Inhalt

VG München, Urteil v. 14.07.2022 – M 13 K 17.46834
Titel:

Asyl, N., Verfolgung durch Familie einer Geliebten, Familie mit zwei minderjährigen weiblichen Kindern, Ehefrau erneut schwanger, Tochter mit homozygoter Sichelzellerkrankung, Abschiebungsverbot aus wirtschaftlichen Gründen (bejaht)

Normenkette:
AufenthG § 60 Abs. 5
Schlagworte:
Asyl, N., Verfolgung durch Familie einer Geliebten, Familie mit zwei minderjährigen weiblichen Kindern, Ehefrau erneut schwanger, Tochter mit homozygoter Sichelzellerkrankung, Abschiebungsverbot aus wirtschaftlichen Gründen (bejaht)
Fundstelle:
BeckRS 2022, 18650

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 25. Juli 2017 wird in den Nrn. 4 bis 6 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich N. vorliegen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Von den Kosten des Verfahrens tragen der Kläger ¾ und die Beklagte ¼.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Die Klägerin zu 1 im Verfahren M 13 K 17. … (Happy Benson; nachfolgend: Klägerin zu 1; aktuell im 8. Monat schwanger) ist eine am …  1991 in N. geborene nigerianische Staatsangehörige mit Volkszugehörigkeit Yoruba christlichen Glaubens. Sie ist die Mutter der am … 2016 in Deutschland geborenen Klägerin zu 2 im Verfahren M 13 K 17. … (A. O.; nachfolgend: Klägerin zu 2; zusammen mit der Klägerin zu 1: Klägerinnen). Ehemann der Klägerin zu 1 und Vater der Klägerin zu 2 ist der am ... Oktober 1983 in N. geborene E. O., nigerianischer Staatsangehöriger mit Volkszugehörigkeit Edo christlichen Glaubens, der das Asylklageverfahren M 13 K 17. … führt (nachfolgend: Kläger). Für eine weitere Tochter (E. P. O., geb. am … 2021 in Deutschland) wird das Asylklageverfahren M 13 K 21. … geführt (nachfolgend: Klägerin).
2
Am 20. Juli 2016 stellten die Klägerinnen beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) einen Asylantrag.
3
Am 20. Juli 2016 stellte auch der Kläger beim Bundesamt einen Asylantrag.
4
Der Kläger machte Angaben unter anderem dahingehend, dass er am 14. Januar 2016 nach Deutschland eingereist sei, dass er zum 1. Mal in der Bundesrepublik Deutschland sei, dass seine wirtschaftliche Situation schlecht gewesen sei, dass er Abitur habe und Politikwissenschaft studiert und als Trockenbauer gearbeitet habe. Im Herkunftsland habe er Verwandte 1. Grades (Eltern, Ehegatte, Kinder; ohne nähere Angaben), 2. Grades und die Großfamilie.
5
Der Kläger wurde durch das Bundesamt am 26. Oktober 2016 angehört. Er erklärte unter anderem, dass er Edo sei und katholischer Christ. Er habe nie nigerianische Dokumente gehabt, nur italienische, die er beim Landratsamt abgegeben habe. Seine letzte offizielle Anschrift im Heimatland bis zur Ausreise sei gewesen 5. … Street, Benin City, Edo State. Er habe dort mit seinen Eltern, seiner Frau, 2 Brüdern und 2 Schwestern in einem gemieteten Haus gewohnt. Im Juni 2011 habe er sein Heimatland verlassen. Er sei mit seiner Frau ausgereist. Am 14. Januar 2016 sei er nach Deutschland eingereist. Seine Frau sei vor ihm nach Deutschland gekommen. Befragt, warum seine Frau vor ihm nach Deutschland gekommen sei, erklärte er, dass sie in Italien gewesen seien. Sie sei schwanger gewesen und er habe sie nicht mehr ernähren können; sie habe sich immer beschwert. Er habe sie nicht weinen sehen können und sei weggegangen. Als er wiedergekommen sei, sei sie weg gewesen. Befragt nach seiner Reiseroute erklärte er: Niger, Libyen, Italien. Befragt nach den Kosten von N. bis Italien erklärte der Kläger: 600.000 Naira (ca. 1.700 EUR). Befragt, wo her er das Geld gehabt habe, da er ja recht überraschend aufgebrochen sei, erklärte der Kläger, er habe in Benin City gearbeitet und habe das Geld auf dem Konto gehabt. Die Frage, ob er sich vor seiner Einreise nach Deutschland in einem anderen Land aufgehalten habe bejahte der Kläger, in Italien 4 Jahre und einige Monate, zuerst in Venedig (4 Monate), dann in Treviso. Befragt, wovon er dort gelebt habe, erklärte er, er habe gebettelt. Befragt, wie er mit dem Zug nach Deutschland gekommen sei, erklärte der Kläger, mit dem Zug, die Karte habe er mit gebetteltem Geld gekauft. Er habe immer gehofft, die Situation werde besser. Wenn er Arbeit gehabt hätte, würde er dortgeblieben sein. Befragt nach Namen, Vornamen und Anschrift seiner Eltern erklärte der Kläger, dass sein Vater seit 2011 tot sei. Er sei nach seiner Ausreise gestorben, er sei von einer Schlange gebissen worden. Seine Mutter wohne jetzt in Benin City, … Street … … … …, auch seine Geschwister lebten dort. An weiteren Verwandten im Heimatland leben noch seine Großfamilie, sie sei auch in Benin City. Befragt nach Schulbesuch erklärte der Kläger, dass er das Polytechnikum abgeschlossen habe, Fach Innenarchitektur. Nach seinem Beruf befragt erklärte der Kläger, dass er in einer nigerianischen Architektur-Firma gearbeitet habe, etwa 4 Jahre und 4 Monate. Er habe gut verdient.
6
Befragt zu Verfolgungsschicksal und den Gründen für den Asylantrag erklärte der Kläger, dass er in N. eine Freundin gehabt habe, sie sei schwanger geworden. Er habe ihr gesagt, das gehe nicht, er sei verheiratet, er könne sich nicht darum kümmern. Sie habe sich daraufhin Tabletten in der Apotheke besorgt, um abzutreiben. Dabei sei sie gestorben. Bevor sie gestorben sei, habe sie ihren Eltern gesagt, er sei für das alles verantwortlich. Ihre Familie und die Polizei seien dann zu ihm nach Hause gekommen. Er sei nicht da gewesen, sie hätten nur seine Frau angetroffen. Sie hätten zu dieser gesagt, er solle zur Polizeistation kommen. Es sei dann auch im Fernsehen gekommen, dass er gesucht werde, nicht mit Foto aber mit seinem Namen. Da sei ihm klar gewesen, er könne hier nicht länger leben. Befragt, was passiert wäre, wenn er doch zur Polizeistation gegangen wäre, erklärte der Kläger, er würde sofort ins Gefängnis gekommen sein. Auf Nachfrage, ob dies ohne jedes Gerichtsverfahren geschehen wäre, erklärte der Kläger, er habe Angst gehabt. Und er habe sich auch verantwortlich gefühlt. In seinem Land werde man als Freund bestraft, wenn eine Frau durch eine Abtreibung sterbe. Befragt, ob die Familie dieser Frau reich oder arm gewesen sei, erklärte der Kläger, die Familie sei sehr reich gewesen. Sie sei auch sehr bekannt in Benin City. Auf Nachfrage erklärte der Kläger, die Familie heiße Ob.
7
Danach befragt, ob es Dokumente, Zeitungsartikel oder irgendetwas gebe, was Belege, dass er gesucht werde, erklärte der Kläger, er wisse es nicht, er sei ja weggerannt. Befragt, was sein würde, wenn er nach N. zurückmüsste, ob er sich zum Beispiel in einer anderen Millionen-Stadt verstecken könnte, erklärte der Kläger, er würde sich dort nicht verstecken können, diese Familie sei sehr bekannt. Die Frage, ob er Kontakt mit seiner eigenen Familie in N. habe und ob diese über diese Sache Bescheid wisse, bejahte der Kläger, sie wisse Bescheid und er habe Kontakt über F.. Die Polizei sei auch zu seiner Familie gekommen und habe nach ihm gefragt. Auch zu der Beerdigung seines Vaters seien sie gekommen, um zu sehen, ob er anwesend sei. Befragt, was ihm passieren würde, wenn er ins Gefängnis kommen würde, wie lange er dort sein müsse, antwortete der Kläger, das Minimum würden 21 Jahre sein. Er wolle nicht ins Gefängnis. Die Frage, ob das anschließend seine Asylgründe gewesen sein, bejahte der Kläger. Befragt nach schutzwürdigen Belangen zur Berücksichtigung bei einer eventuellen Entscheidung zum Einreise- und Aufenthaltsverbot erklärte der Kläger, dass er keine Familienangehörigen in Deutschland habe außer seiner Frau und seiner Tochter.
8
Mit Bescheid vom 25. Juli 2017 erkannte das Bundesamt dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Nummer 1 des Bescheids), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Nummer 2), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nummer 3) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen (Nummer 4). Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung, im Falle einer Klageerhebung 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens, zu verlassen, andernfalls er nach N. abgeschoben werde (Nummer 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nummer 6).
9
Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und die Anerkennung als Asylberechtigter lägen nicht vor. Der Kläger berufe sich in seinem Sachvortrag auf die Verfolgung der Polizei, die ihn aufgrund des Todes seiner Freundin suche. Diese Suche berge allerdings offensichtlich keinen asylrechtlich relevanten Verfolgungsgrund, sondern basiere auf der Aussage der Familie, die den Kläger für den Tod ihrer Tochter durch die Abtreibungspille verantwortlich mache. Andere Gründe dieser Suche habe der Kläger weder vorgetragen noch seien sie dem Bundesamt bekannt.
10
Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen nicht vor. Im vorliegenden Fall seien keine stichhaltigen Gründe für die Annahme gegeben, dass dem Kläger in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden drohe. Als ernsthafter Schaden gelte die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung. Es sei zu prüfen, ob der Kläger Schutz vor einem ernsthaften Schaden in einem anderen Landesteil erhalten könne. Besonders das fehlende Meldesystem in N. sorge dafür, dass es dem Volk grundsätzlich möglich sei, vor staatlichen oder nichtstaatlichen Akteuren nicht nur gänzlich unterzutauchen, sondern auch unbemerkt unter den anderen Bewohnern in Städten wie Lagos zu leben und zu arbeiten. So sollte es dem Kläger möglich sein, sowohl vor der Familie der verstorbenen Frau als auch der Polizei unbemerkt und unbehelligt zu leben, ohne dabei in seiner Erwerbstätigkeit eingeschränkt zu sein. Diese sollte in einer großen Hafenstadt wie Lagos gewährleistet sein, selbst wenn er nicht in seiner vorherigen Tätigkeit im Bereich Innenarchitektur arbeiten könnte, wovon das Bundesamt nicht ausgehe. Dafür spreche insbesondere sein verhältnismäßig hoher Bildungsstand und seien bereits vor der Ausreise hohes Einkommen, von dem er nicht nur für sich selbst und seine Frau habe aufkommen können, sondern auch Ersparnisse habe halten können. Danach könne es dem Kläger zugemutet werden, sich in diesem sicheren Landesteil aufzuhalten.
11
Abschiebungsverbote lägen ebenfalls nicht vor.
12
Die derzeitigen humanitären Bedingungen in N. führten nicht zu der Annahme, dass bei Abschiebung des Klägers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege, § 60 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes. Grundsätzlich sei davon auszugehen, dass für Rückkehrer in N. die Möglichkeit bestehe, ökonomisch eigenständig alleine zu leben und auch ohne Hilfe Dritter zu überleben. Allein in wenigen besonders gelagerten Einzelfällen komme deshalb wegen der allgemeinen schwierigen sozialen und wirtschaftlichen Lage in N. ein Abschiebungsverbot in Betracht. Auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände des Klägers sei die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung des Art. 3 EMRK durch die Abschiebung nicht beachtlich. Die Prüfung, ob der Kläger sein Existenzminimum in N. erreichen könne, könne im vorliegenden Fall kein anderes Ergebnis haben als in der vorherigen Prüfung, da dieser Aspekt im Rahmen der Prüfung zum vorliegenden internen Schutz bejaht worden sei. Dementsprechend sei das Vorliegen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 des Aufenthaltsgesetzes zu verneinen, da der Antragsteller in der Lage sei, in N. den Lebensunterhalt für sich und seine Familie zu bestreiten. Auch die Verletzung anderer Menschenrechte oder Grundrechte der EMRK komme nicht in Betracht.
13
Es drohe dem Kläger auch keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 des Aufenthaltsgesetzes führen würde. Es seien weder Anhaltspunkte vorgetragen noch seien sie dem Bundesamt bekannt, die eine individuelle Gefahr für Leib und Leben ersehen ließen und damit die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 des Aufenthaltsgesetzes begründen würden.
14
Des Weiteren wurden die Abschiebungsandrohung, die Ausreisefrist von 30 Tagen und die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung begründet. Anhaltspunkte für eine kürzere Fristsetzung aufgrund schutzwürdiger Belange seien weder vorgetragen noch lägen sie nach den Erkenntnissen des Bundesamts vor. Der Kläger verfüge im Bundesgebiet über keine wesentlichen Bindungen, die im Rahmen der Ermessensprüfung zu berücksichtigen wären.
15
Wegen der weiteren Einzelheiten wird ergänzend auf die Ausführungen im Bescheid verwiesen.
16
Mit Bescheid vom 25. Juli 2017 erkannte das Bundesamt den Klägerinnen die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Nummer 1 des Bescheids), lehnte die Anträge auf Asylanerkennung ab (Nummer 2), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nummer 3) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen (Nummer 4). Die Klägerinnen wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung, im Falle einer Klageerhebung 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens, zu verlassen, andernfalls sie nach N. abgeschoben würden (Nummer 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nummer 6).
17
Wegen der weiteren Einzelheiten wird ergänzend auf die Ausführungen im Bescheid bzw. im Tatbestand des Urteils vom 14. Juli 2022 im Verfahren der Klägerinnen verwiesen.
18
Der Bescheid vom 25. Juli 2017 wurden dem Kläger mittels Postzustellungsurkunde am 1. August 2017 zugestellt.
19
Dagegen hat die damalige Bevollmächtigte des Klägers für diesen mit Schriftsatz vom 8. August 2017, beim Verwaltungsgericht München per Telefax eingegangen am 8. August 2017, Klage erhoben (ursprünglich: M 9 K 17. ...) und beantragt,
20
den Bescheid des Bundesamts vom 25. Juli 2017 in Ziffern 1 sowie 3-6 aufzuheben sowie die Beklagte zu verpflichten, den Kläger als Flüchtling anzuerkennen, hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger subsidiären Schutz zuzusprechen, weiter hilfsweise die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes hinsichtlich N. vorliegen.
21
Die Begründung erfolge durch einen besonderen Schriftsatz.
22
Mit Schriftsatz vom 7. Juni 2018 legte die damalige Bevollmächtigte der Klägerinnen Diagnostik vom 8. Mai 2018 für die Klägerin zu 2 vor. Die Genotypisierung habe die Mutation ergeben, die einer homozygoten Sichelzellkrankheit entspreche. Als Anlage waren beigegeben ein an die damalige Bevollmächtigte der Klägerinnen gerichtetes Anschreiben vom 30. Mai 2018 zur „Übersendung neuer Befunde“ und eine „Hämoglobinopathie-Diagnostik“ der Universitätsklinik für Kinderund Jugendmedizin U. vom 8. Mai 2018 mit der Bemerkung, dass die Genotypisierung die Mutation = homozygote Sichelzellerkrankung ergeben habe.
23
Mit Schriftsätzen jeweils vom 8. Mai 2019 legte die damalige Bevollmächtigte des Klägers und der Klägerinnen das Mandat nieder. Mit Schriftsätzen jeweils vom 9. Juli 2019 zeigte die Bevollmächtigte des Klägers und der Klägerinnen deren anwaltliche Vertretung an.
24
Mit Beschluss vom 28. Juli 2020 wurde der Rechtsstreit betreffend den Kläger zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
25
Mit Schriftsatz vom 30. Juli 2020 teilte die Bevollmächtigte des Klägers mit, dass dieser sich auf das bisherige Vorbringen beziehe.
26
Am 19. August 2020 wurde im Verfahren der Klägerinnen und im Verfahren des Klägers erstmals mündlich verhandelt.
27
Zur Klägerin zu 2 wurde vorgetragen, dass bei dieser in 2 Monaten eine Operation vorgenommen werden solle. Es handele sich dabei wohl um einen Blutaustausch. Nächsten Monat würden die Eltern untersucht, ob sie als Spender geeignet sein. Je nachdem benötige man einen anderen Spender. Nach dem Termin für die Eltern werde bestimmt, wann der Termin für die Operation des Kindes sei. Der Termin der Eltern für deren Bluttest sei am 22. September 2020. Hintergrund sei, dass wegen der Sichelzellenanämie der Klägerin zu 2 eine Operation zum Blutaustausch mit anschließendem 3-monatigen Klinikaufenthalt medizinisch notwendig sei. Der Krankheitsverlauf sei im Falle der Klägerin zu 2 tödlich und die Behandlung im Kindesalter sei durch einen Blutaustausch notwendig.
28
Der Kläger erklärt, er habe seit einem Jahr eine Arbeitserlaubnis; bisher habe er nicht gearbeitet. Er suche Arbeit und habe sich bei einigen Firmen beworben. Aktuell sei es schwierig wegen Corona. In N. sei er Stuckateur gewesen.
29
Die Klägerin zu 1 erklärte, sie habe eine Arbeitserlaubnis. Sie habe früher neben einem Hotel gewohnt und dort 3 Stunden am Tag gearbeitet. Jetzt müsse sie sich krankheitsbedingt um ihre Tochter kümmern, die sehr häufig stationäre im Krankenhaus sei.
30
Die Bevollmächtigte der Kläger erklärte, sie werde bis spätestens 19. November 2020 eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung über die Operation zum Blutaustausch der Klägerin zu 2 und deren Notwendigkeit vorlegen.
31
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung verwiesen.
32
Mit Schriftsatz vom 31. August 2020 legte die Bevollmächtigte des Klägers und der Klägerinnen ein ärztliches Attest der LMU vom 20. August 2020 für die Klägerin zu 2 vor. Für die Klägerin zu 2 sei aufgrund der Schwere der Symptome die Indikation für eine HSZT (Allogene Stammzelltransplantation) gestellt worden, die inzwischen als „Standard of Care“ gelte. Derzeit sei man auf der Suche nach einem geeigneten Spender. Aus diesem Grund werde im Rahmen der kommenden Verlaufskontrollen zunächst eine HLA-Testung der Eltern erfolgen. Aus ärztlicher Sicht werde die Einleitung einer Spendersuche mit dem Ziel einer kurativen Stammzelltransplantation unterstützt und empfohlen.
33
Mit Schriftsatz vom 26. November 2020 legte die Bevollmächtigte des Klägers und der Klägerinnen Arztbrief der LMU vom 17. November 2020 vor. Am 15. Januar 2021 würden die Eltern wieder bei der Klinik sein, um das Testergebnis der Operation zu besprechen. Beigegeben war ein Arztbrief der LMU vom 17. November 2020, in dem unter anderem ausgeführt wird, dass aufgrund der rezidivierenden Schmerzkrisen und zur Vermeidung schwerer langfristiger Komplikationen mit möglicher Organfunktionsstörung mit den Eltern ausführlich über die Möglichkeit einer HSZT (allogene Stammzelltransplantation) gesprochen worden sei. Eine HLA-Typisierung habe ergeben, dass die Eltern der Klägerin zu 2 HLAhaploident seien. Ein Geschwister gebe es nicht. Im nächsten Schritt plane man unter Einverständnis der Eltern eine Spendersuche für die Klägerin zu zweit zu initiieren. Bis dahin erfolge die weitere regelmäßige Vorstellung über die Tagesklinik. Untere Empfehlungen wird unter anderem ausgeführt: „möglichst vermeiden eine Tropenreise, in jedem Fall aber zuvor Tropen medizinische Beratung und Malariaprophylaxe bei Reisen in Endemiegebiete.
34
Am 14. Juli 2021 wurde für die Klägerin (im Verfahren M 13 K 21. …) beim Bundesamt ein Asylantrag gestellt. Für diese wurde die Gefahr einer Beschneidung im Falle einer Rückkehr nach N. geltend gemacht.
35
Mit Bescheid vom 12. November 2021 erkannte das Bundesamt der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft nicht zu (Nummer 1 des Bescheids), lehnte den Antrag auf Asylanerkennung ab (Nummer 2), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nummer 3) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen (Nummer 4). Die Klägerin wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung, im Falle einer Klageerhebung 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens, zu verlassen, andernfalls sie nach N. abgeschoben werde (Nummer 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nummer 6).
36
Hinsichtlich der Gefahr einer Beschneidung - ausgehend von der Familie des Klägers - wurde auf die Inanspruchnahme internen Schutzes verwiesen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird ergänzend auf die Ausführungen im Bescheid bzw. im Tatbestand des Urteils vom 14. Juli 2022 im Verfahren der Klägerin verwiesen.
37
Mit Schriftsatz vom 17. Februar 2022 legte die Bevollmächtigte der Klägerinnen einen Arztbrief des Kinderkrebszentrums M. für die Klägerin zu 2 vor. Aufgrund der Tatsache, dass kein geeigneter Spender für die Klägerin zu 2 gefunden worden sei, sei den älteren eine haploidente Stammzelltransplantation angeboten worden. Weitere Einzelheiten könnten erst im März 2022 genannt werden. Als Anlage war ein Dokument des Kinderkrebszentrums des LMU Klinikums mit dem Vermerk „Vorstellung am 03.02.2022“ beigegeben. Es enthielt folgenden „Tumorboardbeschluss: Aufgrund der vielen Schmerzkrisen kann den Eltern eine haploidente Stammzelltransplantation angeboten werden, auch wenn sie immer noch experimentell gilt.“
38
Mit Schriftsatz vom 31. Mai 2022 legte die Bevollmächtigte der Klägerinnen eine ärztliche Bescheinigung der Kinderklinik vom 30. Mai 2022 vor. Der Vater der Klägerin zu 2 habe mitgeteilt, dass für Juni 2022 eine Operation vorgesehen sei.
39
Als Anlage war eine ärztliche Bescheinigung des Kinderkrebszentrums des LMU Klinikums vom 30. Mai 2022 beigegeben, nach der aufgrund vermehrter wiederkehrender Schmerzkrisen und damit einhergehend der stationäre Aufenthalte in den letzten Jahren eine allogene Stammzelltransplantation (SZT) im Juni 2022 aus medizinischen Gründen unbedingt erforderlich sei. Diese werde in einer Einheit erfolgen, in der die Patientin von anderen Patientinnen isoliert behandelt werde. Die Anwesenheit und Begleitung durch die Eltern sei in dieser intensiven Zeit aus medizinischer und psychischer Sicht unbedingt notwendig und tragen maßgeblich zum Therapieerfolg bei. Im Anschluss der stationären Therapie (nach ca. 6-8 Wochen) müsse die Patientin zu regelmäßigen Kontrollterminen in Begleitung der Eltern in der Ambulanz vorstellig werden und Untersuchungen wahrnehmen. Nach der SZT bestehe höchste Infektionsgefahr aufgrund von Immunsuppression. Dies erfordere im Alltag strenge hygienische Maßnahmen für die Familie. Im Anschluss der Akutbehandlung, die neben der SZT auch die ambulanten Behandlungstermine beinhalte, erfolge der Übergang in die Nachsorge (mindestens 5-10 Jahre). Diese weiterführende Behandlung sei für die Beobachtung der Patienten äußerst wichtig, da es beispielsweise im Falle einer Abstoßungsreaktion eines schnellen medizinischen Eingreifens bedürfe. Eine SZT und auch eine notwendige Anschlussbehandlung und Nachsorge seien im Heimatland nicht durchführbar, da dort keine spezialisierten Kliniken existierten. Bei Abschiebung ins Heimatland würde die Gesundheit der Patienten aufgrund fehlender medizinischer Versorgung nicht gewährleistet sein.
40
Mit Schriftsatz jeweils vom 7. Juni 2022 erklärte die Bevollmächtigte des Klägers, der Klägerinnen und der Klägerin, dass diese sich auf das bisherige Vorbringen bezögen.
41
Mit Schriftsatz vom 20. Juni 2022 teilte die Bevollmächtigte der Klägerinnen mit, dass eine Operation Anfang Juli 2022 stattfinden solle. Für 8 Wochen könne die Klägerin zu 2 keinen Gerichtstermin wahrnehmen. Als Anlage war eine ärztliche Bescheinigung des Kinderkrebszentrums des LMU Klinikums vom 8. Juni 2022 beigegeben, in der bestätigt wurde, dass die Klägerin zu 2 aufgrund eines Katheters und der bevorstehenden Stammzelltransplantation nicht reisefähig sei. Auch im Anschluss der SZT bedürfe es einer kontrollierten Nachsorge-Behandlung in der KMT-Ambulanz von mindestens 6 Monaten. Bei einer aktuell vorliegenden Schmerzkrise müsse der Klägerin zu 2 ein stationärer Aufenthalt gewährleistet werden.
42
Mit Schriftsatz vom 20. Juni 2022 legte die Bevollmächtigte des Klägers ebenfalls die ärztliche Bescheinigung vom 8. Juni 2022 vor. Die Tochter des Klägers werde Anfang Juli 2022 operiert. Der Kläger sei daran beteiligt und könne für 8 Wochen keinerlei Termine wahrnehmen. Zu der Verhandlung am 14. Juli 2022 könne er nicht kommen.
43
Am 14. Juli 2022 wurde zu den Verfahren M 13 K 17. …, M 13 K 17. … und M 13 K 21. … gemeinsam mündlich verhandelt.
44
Die Klägerin zu 1 - die zusammen mit der Klägerin und ihrer gemeinsamen Bevollmächtigten erschien - trug vor, dass sie mit ihrem Mann und den beiden Töchtern zusammenlebe. Sie sei aktuell im 8. Monat schwanger, es werde ein Junge werden. Sie arbeite derzeit wegen der Betreuung der Kinder nicht. Sobald wie möglich wolle sie einen Sprachkurs machen, das werde aber wegen des dritten Kindes noch eine Zeitlang dauern. Der Klläger arbeite derzeit nicht. Wenn die Behandlungen wegen der Stammzellentransplantation für die Klägerin zu 2 abgeschlossen seien, wolle er zur Schule in den Sprachkurs gehen und dann arbeiten. Die Klägerin zu 2 werde aus medizinischen Gründen im September 2022 noch nicht eingeschult werden. Die Klägerin zu 1 ergänzte, dass die Operation am 27. Juni 2022 gewesen sei. Am 22. Juni 2022 seien die Klägerin zu 2 und der Kläger ins Krankenhaus gegangen. Beide würden voraussichtlich 6 bis 8 Wochen stationär bleiben. Die Klägerin zu 2 habe auch nach der Operation noch mehrere Schmerzkrisen gehabt und esse derzeit nichts. Die Operation selbst sei gut verlaufen, ob der gewünschte Effekt eintrete, sei nach Angaben der Ärzte noch nicht sicher. Abschließend erklärte die Klägerin zu 1, dass die Klägerin zu 2 nun seit Jahren sehr leide.
45
Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sachund Streitstand wird ergänzend auf die Gerichtsakten in den Verfahren M 13 K 17. …, M 13 K 17. … und M 13 K 21. …, die vom Bundesamt vorgelegten Behördenakten und die Niederschrift über die mündliche Verhandlung verwiesen.

Entscheidungsgründe

46
Die Klage ist zulässig, aber nur teilweise begründet.
47
Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Asylgesetz (AsylG) oder des subsidiären Schutzstatus nach § 4 AsylG (§ 113 Abs. 5 VwGO). Insoweit war die Klage abzuweisen.
48
Zur Begründung wird auf die zutreffenden Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid verwiesen, denen der erkennende Einzelrichter folgt (§ 77 Abs. 2 AsylG).
49
Der Kläger hat jedoch - durch Umstände, die nach Erlass des streitgegenständlichen Bescheids aufgetreten sind (§ 77 Abs. 1 AsylG) - einen Anspruch darauf, dass die Beklagte für ihn ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG feststellt.
50
Ein Ausländer darf nach § 60 Abs. 5 AufenthG nicht abgeschoben werden, wenn sich aus der Anwendung der EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Für die Annahme einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung (Art. 3 EMRK) müssen die im Zielstaat drohenden Gefahren ein gewisses Mindestmaß an Schwere erreichen. Allgemein schlechte humanitäre Bedingungen im Zielstaat, die nicht auf eine Handlung oder Unterlassung von Verfolgungsakteuren (vgl. § 3c AsylG) zurückzuführen sind, können nur in besonderen Ausnahmefällen zur Feststellung eines Abschiebungsverbots führen Denn Art. 3 EMRK enthält keine Verpflichtung der Vertragsstaaten, nicht bleibeberechtigte Ausländer in ihrem Hoheitsgebiet dauerhaft mit einer Wohnung oder finanzieller Unterstützung zu versorgen, um ihnen einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen (vgl. BVerwG, B.v. 8.8.2018 - 1 B 25/18 - NVwZ 2019, 61 Rn. 20). Nach der neueren Rechtsprechung kann das für Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere erreicht sein, wenn sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not wiederfände, die es ihr nicht erlauben würde, selbst die elementarsten menschlichen Grundbedürfnisse zu befriedigen, namentlich sich zu ernähren, zu waschen und ein Obdach zu finden, und ihre Gesundheit beeinträchtigen oder sie in einen mit der Menschenwürde unvereinbaren Zustand der Verelendung versetzen würde (vgl. Zimmerer in BeckOK MigR, Stand 1.1.2021, § 60 AufenthG Rn. 23). Einer weitergehenden abstrakten Konkretisierung ist das Erfordernis, dass ein gewisses Mindestmaß an Schwere erreicht sein muss, nicht zugänglich. Vielmehr bedarf es insoweit der Würdigung aller Umstände des Einzelfalls (vgl. BVerwG, B.v. 8.8.2018 - 1 B 25/18 - juris LS 1 und Rn. 9, 11).
51
Nach der neuesten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 21.4.2022, 1 C 10.21, Pressemitteilung Nr. 25/2022 vom 21.4.2022) ist Maßstab für die im Rahmen der Prüfung nationalen Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK anzustellende Gefahrenprognose grundsätzlich, ob der vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer nach seiner Rückkehr, gegebenenfalls durch ihm gewährte Rückkehrhilfen, in der Lage ist, seine elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen. Nicht entscheidend ist hingegen, ob das Existenzminimum eines Ausländers in dessen Herkunftsland nachhaltig oder gar auf Dauer sichergestellt ist.
52
Kann der Rückkehrer Hilfeleistungen in Anspruch nehmen, die eine Verelendung innerhalb eines absehbaren Zeitraums ausschließen, so kann Abschiebungsschutz ausnahmsweise nur dann gewährt werden, wenn bereits zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt davon auszugehen ist, dass dem Ausländer nach dem Verbrauch der Rückkehrhilfen in einem engen zeitlichen Zusammenhang eine Verelendung mit hoher Wahrscheinlichkeit droht.
53
Im vorliegenden Fall geht der Einzelrichter davon aus, dass bereits jetzt absehbar ist, dass dem Kläger und seinem Familienverband mit der Klägerin zu 1 (aktuell im 8. Monat schwanger) und den beiden Töchtern bei einer Ausreise nach N. mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem engen zeitlichen Zusammenhang nach dem Verbrauch von Rückkehrhilfen eine Verelendung drohen würde.
54
Denn es ist nicht nur zu berücksichtigen, ob der Kläger und die Klägerin zu 1 voraussichtlich in der Lage sein würden, zusammen - ggf. unter wechselseitiger Betreuung der Kinder - das ganz normale alltägliche Existenzminimum für die bald insgesamt fünfköpfige Familie - also ohne Berücksichtigung von Behandlungskosten für die Klägerin zu 2 - zu erwirtschaften. Dabei ist zu beachten, dass eine Unterstützung durch die Familie des Klägers nicht zur Verfügung stehen würde, weil das Bundesamt die Klägerin zu 1 und den Kläger wegen einer durch diese Familie des Klägers drohenden Beschneidungsgefahr hinsichtlich der Klägerin (und damit realiter auch hinsichtlich der Klägerin zu 2) auf die Inanspruchnahme internen Schutzes verwiesen hat. Die Mutter der Klägerin hat auch keinen unterstützungsfähigen Familienverband (mehr).
55
Es ist auch nicht nur zu berücksichtigen, ob die homozygote Sichelzellerkrankung der Klägerin zu 2 irgendwo in N. grundsätzlich adäquat behandelbar ist und ob die - zusätzlichen - Kosten hierfür ggf. unter Verwendung von Rückkehrhilfen für eine gewisse Zeit finanziert werden könnten, so dass der Klägerin zu 2 zumindest alsbald nach einer Ankunft in N. keine lebensbedrohliche Gesundheitsgefahr drohen würde.
56
Vielmehr ist in einer Gesamtbetrachtung mit zu berücksichtigen, dass sich die Eltern der Klägerin zu 2 mit ihren (demnächst drei) Kindern dauerhaft in unmittelbarer Nähe einer Fachklinik mit Erfahrung in der Betreuung von Kindern mit Sichelzellerkrankung und einer Notfallaufnahme sowie Kinderintensivstation niederlassen müssten, um im Falle einer jederzeit unerwartet möglichen medizinischen Krise mit der Klägerin zu 2 innerhalb kürzester Zeit in einer solchen Klinik sein zu können (vgl. ärztliches Attest der LMU Klinikum der Universität M. Kinderklinik und Kinderpoliklinik im Dr. von H. Kinderspital vom 12.8.2020). Auch wenn die erfolgte Stammzellentransplantation zu dem gewünschten Erfolg einer Verbesserung des Gesundheitszustandes der Klägerin zu 2 führen würde (was derzeit nach Auskunft der Ärzte noch nicht prognostizierbar ist), wären sie für die Zeit der notwendigen Nachsorge (mindestens 5-10 Jahre) noch auf eine solche kliniknahe Wohnsitznahme angewiesen, insbesondere im Hinblick auf eine mögliche Abstoßungsreaktion bei der Klägerin zu 2, die eines schnellen medizinischen Eingreifens bedürfen würde.
57
Es ist zur Überzeugung des Einzelrichters nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass dem Kläger und der Klägerin zu 1 dies - insbesondere mangels finanzieller Unterstützung durch die Familie des Klägers (s.o.) -gelingen könnte. Vielmehr geht der Einzelrichter davon aus, dass nach dem Verbrauch von Rückkehrhilfen unter Aufbietung aller Kräfte auf Dauer vielleicht die Finanzierung der Krankheitskosten der Klägerin zu 2 gerade so möglich wäre, deswegen aber der Familie als Ganzes Verelendung drohen würde. Denn solche Gegebenheiten würden die Eltern der Klägerin zu 2 und der Klägerin (und demnächst noch eines Sohnes) nur in einer der großen Städte N.s vorfinden können, mit einerseits gegenüber auf dem Land absehbar viel höheren Lebenshaltungskosten, insbesondere auch zu erwartenden höheren Mietkosten, und andererseits einem angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Situation in N. hart umkämpften Arbeitsmarkt bei hoher Arbeitslosigkeit. Nach dem zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 22. Februar 2022 gibt es darüber hinaus zwar „eine allgemeine Kranken- und Rentenversicherung, die allerdings nur für Beschäftigte im formellen Sektor gilt.“ (Seite 21).
58
Mit der Aufhebung von Nr. 4 des streitgegenständlichen Bescheids und der Verpflichtung der Beklagten, das Vorliegen der diesbezüglichen Abschiebeverbotsvoraussetzungen festzustellen, wird die Abschiebungsandrohung in Nr. 5 gegenstandslos, ebenso die Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots in Nr. 6.
59
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Nach § 83b AsylG ist das Verfahren gerichtskostenfrei.
60
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.