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VG München, Urteil v. 05.10.2021 – M 2 K 17.36591
Titel:

Asyl, Herkunftsland Afghanistan, Abschiebungsverbot, Machtübernahme durch die Taliban

Normenkette:
AufenthG § 60 Abs. 5
Schlagworte:
Asyl, Herkunftsland Afghanistan, Abschiebungsverbot, Machtübernahme durch die Taliban
Fundstelle:
BeckRS 2021, 62946

Tenor

I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt.Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 21.3.2017 wird in den Nrn. 4, 5 und 6 aufgehoben.Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen.
II. Von den Kosten des Verfahrens tragen der Kläger 2/3, die Beklagte 1/3.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

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Der 19... geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger, zugehörig zur Volksgruppe der Hazara und schiitisch-islamischen Glaubens. Er reiste am 17. März 2015 ins Bundesgebiet ein. Am 18. Mai 2015 stellte er einen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt).
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Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 23. November 2016 trug er vor, er habe Afghanistan verlassen, weil er bei seiner Arbeit auf einer Baustelle versehentlich seinen Kollegen tödlich am Kopf verletzt habe und nun die Rache der Familie des Verstorbenen fürchte. Außerdem würden Hazaras von den Taliban bedroht und verfolgt.
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Mit Bescheid vom 21. März 2017, zugestellt am 27. März 2017, lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), auf Asylanerkennung (Nr. 2) und auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (Nr. 3) ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz – AufenthG – nicht vorliegen (Nr. 4). Die Abschiebung nach Afghanistan wurde angedroht (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Auf die Begründung des streitgegenständlichen Bescheids wird verwiesen.
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Hiergegen ließ der Kläger am *. April 2017 Klage erheben mit den Anträgen:
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I. Der Bescheid der Beklagten vom 21.3.2017, zugestellt am 27.3.2017, wird aufgehoben.
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II. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger internationalen Schutz nach §§ 3, 4 AsylG zuzuerkennen,
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III. Hilfsweise: Die Beklagte wird verpflichtet, Abschiebungshindernisse gem. § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG festzustellen.
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Zur Begründung der Klage wird auf den Schriftsatz des Klägerbevollmächtigten vom … April 2017 Bezug genommen.
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Mit Beschluss vom 22. Juli 2021 wurde die Verwaltungsstreitsache zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
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In der mündlichen Verhandlung am 5. Oktober 2021 beschränkte der Klägerbevollmächtigte die Klage auf die Feststellung von Abschiebungsverboten und nahm die Klage im Übrigen zurück.
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Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf die Gerichtsakten, die Behördenakten sowie die Niederschrift der mündlichen Verhandlung am 5. Oktober 2021 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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1. Soweit die Klage hinsichtlich Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzes (Nrn. 1 und 3 des streitgegenständlichen Bescheids) zurückgenommen worden ist, war das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen.
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2. Über den Rechtsstreit konnte trotz des Ausbleibens der Beklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung entschieden werden, da sie fristgemäß geladen wurde und in der Ladung darauf hingewiesen wurde, dass bei Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne diesen verhandelt und entschieden werden könne (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
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3. Die Klage ist hinsichtlich des nationalen Abschiebungsverbotes des § 60 Abs. 5 AufenthG begründet. Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) einen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, bedarf damit keiner Prüfung. Bei den national begründeten Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK und dem nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG handelt es sich um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand (BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – BVerwGE 140, 319 Rn. 16f.).
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a) Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, U. v. 11.11.1997 – 9 C 13.96 – BVerwGE 105, 322) umfasst der Verweis auf die Konvention lediglich Abschiebungshindernisse, die in Gefahren begründet liegen, welche dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen (zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse). In diesem Zusammenhang kommt vor allem eine Verletzung des Art. 3 EMRK in Frage. Wegen des absoluten Charakters des garantierten Rechts ist Art. 3 EMRK nicht nur auf eine von staatlichen Behörden ausgehende Gefahr, sondern auch dann anwendbar, wenn die Gefahr von Personen oder Gruppen herrührt, die keine staatlichen Organe sind, jedenfalls dann, wenn die Behörden des Empfangsstaates nicht in der Lage sind, der Bedrohung durch die Gewährung angemessenen Schutzes vorzubeugen (NdsOVG, U.v. 24.9.2019 – 9 LB 136.19 – juris Rn. 66, 105).
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Soweit ein für die Verhältnisse eindeutig maßgeblich verantwortlicher Akteur fehlt, können in ganz außergewöhnlichen Fällen auch (schlechte) humanitäre Verhältnisse im Zielstaat Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung zwingend sind (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 12; B.v. 23.8.2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 9: „nur in besonderen Ausnahmefällen“). Die Voraussetzungen können erfüllt sein, wenn der Ausländer nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls im Zielstaat der Abschiebung seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann (vgl. BVerwG, B.v. 23.8.2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 11). Der EuGH stellt in seiner neueren Rechtsprechung zu Art. 4 Grundrechte-Charta darauf ab, ob sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und Unterkunft zu finden, und die ihre physische und psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. EUGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. – juris Rn. 89 ff.). Die dargestellte Rechtsprechung macht letztlich deutlich, dass von einem sehr hohen Gefahrenniveau auszugehen ist; nur dann liegt ein „ganz außergewöhnlicher Fall“ vor, in dem die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind (BayVGH, U.v. 26.10.2020 – 13a B 20.31087- juris Rn. 21; NdsOVG, U.v. 29.1.2019 – 9 LB 93/18 – juris Rn. 51; BVerwG, B.v. 13.2.2019 – 1 B 2.19 – juris Rn. 10; OVG NW, U.v. 18.6.2019 – 13 A 3930/18 – juris Rn. 111f.).
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Auch im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ist der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zugrunde zu legen; erforderlich, aber auch ausreichend, ist daher die tatsächliche Gefahr („real risk“) einer unmenschlichen Behandlung (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – juris Rn. 22). Bei der Prüfung einer Verletzung von Art. 3 EMRK ist grundsätzlich auf den gesamten Abschiebungszielstaat abzustellen und zunächst zu prüfen, ob eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung an dem Ort droht, an dem die Abschiebung endet (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris Rn. 26; BayVGH, U.v. 26.10.2020 – 13a B 20.31087- juris Rn. 22; NdsOVG, U.v. 24.9.2019 – 9 LB 136.19 – juris Rn. 118; OVG NW, U.v. 28.8.2019 – 9 A 4590/18.A – juris Rn. 175).
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b) Die Verbürgungen der Konvention begründen im vorliegenden Fall des Klägers ein Abschiebungsverbot. Es ist nicht (mehr) davon auszugehen, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan in der Lage sein wird, für sich als Einzelperson das Existenzminimum zu bestreiten (vgl. insoweit zur aktuellen Lage VG München, U.v. 30.9.2021 – M 2 K 17.47622; B.v. 3.9.2021 – 6 S 21.31054 – BeckRS 2021, 26860 Rn. 18 ff.; VG Düsseldorf, U.v. 30.8.2021 – 25 K 3504/18.A – juris Rn. 23 ff.; s.a. Bundesverwaltungsgericht der Republik Österreich, Entscheidung vom 18.8.2021 – W 228 2241306-1 [veröffentlicht in juris]).
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aa) Bereits vor der Machtübernahme der Taliban war die wirtschaftliche und humanitäre Lage der Bevölkerung in Afghanistan in besorgniserregendem Maß schlecht. Mit der Machtübernahme, die sich nahezu über das gesamte Land erstreckt – zuletzt erfolgte die Einnahme der Stadt Kabul am 15. August 2021 –, dem Ende der Islamischen Republik Afghanistan und der Ausrufung des Islamischen Emirats Afghanistan haben sich die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Afghanistan in kürzester Zeit grundlegend geändert (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Sonderkurzinformation der Staatendokumentation v. 17.8.2021). Dies bleibt nicht ohne Folgen für die humanitären Verhältnisse in Afghanistan, denen nicht nur die dort bisher schon lebende dortige Bevölkerung, sondern in besonderen Maße angesichts einer meist mehrjährigen Abwesenheit auch die Rückkehrer ausgesetzt sind.
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bb) Die durch die Machtübernahme der Taliban ausgelöste politische Instabilität und der Nachfragedruck bei Fremdwährungen führten zu einem deutlichen Anstieg des Wechselkurses; der Afghani fiel auf ein neues Rekordtief. Da die meisten (selbst Grund-) Nahrungsmittel importiert werden müssen, führt jeder Wertverlust des Afghani zu einem Anstieg der Lebensmittelpreise. Dementsprechend sind die ohnehin schon hohen Preise für Weizen, Weizenmehl, Reis, Hülsenfrüchte, Salz und Zucker in den letzten Wochen enorm gestiegen (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, briefing notes, „Humanitäre Lage“, Stand: 4.10.2021). Gleichzeitig sanken die Beschäftigungsmöglichkeiten seit Anfang August drastisch um 10,5% auf 2,1 Tage/Woche und ebenso der Lohn für Tagelöhner. Angesichts dieser Umstände ist es für viele Haushalte schwer, sich ausreichend Lebensmittel zu kaufen (vgl. UN World Food Programme, vulnerability analysis and mapping, food security analysis, Afghanistan, countrywide market price bulletin, 22.8.2021; zur aktuellen Wirtschaftslage/Versorgung vgl. auch Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, briefing notes v. 6.9.2021).
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Weiter wird der Zugang zu Grundnahrungsmitteln durch das Fehlen von funktionierenden Banken und Geldautomaten sowie durch Unsicherheit und Mobilitätseinschränkungen eingeschränkt. Zudem werden zu erwartende Grenzschließungen der Nachbarländer Afghanistans und Bewegungseinschränkungen durch Kontrollpunkte der Taliban innerhalb Afghanistans schon bisher bestehende logistische Schwierigkeiten vertiefen und zur zumindest zeitweisen Unterbrechung von Lieferketten führen. Die Auswirkungen von Dürre, der Coronavirus-Pandemie, des Konflikts und der humanitären Zugangsbeschränkungen nach dem Machtwechsel werden die Ernährungssicherheit im Land weiterhin verschlechtern (vgl. ACAPS, thematic report, Afghanistan, humanitarian impact and trend analsysis, 23.8.2021; vgl. BVerwG, B.v. 22.9.2020 – 1 B 39.20 – juris Rn. 6 zur Berücksichtigung auch der direkten und indirekten Auswirkungen einer Pandemie, die im Zusammenspiel mit anderen Faktoren eine Situation bewirken können, die als Gefahr i.S.d. § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK zu werten ist).
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cc) Eine Trendwende ist nicht in Sicht. Zwar sind die Kampfhandlungen seit der Machtübernahme durch die Taliban zurückgegangen. Gleichwohl ist der Bedarf an humanitärer Hilfe in Afghanistan enorm hoch (vgl. UNHCR, briefing notes, UNHCR warns that humanitarian needs in Afghanistan cannot be forgotten, 20.8.2021). Etwa 14 Millionen Menschen sind unterernährt. Aktuell wurde berichtet, dass der afghanische Staat aus dem Ausland importierten Strom nicht mehr bezahlen könne und die Gefahr eines Blackouts für den Winter drohe. Insgesamt stehe Afghanistan vor einem sozio-ökonomischen Kollaps (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, briefing notes, „Humanitäre Lage“, Stand: 4.10.2021). Nach Mitteilung des Internationalen Währungsfonds (IWF) hat Afghanistan keinen Zugang mehr zu seinen Geldern. Eine Kreditlinie von rund 460 Millionen Dollar wurde gesperrt; die US-Regierung hat Bargeldlieferungen nach Kabul gestoppt und Afghanistans Gold- und Devisenreserven eingefroren (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, briefing notes, „Humanitäre Lage“, Stand: 27.9.2021; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Sonderkurzinformation der Staatendokumentation v. 20.8.2021; tagesschau.de, Taliban ohne Zugriff auf Devisenreserven“, Stand 18.8.2021). Die Beklagte setzte auch die staatliche Entwicklungshilfe aus (vgl. tagesschau.de, „Deutschland setzt Entwicklungshilfe aus“, „Werden keinen Cent mehr nach Afghanistan geben“, Stand 17. und 12.8.2021). Die internationalen Hilfsorganisationen werden in der humanitären Krise auf absehbare Sicht kaum Unterstützung leisten können. Mitarbeiter von Hilfsorganisationen waren bereits in der Vergangenheit bevorzugtes Ziel von Gewalt vormals regierungsfeindlicher Kräfte, namentlich auch der Taliban (vgl. UNAMA, protection of civilians in armed conflict, midyear update, Juli 2021, S. 5 ff.; Länderinformation, S. 273 ff.). Angesichts der zweifelhaften Sicherheitslage sind deshalb derzeit viele Büros der Hilfsorganisationen geschlossen und viele ausländische bzw. internationale Mitarbeiter haben das Land verlassen (vgl. tagesspiegel.de, „Wie Hilfsorganisationen in Afghanistan weiterarbeiten wollen“, Stand 24.8.2021; ACAPS, thematic report, Afghanistan, humanitarian impact and trend analsysis, 23.8.2021). Daran ändern auch Bekundungen der Taliban nichts, wonach Hilfsorganisationen im Land verbleiben könnten und sie keine Vergeltungsmaßnahmen zu befürchten hätten. Ob hierauf vertraut werden kann, ist aber fraglich (vgl. derstandard.de, „Herrschaft der Taliban: Lange Hemden und islamische Fernsehsendungen“, Stand 17.8.2021; amnesty international, „Afghanistan: Taliban verantwortlich für brutales Massaker an Hazara-Männern“, Stand 20.8.2021; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, briefing notes, „Anschläge auf Zivilisten“, Stand 16.8.2021).
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dd) Außerdem besteht für den Kläger auch im Fall der freiwilligen Ausreise keine Möglichkeit mehr, die bislang verfügbaren nicht unerheblichen Rückkehr- und Starthilfen im Rahmen des REAG/GARP- und des ERRIN-Programms sowie weitere Unterstützungsleistungen für Rückkehrer in Anspruch zu nehmen. Seit dem 17. August 2021 ist die geförderte freiwillige Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der sich stark verschlechternden Sicherheitslage in Afghanistan bis auf Weiteres ausgesetzt. (Quelle: https://www.returningfromgermany.de/de/countries/afghanistan).
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ee) Zur individuellen Situation des Klägers sei auf Folgendes hingewiesen. Der Kläger ist gesund. Er hat in Deutschland die Mittelschule besucht und arbeitet seit ca. 2 Jahren als Lagerarbeiter. In Afghanistan hat er die Schule bis zur achten Klasse besucht und nachmittags im Laden des Onkels als Schweißer gejobbt. In Afghanistan leben seine Verlobte sowie eine Tante und ein Onkel. Der Rest der Familie lebt nicht mehr in Afghanistan. Selbst wenn es dem Kläger jedoch gelänge, tatsächlich zu seinen eher entfernten Familienmitgliedern oder seiner Verlobten zu gelangen, was schon vor der Machtübernahme durch die Taliban nicht immer möglich war, wäre eine Unterstützung durch diese sehr fraglich. Bereits in der ersten Jahreshälfte war die Möglichkeit und die Bereitschaft von Angehörigen der (Groß-)Familie zur Unterstützung meist nur temporär und nicht immer gesichert (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation v. 11.6.2021, S. 391). Aufgrund der oben ausgeführten mittlerweile deutlich schlechteren wirtschaftlichen Lage kann auf eine solche Unterstützung noch weniger gehofft werden. Vielmehr ist es wahrscheinlich, dass vom erwachsenen – und verlobten – Kläger erwartet würde, dass er zur Versorgung der (Groß-)Familie beiträgt und nicht auf deren Kosten lebt. Zwar ist anzunehmen, dass der Kläger eine der Landessprachen spricht. Allerdings ist er seit sechs Jahren in Europa und wird im Falle einer Rückkehr mit hoher Wahrscheinlichkeit jedenfalls zunächst als verwestlichter und verweichlichter Rückkehrer wahrgenommen werden. Es ist davon auszugehen, dass ihm nach diesem langen Zeitraum die Regeln und Sozial- und Verhaltenskodizes vor Ort nicht so vertraut sind, dass er dem ihm aller Voraussicht nach entgegengebrachten Misstrauen durch die Bevölkerung und gegebenenfalls auch durch die Familie oder Teilen der Familie ausreichendes entgegenzusetzen hätte. UNHCR und Human Rights Watch berichten, dass es trotz der von den Taliban verkündeten Amnestie in verschiedenen Landesteilen zu Massenhinrichtungen von früheren afghanischen Regierungsmitarbeitern und ehemaligen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte gekommen sei (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, briefing notes, „Menschenrechtsverletzungen durch Taliban“, Stand: 30.8.2021), so dass sich die Bevölkerung aus Furcht vor Racheakten der Taliban eher zurückhaltend mit einem Rückkehrer aus dem Westen, den die Taliban als solchen in den Blick nehmen werden, einlassen dürften. Dies erschwert zum einen die Schaffung bzw. den Ausbau des so wichtigen sozialen Netzwerks und gilt auch vor allem für potenzielle Arbeitgeber, die stets befürchten werden /müssen, dass nicht nur der Kläger, sondern auch sie selbst in den Fokus der Taliban geraten.
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In Zusammenschau dieser Aspekte und der vorangestellten Ausführungen zu den humanitären und gesellschaftlichen Bedingungen in Afghanistan – insbesondere für Rückkehrer – ist das Gericht davon überzeugt, dass beim Kläger stichhaltige Gründe dafür vorliegen, dass er im Fall seiner Abschiebung nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit seinen existenziellen Lebensunterhalt nicht wird sichern können.
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4. Nach alledem war der Klage hinsichtlich § 60 Abs. 5 AufenthG stattzugeben und waren auch die Abschiebungsandrohung und das auf 30 Monate festgesetzte Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 AufenthG aufzuheben.
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5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO bzw., soweit die Klage zurückgenommen wurde, § 155 Abs. 2. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.