Inhalt

VGH München, Urteil v. 10.05.2022 – 15 N 21.2929
Titel:

Im beschleunigten Verfahren erlassener unwirksamer Bebauungsplan

Normenketten:
VwGO § 47
BauGB § 1 Abs. 7, § 13b, § 214 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, § 215 Abs. 1 S. 1
Leitsätze:
§ 13b BauGB ermöglicht die Durchführung eines beschleunigten Verfahrens nur zu dem Zweck, die „Zulässigkeit von Wohnnutzungen“ zu begründen. In der obergerichtlichen Rechtsprechung ist geklärt, dass – soweit § 13b BauGB überhaupt die Möglichkeit der Festsetzung eines Allgemeinen Wohngebiets im vereinfachten Verfahren eröffnen sollte – der Satzungsgeber in diesem Fall zumindest gehalten ist, über § 1 V BauNVO diejenigen Nutzungen auszuschließen, die nach § 4 III Nrn. 1 bis Nr. 5 BauNVO iVm § 31 I BauGB ausnahmsweise zugelassen werden können. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
2. § 1 Abs. 7 BauGB verlangt, dass der Bauleitplanung eine Erschließungskonzeption zugrunde liegt, nach der das im Plangebiet anfallende Niederschlagswasser so beseitigt werden kann, dass Gesundheit und Eigentum der Planbetroffenen - auch außerhalb des Plangebiets - keinen Schaden nehmen. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Normenkontrollverfahren, Bebauungsplan, Beschleunigtes Verfahren, Wohnnutzung, Abwägungsfehler, Antragsbefugnis, Erschließung, Niederschlagswasser, Verfahrensfehler, Umweltbericht
Fundstellen:
BeckRS 2022, 12073
NVwZ-RR 2022, 709
LSK 2022, 12073

Tenor

I. Der am 30. April 2021 öffentlich bekannt gemachte Bebauungsplan Nr. … „Q …weg“ der Antragsgegnerin ist unwirksam.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.      
III. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.     
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

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Die Antragstellerinnen (Miteigentümerinnen zweier an das Plangebiet angrenzenden bebauten Grundstücke) wenden sich gegen den am 30. April 2021 öffentlich bekannt gemachten und im beschleunigten Verfahren nach § 13b BauGB aufgestellten Bebauungsplan Nr. … „Q …weg“ der Antragsgegnerin, der als Art der baulichen Nutzung ein Allgemeines Wohngebiet (§ 4 BauNVO) festsetzt und dabei „Tankstellen und Gartenbaubetriebe“ für nicht zulässig erklärt.
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Sie begründen ihren am 30. November 2021 bei Gericht eingegangenen Normenkontrollantrag wie folgt: Ihr Wohngrundstück werde durch ein in der Planung vorgesehenes Regenrückhaltebecken betroffen, das bei „extremen Regenfällen die unterliegenden Hausgrundstücke überschwemmen“ könne. Außerdem sei ein „dinglich gesichertes Wasserrecht“ von der streitgegenständlichen Planung nachteilig betroffen, das die Antragsgegnerin im Planverfahren nicht (hinreichend) berücksichtigt habe.
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Mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 29. April 2022 - eingegangen bei Gericht und bei der Antragsgegnerin am Montag, den 2. Mai 2022 - ergänzen die Antragstellerinnen ihr bisheriges Vorbringen wie folgt: Die Antragsbefugnis sei gegeben, weil das dinglich gesicherte „Leitungsrecht“ der Antragstellerinnen durch die Festsetzungen des Bebauungsplans betroffen sei und jene das dingliche Recht so einschränkten, „dass es (möglicherweise) nicht mehr so ausgeübt werden“ könne, „wie es zivilrechtlich eingeräumt wurde“. Im Übrigen sei das beschleunigte Verfahren (§ 13b BauGB) vorliegend nicht zulässig gewesen, weil die Voraussetzungen hierfür nicht vorgelegen hätten. Denn bei Festsetzung eines Allgemeinen Wohngebiets - wie vorliegend - hätten weitere Nutzungsausschlüsse erfolgen müssen als tatsächlich geschehen. Eine Umweltprüfung hätte im Hinblick auf sich aufdrängende erhebliche Umweltauswirkungen der Planung, die eine bisherige Außenbereichsfläche betreffe, die im Flächennutzungsplan noch als landwirtschaftliche Nutzfläche dargestellt sei und eine Randlage zu einem Landschaftsschutzgebiet aufweise, nicht unterbleiben dürfen. Die Planung stelle auch nicht sicher, das - soweit das Leitungsrecht der Antragstellerinnen betroffen sei - „Leitungen tatsächlich nach etwaiger Verlegung auch wieder funktionieren könnten“. Problematisch sei aus Sicht der Antragstellerinnen auch die geplante Niederschlags-/Oberflächenentwässerung. Der „Entwässerungs-Konflikt“ sei „entgegen dem Grundsatz der Konfliktbewältigung nicht im Planungsverfahren gelöst“ worden. Befürchtet werde als Folge der Versiegelung auf dem hängigen Baugrundstück eine „Konzentration von Regenwasser“ mit einem „abrupten Zufluss auf das Wohnhausgrundstück der Antragstellerinnen, der auch durch das geplante Drosselungsbauwerk nicht ausreichend abgemildert“ werde. Gerade bei Starkregenereignissen sei - wegen der „bereits bisher überlasteten Mischwasserkanalisation“ - ein Rückstau zulasten der Antragstellerinnen zu befürchten. Ebenfalls befürchtete „Sickerschäden“ auf dem Grundstück der Antragstellerinnen seien „überhaupt nicht im Rahmen der Abwägung thematisiert“ worden. Auch die im Planaufstellungsverfahren angesprochene „Verkehrslärmproblematik sowie prekäre Parksituation“ sei ungelöst geblieben. Abwägungsfehlerhaft habe die Antragsgegnerin schließlich auch den potentiellen Konflikt in Bezug auf die geplante Wohnhausbebauung im Verhältnis zu einem Rinderstallvorhaben außerhalb des Plangebiets behandelt.
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Die Antragstellerinnen beantragen,
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den Bebauungsplan Nr. … „Q …weg“ der Antragsgegnerin für unwirksam zu erklären.
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Die Antragsgegnerin beantragt,
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den Antrag abzulehnen.
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Sie hält den Normenkontrollantrag wegen fehlender Antragsbefugnis für unzulässig, jedenfalls für unbegründet, weil der Bebauungsplan formell und materiell rechtmäßig sei. Wegen der Einzelheiten der Antragserwiderung wird auf den Schriftsatz der Antragsgegnerin vom 4. Mai 2022 verwiesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf die Gerichtsakte und die von der Antragsgegnerin vorgelegte Behördenakte Bezug genommen

Entscheidungsgründe

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Der zulässige Normenkontrollantrag ist begründet.
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1. Die Antragstellerinnen sind entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin antragsbefugt. Sie sind zwar nicht Eigentümerinnen eines Grundstücks im Plangebiet, sie können jedoch gleichwohl als Miteigentümerinnen zweier an das Plangebiet angrenzenden Grundstücke (FlNrn. 12/4 und 12/13) im Hinblick auf eine mögliche Verletzung des bauplanungsrechtlichen Abwägungsgebots (§ 1 Abs. 7 BauGB) geltend machen, durch den Bebauungsplan oder dessen Anwendung in ihren Rechten verletzt zu sein oder in absehbarer Zeit verletzt zu werden (47 Abs. 2 Satz 1 VwGO). Das Abwägungsgebot hat drittschützenden Charakter hinsichtlich solcher privaten Belange, die für die Abwägung erheblich sind. Der Belang des Schutzes des Grundeigentums (u.a.) der Antragstellerinnen vor Niederschlagswasser, das aus dem Plangebiet abfließt, ist abwägungsbeachtlich. § 1 Abs. 7 BauGB verlangt, dass der Bauleitplanung eine Erschließungskonzeption zugrunde liegt, nach der das im Plangebiet anfallende Niederschlagswasser so beseitigt werden kann, dass Gesundheit und Eigentum der Planbetroffenen - auch außerhalb des Plangebiets - keinen Schaden nehmen (vgl. BVerwG, U.v. 4.11.2015 - 4 CN 9/14 - juris Rn. 13 m.w.N.). Die Antragsgegnerin hat diesen Belang im Rahmen des Planaufstellungsverfahrens und ihres abschließenden Abwägungsvorgangs auch dementsprechend gewürdigt und im Hinblick auf die in Richtung (u.a.) der Antragstellerinnen abfallende Hanglage des Plangebiets (Geländeneigung von ca. 15 - 20%; vgl. S. 7 der Begründung des Bebauungsplans) und den „vermehrten und beschleunigten Abfluss von gesammeltem Oberflächenwasser“ (= Niederschlagswasser; vgl. S. 12 der Begründung des Bebauungsplans) infolge der „Versiegelung im Bereich der Baugrundstücke und Verkehrsflächen“ entschieden, das anfallende Regenwasser einem neu zu errichtenden Regenrückhaltebecken im Süden des Plangebiets (= den beiden Grundstücken der Antragstellerinnen unmittelbar gegenüber) zuzuführen. Damit ist eine etwaige Rechtsverletzung der Antragstellerinnen jedoch nicht schon offensichtlich ausgeschlossen. Für die Antragsbefugnis ist es auch nicht geboten, dass die Antragstellerinnen der Einschätzung der Antragsgegnerin substantiiert - etwa mittels eines Sachverständigengutachtens - entgegentreten, die Niederschlagswasserproblematik könne mit der Erschließungsplanung gelöst werden, denn ob dies tatsächlich der Fall ist - was vorliegend nach Aktenlage nicht offensichtlich ist - und ob damit die Antragsgegnerin im Rahmen der von ihr vorzunehmenden Abwägung der betroffenen privaten und öffentlichen Belange die Interessen der Antragstellerinnen tatsächlich fehlerfrei gewürdigt hat, ist keine Frage der Zulässigkeit, sondern der Begründetheit des Normenkontrollantrags (vgl. hierzu auch z.B. BVerwG, U.v. 4.11.2015 - 4 CN 9/14 - juris Rn. 13 m.w.N. sowie BayVGH, B.v. 14.12.2021 - 1 NE 21.2369 - juris Rn. 15). Ohnehin ist das Normenkontrollgericht nicht befugt, für die Entscheidung über die Antragsbefugnis den Sachverhalt von sich aus weiter aufzuklären (vgl. z.B. BVerwG, B.v. 21.12.2017 - 4 BN 12/17 - juris Rn. 11 m.w.N.). Auf die Frage, ob sich die Antragsbefugnis der Antragstellerinnen auch noch aus dem zu ihren Gunsten (Grundstück FlNr. 12/4) dinglich gesicherten und möglicherweise auf dem Plangebiet lastenden „Wasserbezugs-, -leitungs- und Betretungsrecht“ ergibt, sofern dieses Recht durch die Festsetzungen des Bebauungsplans überhaupt berührt wird, kommt es somit nicht mehr an (vgl. zur Problematik der Antragsbefugnis in Bezug auf ein dinglich gesichertes „Wasserbezugsrecht“ z.B. BayVGH, U.v. 14.12.2009 - 1 N 09.1654 - juris Rn. 28 ff. und - noch nicht veröffentlicht - BayVGH, B.v. 6.5.2022 - 15 NE 22.849, 15 NE 22.875). Sonstige Zweifel an der Zulässigkeit des Normenkontrollantrags bestehen nicht.
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2. Der Normenkontrollantrag ist begründet und der streitgegenständliche Bebauungsplan für unwirksam zu erklären, weil der Bebauungsplan nicht im beschleunigten Verfahren nach § 13b Satz 1 i.V. mit § 13a BauGB hätte aufgestellt werden dürfen und die Antragsgegnerin deshalb zu Unrecht von einer Umweltprüfung und einem Umweltbericht abgesehen hat. Dieser Verfahrensfehler (§ 214 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BauGB) ist nicht unbeachtlich geworden, weil die Antragstellerinnen ihn noch innerhalb der Jahresfrist (§ 215 Abs. 1 Satz 1 BauGB) schriftlich gegenüber der Antragsgegnerin gerügt haben.
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a) § 13b BauGB ermöglicht die Durchführung eines beschleunigten Verfahrens nur zu dem Zweck, die „Zulässigkeit von Wohnnutzungen“ zu begründen. In der obergerichtlichen Rechtsprechung ist geklärt, dass - soweit § 13b BauGB überhaupt die Möglichkeit der Festsetzung eines Allgemeinen Wohngebiets im vereinfachten Verfahren eröffnen sollte - der Satzungsgeber in diesem Fall zumindest gehalten ist, über § 1 Abs. 5 BauNVO diejenigen Nutzungen auszuschließen, die nach § 4 Abs. 3 Nr. 1 bis Nr. 5 BauNVO i.V. mit § 31 Abs. 1 BauGB ausnahmsweise zugelassen werden können. Denn Betriebe des Beherbergungsgewerbes, sonstige nicht störende Gewerbebetriebe, Anlagen für Verwaltungen, Gartenbaubetriebe sowie Tankstellen können auch im weitesten Wortsinnverständnis nicht vom Tatbestandsmerkmal „Wohnnutzungen“ als gedeckt angesehen werden (vgl. BayVGH, B.v. 4.5.2018 - 15 NE 18.382 - juris Rn. 37 m.w.N.; VGH BW, B.v. 14.4.2020 - 3 S 6/20 - juris Rn. 52 ff. m.w.N.; OVG SH, B.v. 24.11.2020 - 1 MR 10/20 - juris Rn. 40 m.w.N.; OVG NW, U.v. 10.2.2022 - 7 D 260/20.NE - juris Rn. 31 ff. m.w.N.). Der streitgegenständliche Bebauungsplan hat vorliegend jedoch nur Tankstellen und Gartenbaubetriebe für nicht zulässig erklärt.
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b) Die Wahl des beschleunigten Verfahrens anstelle des Regelverfahrens unter Verstoß gegen § 13b i.V. mit § 13a BauGB zählt an sich zwar nicht zu den beachtlichen Fehlern nach § 214 Abs. 1 BauGB, führt aber zu - hier gem. § 214, § 215 BauGB beachtlichen - Folgefehlern. Denn die Antragsgegnerin hat infolge der Anwendung des § 13b BauGB (i. V. mit § 13a Abs. 2 Nr. 1, § 13 Abs. 3 Satz 1 BauGB) eine Umweltprüfung im Sinn des § 2 Abs. 4 BauGB unterlassen und entgegen § 2a Satz 2 Nr. 2 und Satz 3 BauGB keinen Umweltbericht erstellt, der als Teil der Begründung (§ 2a Satz 3 BauGB) nach § 3 Abs. 2 Satz 1 BauGB mit dem Entwurf öffentlich auszulegen und nach § 9 Abs. 8 BauGB der Begründung beizufügen gewesen wäre. Diese Fehler sind nach § 214 Abs. 1 Nr. 3 BauGB beachtlich.
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c) Die Antragstellerinnen haben die fehlerhafte Anwendung des beschleunigten Verfahrens (§ 13b Satz 1 i.V. mit § 13a BauGB) und ausdrücklich auch den damit einhergehenden Verzicht auf die Umweltprüfung rechtzeitig in noch offener Jahresfrist des § 215 Abs. 1 Satz 1 BauGB schriftlich gegenüber der Antragsgegnerin gerügt, so dass der Verfahrensmangel nicht nachträglich unbeachtlich geworden ist. Die Jahresfrist, die mit der Bekanntmachung des Bebauungsplans am 30. April 2021 begonnen hat, endete regulär am 30. April 2022 (§ 187 Abs. 1, § 188 Abs. 2 BGB: der Tag der Bekanntmachung zählt bei der Berechnung der Jahresfrist nicht mit; vgl. Stock in Ernst-Zinkahn-Bielenberg, BauGB, Stand 1.8.2021, § 215 Rn. 37 m.w.N.). Da der 30. April 2022 auf einen Sonnabend fiel, endete die Jahresfrist tatsächlich erst am Montag, den 2. Mai 2022 (§ 193 BGB). An diesem Tag ist die Rügeschrift der Antragstellerinnen der Antragsgegnerin auch tatsächlich zugegangen.
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3. Für die gerichtliche Entscheidung kommt es nach alledem nicht mehr darauf an, ob der Bebauungsplan noch aus anderen von den Antragstellerinnen gerügten Gründen an einem beachtlichen und zur Unwirksamkeit des Bebauungsplans führenden Abwägungsfehler leidet.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V. mit §§ 708 ff. ZPO.
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5. Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor (§ 132 Abs. 2 VwGO).
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6. Gemäß § 47 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO muss die Antragsgegnerin die Ziffer I. der Entscheidungsformel nach Eintritt der Rechtskraft des Urteils in derselben Weise veröffentlichen, wie die Rechtsvorschrift bekanntzumachen wäre.