatopfer und der Gesellschaft, bemesse sich anhand der Gesamtheit der Straftaten. Beim Kläger seien Einzelstrafen in einer Gesamthöhe von 11,5 Jahren verhängt worden. Auch die Verwaltungsvorschrift Nr. 6.4.1. FreizügG/EU führe zu keinem anderen Ergebnis. Aus ihrem Wortlaut lasse sich nicht ableiten, dass - abgesehen von Verbrechen - nur Freiheitsstrafen von drei Jahren für eine einzelne Straftat zu einer Verlustfeststellung führen könnten. Regelmäßig werde vertreten, dass es sich um eine Einzelfallprüfung handele. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof habe in seinem Beschluss vom 22. Juni 2021, in dem eine Verlustfeststellung aus schwerwiegenden Gründen wegen einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren wegen Betrugs in 21 Fällen (Wettmanipulationen) streitgegenständlich gewesen sei, ohne dass Einzelstrafen genannt worden seien, nicht auf die Höhe der Einzelstrafen abgestellt. Auch das Verwaltungsgericht München habe in einem Urteil vom 24. November 2016 unter Bezugnahme auf eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts Saarlouis vom 28. Oktober 2010 ausgeführt, dass der Annahme schwerwiegender Gründe nicht entgegenstehe, dass der Kläger nicht wegen einer einzelnen Straftat zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden sei. Dem Unterzeichner sei auch keine entsprechende Verwaltungspraxis der Beklagten bekannt, die zu einer Selbstbindung der Behörde im Sinn des genannten Kriteriums führe. Hinsichtlich der erforderlichen Deliktschwere werde z.T. vertreten, dass es sich um mittlere oder schwere Kriminalität handeln müsse. Mithin stehe das Gesamtgewicht des Ausweisungsanlasses im Mittelpunkt. Gleichwohl handele es sich ausnahmslos um schwere Straftaten. Der Einbruchdiebstahl werde vom Gesetzgeber gemäß § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StGB als besonders schwer gewertet. Dies gelte umso mehr für den Einbruch mit Waffe gemäß § 244 Abs. 1 Nr. 1a StGB. Auf die Ausführungen im Übrigen wird Bezug genommen (§ 117 Abs. 3 VwGO). Die Ermessensausübung werde gemäß § 114 Satz 2 VwGO ergänzt. Zu Gunsten des Klägers werde berücksichtigt, dass er den gesteigerten Ausweisungsschutz von Freizügigkeitsberechtigten mit Daueraufenthaltsrecht genieße. Im Bescheid sei man bisher unzutreffend davon ausgegangen, dass der Schutz des § 53 Abs. 3 AufenthG höher sei als der nach § 6 Abs. 4 FreizügG/EU. Weiter sei der Therapiefortschritt zu berücksichtigen. Das öffentliche Interesse überwiege unter Abwägung aller Aspekte und privaten Interessen des Klägers nach wie vor.
33
Am 25. Juli 2022 übermittelte die Staatsanwaltschaft M. I im Vollstreckungsverfahren … … … die Vollstreckungsakte des Klägers.
34
Wegen der weiteren Einzelheiten nimmt das Gericht Bezug auf die Gerichtsakte, die vorgelegte Behördenakte sowie die beigezogene Akte der Staatsanwaltschaft M. I.

Entscheidungsgründe

35
Die zulässige Klage ist unbegründet.
36
I. Der Bescheid der Beklagten vom 25. Januar 2022 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
37
Die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt ist ebenso wenig zu beanstanden (1.) wie die Befristung der Wirkungen der Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts für die Dauer von acht Jahren ab Ausreise (2.). Auch die Abschiebungsandrohung unter Setzung einer Frist zur freiwilligen Ausreise begegnet keinen rechtlichen Bedenken (3.).
38
1. Die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt ist rechtmäßig.
39
Für die gerichtliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer Verlustfeststellung gemäß § 6 FreizügG/EU ist der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts maßgeblich, soweit die nach dieser Bestimmung erforderliche Gefahrenprognose betroffen ist (VGH BW, U.v. 16.12.2020 - 11 S 995/19 - juris Rn. 76 m.w.N.). Hingegen richtet sich die Beurteilung, ob der Unionsbürger einen gemäß § 6 Abs. 4 oder 5 FreizügG/EU erhöhten Ausweisungsschutz genießt, nach dem Zeitpunkt des Erlasses der Verlustfeststellung durch die Ausländerbehörde (VGH BW, U.v. 16.12.2020, a.a.O., m.w.N.).
40
Rechtsgrundlage für die Verlustfeststellung ist vorliegend § 6 Abs. 1, Abs. 4 FreizügG/EU. Das Gericht geht zu Gunsten des Klägers davon aus, dass die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Freizügigkeit nur aus schwerwiegenden Gründen getroffen werden kann.
41
Die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt setzt gemäß § 6 Abs. 1 FreizügG/EU zunächst voraus, dass das persönliche Verhalten des Unionsbürgers eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit begründet, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (§ 6 Abs. 2 Satz 2 und 3 FreizügG/EU). Nach dem Erwerb des Daueraufenthaltsrechts gemäß § 4a FreizügG/EU darf eine Verlustfeststellung gegen einen Unionsbürger nur noch aus schwerwiegenden Gründen (§ 6 Abs. 4 FreizügG/EU) getroffen werden.
42
Diese Tatbestandsvoraussetzungen sind unionsrechtlich auszulegen, weil sie der Umsetzung der RL 2004/38/EG dienen (vgl. BVerwG, U.v. 3.8.2004 - 1 C 30.02 - juris Rn. 22). Die Begriffe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit haben spezifische unionsrechtliche Bedeutungen und sind daher nicht mit den im deutschen nationalen Gefahrenabwehrrecht enthaltenen Begriffen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gleichzusetzen (BVerwG, U.v. 3.8.2004, a.a.O., juris Rn. 24).
43
Die öffentliche Ordnung i.S.v. § 6 Abs. 1 FreizügG/EU ist eng auszulegen (vgl. EuGH, U.v. 27.4.2006 - C-441-02 - juris Rn. 34). Ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung setzt voraus, dass innerstaatliche Rechtsvorschriften verletzt wurden. Die rein soziale Störung, die jede Gesetzesverletzung darstellt, reicht nicht aus (EuGH, U.v. 27.4.2006, a.a.O., juris Rn. 35). Zum Begriff der öffentlichen Ordnung als Beschränkung des Freizügigkeitsrechts aus Art. 21 AEUV und speziell im Sinne der RL 2004/38/EG geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union hervor, dass er eine Gesetzesverletzung voraussetzt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (VGH BW, U.v. 16.12.2020 - 11 S 955/19 - juris Rn. 79). Ein Grundinteresse der Gesellschaft kann insbesondere bei einer mit den in Art. 2 und 3 EUV genannten Grundwerten wie der Menschenwürde und den Menschenrechten unvereinbaren Haltung des Betroffenen, unter den in Art. 12 Abs. 2 RL 2011/95/EU genannten Umständen sowie in den in Art. 83 Abs. 1 UA 2 AEUV genannten Kriminalitätsbereichen berührt sein, aber auch in anderen Fällen erheblichen strafrechtlichen Fehlverhaltens (VGH BW, U.v. 16.12.2020, a.a.O., juris Rn. 80 m.w.N.).
44
Der Begriff der „schwerwiegenden Gründe“ i.S.v. § 6 Abs. 4 FreizügG/EU ist weder in der Freizügigkeits-Richtlinie noch im FreizügG/EU erläutert. Nach 6.4.1. AVV liegen „schwerwiegende Gründe“ vor „insbesondere“ bei drohender Wiederholung von Verbrechen und besonders schweren Vergehen, wenn der Betroffene wegen eines einzelnen Delikts rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt und die Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist. Durch das Tatbestandsmerkmal „schwerwiegend“ wird an das geschützte Rechtsgut angeknüpft, so dass gesteigerte Anforderungen an das berührte Grundinteresse der Gesellschaft zu stellen sind (BayVGH, U.v. 29.1.2019 - 10 B 18.1094 - juris Rn. 32).
45
Vom persönlichen Verhalten des Betroffenen muss weiter eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit ausgehen (§ 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 2 und 3 FreizügG/EU). Diese Feststellung erfordert eine zum maßgeblichen Zeitpunkt aktuelle Gefahrenprognose (vgl. BVerwG, U.v. 3.8.2004 - 1 C 30.02 - juris Rn. 25). Dabei sind alle relevanten Umstände des Einzelfalls einzubeziehen, insbesondere die einer strafrechtlichen Verurteilung zugrundeliegenden Umstände, die Entwicklung des Betroffenen nach der Tat, seine Persönlichkeit und seine Lebensumstände sowie das Gewicht der in Rede stehenden Rechtsgüter (vgl. VGH BW, U.v. 16.12.2020 - 11 S 955/19 - juris Rn. 82 m.w.N.).
46
Nach diesen Maßgaben sind die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Verlustfeststellung gemäß § 6 Abs. 1, Abs. 4 FreizügG/EU vorliegend erfüllt (1.1.). Auf den erhöhten Schutz des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU, wonach die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt gemäß § 6 Abs. 1 FreizügG/EU bei Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen, die ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit getroffen werden darf, kann sich der Kläger nicht berufen (1.2.). Die Ermessensentscheidung der Beklagte über die Verlustfeststellung begegnet keinen rechtlichen Bedenken (1.3.).
47
1.1. Die Voraussetzungen für die Feststellung des Verlusts des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU gemäß § 6 Abs. 1, Abs. 2 und Abs. 4 FreizügG/EU sind vorliegend erfüllt.
48
Das Gericht geht zu Gunsten des Klägers davon aus, dass ihm der höhere Schutz des Daueraufenthaltsberechtigten gemäß § 6 Abs. 4 FreizügG/EU zu Gute kommt (1.1.1.).
49
Die vom Kläger zuletzt begangenen Straftaten rechtfertigen die Verlustfeststellung aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit (1.1.2.). Das persönliche Verhalten des Klägers stellt eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr dar, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (1.1.3.).
50
1.1.1. Die Kammer legt ihrer Entscheidung - in Übereinstimmung mit der Beklagten - zugunsten des Klägers zugrunde, dass er ein Daueraufenthaltsrecht gemäß § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU erworben hat und ihm gegenüber eine Verlustfeststellung gemäß § 6 Abs. 4 FreizügG/EU nur aus schwerwiegenden Gründen erfolgen darf, auch wenn sich auf der Grundlage der dem Gericht bis zur mündlichen Verhandlung vorgelegten Behördenakten nicht abschließend beurteilen lässt, ob der Kläger sich zu irgendeinem Zeitpunkt seines Aufenthalts seit fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat und sich hieran aufgrund der Angaben des Vertreters des Beklagten in der mündlichen Verhandlung, dass ein erster Zuzug des Vaters ins Bundesgebiet im Jahr 2012 verzeichnet ist, Zweifel ergeben haben.
51
Unionsbürger, die sich seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben, haben unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU das Recht auf Einreise und Aufenthalt (Daueraufenthaltsrecht) (§ 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU). Rechtmäßig i.S.v. § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU ist dabei allein ein Aufenthalt, der auf einem gemeinschaftsrechtlich begründeten Freizügigkeitsrecht beruht. Insoweit genügt es, dass sich ein Unionsbürger irgendwann über fünf Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat. Nach Ablauf der fünf Jahre entsteht das Daueraufenthaltsrecht kraft Gesetzes und erlischt lediglich in den gesetzlich geregelten Fällen nach §§ 4a Abs. 7, 6 Abs. 1 FreizügG/EU (vgl. BVerwG, U.v. 16.7.2015 - 1 C 22.14 - juris Rn. 17; U.v. 31.5.2012 - 10 C 8.12 - juris Rn. 15 f.).
52
Der Kläger ist als italienischer Staatsangehöriger Unionsbürger und hält sich nach Aktenlage - mit Ausnahme seiner Auslandsaufenthalte aufgrund der ISE-Maßnahme, dessen exakte Dauer anhand der Aktenlage nicht zu beurteilen ist - seit seiner Geburt am … … … im Bundesgebiet auf. Melderechtlich ergibt sich aus der Behördenakte eine „Aufenthaltslücke“ vom 26. März 1999 bis zum 28. Juli 2001. Vom 17. Februar 2004 bis zum 17. Februar 2009 besaß der Kläger eine Aufenthaltserlaubnis/EU.
53
Die Ableitung eines Freizügigkeitsrechts kommt vorliegend vom Vater des Klägers als italienischem Staatsangehörigen in Betracht. Der Kläger könnte als Familienangehöriger eines Unionsbürgers ein Freizügigkeitsrecht erworben haben, sofern der Vater selbst freizügigkeitsberechtigt war, § 1 AufenthG/EWG i.d.F. vom 31. Januar 1980. Zwar lässt sich diese Frage anhand der von der Beklagten vor der mündlichen Verhandlung vorgelegten Behördenakte nicht abschließend beantworten. Dies ist vorliegend jedoch unerheblich, weil das Gericht die Verlustfeststellung selbst dann für rechtmäßig hält, wenn man - zu Gunsten des Klägers in Übereinstimmung mit der Beklagten - zu Grunde legt, dass er als Daueraufenthaltsberechtigter gemäß § 4a FreizügG/EU den höheren Schutz gegen eine Verlustfeststellung gemäß § 6 Abs. 4 FreizügG/EU genießt.
54
1.1.2. Die vom Kläger zuletzt begangenen Straftaten rechtfertigen die Verlustfeststellung aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit, weil sein persönliches Verhalten eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr (1.1.2.1.) für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit, die ein Grundinteresse der Gesellschaft aus schwerwiegenden Gründen berührt (§ 6 Abs. 2 Satz 2 und 3, Abs. 4 FreizügG/EU) (1.1.2.2.) begründet.
55
1.1.2.1. Eine aktuelle Gefahrenprognose, die alle relevanten Umstände des Einzelfalls einbezieht, führt zu dem Ergebnis, dass vom persönlichen Verhalten des Klägers eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit ausgeht (§ 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 2 und 3 FreizügG/EU). Diese Feststellung erfordert eine zum maßgeblichen Zeitpunkt aktuelle Gefahrenprognose (vgl. BVerwG, U.v. 3.8.2004 - 1 C 30.02 - juris Rn. 25). Dabei sind alle relevanten Umstände des Einzelfalls einzubeziehen, insbesondere die einer strafrechtlichen Verurteilung zugrundeliegenden Umstände, die Entwicklung des Betroffenen nach der Tat, seine Persönlichkeit und seine Lebensumstände sowie das Gewicht der in Rede stehenden Rechtsgüter (vgl. VGH BW, U.v. 16.12.2020 - 11 S 955/19 - juris Rn. 82 m.w.N.). Maßgeblich für Gefahrenprognose ist allein das persönliche Verhalten des Unionsbürgers (§ 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU). Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig (Art. 27 Abs. 2 UA 2 Satz 2 RL 2004/38/EG). Ausgeschlossen ist damit eine Verlustfeststellung, die als automatische Folge einer strafrechtlichen Verurteilung (§ 6 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU) oder einer sonstigen Sanktion verfügt wird, ohne das persönliche Verhalten des Betroffenen oder die von ihm ausgehende Gefahr zu berücksichtigen (vgl. VGH BW, U.v. 16.12.2020 - 11 S 955/19 - juris Rn. 85 m.w.N.). § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU erfordert eine hinreichend schwere Gefahr. Die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts muss so erheblich sein, dass ihre Abwehr eine Beschränkung des Freizügigkeitsrechts aus Art. 21 AEUV zu rechtfertigen vermag. Dies schließt Fälle einer nur entfernten Möglichkeit eines Schadeneintritts aus. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat wiederholt entschieden, dass der Begriff der erheblichen Gefahr im vorliegenden Zusammenhang enger auszulegen ist als in anderen Fällen, in denen das Unionsrecht auf ihn zurückgreift. Nur potentielle Gefahren sind danach nicht ausreichend für den Verlust des Freizügigkeitsrechts (vgl. VGH BW, U.v. 16.12.2020, a.a.O., juris Rn. 86). Es gilt ein differenzierender, mit zunehmendem Ausmaß des möglichen Schadens abgesenkter Grad der Wahrscheinlichkeit eines Schadeneintritts (vgl. BVerwG, U.v. 15.1.2013 - 1 C 10.12 - juris Rn. 16; BayVGH, B.v. 23.7.2020 - 10 ZB 20.1171 - juris Rn. 7). Dies trifft auch für die Verlustfeststellung gemäß § 6 FreizügG/EU zu (VGH BW, U.v. 16.12.2020, a.a.O., juris Rn. 87). Wegen der grundlegenden Bedeutung des Freizügigkeitsrechts aus Art. 21 AEUV und mit Blick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dürfen an die Wahrscheinlichkeit des Schadeneintritts indes keine zu geringen Anforderungen gestellt werden (vgl. BVerwG, U.v. 15.1.2013, a.a.O., juris Rn. 16). Auch bei hochrangigen Rechtsgütern begründet daher nicht schon jede nur entfernte Möglichkeit oder eine nur potentielle Gefahr eine Wiederholungsgefahr (BVerwG, U.v. 15.1.2013, a.a.O.).
56
Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte haben eine eigenständige Gefahrenprognose zu treffen. An der Verlustfeststellung vorangegangene Feststellungen und Beurteilungen der Strafgerichte sind sie nicht gebunden. Das gilt auch für Entscheidungen über die Strafaussetzung nach § 56 StGB und § 57 StGB (VGH BW, U.v. 16.12.2020, a.a.O., Rn. 83 unter Verweis auf BVerfG, B.v. 19.10.2016 - 2 BvR 1943/16 - juris Rn. 21, allerdings zu § 36 Abs. 1 Satz 3 BtMG 1981). Strafrichterliche Prognosen stellen aber eine wesentliche Entscheidungsgrundlage von erheblichem Gewicht dar. Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte haben sie bei ihren Entscheidungen neben allen anderen relevanten Umständen des Einzelfalls zu berücksichtigen.
57
Nach diesen Maßgaben ist die erforderliche Wiederholungsgefahr für die Begehung vergleichbarer Straftaten wie sie der letzten Verurteilung zu Grunde gelegen haben, zu bejahen. Das bisherige Leben des Klägers ist von Kindheit an geprägt von kontinuierlicher Delinquenz, die bereits im strafunmündigen Kindesalter zu zahllosen Strafanzeigen gegen den Kläger geführt hat. Eine mehrjährige jugendhilferechtliche ISE-Maßnahme im Alter von 12 bis 14 Jahren hatte keinen nachhaltigen Erfolg. Der Kläger beging auch danach Straftaten, für die er zunächst nach Jugendstrafrecht mehrfach belangt wurde. Der Kläger hat bereits langjährige Untersuchungs- bzw. Strafhaft erfahren. Er war auch im engen Regelungsrahmen einer Vollzugsanstalt nicht in der Lage, sich an Regeln zu halten. Bewährungsstrafen beeindruckten ihn nicht, im Vollzug fiel er disziplinarisch bis zur Begehung von Straftaten in Haft auf. Das Bezirksklinikum … hat mit Stellungnahme vom … … 2022 bei der Staatsanwaltschaft M. I die Erledigung der Unterbringung gemäß § 64 StGB wegen Aussichtslosigkeit aus Gründen, die in der Person des Klägers liegen, beantragt. Im Hinblick auf seine Persönlichkeit zeigt sich, dass der Kläger sich weder durch die Verhängung von Jugendarrest, Verurteilungen nach Jugendstrafrecht unter Aussetzung der Vollstreckung der Strafe zur Bewährung, Bewährungswiderruf, weitere strafrechtliche Verurteilungen, Untersuchungs- oder Strafhaft noch Maßregelvollzug beeindrucken und zu einer Verhaltensänderung bewegen lässt. Der Kläger hat eine jahrzehntelange Sozialisation in einer kriminellen Subkultur erfahren. Das Gericht berücksichtigt in diesem Zusammenhang zu Gunsten des Klägers, dass er seit seiner Haftentlassung im Juli 2011 nicht mehr wegen Körperverletzungsdelikten bzw. Nötigung verurteilt wurde, sondern vorwiegend wegen Eigentums- bzw. Vermögensdelikten wie Diebstahl, Betrug und Computerbetrug sowie Sachbeschädigung. Indes handelt es sich auch beim Eigentum um ein Rechtsgut von Verfassungsrang. Der kokainabhängige und spielsüchtige Kläger hat vor seiner letzten strafrechtlichen Verurteilung gewerbsmäßig Einbruchdiebstähle in hoher Frequenz begangen und dabei mitunter auch hohe Sachschäden verursacht. Von der Verlagerung des Kriminalitätsschwerpunkts auf Eigentums- und Vermögensdelikte abgesehen ist die Entwicklung des Klägers seit der Begehung seiner letzten Taten in den Jahren 2019/2020 nicht positiv zu werten. Zwar hat der Kläger nach seinen Angaben seit gut zwei Jahren eine Freundin und seit acht Monaten auch wieder Kontakt zu seiner Familie, doch ist im Hinblick auf die langjährige Entwicklung des Klägers nicht ersichtlich, inwiefern sich diese geänderten Lebensumstände maßgeblich positiv auf die Gefahrenprognose auswirken sollten: Straftaten beging der Kläger auch in der Vergangenheit, als er von 2016 bis 2019 eine Beziehung führte, die - ausweislich des Strafurteils des Landgerichts München I vom 2. Juni 2021 - von der damaligen Freundin aufgrund des Erlasses eines Strafbefehls beendet wurde. Abgesehen davon war und ist auch das Verhältnis des Klägers zu seiner Familie überwiegend - mit einer Ausnahme eines Zeitraums von ca. zweieinhalb Jahren von ca. Mai 2019 bis ca. November 2021 - (wieder) gut, ohne dass dies einen positiven Einfluss auf den Kläger gehabt und ihn von der Begehung von Straftaten abgehalten hätte. Dass die Beklagte den Kläger zuletzt mit Schreiben vom 20. Mai 2017 verwarnt hat, steht zwar der Verwertung der zuvor begangenen Verurteilungen als Verlustfeststellungsanlass entgegen, hindert die Ausländerbehörde bzw. das Verwaltungsgericht indes nicht, im Rahmen der Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls die frühere Delinquenz bei der Beurteilung der Wiederholungsgefahr zu berücksichtigen.
58
Unabhängig davon und selbstständig tragend, ist vorliegend im Übrigen auch deshalb vom Bestehen einer Wiederholungsgefahr hinsichtlich der zuletzt verurteilten Straftaten auszugehen, weil bei Straftaten, die - wie vorliegend - auf der Suchterkrankung des Ausländers beruhen, nach der ständigen Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs von einem Wegfall der für die Verlustfeststellung erforderlichen Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden kann, solange der Ausländer nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen hat und die damit verbundene Erwartung eines künftig straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat (vgl. BayVGH, U.v. 25.3.2021 - 19 ZB 19.950 - juris Rn. 26, B.v. 29.5.2018 - 10 ZB 17.1739 - juris Rn. 9, B.v. 7.2.2018 - 10 ZB 17.1386 - juris Rn. 10). Denn solange sich der Ausländer nicht außerhalb des Straf- bzw. Regelvollzugs bewährt hat, kann nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung geschlossen werden, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen würde (BayVGH, U.v. 25.3.2021 - 19 ZB 19.950 - juris Rn. 9, B.v. 13.10.2017 - 10 ZB 17.1469 - juris Rn. 12, B.v. 6.5.2015 - 10 ZB 15.231 - juris Rn. 7). Das Strafgericht legte seiner Entscheidung vom 2. Juni 2021 zu Grunde, dass der Kläger die Taten (auch) zur Befriedigung seiner Kokainsucht begangen hat, da er das durch den Verkauf der Wertstücke erlangte Geld sowie das erbeutete Bargeld (auch) zur Beschaffung neuer Drogen verwenden wollte (Bl. 1215). Der Kläger hat eine Therapie noch nicht erfolgreich abgeschlossen. Hiermit ist im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts - nachdem die Therapieeinrichtung eine Fortführung der Unterbringung für aussichtslos hält - auch nicht zu rechnen.
59
1.1.2.2. Das Verhalten des Klägers begründet auch eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit, die ein Grundinteresse der Gesellschaft aus schwerwiegenden Gründen berührt.
60
Zunächst hat der Kläger mit der Begehung der zuletzt abgeurteilten besonders schweren Fälle des Diebstahls bzw. des Diebstahls mit Waffen und Sachbeschädigungen innerstaatliche Rechtsvorschriften verletzt und nicht eine rein soziale Störung verursacht. Diese Gesetzesverletzungen berühren auch ein Grundinteresse der Gesellschaft, weil es sich bei den Taten des Klägers um Fälle erheblichen strafrechtlichen Fehlverhaltens handelt. Dies ist für die Berührung eines Grundinteresses der Gesellschaft ausreichend (vgl. VGH BW, U.v. 16.12.2020 - 11 S 955/19 - juris Rn. 80 m.w.N.). Bei Eigentum handelt es sich um ein verfassungsrechtlich geschütztes Rechtsgut (Art. 14 GG), auch die Vermögensstraftaten des Klägers (Sachbeschädigungen) sind im Hinblick auf die vom Kläger verursachten, z.T. vierstelligen Schadenssummen, erheblich. Die schwerwiegenden Gründe der öffentlichen Ordnung ergeben sich vorliegend insbesondere aus der Vielzahl und der hohen Frequenz der vom Kläger begangenen Straftaten, die gegen das Eigentum und Vermögen gerichtet waren und zu erheblichen Schäden, sowohl im Hinblick auf die Beute als auch die verursachten Sachschäden, geführt haben. Das Landgericht München I hat mit einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und zwei Monaten auch eine erhebliche Freiheitsstrafe verhängt. Die höchste Einzelstrafe betrug zwei Jahre und zehn Monate.
61
Die schwerwiegenden Gründe können nach Auffassung der Kammer nicht bereits im Wege eines Erst-Recht-Schlusses bejaht werden. Die Argumentation, dass bei einer Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren bereits die Voraussetzung der höchsten Schutzstufe gemäß § 6 Abs. 5 FreizügG/EU erfüllt und somit erst recht die Voraussetzungen der geringeren Schutzstufe, schwerwiegende Gründe i.S.v. § 6 Abs. 4 FreizügG/EU, erfüllt seien (vgl. BayVGH, B.v. 22.6.2021 - 19 ZB 18.104 - juris Rn. 41), berücksichtigt nämlich wohl nicht ausreichend, dass schon nach dem Wortsinn des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU lediglich ein an einem bestimmten Strafmaß orientiertes Ausschlusskriterium formuliert wird. Daraus folgt allein, dass strafrechtliche Verurteilungen zu einem Strafmaß von weniger als fünf Jahren in keinem Fall „zwingende Gründe“ der öffentlichen Sicherheit darstellen können, die eine Verlustfeststellung bei einem privilegierten Unionsbürger rechtfertigen.
62
Doch auch wenn vorliegend nicht für ein einzelnes Delikt eine Freiheitsstrafe von drei Jahren verhängt wurde, sieht das Gericht schwerwiegende Gründe i.S.v. § 6 Abs. 4 AufenthG aufgrund einer Beurteilung im Einzelfall dennoch als gegeben an. Die Beklagte verweist in diesem Zusammenhang bereits zutreffend darauf, dass sich schon aus dem Wortlaut der Verwaltungsvorschrift Nr. 6.4.1. FreizügG/EU („insbesondere“) nicht ergibt, dass nur Freiheitsstrafen von drei Jahren für eine einzelne Straftat zu einer Verlustfeststellung führen könne. Die Beklagte übt nach ihren Angaben auch keine entsprechende Verwaltungspraxis. Ob „schwerwiegende Gründe“ eine Verlustfeststellung rechtfertigen, bleibt somit eine Frage der Beurteilung des Einzelfalls (Bergmann/Dienelt, FreizügG/EU, § 6 Rn. 51, BeckOK, MigrR/Gerstner-Heck, FreizügG/EU, § 6 Rn. 12, BeckOK, AuslR/Kurzidem, FreizügG/EU, § 6 Rn. 18). Gefordert wird für das Vorliegen „schwerwiegender Gründe“ in der Kommentarliteratur in qualitativer Hinsicht eine Beeinträchtigung für ein Grundinteresse der Gesellschaft „in qualifizierter Art und Weise“ (Huber/Mantel, AufenthG, FreizügG/EU, § 6 Rn. 25) bzw. eine Beeinträchtigung, die über den sog. „Normalfall“ hinausgeht (BeckOK, AuslR/Kurzidem, FreizügG/EU, § 6 Rn. 18, Bergmann/Dienelt, FreizügG/EU, § 6 Rn. 51). Unter Bezugnahme auf die Tsakouridis-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, U.v. 23.11.2010 - C-145/09 Tsakouridis/Land Baden-Württemberg, NVwZ 2011, 221 Rn. 40) geht das Oberverwaltungsgericht Lüneburg (B.v. 5.9.2019 - 13 ME 278/19 - juris Rn. 10) unter Berücksichtigung des abgestuften Schutzsystems der Abs. 1, 4 und 5 des § 6 FreizügG/EU davon aus, dass der Begriff der „zwingenden Gründe“ i.S.v. § 6 Abs. 5 FreizügG/EU erheblich enger als der der „schwerwiegenden Gründe“ i.S.v. § 6 Abs. 4 FreizügG/EU ist und sich schwerwiegende Gründe in diesem Sinn - abhängig von den Umständen des konkreten Einzelfalls - auch schon aus der Begehung mittlerer und schwerer Kriminalität ergeben können.
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Die konkreten Umstände des Einzelfalls führen vorliegend zur Wertung des Gerichts, dass ein Grundinteresse der Gesellschaft durch den Kläger in qualifizierter Art und Weise bzw. über das Normalmaß hinaus gefährdet wird. Dass der Kläger zuletzt nicht mehr das überragend wichtige Gemeinschaftsgut der körperlichen Unversehrtheit verletzt hat, sondern seine Aktivitäten auf Eigentums- und Vermögensdelikte gerichtet hat, führt nicht zum Verneinen des Vorliegens von schwerwiegenden Gründen. Auch das Eigentum ist ein verfassungsrechtlich geschütztes Rechtsgut. Die vom Kläger zuletzt verwirklichten und verurteilten Taten gehören zumindest dem Bereich der mittleren Kriminalität an. Außerdem handelt es sich beim Kläger um einen Straftäter, der gewerbsmäßig Diebstähle unter jeweiliger Verwirklichung mehrerer Regelbeispiele begangen und hierbei zum Teil auch sehr erhebliche Sachschäden verursacht hat. Es handelte sich weiter auch nicht um eine singuläre Tat, sondern um gewerbsmäßige Diebstähle. Die höchste verwirklichte Einzelstrafe liegt auch nur knapp unter dem Strafmaß von drei Jahren. Damit sind vorliegend „schwerwiegende“ Gründe i.S.v. § 6 Abs. 4 FreizügG/EU zu bejahen, die eine Verlustfeststellung rechtfertigen.
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Ohne dass es für die Bewertung im Einzelfall noch entscheidend darauf ankommt, ist das Gericht im Übrigen der Auffassung, dass auch wenn ein höherer Grad an Wahrscheinlichkeit der Gefährdung eines Grundinteresses der Gesellschaft für die Beurteilung, ob ein „schwerwiegender Grund“ i.S.v. § 6 Abs. 4 FreizügG/EU vorliegt, nicht erforderlich ist, eine hohe Wiederholungsgefahr im Einzelfall andererseits auch nicht außer Acht gelassen werden muss, und dass die Wiederholungsgefahr beim Kläger deutlich über dem Normalmaß liegt. Beim Kläger hat eine jahrzehntelange Sozialisation in der kriminellen Subkultur stattgefunden, die Unterbringung des Klägers im Maßregelvollzug ist im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts gescheitert. Sein bisheriger Werdegang kennzeichnet den Kläger als unbelehrbaren Straftäter, früher eher im Bereich der Körperverletzungsdelikte, aktuell im Bereich der Eigentums- und Vermögensdelikte, bei dem sich alle Maßnahmen staatlicher Intervention seit mehr als zwanzig Jahren als erfolglos herausgestellt haben und bei dem die Wiederholungsgefahr sehr hoch ist.
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Die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1, Abs. 4 FreizügG/EU sind somit erfüllt.
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Es ist vorliegend unschädlich, dass die Beklagte ihrer Entscheidung ursprünglich im Hinblick auf einen erhöhten Schutz des Klägers zu Unrecht den erhöhten Ausweisungsschutz von assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen gemäß § 53 Abs. 3 AufenthG zu Grunde gelegt hat und davon ausgegangen ist, dass dieses Schutzniveau höher ist. Das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Verlustfeststellung gemäß § 6 Abs. 1, Abs. 4 FreizügG/EU unterliegt der gerichtlichen Kontrolle in vollem Umfang.
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1.2. Auf den erhöhten Schutz des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU, wonach die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt gemäß § 6 Abs. 1 FreizügG/EU bei Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen, die ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit getroffen werden darf, kann sich der Kläger nicht berufen, weil die Voraussetzung des zehnjährigen Aufenthalts nicht vorliegt. Das Gericht nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen zunächst Bezug auf die zutreffenden diesbezüglichen Ausführungen der Beklagten im Bescheid (§ 117 Abs. 5 VwGO). Ergänzend wird Folgendes ausgeführt:
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Der Zeitraum wird vom Zeitpunkt der Verfügung der Ausweisung an zurückgerechnet (EuGH, U.v. 16.1.2014 - C-400/12 - juris Rn. 24) und muss grundsätzlich ununterbrochen gewesen sein (EuGH, U.v. 16.1.2014, a.a.O., juris Rn. 28).
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Durch § 6 Abs. 5 FreizügG/EU wurde Art. 28 Abs. 3 Buchst. a) der RL 2004/38, der einen verstärkten Schutz vor Ausweisung gewährt, umgesetzt. Die mit der RL 2004/38 geschaffene Regelung zum Schutz vor Ausweisungsmaßnahmen ist auf das Maß der Integration der betroffenen Personen im Aufnahmemitgliedstaat gestützt, sodass dieser Schutz vor Ausweisung umso stärker ist, je besser die Unionsbürger in den Aufnahmemitgliedstaat integriert sind. Daher ist für den bestmöglichen Schutz ein Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet erforderlich. Da der Grad der Integration der Betroffenen die wesentliche Grundlage für die Regelung zum Schutz vor Ausweisungsmaßnahmen bildet, können Zeiträume der Verbüßung einer Freiheitsstrafe für Zwecke der Gewährung des verstärkten Schutzes nach § 6 Abs. 5 FreizügG/EU keine Berücksichtigung finden (EuGH, U.v. 16.1.2014, a.a.O., juris Rn. 32 f.). Diese Zeiten unterbrechen grundsätzlich die Kontinuität des Aufenthalts im Sinne dieser Bestimmung. Für die Frage, inwieweit die Diskontinuität des Aufenthalts in den letzten zehn Jahren vor der Ausweisung den Betroffenen daran hindert, in den Genuss des verstärkten Schutzes zu kommen, ist eine umfassende Beurteilung der Situation des Betroffenen jeweils zu dem genauen Zeitpunkt vorzunehmen, zu dem sich die Frage der Ausweisung stellt (EuGH, U.v. 16.1.2014, a.a.O., juris Rn. 35). Für die Feststellung, ob die zuvor mit dem Aufnahmemitgliedstaat geknüpften Integrationsverbindungen abgerissen sind, ist eine umfassende Beurteilung geboten Dabei können Zeiträume der Verbüßung einer Freiheitsstrafe zusammen mit weiteren Anhaltspunkten, die die Gesamtheit der im Einzelfall relevanten Umstände darstellen, berücksichtigt werden (EuGH, U.v. 16.1.2014, a.a.O., juris Rn. 36). Der Umstand, dass die betroffene Person sich in den letzten zehn Jahren vor ihrer Freiheitsstrafe in dem Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, kann bei der umfassenden Beurteilung berücksichtigt werden (EuGH, U.v. 16.1.2014, a.a.O., juris Rn. 37).
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Die Beklagte hat den Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt mit Bescheid vom 25. Januar 2022 festgestellt. Der Kläger befand sich im davorliegenden zehnjährigen Zeitraum vom 21. April 2014 bis zum 17. August 2016 in Untersuchungs- bzw. Ersatzstrafhaft, die in eine Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe mit Urteil vom 22. September 2016 mündete. Außerdem befindet sich der Kläger seit dem 28. Mai 2020 in Untersuchungs- bzw. Strafhaft bzw. im Maßregelvollzug. Im maßgeblichen 10-Jahreszeitraum war der Kläger somit insgesamt ca. drei Jahre in Untersuchungs-, Ersatzstraf-, Strafhaft bzw. im Maßregelvollzug. Wegen dieser Unterbrechungen des zehnjährigen Aufenthalts ist somit eine umfassende Beurteilung erforderlich, ob die zuvor mit dem Aufnahmemitgliedstaat geknüpften Integrationsverbindungen abgerissen sind. In diese Beurteilung sind der langjährige Aufenthalt des Klägers im Aufnahmemitgliedstaat seit seiner Geburt sowie die familiäre und soziale Verbundenheit im Bundesgebiet maßgeblich einzustellen. Das Gericht geht davon aus, dass der Kläger in seine Familie, die ihn ersichtlich nahezu durchgehend unterstützt hat, eingebunden ist. Auch die Lebensgefährtin des Klägers und sein Verhältnis zu ihr wird in die umfassende Beurteilung eingestellt. Allerdings ist bei der Berücksichtigung dieser Integrationsverbindungen auch einzustellen, dass es sich nicht um die Kernfamilie des mittlerweile 35-jährigen Klägers handelt. In wirtschaftlicher Hinsicht ist dem Kläger trotz seiner Geburt im Inland und seines langjährigen Aufenthalts eine Integration nicht gelungen. Er hat die Schule - unter Außerachtlassung der Beschulung während der ISE-Maßnahme - nach der 6. Klasse ohne Abschluss verlassen und keinen Beruf erlernt. Der Kläger war in einem Zeitraum vom 15. Oktober 2002 bis zum 31. Juli 2019 - also 201 Monaten - nur etwa 32 Monate sozialversicherungspflichtig beschäftigt, und dies mit ungelernten Helfertätigkeiten, wobei der geringe Umfang nicht allein mit den Inhaftierungen des Klägers erklärt werden kann. Er ist hoch verschuldet. Eine Integration in rechtlicher Hinsicht hat beim Kläger ersichtlich zu keinem Zeitpunkt stattgefunden. Somit sind insgesamt nur schwache Integrationsverbindungen mit der Bundesrepublik Deutschland entstanden. Diese sind aufgrund der langjährigen Inhaftierungen des Klägers abgerissen. Der höchste Schutz vor einer Verlustfeststellung gemäß § 6 Abs. 5 FreizügG/EU kommt ihm nicht zu Gute.
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1.3. Die Ermessensentscheidung der Beklagten, beim Kläger den Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt festzustellen, ist rechtlich nicht zu beanstanden. Sind die Voraussetzungen einer Verlustfeststellung erfüllt, hat die Ausländerbehörde eine Ermessensentscheidung zu treffen (§ 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU).
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Das Gericht ist gemäß § 114 Satz 1 VwGO auf die Überprüfung der Entscheidung auf Ermessensfehler beschränkt. Ermessensfehler der Beklagten sind nicht ersichtlich. Sie hat zunächst zutreffend erkannt, dass die Entscheidung über die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt nach Ermessen ergeht. Eine Ermessensüberschreitung ist nicht gegeben. Auch ein Ermessensfehlgebrauch ist nicht zu beanstanden: Insbesondere ist eine Fehlgewichtung nicht erkennbar.
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Bei der Entscheidung, ob der Verlust des Freizügigkeitsrechts festgestellt wird, sind insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen (§ 6 Abs. 3 FreizügG/EU).
74
Die Beklagte hat insbesondere den langjährigen Aufenthalt des Klägers, seine familiäre und wirtschaftliche Lage im Bundesgebiet mit dem ihnen jeweils zukommenden Gewicht und auch das - nach Aktenlage - geringe Ausmaß der Bindungen des Klägers zu seinem Herkunftsstaat berücksichtigt. Dass die Beklagte im Ergebnis im Hinblick auf die vom Kläger ausgehende Gefährdung für die öffentliche Sicherheit und Ordnung mit dem Schutz der hier lebenden Bevölkerung das öffentliche Interesse an der Verlustfeststellung höher gewichtet als dessen persönliche Interessen, ist nicht zu beanstanden. Die Entscheidung verstößt auch nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Im Hinblick auf § 114 Satz 2 VwGO begegnen auch die mit Schriftsatz vom 25. Juli 2022 nachgeschobenen Ermessenserwägungen der Beklagten keinen Bedenken. Insbesondere ist die Beklagte auch bereits ursprünglich davon ausgegangen, dass sie mit ihrer Entscheidung den Verlust der Freizügigkeit eines Daueraufenthaltsberechtigten feststellt. Der Bescheid wird durch die Nachbesserung nicht in seinem Wesen geändert und der Betroffene nicht in seiner Rechtsverteidigung beeinträchtigt.
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2. Auch die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots in Nr. 2 des Bescheids auf acht Jahre begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Rechtsgrundlage ist insoweit § 7 Abs. 2 FreizügG/EU. Die Frist ist unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls festzusetzen und darf fünf Jahre nur in den Fällen des § 6 Abs. 1 FreizügG/EU - wie vorliegend - überschreiten (§ 7 Abs. 2 Satz 6 FreizügG/EU). Eine Höchstfrist für Verlustfeststellungen nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU ist nicht vorgesehen (BVerwG, U.v. 25.3.2015 - 1 C 18/14 - juris Rn. 23). Abzustellen ist auf die Tatsachenlage im Zeitpunkt der Überprüfungsentscheidung (EuGH, U.v. 17.6.1997 - C- 65/95, C-111/95 - juris Rn. 39 ff., 41).
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Die Beklagte geht zutreffend davon aus, dass vom Kläger auch zukünftig Straftaten zu erwarten sind. Wegen des Gewichts der gefährdeten Rechtsgüter (Eigentum, öffentliche Sicherheit und Ordnung) und der angenommenen sehr hohen Wiederholungsgefahr hält sie - auch unter Berücksichtigung der familiären Bindungen im Bundesgebiet - einen Zeitraum von acht Jahren für erforderlich, um dem hohen Gefahrenpotential Rechnung tragen zu können. Diese Frist erscheint der Kammer unter Berücksichtigung des Werdegangs des Klägers nicht unverhältnismäßig.
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3. Auch die Abschiebungsandrohung nach Italien unter Setzung einer Ausreisefrist von einem Monat ab Vollziehbarkeit der Ausreisefrist erweist sich als rechtmäßig (§ 7 Abs. 1 Satz 2, 3 FreizügG/EU).
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II. Der Kläger trägt als unterliegender Teil die Kosten des Verfahren (§ 154 Abs. 1 VwGO).
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III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.