Titel:
Abschiebungsverfahren, Sicherungshaft, Beschleunigungsgebot, Zuständige Ausländerbehörde, Fluchtgefahr, Einstweilige Anordnung, Elektronischer Rechtsverkehr, Unerlaubte Einreise, Elektronisches Dokument, Betroffenheit, Aufgabe zur Post, Rechtliches Gehör, Algerische Staatsangehörige, Haftantrag, Vollziehbar Ausreisepflichtige, Darlegungserfordernisse, Verwaltungsgerichte, Einvernehmen der Staatsanwaltschaft, Sofortige Wirksamkeit der Entscheidung, Behörden
Schlagworte:
Tunesische Staatsangehörigkeit, Unerlaubte Einreise, Abschiebungshaft, Fluchtgefahr, Identitätstäuschung, Sicherungshaft, Charterflug
Rechtsmittelinstanzen:
LG Ingolstadt, Beschluss vom 28.02.2022 – 24 T 2788/21
BGH Karlsruhe, Beschluss vom 09.09.2025 – XIII ZB 36/22
Fundstelle:
BeckRS 2021, 69223
Tenor
1. Gegen den Betroffenen wird weitere Haft zur Sicherung der Abschiebung angeordnet, §§ 58 Abs. 1, Abs. 3, 62 AufenthG.
2. Die Haft endet spätestens mit Ablauf des 26.11.2021.
3. Die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung wird angeordnet.
Gründe
1
Der Betroffene ist tunesischer Staatsangehöriger.
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Der Betroffene reiste am 29.08.2021 von Österreich kommend unerlaubt in die Bundesrepublik Deutschland ein, ohne den für die Einreise erforderlichen Pass oder Passersatz (§§ 3 I, 14 I Nr. 1 AufenthG) oder den erforderlichen Aufenthaltstitel zu besitzen (§§ 4 Abs. 1, 14 I Nr. 2 AufenthG).
3
Der Betroffene wurde am 29.08.2021 in einem Fernreisezug von München nach Hof im Landkreis Neustadt a.d. Waldnaab/Oberpfalz zollrechtlich überprüft. Aufgrund verschiedener Bahntickets konnte ein Reiseweg von Italien kommend über Österreich nach Deutschland nachvollzogen werden. Eine Personenüberprüfung ergab, dass der Betroffene bereits am 28.08.2021 von der PI Steinach-Wipptal in Österreich wegen unerlaubten Aufenthalts erkennungsdienstlich behandelt und anschließend entlassen wurde, wobei der Betroffene Alialspersonalien mit algerischer Staatsangehörigkeit angab. Die unerlaubte Einreise von Österreich nach Deutschland erfolgte am 29.08.2021. Der Betroffene hatte bereits in den Jahren 2018 und 2019 mit tunesischem Reisepass Visaanträge für Frankreich gestellt; mittels deren Dokumentation erfolgt nun die Identifizierung des Betroffenen.
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Mit einstweiliger Anordnung des Amtsgerichts Weiden i.d. Opf. vom 30.08.2021 wurde Haft zur Sicherung der Abschiebung bis zum 08.10.2021 angeordnet. Im Weiteren wird auf die zutreffende Begründung des Beschlusses wird zur Vermeidung von Wiederholungen vollumfänglich Bezug genommen.
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Die beteiligte Ausländerbehörde beantragte am 30.09.2021 gegen den Betroffenen gemäß §§ 62 III, 60 AufenthG, 420, 425 III FamFG, die Haft zur Sicherung der Abschiebung bis zum Vollzug der Abschiebung, längstens jedoch bis zum 26.11.2021 anzuordnen.
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Im Rahmen der heutigen Vorführung wurde dem Betroffenen gemäß § 420 I 1 FamFG in der gebotenen Weise vor der Entscheidung rechtliches Gehör gewährt.
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Der Haftantrag der beteiligten Ausländerbehörde wurde dem Betroffenen vor der Anhörung übersetzt und damit der gesamte Antragsinhalt bekannt gegeben. Ein Abdruck des Antrags wurde dem Betroffenen überlassen. Der Betroffene war in der Lage, sich zu sämtlichen Angaben der beteiligten Behörde zu äußern. Es handelt sich vorliegend um einen überschaubaren Sachverhalt, den der Betroffene vor der Anhörung ausreichend erfassen konnte. Zudem hatte er bereits aufgrund der vorangegangenen polizeilichen Vernehmung sowie in dem Verfahren über die einstweilige Anordnung des Amtsgerichts Weiden i.d. Opf. Kenntnis von den tatsächlichen Umständen, die die Ausländerbehörde dem Antrag zugrunde gelegt hat.
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Bei der mündlichen Anhörung am heutigen Tag erklärte der Betroffene, dass er Einwände habe.
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Im Übrigen wird auf die Niederschrift vom heutigen Tag Bezug genommen.
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1. Die zuständige Ausländerbehörde hat den Haftantrag zulässig und ausreichend begründet.
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Der vorliegende Haftantrag genügt den Darlegungsanforderungen der obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. BGH vom 15.09.2011, Az V ZB 123/11; vom 10.05.2012, Az V ZB 246/11). Insbesondere werden verlangt – wie hier erfolgt – Darlegungen zu der zweifelsfreien Ausreisepflicht, zu den Ab-/Zurückschiebungsvoraussetzungen, zu der Erforderlichkeit der Haft, zu der Durchführbarkeit der Ab-/Zurückschiebung und zu der notwendigen Haftdauer, § 417 II 2 Nr. 3-5 FamFG. Das Darlegungserfordernis soll gewährleisten, dass das Gericht die Grundlagen erkennt, auf welche die Behörde ihren Antrag stützt, und dass das rechtliche Gehör d. Betroff. durch die Übermittlung des Haftantrags nach § 23 II FamFG gewahrt wird, wobei die Darlegungen knapp gehalten sein dürfen, solange sie die für die richterliche Prüfung wesentlichen Punkte des Falles ansprechen (BGH FGPrax 2011, 317).
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Das Gericht erachtet diese Voraussetzungen unter Bezugnahme auf I. für erfüllt.
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Ferner hat die Ausländerbehörde insbesondere schlüssig und nachvollziehbar dargelegt, warum die Sicherungshaft in der beantragten Länge erforderlich und unverzichtbar ist (vgl. auch BGH vom 12.09.2013, Az V ZB 171/12).
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Ferner hat die Ausländerbehörde insbesondere schlüssig und nachvollziehbar dargelegt, warum die Sicherungshaft in der beantragten Länge erforderlich und unverzichtbar ist (vgl. auch BGH vom 12.09.2013, Az. V ZB 171/12).
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Sie trägt hierzu plausibel vor:
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Der Betroffene solle nach Tunesien abgeschoben werden. In dem nachfolgend beschriebenen Verfahren werde der Betroffene durch das BPOLP Potsdam an den zuständigen Staat angeboten. Das hierzu erforderliche Konsultationsverfahren sei durch die hiesige Dienststelle bereits eingeleitet worden, das gesamte Verfahren dauere im vorliegenden Fall ca. 12 Wochen.
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1 Woche und 2 Tage wurden benötigt für die Übersendung der Unterlagen durch die BPOLI Waidhaus an das zuständige BPOLP Referat 25 in Potsdam, die dortige Erstellung der Anbieterunterlagen für ein durchzuführendes Passbeschaffungsverfahren und den Termin zur Übergabe der Unterlagen und Fingerabdrücke am 07.09.2021 bei der tunesischen Botschaft in Berlin.
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30 Tage (entsprechend genereller Absprache mit den tunesischen Behörden): Bereits seit dem 07.09.2021 laufe nach Auskunft des Ref. 25 des BPOLP Potsdam das Identifizierungsverfahren, was gleichzeitig den Beginn einer 30-tägigen Bearbeitungsfrist darstelle. Bei positiver Antwort (bis spätestens 07.10.2021) gelte der Betroffene als tunesischer Staatsbürger identifiziert.
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2 Wochen würden benötigt für die Beschaffung eines Passersatzpapiers bei der tunesischen Botschaft in Berlin, währenddesen der Betroffene zeitgleich ca. 2 Wochen vor der Abschiebung über die Botschaft in Tunesien angekündigt werden müsse.
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Aufgrund der Angaben des Betroffenen im Rahmen seiner Beschuldigtenvernehmung und gegenüber dem Amtsgericht Weiden i.d. Opf. Bestünde die Gefahr, dass sich dieser der Maßnahme widersetzen werde, weshalb die Abschiebung nur mittels gesicherter Chartermaßnahme stattfinden könne. Eine Überstellung mittels Sicherheitsbegleitung auf einem Linienflug erscheine aufgrund der bereits klar formulierten Widersetzungsabsicht nicht ausreichend. Es würden allmonatlich Charterflüge ab Leipzig nach Tunesien durchgeführt, die nächsten Termine wären am 13.10.2021 und am 24.11.2021. Aufgrund der noch laufenden 30-Tage-Bearbeitungsfrist und der weiteren erforderlichen zweiwöchigen Ankündigungsfrist wäre eine Abschiebung des Betroffenen frühestens am 24.11.2021 durchführbar. Eine Anmeldung für die frühere Chartermaßnahme am 13.10.2021 sei aufgrund der Ankündigungsfrist von 2 Wochen sowie der benötigten Zeit für die Ausstellung eines Passersatzpapiers durch die Botschaft nicht möglich.
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2 Tage mithin bis zum 26.11.2021 würden benötigt, um im Falle des Scheiterns der Überstellung die Möglichkeit zu sichern, den Betroffenen dem zuständigen Haftrichter vorzuführen und erneut Haftverlängerung zu beantragen.
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Für den Fall einer vorzeitigen Identifizierung des Betroffenen seitens des Staats Tunesien, werde seitens der BPOLI Waidhaus unter Beobachtung des Beschleunigungsgebots versucht, soweit zeitlich möglich, die zuvor stattfindende Chartermaßnahme wahrzunehmen.
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Die Dauer der Haft wird somit von der Behörde glaubhaft mit den für die Organisation und Durchführung der Abschiebung nach Tunesien notwendigen Erfordernissen, mithin mit der voraussichtlichen Dauer des Rücknahmeverfahrens begründet. Die im Antrag angegebenen einzelnen Zeitspannen sind für die organisatorische Realisierung der Abschiebung einerseits erforderlich, andererseits aber auch ausreichend.
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Sollte das Rücknahmeverfahren vor Ablauf der Frist abgeschlossen sein, so ist die Behörde aufgrund des Beschleunigungsgebots gehalten, den Betroffenen unverzüglich abzuschieben, vgl. auch § 62 I 2 AufenthG.
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Das Einvernehmen der Staatsanwaltschaft liegt vor / war wegen des geringen Strafverfolgungsinteresses nicht erforderlich, § 72 IV AufenthG.
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2. Mit dem unter I. geschilderten Sachverhalt liegen die Voraussetzungen einer unerlaubten Einreise gemäß § 14 Abs. 1 AufenthG vor. Der Betroffene ist damit auch vollziehbar ausreisepflichtig (§ 50 Abs. 1, 58 Abs. 2 AufenthG).
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3. Aufgrund der unter Ziffer 2 festgestellten vollziehbaren Ausreisepflicht besteht der Haftgrund des § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 AufenthG sowie der Haftgrund der Fluchtgefahr i.S.d. § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 AufenthG.
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a) Fluchtgefahr i.S.d. § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 AufenthG wird gem. § 62 Abs. 3a AufenthG unter den dort genannten Voraussetzungen grundsätzlich widerleglich vermutet bzw. können die unter § 62 Abs. 3b AufenthG genannten Umstände konkrete Anhaltspunkte für Fluchtgefahr sein. Grundsätzlich bedarf es auch insoweit immer einer umfassenden Betrachtung aller Umstände des Einzelfalls. Die Annahme der Entziehungsabsicht setzt konkrete Umstände, insbesondere Äußerungen oder Verhaltensweisen des Betroffenen voraus, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit darauf hindeuten oder es nahelegen, dass der Betroffene beabsichtigt, unterzutauchen oder die Ab-/Zurückschiebung in einer Weise zu behindern, die nicht durch einfachen, keine Freiheitsentziehung bildenden Zwang überwunden werden kann (BGH vom 03.05.2012, Az. V ZB 244/11; Renner, Ausländerrecht, zu § 62 Rn. 76).
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Vorliegend besteht aus folgenden Gründen Fluchtgefahr, d.h. der begründete Verdacht, dass sich der Betroffene der Abschiebung durch Flucht oder Untertauchen entziehen werde:
§ 62 Abs. 3a Nr. 1 AufenthG:
30
Der Betroffene reiste unerlaubt und ohne Identitätspapiere in das Bundesgebiet ein und täuschte die betraute Behörde, hier die Bundespolizei, über seine Identität, indem er bei der verantwortlichen Vernehmung falsche Personalien angab, um den Eindruck einer algerischen Staatsangehörigkeit zu erwecken und so eine Abschiebung nach Tunesien zu verhindern. Erst durch polizeiliche Recherchen in europäischen Datenbanken konnte seine tatsächliche Identität und seine tunesische Staatsangehörigkeit ermittelt werden. Diesen Umstand räumte der Betroffene im Rahmen seiner polizeilichen Einvernahme auch ein. Mithin hat der Betroffene eine mit dem AufenthG betraute Behörde über seine Identität getäuscht, indem er eine falsche Identität angab.
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Der Betroffene ist ohne gültigen Reisepass und Aufenthaltstitel unerlaubt nach Deutschland eingereist und hält sich unerlaubt i.S.d. AufenhG im Bundesgebiet auf. Während seiner polizeilichen Vernehmung äußerte er, dass er nicht gewillt sei, freiwillig nach Österreich oder gar in sein Heimatland zurückzukehren. Vielmehr kommt es ihm darauf an, einen unrechtmäßigen Aufenthalt in Deutschland zu begründen und damit dauerhaft gegen die Rechtsordnung zu verstoßen. Dies lässt darauf schließen, dass er, um dieses Vorhaben durchzusetzen, auch bereit ist, unterzutauchen um sich der Abschiebung zu entziehen.
§ 62 Abs. 3b Nr. 1 AufenthG:
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Wie oben erläutert, täuschte der Betroffene eine mit dem AufenthG betraute Behörde über seine Identität, indem er ohne eigene Berichtigung in einer für das Abschiebeverfahren relevanten Weise Identitäts- oder Reisepapiere nicht vorlegte und eine falsche Identität angab.
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Im Übrigen wird ergänzend auf die Gründe des Antrages Bezug genommen.
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4. Gründe, die ein Absehen von der Sicherungshaft gem. § 58 Abs. 1, Abs. 3, 62 Abs. 3 S. 3 AufenthG rechtfertigen können, sind nicht ersichtlich bzw. nicht glaubhaft gemacht.
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Im Übrigen liegen Ab/-Zurückschiebungshindernisse nicht vor. Ob die Abschiebung nachTunesien zu Recht erfolgt, ist nicht vom Haftrichter, sondern von den jeweils zuständigen Verwaltungsgerichten zu entscheiden (BGH vom 25.02.2010, Az V ZB 172/09); der Haftrichter ist letztlich nicht befugt, über das Vorliegen von Ab/Zurückschiebungshindernissen – mit wenigen Ausnahmen, die eine Sachverhaltsermittlung des Haftrichters erfordern (vgl. hierzu BGH aaO) – zu entscheiden.
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Umstände, die einer Durchführung der Abschiebung innerhalb der nächsten 3 Monaten aus Gründen, die d. Betroff. nicht zu vertreten hat, bzw. innerhalb von 6 Monaten nach seiner Einreise, entgegenstehen, sind nicht erkennbar (§ 62 Abs. 3 S. 3, IV 1 AufenthG).
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5. Ein milderes Mittel als die Inhaftierung des Betroffenen im Sinne von § 62 Abs. 1 AufenthG ist nicht ersichtlich. Die Anordnung der Haft ist geeignet, um die Abschiebung des Betroffenen nach Tunesien zu sichern. Sie ist erforderlich, da angesichts der Gesamtumstände ausgeschlossen erscheint, dass der Betroffene sich einer freiwilligen Ausreise stellen werde und damit mildestes Mittel zur Aufenthaltsbeendigung des Betroffenen. Insbesondere ist angesichts der unter Ziff. 3 dargelegten Gründe eine Hinterlegung von Ausweispapieren beziehungsweise eine Meldeauflage oder die Auflage, sich an einem bestimmten Ort aufzuhalten, nicht ausreichend.
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Das Verfahren beruht auf den §§ 416, 418, 419, 420, 421 FamFG.
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Die Anordnung der sofortigen Wirksamkeit der Entscheidung beruht auf § 422 Abs. 2 FamFG.