Inhalt

VG Würzburg, Urteil v. 25.10.2021 – W 7 K 20.961
Titel:

Verlustfeststellung im Freizügigkeitsrecht 

Normenketten:
FreizügG/EU § 1 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 lit. b, Nr. 3 lit. b, § 3 Abs. 1 S. 1, § 4, § 4a, § 5 Abs. 4 S. 1, § 7
VwGO § 114
Leitsätze:
1. Dem drittstaatsangehörigen Elternteil, der tatsächlich für das Kind mit Unionsbürgerstatus sorgt, muss der Aufenthalt mit dem Kind im Aufnahmestaat ermöglicht werden, weil das Kind für seinen Aufenthalt auf die Personensorge und Unterhaltsgewährung des drittstaatsangehörigen Elternteils angewiesen ist. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es fehlt an einer rechtmäßigen Ermessensentscheidung, wenn die Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 S. 1 FreizügG/EU auf eine im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht mehr zutreffende Tatsachengrundlage gestützt wird. Bei einer entscheidungserheblichen Entwicklung des Sachverhaltes muss die Behörde ihre Ermessensentscheidung anpassen. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Freizügigkeitsrecht, Verlustfeststellung wegen Fehlens gesetzlicher Voraussetzungen, Familienangehöriger, Eingetragene Partnerschaft, Verwandter in aufsteigender Linie, Unterhaltsgewährung, Ausreichende Existenzmittel, Ermessensfehler, Einreise- und Aufenthaltsverbot ausgeschlossen
Fundstelle:
BeckRS 2021, 49922

Tenor

I. Der Bescheid der Stadt Aschaffenburg vom 9. Juli 2020 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu vollstreckenden Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger wendet sich gegen die Feststellung des Verlustes seines Freizügigkeitsrechts als Familienangehöriger eines Unionsbürgers sowie gegen die damit verbundene Abschiebungsandrohung und Anordnung eines befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbots.
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1. Der am … … … geborene Kläger ist ghanaischer Staatsangehöriger. Er reiste am 1. Mai 2019 mit einem griechischen Aufenthaltstitel zum Familiennachzug (gültig bis 16.7.2028) in das Bundesgebiet ein. Am 29. Mai 2019 meldete er seinen Einzug in seine Wohnung in G. im Landkreis A. zum 1. Mai 2019. Am 19. Juni 2019 zogen seine Lebensgefährtin, eine griechische Staatsangehörige, und die am 18. Juni 2013 geborene gemeinsame Tochter griechischer Staatsangehörigkeit zum Kläger nach. Zum 1. Juli 2019 wurde der Fortzug der Lebensgefährtin ins Ausland gemeldet, während die Tochter in G. gemeldet blieb.
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Am 29. Juli 2019 wurde dem Kläger eine Aufenthaltskarte für EU-Bürger mit Gültigkeit bis 23. Dezember 2019 ausgestellt, welche am 19. Dezember 2019 bis 18. Dezember 2024 verlängert wurde. Bei der Antragstellung hatte der Kläger angegeben, dass seine Tochter bei ihm in Deutschland bleiben werde.
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Am 27. Februar 2020 meldete sich der Kläger rückwirkend zum 1. Dezember 2019 im Stadtgebiet der Beklagten an. Seine minderjährige Tochter blieb weiterhin in G. gemeldet.
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Nach Angaben der Grundschule G. gegenüber der Beklagten (vgl. Vermerk vom 11.3.2020, Bl. 61 der Behördenakte) war die schulpflichtige Tochter des Klägers dort trotz einer Vorsprache ihrer Eltern nicht zur Einschulung angemeldet. Die Eltern hätten angegeben, dass die Mutter mit der Tochter zurück nach Griechenland gehen werde, um das ungeborene Geschwisterkind zu entbinden. Da sie in Deutschland über keinen Krankenversicherungsschutz verfüge, bleibe ihr keine andere Möglichkeit. Ihre Tochter könne nicht in Deutschland beim Vater bleiben, da dieser arbeite und deshalb nicht in der Lage sei, sich um das Kind zu kümmern. Die beabsichtigte Aufenthaltsdauer in Griechenland sei noch nicht bekannt. Die Kindesmutter habe jedoch die Absicht geäußert, so bald wie möglich zusammen mit den Kindern wieder nach Deutschland zu kommen.
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Des Weiteren hatte der ehemalige Vermieter des Klägers in G. gegenüber der Polizeiinspektion A. angegeben, dass die Tochter des Klägers seit Juli 2019 nicht mehr in G. wohne. Sie halte sich vermutlich bei ihrer Mutter in Griechenland auf.
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Mit Schreiben vom 29. April 2020 wurde dem Kläger Gelegenheit gegeben, zur beabsichtigten Feststellung des Verlustes seines Freizügigkeitsrechtes Stellung zu nehmen. Dieser übersandte daraufhin per E-Mail eine „rechtsverbindliche Erklärung“ vom 5. Mai 2020, bestätigt durch das Ministerium für digitale Governance, in griechischer Sprache mit deutscher Übersetzung (Bl. 83 bis 86 der Behördenakte). Darin erklärt seine Lebensgefährtin, dass sie mit ihrer Tochter nach Griechenland gereist sei, um den Sohn P. zur Welt zu bringen und danach wieder nach Deutschland zurückzukehren. Aufgrund der Corona-Pandemie sei jedoch die Ausreise nicht möglich gewesen, weshalb sie für die Dauer der Ausgangssperre in Griechenland geblieben seien. Sie warte nun, bis die Flughäfen wieder in Betrieb seien, um dann nach Deutschland zurückfliegen zu können. Des Weiteren legte der Kläger eine griechische Geburtsurkunde einschließlich deutscher Übersetzung für seinen Sohn P., geboren am 9. August 2019 in Athen, vor (Bl. 92 bis 100 der Behördenakte).
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Mit E-Mail-Nachricht vom 7. Juli 2020 teilte der Kläger unter Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung einer gynäkologischen Klinik mit, dass seine Lebensgefährtin sich in der 34. Schwangerschaftswoche befinde. Das voraussichtliche Datum der Niederkunft sei der 2. August 2020 (Bl. 117 der Behördenakte). Des Weiteren wurden ein Anstellungsvertrag für den Kläger vom 2. August 2019, Gehaltsabrechnungen für den Zeitraum von Februar bis Mai 2020 sowie ein Wohnraummietvertrag über ca. 26 m² (1-Zimmer-Wohnung) in A. vorgelegt.
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2. Mit Bescheid vom 9. Juli 2020, dem Kläger am 15. Juli 2020 zugestellt, stellte die Beklagte den Verlust des Freizügigkeitsrechtes für die Bundesrepublik Deutschland fest (Ziffer 1 des Bescheides), forderte den Kläger auf, seine am 19. Dezember 2020 ausgestellte Aufenthaltskarte unverzüglich herauszugeben (Ziffer 2) sowie das Bundesgebiet innerhalb eines Monats nach Eintritt der Unanfechtbarkeit des Bescheides zu verlassen, andernfalls die Abschiebung nach Griechenland oder in einen anderen Staat, in welchen der Kläger einreisen dürfe bzw. der zu seiner Übernahme verpflichtet sei, angedroht werde (Ziffer 3). Für den Fall der Abschiebung wurde gegen den Kläger ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet, welches auf die Dauer von zwei Jahren ab dem Tag der Abschiebung befristet wurde (Ziffer 4).
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, es sei bereits fraglich, ob der Anwendungsbereich des Freizügigkeitsgesetzes/EU - FreizügG/EU - eröffnet sei, da die Tochter des Klägers sich nach den Erkenntnissen der Beklagten lediglich vom 19. Juni bis 1. Juli 2019 im Bundesgebiet aufgehalten habe. Ein dauerhafter Aufenthalt im Bundesgebiet sei offensichtlich nicht beabsichtigt gewesen. Somit sei die tatbestandliche Voraussetzung des „Begleitens bzw. Nachziehens“ nicht gegeben. Darüber hinaus genüge es nach dem eindeutigen Wortlaut der Norm nicht, dass der Familienangehörige dem Unionsbürger i.S. von § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU Unterhalt gewähre. Zwar verlange eine unionsrechtskonforme Auslegung der Vorschrift, entgegen dem Wortlaut in bestimmten Ausnahmefällen auch die umgekehrte Konstellation zu erfassen, in welcher ein drittstaatenangehöriger Verwandter in aufsteigender Linie (hier der Vater) dem Unionsbürger (hier der Tochter) Unterhalt gewähre. Da sich die Tochter des Klägers nicht im Bundesgebiet aufhalte, stelle sich aber nicht die Frage, ob diese über ein Aufenthaltsrecht verfüge, welches ohne die Gewährung eines Aufenthaltsrechtes an den Kläger praktisch wirkungslos wäre. Somit seien eine erweiternde Auslegung oder ein Analogieschluss zum Begriff des „Familienangehörigen“ vorliegend nicht zielführend. Auch unter der Annahme, dass der Anwendungsbereich des FreizügG/EU anfänglich trotz des äußerst kurzen Aufenthaltes der Tochter von lediglich 13 Tagen eröffnet gewesen sei, habe der Kläger sein Freizügigkeitsrecht zwischenzeitlich verloren, da diese das Bundesgebiet bereits am 1. Juli 2019 wieder verlassen habe und deshalb automatisch das abgeleitete Recht des Klägers erloschen sei.
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Der Kläger habe seinen ständigen rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet am 1. Mai 2019 begründet, somit sei die Anwendung des § 5 Abs. 4 FreizügG/EU nicht bereits aufgrund des Erwerbs eines Daueraufenthaltsrechtes ausgeschlossen. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) sei in den Fällen, in welchen die Voraussetzungen für das Freizügigkeitsrecht nicht mehr vollumfänglich vorlägen, eine Verhältnismäßigkeitsprüfung im Rahmen der Ermessensentscheidung durchzuführen. Dabei seien die in § 53 Abs. 2 und § 55 AufenthG genannten Umstände zu gewichten und gegen die öffentlichen Interessen am Verlassen des Bundesgebietes abzuwägen. Bleibeinteressen des Klägers seien nicht erkennbar. Er sei im Erwachsenenalter nach Deutschland eingereist, seine Sozialisierung habe somit außerhalb Deutschlands stattgefunden. Seine Aufenthaltsdauer betrage insgesamt etwa ein Jahr. Inwieweit er sich Bindungen aufgebaut habe, sei nicht bekannt. Schützenswerte Bindungen nach Art. 8 EMRK seien jedoch nicht erkennbar und auch nicht geltend gemacht worden. Die Lebensgefährtin sowie die beiden Kinder des Klägers hielten sich in Griechenland auf, weshalb durch eine Verlustfeststellung auch keine nach Art. 6 GG geschützten Bindungen tangiert würden. Eine Rückkehr nach Griechenland sei dem Kläger somit möglich und zumutbar, zumal er offensichtlich als Familienangehöriger griechischer Staatsbürger über ein entsprechendes Aufenthaltsrecht verfüge. Dieses ermögliche ihm einen uneingeschränkten Arbeitsmarktzugang. Es sei daher davon auszugehen, dass der Kläger sich dort (erneut) eine ausreichende Existenzgrundlage aufbauen könne. Das Aufrechterhalten etwaiger persönlicher Beziehungen vom Ausland aus über moderne Kommunikationsmittel könne ihm zugemutet werden. Nach der Aktenlage überwögen somit die öffentlichen Interessen an der Beendigung des Aufenthaltes des Klägers dessen persönliche Interessen an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet. Es sei berücksichtigt worden, dass (zumindest anfänglich) eine baldige Rückkehr der Lebensgefährtin und der Kinder des Klägers nach Deutschland beabsichtigt gewesen sei. Aus unbekannten Gründen habe die Lebensgefährtin jedoch nach der Geburt des Sohnes P. am 9. August 2019 nicht alsbald die Rückkehr geplant. Dies wäre zeitlich bis zum Ausbruch des Corona-Virus bzw. vor dem Eintritt sämtlicher durch die Pandemie veranlassten Einreiserestriktionen möglich gewesen. Insofern müsse die rechtsverbindliche Erklärung der Kindesmutter vom 5. Mai 2020 als reine Schutzbehauptung gewertet werden. Vor dem Hintergrund, dass diese sich nach der ärztlichen Bescheinigung vom 15. Juni 2020 in der 34. Woche einer weiteren Schwangerschaft befinde, sei ihr Bestreben einer baldigen Rückkehr nach Deutschland stark in Zweifel zu ziehen. Es erschließe sich auch nicht, weshalb diese Schwangerschaft nicht bereits in der Anhörung mitgeteilt worden sei. Ohnehin wäre es zur Begründung eines Aufenthaltsrechtes erforderlich, dass der Kläger in der Lage sei, seiner Familie ausreichende finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen, so dass die Kindesmutter als nicht erwerbstätige Unionsbürgerin nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt sei. Dies sei unter den aktuellen Gegebenheiten zu verneinen, da es dem Kläger mit einem Einkommen von monatlich etwa 1.200,00 EUR netto nicht möglich sein werde, den Lebensunterhalt einer fünfköpfigen Familie ausreichend sicherzustellen. Da der Umzug in eine größere Wohnung notwendig würde, wäre dann auch von einer höheren monatlichen Wohnraummiete auszugehen. In diese Abwägung fließe darüber hinaus ein, dass der Kläger gegenüber der Ausländerbehörde mitgeteilt habe, dass seine Tochter bei ihm in Deutschland bleiben werde. Des Weiteren habe er eine Abmeldung der Tochter beim Einwohnermeldeamt nach deren Wegzug unterlassen und damit den Eindruck erweckt, dass diese sich weiterhin in Deutschland aufhalte. Er habe somit unwahre Angaben gemacht, um sich ein Aufenthaltsrecht zu sichern. Auf die weiteren Gründe des Bescheides wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen.
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3. Am 27. Juli 2020 ließ der Kläger durch seinen Bevollmächtigten Klage erheben.
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Der Kläger beantragt:
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Der Bescheid der Stadt Aschaffenburg vom 9. Juli 2020 wird aufgehoben.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Anwendungsbereich des FreizügG/EU sei eröffnet. Dazu genüge bereits der Zuzug des griechischen Kindes mit seiner Mutter in das Bundesgebiet. Aus der Kurzfristigkeit des Aufenthaltes ergebe sich kein Hinweis darauf, dass kein dauerhafter Aufenthalt der Tochter im Bundesgebiet beabsichtigt gewesen sei. Denn die Mutter habe erklärt, dass eine Rückkehr nach Deutschland geplant gewesen und auch weiterhin beabsichtigt sei. Der Kläger habe die Kindesmutter mit der Tochter und dem neugeborenen Sohn im November 2019 in Griechenland besucht. Aus dem Besuch sei ein drittes Kind hervorgegangen, dessen voraussichtlicher Geburtstermin der 2. August 2020 sei. Mit der Kindesmutter sei geplant, dass sie nach dem Geburtstermin mit den Kindern wieder nach Deutschland übersiedeln werde.
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4. Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung wurde auf den streitgegenständlichen Bescheid verwiesen und ergänzend im Wesentlichen ausgeführt, der Kläger habe sein Freizügigkeitsrecht verloren, sofern es überhaupt bestanden habe, da ein dauerhafter Aufenthalt seiner Tochter im Bundesgebiet offensichtlich nicht beabsichtigt gewesen sei. Die im Rahmen des § 5 Abs. 4 FreizügG/EU getroffene Ermessensentscheidung sei nicht zu beanstanden. Es gebe erhebliche Zweifel an einer baldigen geplanten Rückkehr der Lebensgefährtin samt Kindern nach Deutschland. Ebenso sei die Freizügigkeitsberechtigung der Lebensgefährtin und der Kinder bei ihrer Einreise in das Bundesgebiet fraglich. Aufgrund des Alters der beiden Kinder sei davon auszugehen, dass die Lebensgefährtin keiner Erwerbstätigkeit nachgehen können werde. Somit komme nur eine Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs. 2 Nr. 5 FreizügG/EU als nicht erwerbstätige Unionsbürgerin in Betracht. Die Voraussetzungen des § 4 FreizügG/EU seien aber aufgrund des durchschnittlichen monatlichen Nettoeinkommens des Klägers in Höhe von ca. 1.200,00 EUR nicht gegeben. Die Existenzmittel seien nicht ausreichend.
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5. Unter dem 5. Oktober 2020 ließ der Kläger mitteilen, dass die Kindesmutter am 30. September 2020 nach der Geburt des dritten Kindes wie geplant mit allen drei Kindern zu ihm zurückgekehrt sei.
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6. Die Beklagte erwiderte mit Schriftsatz vom 17. November 2020 im Wesentlichen, es fehle aktuell eine melderechtliche Anmeldung der Familie. Des Weiteren bestünden starke Zweifel an der Freizügigkeitsberechtigung der Lebensgefährtin und der Kinder. Des Weiteren sei fragwürdig, ob die Lebensgefährtin zu dem Kläger zurückgekehrt sei, da dieser lediglich eine 1-Zimmer-Wohnung mit einer Wohnfläche von 26 m² bewohne, welche für insgesamt fünf Personen deutlich zu klein sei.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtssowie der vorgelegten Behördenakten, wegen des Verlaufs der mündlichen Verhandlung insbesondere auf das Protokoll vom 25. Oktober 2021 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist zulässig und begründet.
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Die angefochtenen Behördenentscheidungen sind gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufzuheben, weil sie rechtswidrig sind und den Kläger in seinen Rechten verletzen. Die Verlustfeststellung unter der Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheides vom 9. Juli 2020 hält einer gerichtlichen Überprüfung nicht stand, da die Ermessenserwägungen der Beklagten im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung fehlerhaft sind (siehe nachfolgend 1.). Dies führt dazu, dass auch die weiteren Verfügungen unter den Ziffern 2 bis 4 des Bescheides rechtswidrig sind und den Kläger in seinen Rechten verletzen (dazu nachfolgend 2.).
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1. Die Feststellung des Verlustes des Einreise- und Aufenthaltsrechts des Klägers unter der Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheids ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
24
a) Nach § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU steht der Beklagten, wenn die Voraussetzungen des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU innerhalb von fünf Jahren nach Begründung des ständigen rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet entfallen sind oder nicht vorliegen, die Befugnis zu, den Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festzustellen und bei Familienangehörigen, die nicht Unionsbürger sind, die Aufenthaltskarte einzuziehen. Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Verlustfeststellung ist der Schluss der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz bzw. der Entscheidung im schriftlichen Verfahren (st.Rspr., z.B. BVerwG, U.v. 31.5.2012 - 10 C 8.12 - juris Rn. 13; U.v. 16.7.2015 - 1 C 22.14 - juris Rn. 11; U.v. 28.3.2019 - 1 C 9.18 - juris Rn. 9). Im Falle des Klägers ist die Verlustfeststellung nicht nach § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU ausgeschlossen, weil dieser am 1. Mai 2019 erstmals in das Bundesgebiet eingereist ist und sich somit noch nicht seit fünf Jahren (rechtmäßig) im Bundesgebiet aufhält, weshalb er kein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a Abs. 1 Satz 2, Abs. 5 FreizügG/EU erworben hat. Ferner haben die Lebensgefährtin bzw. die Kinder des Klägers noch kein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a Abs. 2 FreizügG/EU erworben, welches dieser nach § 4a Abs. 4 FreizügG/EU ableiten könnte.
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aa) Der nicht dem Kreis der Unionsbürger im Sinne des Art. 20 Abs. 1 Satz 2 AEUV zugehörige Kläger unterfällt nach der Überzeugung des Gerichtes grundsätzlich gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 4 FreizügG/EU dem persönlichen Anwendungsbereich des Freizügigkeitsgesetzes, da er die Voraussetzungen eines Familienangehörigen von Unionsbürgern im Sinne des § 1 Abs. 2 Nrn. 2 oder 3 FreizügG/EU erfüllt. Sowohl die Kinder des Klägers als auch deren Mutter sind griechische Staatsangehörige und damit Unionsbürger im Sinne des Art. 20 Abs. 1 Satz 2 AEUV. Als solchen steht ihnen das Freizügigkeitsrecht für das Unionsgebiet nach Art. 21 Abs. 1 AEUV zu.
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(1) Nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung steht zwar nicht fest, dass der Kläger der Lebenspartner einer Unionsbürgerin im Sinne des § 1 Abs. 2 Nr. 2 oder 3 Buchst. b) FreizügG/EU ist. Unerheblich ist, ob es sich bei der in Griechenland eingegangenen Partnerschaft um eine Ehe im Sinne des § 1 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. a) FreizügG/EU handelt, wenn eine eingetragene Partnerschaft im Sinne des § 1 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. b) FreizügG/EU vorliegt. Denn der Begriff der eingetragenen Partnerschaft nach Buchstabe b) des § 1 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU ist - anders als nach dem bis zum 31. Dezember 2017 gültigen § 1 LPartG, an welchen § 1 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a) FreizügG/EU anknüpft - nicht für gleichgeschlechtliche Beziehungen reserviert (in diesem Sinne allerdings Tewocht in Kluth/Heusch, Ausländerrecht, Stand 1.7.2021, FreizügG/EU, § 1 Rn. 37). Vielmehr sind angesichts der offenen Formulierung des § 1 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. b) FreizügG/EU auch andere eingetragene Partnerschaften erfasst, wenn das jeweilige nationale Recht diese anerkennt (vgl. Erwägungsgrund 5 und Art. 2 Nr. 2 Buchst. b) RL 2004/38/EG; Gerstner-Heck in Decker/Bader/Kothe, Migrations- und Integrationsrecht, Stand 15.10.2021, FreizügG/EU § 1 Rn. 32; Dienelt in Bergmann/Dienelt a.a.O., Rn. 57). Entscheidend ist daher nicht die Geschlechtszugehörigkeit der Partner, sondern der Umstand, dass es sich um eine „auf der Grundlage der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates der EU oder eines EWR-Staates eingegangene“ eingetragene Partnerschaft handelt. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung (sowie - nunmehr mit Beglaubigungsvermerk - mit Schriftsatz vom 27.10.2021 im Nachgang zur mündlichen Verhandlung) die Übersetzung einer „standesamtlichen Urkunde über eine eingetragene Lebenspartnerschaft“ vorgelegt, welche vom Ministerium für digitale Governance der Hellenischen Republik überprüft wurde. Es steht jedoch nicht fest, dass das griechische Recht eine derartige eingetragene Partnerschaft anerkennt. Die von der Beklagten - allerdings erst im Nachgang zur mündlichen Verhandlung - mit Schriftsatz vom 1. Dezember 2021 (sowie mit Schriftsatz des Klägerbevollmächtigten vom 10.12.2021) vorgelegte Stellungnahme des Standesamtes A. vom 1. Dezember 2021 geht davon aus, dass keine im griechischen Recht anerkannte Lebenspartnerschaft im Sinne des § 1 Abs. 2 Nr. 2 Buchst. b) FreizügG/EU vorliege.
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(2) Der Kläger ist aber als Verwandter seiner Kinder in aufsteigender Linie ein Familienangehöriger von Unionsbürgern im Sinne des § 1 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. d) FreizügG/EU. Dem steht nicht entgegen, dass die Begriffsbestimmung des § 1 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. d) FreizügG/EU die einschränkende Voraussetzung enthält, dass der Unionsbürger dem Verwandten in aufsteigender Linie Unterhalt gewähren muss. Zwar wäre der Kläger nach dem Wortlaut dieser Vorschrift - mangels Unterhaltsgewährung durch seine Kinder - vom begünstigten Personenkreis der Familienangehörigen im Sinne des § 1 Abs. 2 Nr. 3 FreizügG/EU ausgeschlossen. Der Kläger wäre vielmehr eine „nahestehende Person“ nach § 1 Abs. 2 Nr. 4 Buchst. a) FreizügG/EU und unterfiele als solche zwar ebenfalls gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 5 FreizügG/EU dem Anwendungsbereich des Gesetzes, wäre aber nicht nach § 2 Abs. 1, § 3 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt. Ein Aufenthaltsrecht auf dieser Grundlage setzte eine Statusverleihung gemäß § 3a FreizügG/EU voraus, welche weder vorliegt, noch vom Kläger beantragt wurde. Indes bedarf der Begriff des Familienangehörigen nach § 1 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. d) FreizügG/EU bei nicht unterhaltsberechtigten drittstaatsangehörigen Elternteilen minderjähriger Unionsbürger, welche für den Unterhalt dieser Unionsbürger tatsächlich aufkommen, einer unionsrechtskonformen erweiternden Auslegung (teleologischen Extension). Denn nach der Rechtsprechung des EuGH zu Art. 21 AEUV und Art. 2 Nr. 2 Buchst. d) der RL 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörige, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, sowie zur Änderung verschiedener unionsrechtlicher Bestimmungen (ABl. L 158, S. 77, ber. ABl. L 229, S. 35) - Freizügigkeitsrichtlinie -, welcher sich die Kammer anschließt, ist die in einer Art. 7 Abs. 1 Buchst. b) RL 2004/38/EG entsprechenden Bestimmung enthaltene Formulierung „über die erforderlichen Mittel verfügen“ dahin auszulegen, dass es ausreicht, wenn dem Unionsbürger diese Mittel zur Verfügung stehen, ohne dass Anforderungen in Bezug auf die Herkunft der Mittel aufgestellt werden. Damit können ausreichende Existenzmittel in diesem Sinne auch von einem Drittstaatsangehörigen, der Elternteil der betroffenen Unionsbürger im Kleinkindalter ist, stammen (EuGH, U.v. 10.10.2013 - Alokpa, C-86/12 - juris Rn. 25 ff. m.V.a. U.v. 19.10.2004 - Zhu und Chen, C-200/02 - Slg. 2004, I-9925, Rn. 28, 30). Würde dem Elternteil, der für einen minderjährigen Unionsbürger tatsächlich sorgt - hier: dem Kläger -, nicht erlaubt, sich mit dem Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat - hier: der Bundesrepublik Deutschland - aufzuhalten, so würde dem Aufenthaltsrecht des Unionsbürgers jede praktische Wirksamkeit genommen. Denn der Genuss des Aufenthaltsrechts durch ein Kind im Kleinkindalter setzt notwendigerweise voraus, dass sich die für das Kind tatsächlich sorgende Person bei ihm aufhalten darf. Dem drittstaatsangehörigen Elternteil, der tatsächlich für das Kind mit Unionsbürgerstatus sorgt, muss somit der Aufenthalt mit dem Kind im Aufnahmestaat ermöglicht werden, weil das Kind für seinen Aufenthalt auf die Personensorge und Unterhaltsgewährung des drittstaatsangehörigen Elternteils angewiesen ist (EuGH, U.v. 10.10.2013 - Alokpa, C-86/12 - juris Rn. 25 ff. m.V.a. U.v. 19.10.2004 - Zhu und Chen, C-200/02 - Slg. 2004, I-9925, Rn. 46 und 47 und U.v. 8.11.2012 - Iida, C-40/11 - juris Rn. 55; BayVGH, U.v. 25.5.2019 - 10 BV 18.281 - juris Rn. 24; Tewocht in Kluth/Heusch, Ausländerrecht, Stand 1.7.2021, FreizügG/EU, § 1 Rn. 49 ff.). Gemessen daran ist der Kläger Familienangehöriger nach § 1 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. b) FreizügG/EU, weil er nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung allein für den Unterhalt seiner Kinder aufkommt und diese im zeitlichen Wechsel mit der Mutter auch betreut.
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bb) Des Weiteren erfüllt der Kläger nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung die Voraussetzung des „Begleitens“ von Unionsbürgern im Sinne des § 2 Abs. 1 i.V. mit § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU. Denn seine Kinder und deren Mutter halten sich nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung wieder auf unbestimmte Zeit im Bundesgebiet auf. Für ein „Begleiten“ im Sinne des § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU i.V. mit Art. 3 Abs. 1 RL 2004/38/EG ist es insbesondere nicht erforderlich, dass der Unionsbürger und sein Familienangehöriger quasi „unter einem Dach“ zusammenleben (EuGH, U.v. 16.7.2015 - Singh, C-218/14 - juris Rn. 54). Vielmehr ist es ausreichend, aber auch erforderlich, dass sich beide im selben Mitgliedstaat („Aufnahmestaat“) aufhalten. Sinn und Zweck des Familiennachzugsrechtes ist es, dem Unionsbürger die Ausübung seiner Freizügigkeit zu ermöglichen bzw. zu erleichtern (EuGH, U.v. 16.7.2015 - Singh, C-218/14 - juris Rn. 50). Verlässt ein Unionsbürger den Aufnahmemitgliedstaat und lässt er sich in einem anderen Mitgliedstaat oder in einem Drittland nieder, entfällt damit automatisch das abgeleitete Recht seines drittstaatsangehörigen Ehegatten auf Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat (EuGH, U.v. 16.7.2015 - Singh, C-218/14 - juris Rn. 58, 62; BVerwG, U.v. 28.3.2019 - 1 C 9.18 - juris Rn. 21).
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cc) Maßgeblich für den Status des Klägers als Familienangehöriger von Unionsbürgern nach § 1 Abs. 2 Nr. 3 Buchst. d) FreizügG/EU ist daher, dass dieser als Familienangehöriger und die Unionsbürger selbst, mithin dessen Kinder, im Bundesgebiet über „ausreichende Existenzmittel“ im Sinne des § 4 FreizügG/EU i.V. mit Art. 14 Abs. 1 RL 2004/38/EG verfügen. Danach steht Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen das Aufenthaltsrecht nach Art. 6 RL 2004/38/EG zu, solange sie die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaates nicht unangemessen in Anspruch nehmen (Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, FreizügG/EU § 4 Rn. 29). Es kommt für die Freizügigkeitsberechtigung des Klägers somit auf das Vorliegen der ausreichenden Sicherung des Lebensunterhaltes im Sinne des § 4 FreizügG/EU an. Die ausreichende Sicherung des Lebensunterhalts im Sinne des § 4 FreizügG/EU setzt indes nicht voraus, dass der Unionsbürger bzw. sein Familienangehöriger, um dessen Freizügigkeitsberechtigung es jeweils geht, überhaupt keine öffentlichen Mittel in Anspruch nimmt. Vielmehr ist maßgeblich für eine „ausreichende“ Sicherung des Lebensunterhaltes, dass Sozialhilfe bzw. vergleichbare Sozialleistungen der öffentlichen Hand „nicht unangemessen“ in Anspruch genommen werden (BVerwG, U.v. 16.7.2015 - 1 C 22.14 - juris Rn. 21; U.v. 31.5.2012 - 10 C 8.12 - juris Rn. 15 ff.; Tewocht in: Kluth/Heusch, Ausländerrecht, FreizügG/EU, § 4 Rn. 8; Dienelt in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, FreizügG/EU, § 5 Rn. 64). Bei der erforderlichen Einzelfallbetrachtung dürfen die Mitgliedstaaten gemäß Art. 8 Abs. 4 Satz 1 RL 2004/38/EG keinen festen Betrag für die Existenzmittel festlegen, die sie als ausreichend betrachten, sondern müssen die persönliche Situation des Betroffenen berücksichtigen. Als Orientierungshilfe, wenngleich nicht als absoluter Maßstab, kann nach der Auffassung des Gerichts auch der Regelbedarf nach dem SGB II herangezogen werden. Zu beachten ist dabei, dass nach Art. 8 Abs. 4 Satz 2 RL 2004/38/EG der im Einzelfall als ausreichend ermittelte Betrag in keinem Fall über dem Schwellenbetrag liegen darf, unter dem der Aufnahmemitgliedstaat seinen Staatsangehörigen Sozialhilfe, d.h. in Deutschland Leistungen nach dem SGB XII, gewährt.
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Nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung bezieht der Kläger derzeit ein monatliches Nettoeinkommen von ca. 1.200,00 EUR. Hinzuzurechnen ist entgegen der Auffassung der Beklagten das Kindergeld in Höhe von 663,00 EUR. Zwar handelt es sich dabei nicht um eine beitragsfinanzierte Leistung. Kindergeld wird aber einkommensunabhängig nach Maßgabe des Einkommenssteuergesetzes (EStG) - bei unbeschränkter Einkommenssteuerpflichtigkeit - bzw. des Bundeskindergeldgesetzes (BKiGG) - bei beschränkter Einkommenssteuerpflichtigkeit - gewährt und ist nach § 11 Abs. 1 Satz 5 SGB II einzusetzendes Einkommen. Es handelt sich daher nicht um eine freizügigkeitsschädliche Sozialleistung im Sinne des § 4 FreizügG/EU bzw. Art. 13 Abs. 2 RL 2004/38/EG. Dem so ermittelten Einkommen des Klägers von monatlich ca. 1.863,00 EUR stehen Wohnkosten von monatlich 340,00 EUR gegenüber. Ob der verbleibende Betrag von 1.523,00 EUR ausreicht, um den Lebensunterhalt des Klägers, seiner drei Kinder und deren Mutter - die nach eigenen Angaben nicht erwerbstätig ist - ohne unangemessene Inanspruchnahme von Sozialleistungen zu decken, hätte die Beklagte im Rahmen einer Prognose ermitteln und in ihre Ermessensentscheidung einstellen müssen. Es kommt allein darauf an, ob die Existenzmittel faktisch zur Verfügung stehen (Tewocht in Kluth/Heusch, Ausländerrecht, Stand 1.7.2021, FreizügG/EU, § 1 Rn. 50). Damit wären im Rahmen der Prognose etwaige Zuwendungen Dritter ebenso zu berücksichtigen wie der Umstand, dass die Wohnung des Klägers für eine fünfköpfige Familie zu klein ist, weshalb sich dieser nach eigenen Angaben um eine größere Wohnung mit den damit verbundenen höheren Wohnkosten bemühen will.
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b) Die Befugnis zur Verlustfeststellung ist bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen in das Ermessen der Beklagten gestellt. Das Verwaltungsgericht ist gemäß § 114 Satz 1 VwGO auf die Nachprüfung beschränkt, ob die angefochtene Verwaltungsentscheidung ermessensfehlerhaft ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten (Ermessensüberschreitung) oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist (Ermessensfehlgebrauch). Des Weiteren hat das Gericht zu prüfen, ob ein Ermessensausfall oder eine Ermessensunterschreitung (Ermessensdefizit) vorliegt, weil die Behörde ohne Erwägung von Alternativen davon ausgegangen ist, so und nicht anders handeln zu müssen, bzw. die Bandbreite ihrer Handlungsmöglichkeiten unterschätzt hat (vgl. Rennert in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 114 Rn. 17 m.w.N.). Dazu gehört, dass die Behörde alle tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen anstellen muss, die nach dem gesetzlichen Entscheidungsprogramm von ihr gefordert werden (Rennert in Eyermann a.a.O., § 114 Rn. 24 m.w.N.). Nur unter diesen Voraussetzungen kann die Verwaltung alle Entscheidungsalternativen im konkreten Fall erwägen und die Bandbreite ihrer Handlungsmöglichkeiten richtig einschätzen. Ob die Ermessensentscheidung der Beklagten rechtmäßig ist, hängt somit auch davon ab, ob sie den erheblichen Sachverhalt vollständig und zutreffend ermittelt hat (Rennert in Eyermann a.a.O., § 114 Rn. 80 m.w.N.).
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Gemessen daran fehlt es an einer rechtmäßigen Ermessensentscheidung der Beklagten, weil sie die Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU auf eine unvollständige bzw. spätestens im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht mehr zutreffende Tatsachengrundlage gestützt hat (Rennert in Eyermann a.a.O., § 114 Rn. 25 m.w.N.). Denn mit Blick auf die nach der letzten Behördenentscheidung vom 9. Juli 2020 eingetretene weitere, entscheidungserhebliche Entwicklung des Sachverhaltes - Einreise der Ehefrau mit den Kindern, Begründung des gewöhnlichen Aufenthaltes im Bereich der Beklagten, Unterhaltsgewährung durch den Kläger und Betreuung der Kinder im Wechsel mit der Mutter - hätte die Beklagte ihre Ermessensentscheidung anpassen müssen (vgl. § 114 Satz 2 VwGO und dazu BVerwG, U.v. 20.6.2013 - 8 C 46.12 - juris Rn. 31 f.). Insbesondere die Prognose der Beklagten, ob ausreichende Existenzmittel im Sinne des § 4 FreizügG/EU vorliegen, und die darauf gestützte Rechtsfolge der Verlustfeststellung bedarf nach den vorstehenden Ausführungen der Überprüfung.
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2. Infolge der gerichtlichen Aufhebung der Verlustfeststellung haben auch die weiteren, im streitgegenständlichen Bescheid unter den Ziffern 2 bis 4 verfügten Maßnahmen keinen rechtlichen Bestand. Der Kläger ist entgegen der Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheides nicht verpflichtet, seine Aufenthaltskarte abzugeben (§ 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU). Des Weiteren fehlt es an einem wirksamen, die Ausreisepflicht begründenden Verwaltungsakt gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU, weshalb die auf § 7 Abs. 1 Satz 2, 3 FreizügG/EU beruhende Abschiebungsandrohung unter der Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheides gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO ebenfalls aufzuheben ist. Das unter Ziffer 4 des streitgegenständlichen Bescheides angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot entbehrt - unabhängig vom Bestand der Verlustfeststellung - einer Rechtsgrundlage. § 11 Abs. 1 AufenthG ist auf freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und deren Familienangehörige nicht, auch nicht entsprechend, anwendbar (§ 11 FreizügG/EU; vgl. Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, FreizügG/EU § 7 Rn. 49). Die auf den Aufenthalt bezogenen Rechtsfolgen einer Verlustfeststellung sind für den genannten Personenkreis vielmehr abschließend in § 7 FreizügG/EU geregelt. Hinsichtlich einer Wiedereinreisesperre nach Verlustfeststellung differenziert § 7 Abs. 2 FreizügG/EU nach der Rechtsgrundlage, auf welche die Verlustfeststellung (rechtmäßigerweise) gestützt ist. Für den Fall der hier vorliegenden Verlustfeststellung nach § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU fehlt es an einer Rechtsgrundlage für die Anordnung eines Wiedereinreise- und Aufenthaltsverbots (ebenso VG Bayreuth, GB.v. 4.5.2021 - B 6 K 19.581 - juris Rn. 71; Gerstner-Heck in Decker/Bader/Kothe, Migrations- und Integrationsrecht, FreizügG/EU § 5 Rn. 5, § 7 Rn. 12; Kurzidem in Kluth/Heusch, Ausländerrecht, Stand 1.1.2021, FreizügG/EU, § 7 Rn. 9).
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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über deren vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V. mit §§ 708 Nr. 11, § 711 ZPO.