Titel:
Widerruf der Flüchtlingseigenschaft wegen Straffälligkeit
Normenketten:
AsylG § 3 Abs. 2, Abs. 4, § 73 Abs. 1, Abs. 2a
AufenthG § 60 Abs. 8 S. 1, S. 3
Leitsatz:
Ein zwingender Widerruf der Flüchtlingseigenschaft aufgrund Straffälligkeit setzt auch bei einer Gesamtstrafe von über drei Jahren voraus, dass zumindest eine der in die Gesamtstrafe einbezogenen Einzelstrafen eine mindestens dreijährige Freiheitsstrafe ist. (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylrecht, Herkunftsland: Irak, Widerruf nach vorangegangener Negativentscheidung grundsätzlich nur noch nach Ermessen möglich, Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren nicht ausreichend für § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG, Vorliegen anderer Widerrufsgründe ohne Ermessensausübung des Bundesamts nicht zu prüfen, Flüchtlingseigenschaft, Ausschlusstatbestand, Ausschlussgründe, Verurteilung, Straffälligkeit, Gesamtstrafe, Ermessenswiderruf
Fundstelle:
BeckRS 2022, 1221
Tenor
I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 9. Juli 2019 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich gegen den Widerruf der ihm mit Bescheid vom 14. September 2009 zuerkannten Flüchtlingseigenschaft durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) mit Bescheid vom 9. Juli 2019.
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Der Kläger ist irakischer Staatsangehöriger turkmenischer Volkszugehörigkeit und schiitischer Religionszugehörigkeit.
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Er reiste erstmals im Jahr 2003 zusammen mit seiner Mutter und zwei Brüdern ins Bundesgebiet ein und stellte einen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt), den dieses mit Bescheid vom 19. November 2003 ablehnte. Die dagegen beim bayerischen Verwaltungsgericht München erhobene Klage wurde mit Urteil vom 10. August 2004 abgewiesen.
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Am 21. April 2009 stellte der Kläger einen Folgeantrag, aufgrund dessen ihm mit Bescheid vom 14. September 2009 die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde. Hintergrund war, dass bezüglich des Vaters des damals minderjährigen Klägers unanfechtbar die Flüchtlingseigenschaft festgestellt worden war.
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Am 26. Oktober 2012 entschied das Bundesamt bei einer Überprüfung, dass die Voraussetzungen für eine Rücknahme, bzw. einen Widerruf nicht vorliegen.
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Am 6. Juni 2018 verurteilte das Amtsgericht München den Kläger zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten wegen vorsätzlichen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in sechsundzwanzig Fällen in Tatmehrheit mit vorsätzlichem unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Mittäterschaft, jeweils in Tatmehrheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln verurteilt. Die der Gesamtstrafe zugrundeliegenden Einzelstrafen lagen zwischen einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und einem Monat und einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren. Das Urteil wurde am 14. Juni 2018 rechtskräftig.
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Mit Verfügung vom 18. Juni 2019 leitete das Bundesamt ein Widerrufsverfahren ein. Mit Schreiben vom 21. Juni 2019 teilte das Bundesamt dem Kläger den beabsichtigten Widerruf mit und gab ihm Gelegenheit zur Stellungnahme. Der Kläger trug in seiner am 3. Juli 2019 beim Bundesamt eingegangenen Stellungnahme vor, er sei in der JVA N. in einer Gruppe, um mit seiner Drogenproblematik umgehen zu können und nehme auch an einer Einstiegsqualifikation zum Drucktechniker teil. Er wolle auch nach der Haft eine ambulante Therapie absolvieren, sich mit seiner Freundin verloben und sich mit ihr eine gute Zukunft aufbauen.
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Mit Bescheid vom 9. Juli 2019 widerrief die Beklagte die zuerkannte Flüchtlingseigenschaft des Klägers (Nr. 1), erkannte den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nr. 2) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 3). Die Flüchtlingseigenschaft sei nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG zu widerrufen. Beim Kläger lägen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht mehr vor, weil Ausschlussgründe nach § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG erfüllt seien. Die Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe sei ausreichend, ohne dass eine der Einzelstrafen das Strafmaß von drei Jahren erreichen müsse. Die Verurteilung zu einer dreijährigen Freiheitsstrafe führe zwar nicht automatisch zum Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung, sondern nur, wenn - wie vorliegend - eine konkrete Wiederholungsgefahr gegeben sei. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus lägen nicht vor, weil der Kläger wegen schwerwiegender Gründe, die die Annahme rechtfertigten, dass er eine schwere Straftat begangen habe, den Ausschlusstatbestand des § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG erfülle und somit hiervon ausgeschlossen sei. Außerdem sei der Kläger von der Zuerkennung subsidiären Schutzes auch deshalb ausgeschlossen, weil anhand der Gesamtumstände des Einzelfalls davon auszugehen sei, dass er eine Gefahr für die Allgemeinheit i.S.v. § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 Alt. 1 AsylG darstelle. Insoweit werde auf die Ausführungen zu § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG verwiesen. Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG lägen nicht vor. Auf die Begründung des Bescheids im Übrigen wird Bezug genommen (§§ 84 Abs. 1 Satz 3, 117 Abs. 3 VwGO).
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Mit Schriftsatz vom 28. Juli 2019, bei Gericht am selben Tag per Telefax eingegangen, ließ der Kläger gegen den Bescheid vom 9. Juli 2019 durch seinen Prozessbevollmächtigten unter Ankündigung einer Klagebegründung Klage erheben und beantragen,
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1) Der Bescheid der Beklagten vom 9. Juli 2019, mit dem die mit Bescheid vom 14. September 2009 zuerkannte Flüchtlingseigenschaft widerrufen worden ist, ist aufzuheben.
2) Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3) Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
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Mit Schreiben vom 8. August 2019 übersandte die Beklagte die Behördenakte in elektronischer Form.
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Mit Schriftsatz vom 4. September 2019 begründete der Bevollmächtigte des Klägers die Klage und führte hierzu im Wesentlichen aus, die hinsichtlich der Wiederholungsgefahr seitens der Beklagten getroffene Prognosebeurteilung sei unzutreffend, da die moralisch sittliche Entwicklung des Klägers unzureichend berücksichtigt worden sei.
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Der Kläger nutze die Zeit der Inhaftierung, um über seinen bisherigen Lebenswandel und seine Pläne für sein künftiges Leben nachzudenken. Er wolle einer geregelten Arbeit nachgehen, um seinen Lebensunterhalt auf legale Weise bestreiten zu können. Er wolle seine Verlobte heiraten und mit ihr eine Familie gründen. Die Bemühungen des Klägers, von seiner Rauschmittelsucht loszukommen, seien seitens der Beklagten nicht ausreichend gewürdigt worden. Es sei auch zu berücksichtigen, dass die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung geprüft würde, was wichtige Indizwirkung im Rahmen der Wiederholungsgefahr habe. Der Kläger würde überdies nach seiner Haftentlassung nicht der Allgemeinheit zur Last fallen, da eine Beschäftigung in Aussicht stehe und ein fester Wohnsitz jedenfalls bei der Mutter des Klägers zur Verfügung stehe.
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Ergänzend wies der Bevollmächtigte des Klägers daraufhin, dass eine Ausweisung in den Irak für den Kläger eine unangemessene Härte darstellen würde, da dieser seit seinem neunten Lebensjahr in Deutschland sei, hier zur Schule gegangen sei und eine Ausbildung zum Verkäufer mit Erfolg abgeschlossen habe, während er im Irak keinerlei Empfangsraum habe und des Arabischen nur sehr eingeschränkt mächtig sei. Es sei außerdem zu berücksichtigen, dass die Familie des Klägers den Irak aus politischen Gründen habe verlassen müssen und der Kläger deshalb fürchte, bei einer Rückkehr in den Irak politischen Verfolgungen ausgesetzt zu sein.
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Mit Bescheid vom 20. August 2019 wies die Ausländerbehörde den Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland aus. Die gegen die Ausweisung seitens des Klägers beim Bayerischen Verwaltungsgericht München erhobene Klage mit dem Aktenzeichen M 10 K 19.4330 wurde am 29. Oktober 2020 abgewiesen. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof lehnte den Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung am 29. Januar 2021 ab.
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Mit Beschluss vom 14. Januar 2020 setzte das Landgericht Augsburg die Vollstreckung des Strafrests der Freiheitstrafe auf vier Jahre zur Bewährung aus.
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Mit Schriftsatz vom 17. Februar 2020 wies der Bevollmächtigte des Klägers auf die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung hin und trug vor, der Kläger sei auf eigenen Wunsch nicht zum 2/3-Termin aus der JVA entlassen worden, damit er das dort begonnene Rückfallprophylaxetraining erfolgreich abschließen könne.
18
Mit Schreiben vom 13. April 2021 erklärte die Beklagte ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid.
19
Mit Beschluss vom 15. Oktober 2021 übertrug die Kammer den Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter und hörte die Klagepartei mit Schreiben vom 18. Oktober 2021 zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid an.
20
Mit Schriftsatz vom 1. November 2021 trug der Bevollmächtigte des Klägers vor, der Kläger käme den Bewährungsauflagen vollumfänglich und fristgerecht nach. Zudem erwarte die Verlobte des Klägers, die als in Deutschland geborene türkische Staatsbürgerin ein uneingeschränktes Aufenthaltsrecht besitze, vom Kläger ihr erstes Kind.
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Der Bevollmächtigte erklärte sich mit einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid nicht einverstanden, da es unerlässlich sei, dass das Gericht sich ein persönliches Bild vom Kläger mache.
22
Mit Schreiben vom 27. Januar 2022 legte die Beklagte weitere Behördenakten in elektronischer Form vor.
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Wegen der weiteren Einzelheiten nimmt das Gericht Bezug auf die Gerichtsakte, die vorgelegte Behördenakte.
Entscheidungsgründe
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Die Zulässige Klage ist begründet.
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I. Der Bescheid ist aufzuheben, weil er rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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1. Das Gericht kann ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten wurden zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört (§ 84 Abs. 1 VwGO).
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2. Die Klage ist begründet.
28
Der Bescheid des Bundesamts vom 9. Juli 2019 ist aufzuheben, weil der Widerruf der dem Kläger mit Bescheid vom 14. September 2009 zuerkannten Flüchtlingseigenschaft rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Entscheidungen zum subsidiären Schutzstatus und zum Vorliegen von nationalen Abschiebungsverboten in Nr. 2 und Nr. 3 des Bescheids sind als gemäß § 73 Abs. 3 AsylG akzessorische Entscheidungen zum Widerruf mit der Aufhebung des Widerrufs ebenfalls aufzuheben.
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Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Widerrufsbescheids ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. der Zeitpunkt, in dem die Entscheidung gefällt wird, wenn die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung ergeht, § 77 Abs. 1 AsylG.
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Das Bundesamt durfte den Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht mehr zwingend, sondern nur noch nach Ermessen verfügen, § 73 Abs. 2a Satz 5 AsylG. Dies ist nicht erfolgt.
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2.1. Die Voraussetzungen des § 73 Abs. 2a Satz 5 Hs. 1 AsylG liegen vor.
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Die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sind unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen (§ 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG). Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Anerkennung als Asylberechtigter oder zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt (§ 73 Abs. 1 Satz 2 AsylG). Die Prüfung, ob die Voraussetzungen für einen Widerruf nach § 73 Abs. 1 AsylG vorliegen, hat spätestens nach Ablauf von drei Jahren nach Unanfechtbarkeit der Entscheidung zu erfolgen (§ 73 Abs. 2a Satz 1 AsylG). Ist nach der Prüfung ein Widerruf nicht erfolgt, steht eine spätere Entscheidung nach Absatz 1 im Ermessen (§ 73 Abs. 2a Satz 5 Hs. 1 AsylG).
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Das Bundesamt hat im Jahr 2012 sachlich geprüft, ob die Voraussetzungen für einen Widerruf oder eine Rücknahme vorliegen und dies verneint. Eine Mitteilung dieses Ergebnisses an die Ausländerbehörde konnte gemäß § 73 Abs. 2a Satz 3 AsylG entfallen.
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2.2. Die Voraussetzungen eines der Ausnahmetatbestände des § 73 Abs. 2a Satz 5 Hs. 2 AsylG liegen nicht vor.
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Danach ist ein Widerruf trotz vorangegangener Negativentscheidung dennoch zwingend möglich, weil die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder des § 3 Abs. 2 AsylG vorliegen oder weil das Bundesamt nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen hat.
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2.2.1. Das Bundesamt hat den Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zwar auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG gestützt; dies jedoch zu Unrecht. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG liegen entgegen der Auffassung der Beklagten nicht vor.
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Gemäß § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG scheidet die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland angesehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist.
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Der Kläger wurde mit rechtskräftigem Urteil des Amtsgerichts München vom 6. Juni 2018 zwar zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt, dieser Entscheidung lagen jedoch „nur“ Einzelstrafen zwischen einem Jahr und einem Monat und zwei Jahren zugrunde. Dies genügt nicht, um die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG zu erfüllen.
39
Entgegen der Auffassung der Beklagten kommt ein (zwingender) Widerruf der Flüchtlingsanerkennung wegen § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG bei einer Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe nämlich nach wie vor nur dann in Betracht, wenn eine der in die Gesamtstrafe einbezogenen Einzelstrafen eine mindestens dreijährige Freiheitsstrafe ist (so schon zur Rechtslage vor Einfügung des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG: BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 17.12 - juris). Eine andere rechtliche Beurteilung ergibt sich auch nicht aus dem zum 17. März 2016 in Kraft getretenen weiteren Ausschlusstatbestand des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG. Das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz hat in seinem Beschluss vom 28. April 2020 (6 A 10318/20 - juris) hierzu überzeugend ausgeführt, dass diese Bestimmung den Anwendungsbereich des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG unberührt lässt und vielmehr eine weitere Ermächtigungsgrundlage für die Annahme des Nichtbestehens eines Abschiebeverbots begründet. Eine mit dieser Rechtsänderung verbundene Absicht des Gesetzgebers, auch im Rahmen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG das Strafmaß einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren ausreichen zu lassen, selbst wenn die Gesamtfreiheitsstrafe ausschließlich aus Einzelstrafen hervorgegangen ist, die jeweils für sich genommen die Mindestdauer von drei Jahren nicht erreichen, ist nicht erkennbar. Denn der Änderungsgesetzgeber kannte die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG. Gleichwohl hat er bei der Änderung des § 60 Abs. 8 AufenthG durch das Gesetz vom 11. März 2016 Satz 1 der Vorschrift unverändert gelassen und damit auch keinen Handlungsbedarf für eine Korrektur dieser Rechtsprechung gesehen. Hätte der Gesetzgeber in Kenntnis der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Absicht gehabt, dem Anwendungsbereich des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG ohne entsprechende Änderung des Gesetzeswortlautes den von der Beklagten unterstellten Inhalt zu geben, hätte er dies zum Ausdruck bringen müssen.
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Da schon die Voraussetzung des § 60 Abs. 8 Satz 1 Alt. 2 AufenthG der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren nicht vorliegt, kommt es auf das Vorliegen der weiteren Voraussetzung, nämlich ob vom Kläger eine Wiederholungsgefahr ausgeht, nicht an.
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Der Widerruf kann vorliegend nicht rechtmäßig auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG gestützt und somit gemäß § 73 Abs. 2a Satz 5 Hs. 2 AsylG ausnahmsweise trotz vorhergehender Negativentscheidung über eine Aufhebung zwingend verfügt werden.
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2.2.2. Der Widerruf ist auch nicht zwingend möglich, weil die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 AsylG nicht vorliegen.
43
Nach § 3 Abs. 2 AsylG ist ein Ausländer nicht Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, wenn aus schwerwiegenden Gründen die Annahme gerechtfertigt ist, dass er ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat im Sinne der internationalen Vertragswerke, die ausgearbeitet worden sind, um Bestimmungen bezüglich dieser Verbrechen zu treffen (Nr. 1), vor seiner Aufnahme als Flüchtling eine schwere nichtpolitische Straftat außerhalb des Bundesgebiets begangen hat, insbesondere eine grausame Handlung, auch wenn mit ihr vorgeblich politische Ziele verfolgt wurden (Nr. 2) oder den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwidergehandelt hat (Nr. 3).
44
Die Tatbestandsvoraussetzungen der Norm liegen ersichtlich nicht vor. Die Ausschlussregelung ist im Hinblick auf den damit verbundenen Wegfall des Schutzes vor Verfolgung sowohl unions- als auch verfassungsrechtlich eng i.S.e. ultima ratio auszulegen (BeckOK AuslR/Kluth, 30. Ed. 1.7.2021, AsylG § 3 Rn. 19 unter Verweis auf EuGH NVwZ 2011, 285 und BeckEuRS 2009, 496271; BVerwG NVwZ 2011, 1450).
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2.2.3. Das Bundesamt hat den Widerruf auch nicht ausnahmsweise zu Recht zwingend verfügt, weil es nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen hat.
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Die Beklagte hat ihre Entscheidung vorliegend nämlich nicht auf § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG gestützt. Dies ist aber schon nach dem Wortlaut der Norm erforderlich. Ob die tatbestandlichen Voraussetzungen von § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG in Bezug auf die Qualität der Straftaten, wegen derer er rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, erfüllt sind, bedarf vorliegend keiner Entscheidung.
47
Gemäß § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG kann von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist.
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Das Bundesamt hat vorliegend kein Ermessen ausgeübt, sondern den Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ausschließlich auf § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG gestützt. Der Gesetzeswortlaut in § 73 Abs. 2a Satz 5 Hs. 2 a.E. „weil das Bundesamt nach § 60 Absatz 8 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes von der Anwendung des § 60 Absatz 1 des Aufenthaltsgesetzes abgesehen hat“ ist insoweit jedoch eindeutig und verlangt eine Ermessensentscheidung in Bezug auf § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenhtG, an der es vorliegend fehlt. Die Vorschrift ist als Ausnahmevorschrift einer erweiternden Auslegung über den Wortlaut hinaus nicht zugänglich, abgesehen davon, dass eine Regelungslücke schon nicht ersichtlich ist.
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Damit ist keiner der Ausnahmetatbestände des § 73 Abs. 2a Satz 5 Hs. 2 AsylG erfüllt. Ein zwingender Widerruf, wie ihn das Bundesamt vorliegend verfügt hat, ist somit nicht möglich.
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2.3. Die Aufhebung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft des Klägers kommt nur noch nach Ermessen in Betracht. Eine Ermessensentscheidung über den Widerruf hat die Beklagte jedoch nicht getroffen.
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Der Widerruf der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Nr. 1 des Bescheids war somit aufzuheben. Als akzessorische Entscheidungen gemäß § 73 Abs. 3 AsylG waren auch die Nr. 2 und Nr. 3 des Bescheids aufzuheben.
52
II. Die Beklagte trägt als unterliegender Teil die Kosten des Verfahrens, § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.
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III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.