Titel:
Entschädigung wegen überlanger Dauer eines Klageverfahrens
Normenkette:
GVG § 198
Leitsätze:
1. Ob die Dauer eines Gerichtsverfahrens gemäß § 198 Abs. 1 S. 1 GVG unangemessen ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
2. In die Prüfung hat ua einzufließen, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang die Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer weder in den gerichtlichen noch in den Verantwortungsbereich des in Anspruch genommenen Rechtsträgers fällt, sondern den Verfahrensbeteiligten zuzurechnen ist. Verfahrensverzögerungen, die durch das Verhalten der Parteien entstanden sind, sind grundsätzlich ebenfalls nicht dem Gericht anzulasten. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
3. Der Zeitraum von der Einlegung einer Beschwerde wegen versagter Prozesskostenhilfe bis zur Entscheidung des Rechtsmittelgerichts über die Beschwerde kann auf die unangemessene Dauer des erstinstanzlichen Verfahrens grundsätzlich nicht angerechnet werden, weil das Verwaltungsgericht das Verfahren in dieser Zeit nicht fördern kann. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Entschädigung, Prozesskostenhilfeverfahren, Beschwerde, unangemessene Dauer, Einzelfall, Gerichtsverfahren, Verfahrensdauer, Verfahrensverzögerungen, Verantwortungsbereich
Vorinstanz:
VGH München, Beschluss vom 15.10.2020 – 98 F 20.1724
Rechtsmittelinstanz:
BVerwG Leipzig, Beschluss vom 01.12.2021 – 5 PKH 1.21
Fundstelle:
BeckRS 2021, 47694
Tenor
I. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 500 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab 30. Oktober 2020 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Das Urteil ist für die Klägerin gegen Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1
Die Klägerin begehrt Entschädigung wegen überlanger Dauer des Klageverfahrens beim Verwaltungsgericht Regensburg, Az. RN 9 K 16.959 (später RN 9 K 19.897).
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Die Klägerin ist Studentin. Sie nahm zum Sommersemester 2013 das Masterstudium in der Fachrichtung Informatik auf. Mit Bescheid vom 17. März 2016 lehnte das Studentenwerk Niederbayern/Oberpfalz den Antrag der Klägerin auf Gewährung von Ausbildungsförderung für den Bewilligungszeitraum April 2016 bis März 2017 mit der Begründung ab, dass das anrechenbare Vermögen der Klägerin im Bewilligungszeitraum und das anrechenbare Einkommen des Vaters der Klägerin über dem Bedarfssatz lägen. Gegen diesen Bescheid erhob die Klägerin Widerspruch.
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Am 22. Juni 2016 erhob die Klägerin Untätigkeitsklage gegen das Studentenwerk mit dem Antrag, den Beklagten zu verurteilen, über ihren Widerspruch gegen den Bescheid vom 17. März 2016 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu entscheiden. Ferner beantragte sie, den Beklagten im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr vorläufig Leistungen in Höhe von mindestens 100 Euro monatlich auszuzahlen. Sie beantragte die Bewilligung von Prozesskostenhilfe. Das Verwaltungsgericht Regensburg legte das Rechtsschutzbegehren der Klägerin einerseits als Klageverfahren (Az. RN 9 K 16.959), andererseits als einstweiliges Rechtsschutzverfahren (Az. RN 9 E 16.958) an, was es der Klägerin mit Schreiben vom 23. und 24. Juni 2016 mitteilte.
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Der (dortige) Beklagte übermittelte mit Schriftsatz vom 7. Juli 2016 den Widerspruchsbescheid vom 7. Juli 2016 sowie einen Änderungsbescheid vom 8. Juli 2016. Mit diesen beiden Bescheiden bewilligte das Studentenwerk der Klägerin Ausbildungsförderung für den Zeitraum ab Oktober 2016 bis März 2017 in Höhe von monatlich 249 Euro. Dabei berücksichtigte das Studentenwerk einen Freibetrag nach § 25 Abs. 6 BAföG in Höhe von 148,33 Euro monatlich sowie ein Vermögen der Klägerin in Höhe von 9741,50 Euro. Hinsichtlich des Einkommens ihres Vaters habe die Klägerin den Widerspruch für erledigt erklärt. Weiterhin hat das Studentenwerk der Klägerin Schmerzensgeldzahlungen in Höhe von 1000 Euro vom Vermögen freigestellt und gesundheitsbezogene Ausgaben der Klägerin in Höhe von 90 Euro mtl. berücksichtigt. Im Übrigen wurde der Widerspruch der Klägerin zurückgewiesen.
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Die Klägerin hielt mit Schreiben vom 17. Juli 2016 Klage und Eilantrag aufrecht. Gegen den Widerspruchsbescheid des Beklagten sei Klage geboten. Für die Anträge zur Umwandlung der Untätigkeitsklage in ein Klageverfahren fehlten ihr noch diverse Informationen. Mit Schreiben vom 9. August 2016 führte die Klägerin aus, das Verfahren bezüglich der Untätigkeitsklage werde als Klageverfahren gegen den Widerspruchsbescheid vom 7. Juli 2016 und den Bescheid vom 8. Juli 2016 fortgesetzt, ihr Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe werde auf das Klageverfahren erstreckt.
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Mit Beschluss vom 10. August 2016 lehnte das Verwaltungsgericht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung und den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe mit ausführlicher, auch materiellrechtlicher Begründung ab. Der Beschluss wurde rechtskräftig. Mit Schreiben vom 12. August 2016 hörte das Verwaltungsgericht die Parteien zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid an. Unter dem 2. September 2016 schrieb die Klägerin an das Verwaltungsgericht, da sie keine Rückmeldung mehr erhalten habe, gehe sie davon aus, dass sich die Ablehnung ihres Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe im Beschluss vom 10. August 2016 auch auf die Klage erstrecke. Ihre Klage nehme sie daher zurück. Das Verwaltungsgericht teilte ihr mit Schreiben vom 6. September 2016 mit, dass der Beschluss vom 10. August 2016 nur das Eilverfahren und nicht das Hauptsacheverfahren betreffe. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe im Hauptsacheverfahren werde allerdings aus denselben Gründen ausscheiden. Die Klägerin erwiderte mit Schreiben vom 14. September 2016, unter diesen Umständen nehme sie ihre Klage nicht zurück. Das Klageverfahren gegen den Bescheid des Beklagten vom 17. März 2016 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 7. Juli 2016 solle unter der Bedingung weitergeführt werden, dass ihr Verfahrenskostenhilfe für das Hauptsacheverfahren bewilligt werde. Unter dem 15. September 2016 reichte die Klägerin eine achtseitige Begründung ein, die der Klagebegründung „zugrunde liegen würden“. Mit Schreiben vom 17. Oktober 2016 aktualisierte die Klägerin ihre Angaben zu ihren (verbesserten) persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen und legte Belege bei.
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Mit Schreiben vom 23. August 2017 bat das Verwaltungsgericht die Klägerin, den Rechtsstreit insoweit für erledigt zu erklären, als ihrer Klage durch den Bescheid vom 8. Juli 2016 bzw. den Widerspruchsbescheid vom 7. Juli 2016 abgeholfen worden sei. Die Klägerin teilte unter der 24. August 2017 mit, ihrer Klage sei nicht abgeholfen worden, sondern die Bescheide hätten das Hauptsacheverfahren erst ausgelöst. Sie bat eindringlich um Bearbeitung ihres Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe. Mit Schreiben vom 24. September 2017 erhob die Klägerin unter Hinweis auf § 198 Abs. 3 GVG Verzögerungsrüge insbesondere hinsichtlich der Dauer des Prozesskostenhilfebewilligungsverfahrens.
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Das Verwaltungsgericht lehnte den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Klageverfahren mit Beschluss vom 8. November 2017 ab. Nachdem die Klägerin Beschwerde gegen den Beschluss zum Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingelegt hatte, teilte ihr das Verwaltungsgericht mit Schreiben vom 8. März 2018 mit, es werde den Ausgang des Beschwerdeverfahrens abwarten.
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Im Beschwerdeverfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof (Az. 12 C 17.2421) reichte die Klägerin mit Schreiben vom 31. Januar 2018 eine Begründung mit umfangreichen Unterlagen ein. Mit Schreiben vom 25. Juli 2018 erkundigte sich die Klägerin nach dem Zeitpunkt der beabsichtigten Entscheidung und wies auf eine Verschärfung ihrer finanziellen Situation hin. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof teilte ihr mit Schreiben vom 30. Juli 2018 mit, über ihre Beschwerde im laufenden Quartal entscheiden zu wollen. Mit Schreiben vom 3. Oktober 2018 wiederholte die Klägerin ihre Anfrage unter erneutem Hinweis auf ihre verschärfte finanzielle Situation und legte ihre aktuelle Vermögenslage dar. Mit Schreiben vom 25. November 2018 wies die Klägerin auf ihre gesundheitlichen und psychischen Belastungen hin und bat um eine zeitnahe Entscheidung. Mit Beschluss vom 15. Januar 2019 wies der Bayerische Verwaltungsgerichtshof die Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgericht Regensburg vom 8. November 2017 zurück.
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Mit Schreiben vom 30. Januar 2019 hörte das Verwaltungsgericht die Beteiligten zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung an. Die Klägerin äußerte mit Schreiben vom 7. Februar 2019, das gegenständliche Verfahren sei unter der Bedingung der Gewährung von Prozesskostenhilfe geführt worden. Diese sei abgelehnt worden. Damit sei die Bedingung für das Betreiben des Verfahrens nicht erfüllt worden. Das Verwaltungsgericht erwiderte mit Schreiben vom 11. Februar 2019, die Fortführung der Untätigkeitsklage sei nicht von der Gewährung von Prozesskostenhilfe abhängig gemacht worden. Die Klägerin bedankte sich mit Schreiben vom 14. Februar 2019 für diese Klarstellung, erklärte die Untätigkeitsklage für erledigt sowie ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung. Auch der Beklagte erklärte sich mit Schreiben vom 22. Februar 2019 hiermit einverstanden.
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Mit Schreiben vom 23. April 2019 erhob die Klägerin unter Hinweis auf § 198 Abs. 3 GVG erneut Verzögerungsrüge. Mit rechtskräftigem Urteil vom 16. Mai 2019, der Klägerin zugestellt am 18. Mai 2019, wies das Verwaltungsgericht die Klage ab.
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Mit (Abänderungs-)Beschluss vom 15. Oktober 2020 (Az. 98 F 20.1724) bewilligte der Senat der Klägerin auf ihrem Antrag vom 17. Dezember 2019 hin Prozesskostenhilfe für eine beabsichtigte Klage auf Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer hinsichtlich des Verfahrens beim Bayerischen Verwaltungsgericht Regensburg, Az. RN 9 K 16.959 (später RN 9 K 19.897), bis zu einem Betrag von 500 Euro für einen Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist.
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Am 30. Oktober 2020 erhob die Klägerin Klage zum Bayerischen Verwaltungsgerichtshof und beantragte,
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den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin eine Entschädigung in Höhe von mindestens 500 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 20. Dezember 2019 zu zahlen.
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Zur Begründung nahm der Bevollmächtigte der Klägerin zunächst auf die Ausführungen des Senats im Beschluss vom 20. Oktober 2020 Bezug und verwies zur weiteren Klagebegründung mit Schriftsatz vom 7. Dezember 2020 auf einen im Parallelverfahren (Az. 98 F 20.1723) eingereichten Schriftsatz zur finanziellen, psychischen und emotionalen Belastung der Klägerin durch die Dauer der verwaltungsgerichtlichen Verfahren. Mit Schriftsatz vom 19. Januar 2021 ergänzte die Klägerin, der Ablauf des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens sei für die Klägerin prozessrechtlich schwer zu verstehen. Das Verwaltungsgericht habe ihr Begehren nicht richtig verstanden. Es habe ein Hauptsacheverfahren durchgeführt, ohne dass die Klägerin ausreichend rechtliches Gehör erhalten habe. Die ursprüngliche Klage habe sich einzig und allein auf den Erlass eines Widerspruchsbescheids bezogen. Eine „echte“ Klagebegründung habe die Klägerin im gesamten Verfahren nicht abgegeben; ihr Vortrag habe ausschließlich der Bewilligung von Prozesskostenhilfe gedient. Die Klagebegründung habe ausdrücklich erst durch einen Bevollmächtigten nachgereicht werden sollen. Die Verfahrensweise des Verwaltungsgerichts sei mit ihr auch nicht kommuniziert worden. Das Verwaltungsgericht habe hinsichtlich der Hauptsacheklage ihre Bedingung, die Klage von der Bewilligung von Prozesskostenhilfe abhängig zu machen, übergangen. Sie sei daher von dem Urteil überrascht worden. Das Verwaltungsgericht habe bei der Prüfung des Prozesskostenhilfeantrags die Anforderungen an das Vorliegen der Erfolgsaussichten überspannt. Es sei auch zu berücksichtigen, dass es bei der Klägerin nicht nur um die Sicherstellung des normalen Lebensunterhalts gegangen sei, sondern darüber hinaus um die Bestreitung von behinderungsbedingten Mehrbedarfen. Das Prozesskostenhilfeverfahren hätte daher priorisiert durchgeführt werden müssen. Das eigentlich angestrebte Hauptsacheverfahren habe in mehrfacher Hinsicht einen erheblichen Grundrechtsbezug gehabt. Da die Klägerin ein Hauptsacheverfahren zu keinem Zeitpunkt betrieben habe, sei dem Verwaltungsgericht auch kein Gestaltungsspielraum von 16 Monaten zuzubilligen. Die Klägerin sei über den gesamten Zeitraum zur Führung eines nicht gewollten Verfahrens genötigt worden. Das unterstreiche die massive Belastung durch die enorme Verfahrensdauer.
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Der Beklagte hielt mit Schriftsatz vom 26. Januar 2021 die vom Senat im Prozesskostenhilfebeschluss genannte Entschädigung in Höhe von 500 Euro für angemessen.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten auch der Ausgangsverfahren verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 VwGO), hat Erfolg.
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1. Die Entschädigungsklage ist zulässig. Sie wurde nach Ablauf der sechsmonatigen Wartefrist nach Erhebung der Verzögerungsrüge (§ 198 Abs. 5 Satz 1 GVG) erhoben. Auch die Ausschlussfrist des § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG ist gewahrt. Zwar hat die Klägerin die Klage nicht innerhalb von sechs Monaten nach Rechtskraft der Entscheidung des Verwaltungsgerichts, die das Verfahren beendet hat, erhoben. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 60 Abs. 1 VwGO scheidet aus, weil es sich bei der Frist des § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG um eine materiellrechtliche Ausschlussfrist handelt; jedoch ist diese unter Heranziehung des Rechtsgedankens des § 204 Abs. 1 Nr. 14 BGB (Hemmung der Verjährung durch Rechtsverfolgung) gewahrt, wenn innerhalb dieser Frist ein vollständiger Prozesskostenhilfeantrag gestellt wird und die Klage auf Entschädigung unmittelbar bzw. alsbald nach Bewilligung von Prozesskostenhilfe erhoben wird. Im Einzelnen wird auf die Gründe die Beschlüsse des Senats vom 15. Oktober 2020 und 14. Juli 2020 (Parallelverfahren der Klägerin Az. 98 F 19.2483) verwiesen.
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2. Die Klage ist in der Hauptsache begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Entschädigung des immateriellen Nachteils infolge unangemessener Verfahrensdauer in Höhe von 500 Euro zuzüglich der Prozesszinsen seit Rechtshängigkeit der Entschädigungsklage.
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Nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG wird angemessen entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter (§ 198 Abs. 1 Satz 2 GVG). Da die Klägerin keinen materiellen Nachteil im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 1 geltend macht, ist nur der Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist gemäß § 198 Abs. 2 GVG streitgegenständlich. Ein solcher Nachteil wird nach § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat. Die Entschädigung beträgt 1.200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung.
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2.1 Die Gesamtdauer des Ausgangsverfahrens war in einem Umfang von fünf Monaten unangemessen im Sinne von § 173 Satz 2 VwGO i.V.m. § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG.
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2.1.1 Ob die Dauer eines Gerichtsverfahrens gemäß § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG unangemessen ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles. Maßgeblich zu berücksichtigen sind die Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens, das Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter (§ 198 Abs. 1 Satz 2 GVG), die Bedeutung der Sache für die Beteiligten und die Prozessförderung durch das Gericht (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2018 - 2 WA 1.17 D - NJW 2019, 320 = juris Rn. 26; vgl. auch Karpenstein/Mayer, EMRK, 2. Aufl. 2015, Art. 6 Rn. 78). Die Verfahrensdauer ist unangemessen, wenn eine insbesondere an den Merkmalen des § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG ausgerichtete Gewichtung und Abwägung aller bedeutsamen Umstände des Einzelfalles ergibt, dass die aus konventions- und verfassungsrechtlichen Normen (Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 19 Abs. 4, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) folgende Verpflichtung des Staates, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zum Abschluss zu bringen, verletzt ist. Dabei ist vor allem auch zu prüfen, ob Verzögerungen, die durch die Verfahrensführung des Gerichts eingetreten sind, bei Berücksichtigung des den Ausgangsgerichten insoweit zukommenden Gestaltungsspielraums sachlich gerechtfertigt sind (vgl. BVerwG, U.v. 27.2.2014 - 5 C 1.13 D - NVwZ 2014, 1523 = juris Rn. 18; U.v. 11.7.2013 - 5 C 23.12 D - BVerwGE 147, 146 = juris Rn. 37).
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Bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer ist nicht von festen Zeitvorgaben oder abstrakten Orientierungs- bzw. Anhaltspunkten auszugehen (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2018 - 2 WA 1.17 D - NJW 2019, 320 = juris Rn. 26; U.v. 14.9.2017 - 2 WA 2.17 D - BVerwGE 159, 366 = juris Rn. 13; vgl. auch BVerfG, B.v. 30.8.2016 - 2 BvC 26/14 - Vz 1/16 - KommunalPraxis Wahlen 2018, 58 = juris Rn. 18). Angesichts der Vielgestaltigkeit verwaltungsgerichtlicher Verfahren stießen solche Festlegungen an eine Komplexitätsgrenze. Sie könnten letztlich für die Angemessenheit im Einzelfall nicht aussagekräftig sein. Die Bandbreite der Verwaltungsprozesse reicht von sehr einfach gelagerten Verfahren bis zu äußerst aufwändigen Großverfahren (etwa im Infrastrukturbereich), die allein einen Spruchkörper über eine lange Zeitspanne binden können. Der Versuch, dieser Bandbreite mit Mittel- oder Orientierungswerten Rechnung zu tragen, ginge nicht nur am Einzelfall vorbei, sondern wäre auch mit dem Risiko belastet, die einzelfallbezogenen Maßstäbe des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu verfehlen.
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Des Weiteren hat in die Prüfung einzufließen, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang die Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer weder in den gerichtlichen noch in den Verantwortungsbereich des in Anspruch genommenen Rechtsträgers fällt, sondern den Verfahrensbeteiligten zuzurechnen ist. Verfahrensverzögerungen, die durch das Verhalten der Parteien entstanden sind, sind grundsätzlich ebenfalls nicht dem Gericht anzulasten.
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2.1.2 Gemessen an den Kriterien des § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG gilt hier Folgendes:
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Das Verfahren war von überdurchschnittlicher tatsächlicher und rechtlicher Schwierigkeit, da eine Vielzahl von Fragen der Anrechnung oder Freistellung von Vermögensbestandteilen auch aus Härtefallgründen sowie Unterhaltsfragen im Rahmen der Ausbildungsförderung zu beurteilen waren.
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Die Bedeutung eines Verfahrens, das die Ausbildungsförderung betrifft, ist in der Regel groß, weil es insoweit um die Deckung des Lebensunterhalts und die Fortführung der begonnenen Ausbildung geht. Hier bestand allerdings die Besonderheit, dass es im Verfahren der Klägerin um die Anrechnung bzw. Freistellung von Vermögen und um den Unterhaltsanspruch gegenüber ihrem Vater, der ausreichendes Einkommen hatte, ging. Der Lebensunterhalt der Klägerin und die Ausbildung waren daher in dem Zeitraum, für den Ausbildungsförderung versagt worden war, sichergestellt. Zudem war der Klage bereits teilweise abgeholfen worden. Es kommt hinzu, dass das Verwaltungsgericht im einstweiligen Rechtsschutzverfahren zeitnah zur Antragstellung bzw. Klageerhebung entschieden hat, dabei ausführlich auf die materiellrechtliche Rechtslage eingegangen ist und der Klägerin mit Schreiben vom 6. September 2016 mitgeteilt hat, dass im Hauptsacheverfahren keine andere Entscheidung zu erwarten sei. Da die Klägerin keine Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 10. August 2016 eingelegt hat, musste sie davon ausgehen, dass ihr Prozesskostenhilfeantrag auch im Klageverfahren keinen Erfolg haben würde, und konnte sich darauf einstellen.
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Verfahrensverzögerungen, die durch das Verhalten der Klägerin entstanden sind, können hier nicht isoliert von den dem Gericht zuzubilligen Gestaltungszeitraum festgestellt werden. Der Verfahrensablauf gestaltete sich, worauf die Klägerin zu Recht hinweist, kompliziert. Die Dauer des Verfahrens beruht hier jedenfalls auch auf den unklaren Prozesserklärungen der Klägerin und dem dadurch ausgelösten Klärungsbedarf. Dies ist der Klägerin als juristischer Laiin nicht vorzuwerfen, kann jedoch nicht ohne Berücksichtigung auf die Feststellung einer unangemessenen Dauer des Verfahrens bleiben. Das Verwaltungsgericht hat die Erklärungen der Klägerin (z.B. die mit Schreiben vom 2.9.2016 erklärte Klagerücknahme) stets wohlwollend zu ihren Gunsten ausgelegt und ihr das mit vielen Schreiben immer wieder erläutert. Es hat zutreffend die ursprünglich vor Ergehen des Widerspruchsbescheids erhobene Untätigkeitsklage als Verpflichtungsklage fortgeführt, nachdem dem Widerspruch der Klägerin nur teilweise abgeholfen worden war. Dass die Klägerin ausschließlich ein isoliertes, vorgeschaltetes Prozesskostenhilfeverfahren durchführen wollte, ist ihren Schreiben nicht zu entnehmen gewesen. Das Verwaltungsgericht hat diesbezüglich mehrfach Hinweise gegeben. Die Klägerin hat auch nach dem Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 15. Januar 2019 im Beschwerdeverfahren auf einer Entscheidung des Verwaltungsgerichts beharrt.
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2.1.3 Das verwaltungsgerichtliche Verfahren dauerte insgesamt vom 22. Juni 2016 bis 18. Mai 2019, also ca. 35 Monate. Jedoch gilt es zu berücksichtigen, dass die Klägerin zunächst eine Untätigkeitsklage erhoben hat, und erst mit Schreiben vom 9. August 2016 die Untätigkeitsklage in eine Verpflichtungsklage umgestellt und hierfür einen Prozesskostenhilfeantrag gestellt hat. Auch gilt es zu unterscheiden zwischen der Dauer des Prozesskostenhilfeverfahrens und des Verfahrens bis zum Urteil.
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2.1.3.1 Der Zeitraum des Beschwerdeverfahrens beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof hinsichtlich der Bewilligung von Prozesskostenhilfe muss hier außer Betracht bleiben. Nach Einlegung der Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss über die Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe war das Verwaltungsgericht an einer Entscheidung der Verwaltungsstreitsache durch Urteil gehindert war, weil erst im Beschwerdeverfahren beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof geklärt werden musste, ob der Klägerin Prozesskostenhilfe unter Beiordnung der von ihr benannten Rechtsanwältin gewährt werden muss. Der Zeitraum von der Einlegung der Beschwerde bis zur Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs über die Beschwerde und damit auch eine etwaige unangemessene Dauer des Beschwerdeverfahrens kann insoweit auf die - unangemessene - Dauer des erstinstanzlichen Verfahrens nicht angerechnet werden, weil das Verwaltungsgericht das Verfahren in dieser Zeit nicht fördern konnte.
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Materieller Bezugsrahmen ist zwar die Gesamtdauer des gerichtlichen Verfahrens, auch wenn dieses über mehrere Instanzen oder bei verschiedenen Gerichten geführt worden ist (vgl. BVerwG, U.v. 27.2.2014 - 5 C 1.13 D - NVwZ 2014, 1523 = juris Rn. 12; U.v. 11.7.2013 - 5 C 23.12 D - BVerwGE 147, 146 = juris Rn. 17), so dass sich auch Verzögerungen in nur einer Instanz auswirken können. Im Hinblick auf die Gesamtverfahrensdauer unter Einbeziehung der Prozesskostenhilfebeschwerde kann eine etwaige unangemessene Dauer des Beschwerdeverfahrens beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof nicht berücksichtigt werden, weil die Klägerin im Beschwerdeverfahren keine Verzögerungsrüge erhoben hat. Es bedarf einer erneuten Verzögerungsrüge, wenn sich das Verfahren bei einem anderen Gericht (hier: dem Beschwerdegericht) erneut verzögert (§ 198 Abs. 3 Satz 5 GVG). Die Klägerin hat zwar mehrmals beim zuständigen Senat des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs nachgefragt und auf die Eilbedürftigkeit hingewiesen, hat jedoch auch immer weitere Begründungen in der Sache vorgetragen und im Übrigen davon abgesehen, ausdrücklich eine Verzögerungsrüge zu erheben. Diese Schreiben der Klägerin, die ansonsten wohl als Verzögerungsrüge hätten gewertet werden können (vgl. z.B. BVerfG, KB.v. 17.12.2015 - 1 BvR 3164/13 - juris Rn. 31 ff.; BSG, U.v. 27.3.2020 - B 10 ÜG 4/19 - juris Rn. 28 u.a.), können hier nicht als eine solche ausgelegt werden, weil die Klägerin im Klageverfahren vor dem Verwaltungsgericht in ganz anderer Weise, nämlich durch die ausdrückliche Bezeichnung als Verzögerungsrüge (jeweils in Großschrift) und den Hinweis auf § 198 GVG solche Rügen erhoben hat. Daraus ergibt sich im Umkehrschluss, dass sie beim zuständigen Senat des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs bewusst auf diese Rüge verzichtet hat. Eine objektive Auslegung gegen den angenommenen ausdrücklichen Willen der Klägerin ist nicht möglich (vgl. auch OVG NW, U.v. 17.9.2019 - 13 D 60/18.EK - juris Rn. 33 ff.; LSG Berlin-BBg, U.v. 24.1.2019 - L 37 SF 102/18 EK AS WA - juris Rn. 69 m.w.N.). Die Beschwerdeeinlegung erfolgte hier am 27. November 2017; der Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs über die Beschwerde ging beim Verwaltungsgericht am 23. Januar 2019 ein. Es haben daher bei der Prüfung der unangemessenen Dauer des Gesamtverfahrens vierzehn Monate außer Betracht zu bleiben.
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2.1.3.2 Nach Ergehen des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs war das Verwaltungsgericht nicht untätig. Bereits mit Schreiben vom 30. Januar 2019 hat es die Beteiligten um ihr Einverständnis zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gebeten bzw. zu einer Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört. Im Folgenden kam es im Februar 2019 zu einem weiteren Schriftverkehr über die Frage, ob die Klage bedingt erhoben worden sei, sodass es mit der rechtskräftigen Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe sein Bewenden habe. Anschließend erging nach einer weiteren Verzögerungsrüge der Klägerin unter dem 23. April 2019 das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 16. Mai 2019.
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Um den verfahrensrechtlichen und inhaltlichen Anforderungen gerecht werden zu können, benötigt das Gericht eine Vorbereitungs- und Bearbeitungszeit, die der Schwierigkeit und Komplexität der Rechtssache angemessen ist. Dabei ist die Verfahrensgestaltung in erster Linie in die Hände des mit der Sache befassten Gerichts gelegt (BVerfG, B.v. 30.7.2009 - 1 BvR 2662/06 - NJW-RR 2010, 207, v. 2.12.2011 - 1 BvR 314/11 - WM 2012, 76). Dieses hat, sofern der Arbeitsanfall die alsbaldige Bearbeitung und Terminierung sämtlicher zur Entscheidung anstehender Fälle nicht zulässt, zwangsläufig eine zeitliche Reihenfolge festzulegen. Es hat dabei die Verfahren untereinander zu gewichten, den Interessen der Beteiligten - insbesondere im Hinblick auf die Gewährung rechtlichen Gehörs und eines fairen Verfahrens - Rechnung zu tragen und darüber zu entscheiden, wann es welches Verfahren mit welchem Aufwand sinnvollerweise fördern kann und welche Verfahrenshandlungen dazu geboten sind. Zur Ausübung seiner verfahrensgestaltenden Befugnisse ist dem Gericht - auch im Hinblick auf die richterliche Unabhängigkeit - ein Gestaltungsspielraum zuzubilligen (vgl. BVerfG, B.v. 29.3.2005 - 2 BvR 1610/03 - NJW 2005, 3488, B.v. 1.10.2012 - 1 BvR 170/06 - NVwZ 2013, 789 jeweils m.w.N.). Verfahrenslaufzeiten, die durch die Verfahrensführung des Gerichts bedingt sind, führen nur zu einer unangemessenen Verfahrensdauer, wenn sie - auch bei Berücksichtigung des gerichtlichen Gestaltungsspielraums - sachlich nicht mehr zu rechtfertigen sind. Art. 6 Abs. 1 EMRK fordert zwar, dass Gerichtsverfahren zügig betrieben werden, betont aber auch den allgemeinen Grundsatz einer geordneten Rechtspflege (EGMR, U.v. 25.2.2000 - Nr. 29357/95, Gast und Popp/Deutschland - NJW 2001, 211 Rn. 75). Das Ende des gerichtlichen Gestaltungszeitraums wird durch den Zeitpunkt markiert, ab dem ein (weiteres) Zuwarten auf eine verfahrensfördernde Entscheidung bzw. Handlung des Gerichts im Hinblick auf die subjektive Rechtsposition des Betroffenen auf eine angemessene Verfahrensdauer nicht mehr vertretbar ist, weil sich die (weitere) Verzögerung bei Gewichtung und Abwägung aller bedeutsamen Umstände des Einzelfalles als sachlich nicht mehr gerechtfertigt und damit als unverhältnismäßig darstellt. Es ist nicht mit dem Zeitpunkt gleichzusetzen, bis zu dem in jedem Fall von einer „optimalen Verfahrensführung“ des Gerichts auszugehen ist. Vielmehr setzt der Entschädigungsanspruch aus § 198 Abs. 1 GVG voraus, dass der Beteiligte durch die Länge des Gerichtsverfahrens in seinem Grund- und Menschenrecht auf Entscheidung eines gerichtlichen Verfahrens in angemessener Zeit beeinträchtigt worden ist, was eine gewisse Schwere der Belastung erfordert (vgl. BVerwG, U.v. 11.7.2013 - 5 C 23.12 D - BVerwGE 147, 146 Rn. 39).
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Ein Urteil kann, insbesondere, wenn noch kein Prozessbevollmächtigter eingeschaltet ist, grundsätzlich erst nach rechtskräftiger Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag ergehen. Für den Zeitraum nach Ergehen des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 15. Januar 2019 bis zum Urteil des Verwaltungsgerichts vom 16. Mai 2019 liegt eine unangemessene Dauer des Klageverfahrens nicht vor, weil das Verwaltungsgericht in dieser Zeit nicht untätig war. Zunächst war zu klären, ob die Klägerin am Klagebegehren festhält. Im Übrigen ist dieser Zeitraum unter Berücksichtigung der anderweitig vom Gericht zu bearbeitenden Fälle angemessen für die Vorbereitung, Entscheidung und Fertigung eines Urteils nach Ergehen eines (rechtskräftigen) Prozesskostenhilfebeschlusses.
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2.1.3.3 Anders verhält es sich hinsichtlich der Dauer des Prozesskostenhilfeverfahrens beim Verwaltungsgericht, das im Hinblick auf eine Entschädigung nach § 198 GVG auch isoliert betrachtet werden kann, und auf das die Klägerin zu Recht abstellt. Da das Prozesskostenhilfeverfahren ein notwendig vorgeschalteter Teil des Klageverfahrens ist, wirkt sich die unangemessene Dauer dieses Verfahrens auch auf die unangemessene Dauer des Klageverfahrens insgesamt aus, sodass es nicht darauf ankommt, wann die Klägerin zu Recht eine Verzögerungsrüge hinsichtlich der Entscheidung über den Prozesskostenhilfeantrag bzw. über das Klagebegehren im Einzelnen erhoben hat, zumal sie darüber hinaus mehrfach auf die Dringlichkeit ihrer Begehren und die Verzögerung der Entscheidungen hingewiesen hat.
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Das Verwaltungsgericht hatte sich entschlossen, nicht bereits im Rahmen des Beschlusses im einstweiligen Rechtsschutzverfahren vom 10. August 2016 und des insoweit gestellten Prozesskostenhilfeantrags auch über den Prozesskostenhilfeantrag für das Hauptsacheverfahren zu entscheiden, was nicht zu beanstanden ist. Dies gab der Klägerin Gelegenheit, weitere Begründungen für das Hauptsacheverfahren nachzuschieben. Entscheidungsreif war das Prozesskostenhilfegesuch der Klägerin für das Hauptsacheverfahren Ende Oktober 2016, nachdem die Klägerin mit Schreiben vom 15. September 2016 eine (Klage-)Begründung vorgelegt und mit Schreiben vom 17. Oktober 2016 ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse aktualisiert hatte. Das Prozesskostenhilfebewilligungsverfahren beim Verwaltungsgericht dauerte vom 9. August 2016, als die Klägerin ausführte, die Untätigkeitsklage werde als Klageverfahren gegen Bescheid und Widerspruchsbescheid fortgeführt und der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe werde auf das Klageverfahren „ausgeweitet“, bis zur Zustellung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 8. November 2017 am 11. November 2017, also ca. 15 Monate. Dieser Zeitraum war auch aufgrund des Vorlaufs im einstweiligen Rechtsschutzverfahren und unter Berücksichtigung der schnellen Entscheidungsreife unangemessen lang. Insbesondere hat das Verwaltungsgericht das Verfahren nach Entscheidungsreife nur insoweit gefördert, als es mit Schreiben vom 22. August 2017 die Klägerin zur teilweisen Erledigungserklärung der Untätigkeitsklage aufgefordert hat. Ansonsten war es bis zur Vorbereitung des Beschlusses vom 8. November 2017 untätig.
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Unter Berücksichtigung der oben dargestellten Bedeutung der Streitsache für die Klägerin und der Tatsache, dass die Klägerin nach dem Beschluss vom 10. August 2016 im einstweiligen Rechtsschutzverfahren, in dem eine vollständige materiellrechtliche Prüfung durchgeführt worden war, nicht mehr von einer positiven Verbescheidung ihres Prozesskostenhilfeantrags im Klageverfahren ausgehen konnte, musste die Bearbeitung dieser Verwaltungsstreitsache im Verhältnis zu anderen Verwaltungsstreitsachen, die das Gericht gleichzeitig zu bearbeiten hatte, nicht vorgezogen, sondern durfte eher hintangestellt werden. Unter Berücksichtigung der schnellen Entscheidungsreife, der Bedeutung der Angelegenheit für die Klägerin und des Gestaltungsspielraums des Verwaltungsgerichts liegt eine unangemessene Dauer des Prozesskostenhilfebewilligungsverfahrens für das Klageverfahren erst vor, soweit dieses länger als zehn Monate gedauert hat. Die Klägerin hat daher Anspruch auf Entschädigung für immaterielle Nachteile wegen unangemessener Dauer des Verfahrens für fünf Monate.
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2.2 Die Klägerin hat durch die überlange Verfahrensdauer einen immateriellen Nachteil im Sinne des § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG erlitten, der nicht auf andere Weise wiedergutgemacht werden kann. Dass die Klägerin Nachteile nichtvermögensrechtlicher Art erlitten hat, ergibt sich aus der Vermutung des § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG. Danach wird ein immaterieller Nachteil vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren - wie hier - unangemessen lange gedauert hat. Diese Vermutung ist vorliegend nicht widerlegt. Die Entschädigungssumme für die unangemessene Verfahrensverzögerung von fünf Monaten beträgt 500 Euro. Die Bemessung der immateriellen Nachteile richtet sich nach § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG. Danach ist der immaterielle Nachteil in der Regel in Höhe von 1.200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung zu entschädigen. Für Zeiträume unter einem Jahr lässt die Regelung eine zeitanteilige Berechnung zu (vgl. BVerwG, U.v. 26.2.2015 - 5 C 5.14 D - NVwZ-RR 2015, 641 = juris Rn. 55; vgl. auch BTDrs. 17/3802 S. 20).
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2.3 Entschädigung kann nur beansprucht werden, soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalles Wiedergutmachung auf andere Weise ausreichend ist (§ 198 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 4 GVG). Eine Wiedergutmachung auf andere Weise ist nach § 198 Abs. 4 Satz 1 GVG insbesondere möglich durch die Feststellung des Entschädigungsgerichts, dass die Verfahrensdauer unangemessen war. Ob eine solche Feststellung ausreichend ist, beurteilt sich auf der Grundlage einer umfassenden Abwägung sämtlicher Umstände des Einzelfalles (vgl. BVerwG, U.v. 27.2.2014 - 5 C 1.13 D - NVwZ 2014, 1523 = juris Rn. 34 m.w.N.). Eine schlichte Feststellungsentscheidung ist hier mit Blick auf den Umfang der Verzögerung unter Berücksichtigung der Gesamtdauer des Verfahrens nicht ausreichend.
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Die Festsetzung eines höheren (Monats-)Betrags nach § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG ist nicht angezeigt; es liegt kein atypischer Sachverhalt vor. Die Entschädigung für den immateriellen Nachteil beinhaltet gerade die Belastung der Klägerin in finanzieller und psychischer Hinsicht. Auch Anhaltspunkte für die Angemessenheit eines niedrigeren Betrags sieht der Senat nicht.
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3. Die Klägerin hat entsprechend § 291 in Verbindung mit § 288 Abs. 1 Satz 2 BGB ab Eintritt der Rechtshängigkeit Anspruch auf Prozesszinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz (vgl. BVerwG, U.v. 27.2.2014 - 5 C 1.13 D - NVwZ 2014, 1523 = juris Rn. 46; Rennert in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 90 Rn. 14 und 17). Rechtshängigkeit trat hier jedoch erst mit der Klageerhebung am 30. Oktober 2020, nicht bereits mit der Stellung eines Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine noch künftig zu erhebende Klage ein. Daher war die Klage insoweit abzuweisen.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Das Unterliegen der Klägerin hinsichtlich der Rechtshängigkeitszinsen ist nur geringfügig.
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5. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 173 Satz 2 VwGO i.V.m. § 201 Abs. 2 GVG und § 709 ZPO.
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6. Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.