Inhalt

VGH München, Urteil v. 09.11.2021 – 11 B 19.33204
Titel:

Flüchtlingsanerkennung eines aus der russischen Föderation stammenden Zeugen Jehovas, der auf dem Luftweg eingereist ist

Normenketten:
VwGO § 108 Abs. 1 S. 1, § 113 Abs. 5 S. 1
GG Art. 16a
AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 2 lit. a, § 3a, § 3b Abs. 1 Nr. 2, § 3e, § 77 Abs. 1 S. 1
Leitsätze:
1. Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erfordert, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
2. Zu den Voraussetzungen einer schwerwiegenden Verletzung der Religionsfreiheit. (Rn. 22 – 26) (redaktioneller Leitsatz)
3. Im Anwendungsbereich des Art. 16a GG ist der asylrechtliche Schutz auf das religiöse Existenzminimum beschränkt. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asylrecht (Russische, Föderation), Zeugen Jehovas, staatliche Verfolgung wegen der Religionszugehörigkeit, Flüchtlingseigenschaft, Russische Föderation, Zeuge Jehova, Religionsfreiheit, religiöses Existenzminimum, Verfolgungshandlung, Verbot einer Religion, objektive Gesichtspunkte, subjektive Gesichtspunkte, Glaubensbetätigung, Betätigungsverbot, Gruppenverfolgung
Vorinstanz:
VG Bayreuth, Gerichtsbescheid vom 05.08.2019 – B 9 K 18.30589
Fundstelle:
BeckRS 2021, 47160

Tenor

I. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Gerichtsbescheids des Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 5. August 2019 und des Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 6. März 2018 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und ihn als Asylberechtigten anzuerkennen.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist im Kostenpunkt gegen Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1
Der Kläger, ein russischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Glaubensgemeinschaft der Zeugen J., begehrt die Anerkennung als Asylberechtigter und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Er reiste am 26. November 2017 im Besitz eines russischen Reise- und Inlandspasses und einer Geburtsurkunde auf dem Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 1. Dezember 2017 einen Asylantrag.
2
Bei seiner Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge am 11. Dezember 2017 führte der Kläger im Wesentlichen aus, er habe vier Jahre eine Militärhochschule absolviert und von 1992 bis 1993 als Offizier gedient. Während der letzten fünf Jahre vor seiner Ausreise habe er ungefähr drei Jahre als selbstständiger Händler und zuletzt zwei Jahre als Nachhilfelehrer für Englisch und Mathematik gearbeitet. Politische Verfolgung als Zeuge J., denen er seit dem Jahr 2004 angehöre, und die Verweigerung medizinischer Unterstützung machten ihm in Russland das Leben schwer. Er habe ein Dokument bei sich getragen, in dem zwei Vertreter für den Fall bestellt worden seien, dass er sich nicht mehr äußern könne. Darin habe auch gestanden, dass er Bluttransfusionen ablehne. Dadurch sei er bei den Sicherheitsbehörden als Extremist eingestuft. Das Dokument habe er aus Angst vor Entdeckung und Verhaftung während der Ausreise nicht mitgenommen. Er habe zuletzt vor etwa einem Jahr medizinische Dienstleistungen in Anspruch genommen. Er habe Angst gehabt, sich an ein Krankenhaus oder einen Arzt zu wenden. Zeugen J. bekämen keine Arbeitsstelle. Er habe sehr viele Schüler verloren und auch keinen Nebenjob gefunden, sobald er sich zu seiner Religionszugehörigkeit bekannt habe. Er könne keine offizielle Arbeitsstelle finden. In den Arbeitsverträgen werde die Religionszugehörigkeit meistens abgefragt. Eine inoffizielle Stelle finde er nur dann, wenn er die Zugehörigkeit zu seiner Glaubensgemeinschaft leugne. Es widerspreche aber seinem Glauben und seiner Überzeugung, eine illegale Stelle anzunehmen. Er wolle auch als anständiger Bürger Steuern zahlen. Bis zum offiziellen Verbot der Zeugen J. habe er relativ gut bis sehr gut in Russland gelebt. Mittlerweile sei es auch ein Problem, eine Mietwohnung zu finden. Sobald Vermieter erfahren würden, dass er ein Zeuge J. sei, wolle ihm niemand mehr eine Wohnung vermieten. Er habe in einem gemieteten Hotelzimmer gelebt, wo er anlässlich des Bibelstudiums oft Besuch bekommen habe. Er habe Leute über die Glaubensinhalte der Zeugen J. aufgeklärt und dann gepredigt. Später habe man ihn unhöflich gebeten, das Zimmer zu verlassen. Er habe sich nirgendwo beschweren können, da er als Extremist ein Straftäter gewesen sei. An Zusammenkünften der Zeugen J. könne er nicht mehr teilnehmen. Die Königreichssäle seien mittlerweile verboten und konfisziert worden. Die Teilnahme an solchen Veranstaltungen sei allgemein sehr problematisch. Die Glaubensausübung sei verboten worden. Aufgrund des Extremismusgesetzes drohe eine Gefängnisstrafe. Wenn bei ihm eine Zeitschrift der Zeugen J. wie der mitgeführte „Wachtturm“ gefunden werde, werde er dafür bestraft. Die Versammlungen fänden mittlerweile geheim statt. Fremde Personen fielen sehr schnell auf. Er habe deshalb Angst, wenn unbekannte Personen die Versammlungen besuchten, besonders, wenn er den „Wachtturm“ dabeihabe. Diese Personen könnten die Sicherheitsbehörden bzw. den FSB kontaktieren. Ihm drohe dann eine lange Gefängnisstrafe. Wegen dieser ganzen Probleme seien ihm die Hände gebunden. Er könne überhaupt nicht mehr tätig werden. Überall seien Kameras installiert. Man werde überall überwacht. Die Aufnahmen würden von speziellen Behörden ausgewertet. Die gesammelten Daten befänden sich in einem digitalen Archiv. Er habe via Telefon und Post gepredigt. Das ganze Beweismaterial und die Aufnahmen würden aufbewahrt und könnten gegen ihn jederzeit verwendet werden. Die schwere Zeit seit dem Verbot der Zeugen J. habe ihn auch gesundheitlich mitgenommen. Er fühle sich oft deprimiert und habe Erinnerungslücken. Die innere Angst belaste ihn. Ein normales Leben sei für ihn in Russland unmöglich und sehr, sehr gefährlich. Seine geschiedene Ehefrau, die auch Zeugin J. gewesen sei, habe die Scheidung gewollt. Diese sei im Oktober oder November 2017 erfolgt. Wie sein Ältester in Russland geheißen habe, könne er nur mit dessen Genehmigung sagen. Sein Dienst in der religiösen Gemeinde sei es gewesen, in einem Saal vor ca. 70 Zuhörern die Bibel vorzulesen, zu predigen und kurze Reden zu halten. Das habe er das letzte Mal vor dem Verbot gemacht. Verhaftet worden sei er nicht, da er sich versteckt habe, wenn er sich bedroht oder in Gefahr gefühlt habe. Er sei auch nicht angeklagt worden. Versammlungen und Predigten hätten heimlich stattgefunden, das letzte Mal vor ungefähr zwei oder drei Monaten. Sie hätten sich in Privaträumen oder im Keller eines Gebäudes getroffen und aufgepasst, dass sie niemand sehe. Von 2004 bis 2017 habe er auch die Schriften der Zeugen J. verteilt. Das mache er auch in Deutschland. Das Predigen habe er bei den Versammlungen gelernt. Er habe auch Literatur von Haus zu Haus verteilt und die Menschen mit dem Glauben vertraut gemacht. Außerdem hätten sie ganz normal auf der Straße an Interessenten Prospekte und Broschüren verteilt. Er sei in vielen Städten unterwegs gewesen, u.a. in Sotschi, Anapa und Rostow am Don. Es sei zu physischen Überfällen und Beleidigungen gekommen. Die Polizei habe ihn aber kein einziges Mal mitgenommen oder verhaftet. Vor einigen Jahren sei er von einem Mann überfallen worden und habe von zwei Männern Morddrohungen erhalten. Wichtigster Auslöser für seine Ausreise sei die Angst vor Verfolgung als Straftäter und die Verurteilung zu einer Gefängnisstrafe gewesen, die fünf bis zehn Jahre betragen könne. Zudem werde das Eigentum vollständig beschlagnahmt. Er könne seinen Glauben nicht leben und alles, was ihm im Leben wichtig sei, nicht machen.
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Mit Bescheid vom 6. März 2018 lehnte das Bundesamt den Antrag des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Asylanerkennung und auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Ferner drohte es dem Kläger die Abschiebung in die Russische Föderation oder einen anderen aufnahmebereiten Staat an. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet.
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Am 13. März 2018 ließ der Kläger Klage zum Verwaltungsgericht Bayreuth erheben. Im Klageverfahren legte er eine Bescheinigung vom 27. Dezember 2017 über seine Taufe am 19. Juni 2004 und seine Zugehörigkeit zur russischen Gemeinde der Zeugen J. in B. sowie eine Patientenverfügung vom 18. April 2018 vor und erklärte, den Namen des Ältesten bei der Anhörung nicht genannt zu haben, weil er befürchtet habe, dieser könne in irgendeiner Weise zu Schaden kommen.
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Mit Gerichtsbescheid vom 5. August 2019 wies das Verwaltungsgericht die Klage ab. Es komme allein eine mögliche Verfolgung wegen Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Zeugen J. in Betracht. Ein Eingriff in die Religionsfreiheit als Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Qualifikationsrichtlinie nach den durch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs entwickelten Maßstäben liege nicht vor. Der Kläger sei nicht individuell vorverfolgt aus der Russischen Föderation ausgereist. Sein Vortrag lasse keine zielgerichtete individuelle Verfolgung durch den russischen Staat oder nichtstaatliche Akteure wegen seiner Religionszugehörigkeit erkennen. Die beschriebenen Sachverhalte reichten nicht aus, um die Intensitätsschwelle einer flüchtlingsrelevanten individuellen Verfolgung im Sinne von § 3a Abs. 1 AsylG zu erreichen. Durch die beschriebenen Diskriminierungen werde es ihm nicht unmöglich gemacht, seinen Lebensunterhalt zu erwirtschaften und eine Unterkunft zu finden. Er habe trotz Kontrollen am Flughafen auf dem Luftweg ausreisen können. Der geschilderte Überfall und die Morddrohungen seien ersichtlich nicht fluchtauslösend gewesen. Dem Kläger drohe auch bei einer Rückkehr in die Russische Föderation nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung durch russische Sicherheitsbehörden oder Gerichte wegen seiner Zugehörigkeit zu den Zeugen J. im Sinne einer sog. Gruppenverfolgung. Das Gericht gehe davon aus, dass er - wie von Beginn des Verfahrens an vorgebracht und durch seine weiteren Angaben untermauert - den Zeugen J. angehöre. Auch eine Ehescheidung sei nach deren Glaubensgrundsätzen nicht gänzlich ausgeschlossen, zumal der Scheidungswunsch von seiner Frau ausgegangen sei. Die vorgelegte Tauf- und Mitgliedsbescheinigung könne zumindest als Indiz gesehen werden. Die für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderliche Verfolgungsdichte sei trotz des Verbots der Organisation der Zeugen J. und der strafrechtlichen Verfolgung der Glaubensausübung nicht hinreichend. Aus den vom Kläger benannten und aus den Erkenntnismitteln ersichtlichen Fällen ergebe sich keine planvolle Vernichtung oder Vertreibung der Zeugen J. durch staatliche Organe in der Russischen Föderation. Die russischen Behörden gingen zwar gezielt gegen Einzelpersonen und deren Religionsausübung vor. Hieraus könne aber nicht geschlossen werden, dass es Ziel eines staatlichen Verfolgungsprogramms wäre, die Angehörigen der Glaubensgemeinschaft als religiöse Minderheit in der Russischen Föderation zu vernichten oder aus dem Staatsgebiet zu vertreiben oder einer annähernd vergleichbaren intensiven staatlichen Verfolgung auszusetzen. Es lägen auch keine Hinweise darauf vor, dass eine solche Verfolgung unmittelbar bevorstehe. Zudem könnten Zeugen J. ihren Glauben öffentlich ausleben, sodass noch nicht von einer umfassenden Durchsetzung des Verbots aus Art. 282.2 des russischen Strafgesetzbuchs ausgegangen werden könne. In der Russischen Föderation lebten mehr als 170.000 Zeugen J.. Die russischen Behörden gingen mittlerweile gezielt gegen spezifische Einzelpersonen und deren Religionsausübung vor, sofern diese öffentlich erfolge. Es existierten Berichte über Hausdurchsuchungen und polizeiliche Vernehmungen von Zeugen J.. Es lägen hingegen keine Quellen vor, die darauf schließen ließen, dass einfache Gläubige, die nicht an gemeinschaftlichen Zusammenkünften, an der Missionierung oder an öffentlichen Handlungen teilnähmen, von legalen Repressionen betroffen wären. Seit April 2017 hätten die Behörden mindestens 85 strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet. 27 Zeugen J. säßen in Untersuchungshaft, 17 befänden sich im Hausarrest und 31 weitere dürften ihren Wohnort nicht verlassen. Hinzu kämen Gewalttaten durch Unbekannte. Auch wenn man die von den Zeugen J. in Russland auf deren Homepage veröffentlichten höheren Zahlen vom 25. April 2019 zugrunde lege, führe dies nicht zu einer hinreichenden Verfolgungsdichte. Die Zahlen genügten offensichtlich nicht, um die Annahme zu rechtfertigen, dass jeder Angehörige der 170.000 Zeugen J. in der Russischen Föderation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit damit rechnen müsse, in einer noch überschaubaren Zeit Opfer von Verfolgungsmaßnahmen zu werden. Eine Quantifizierung der Übergriffe nichtstaatlicher Akteure sei nicht möglich. Dass es nach wie vor ein reges, wenn auch möglicherweise nur unter Vorsichtsmaßnahmen stattfindendes religiöses Leben der Zeugen J. gebe, werde auch durch die eigenen Angaben des Klägers deutlich. Ein Verzicht auf das aktive Mitwirken für und innerhalb der Religionsgemeinschaft habe beim Kläger gerade nicht vorgelegen. Er habe nach seinen Angaben noch bis kurz vor seiner Ausreise an Versammlungen in Privaträumen teilgenommen und außerdem von 2004 bis 2017 in verschiedenen Städten Schriften verteilt und per Telefon und Post gepredigt. Gerade am Beispiel des Klägers und seiner Darstellung werde deutlich, dass die Mitglieder der Zeugen J. in Russland auch nach dem Verbot offensichtlich weiterhin ihren Glauben lebten und praktizierten. Es möge sein, dass sie sich „heimlich“ in privaten Wohnungen träfen. Der Kläger sei, obwohl seine Religionszugehörigkeit potentiellen Arbeitgebern und Nachhilfeschulen bekannt gewesen sei, nicht durch staatliche Stellen verfolgt worden. Demnach erfolge ersichtlich keine generelle und flächendeckende Durchsetzung des Verbots der Zeugen J.. Ein Verzicht auf die öffentliche Glaubensbetätigung habe augenscheinlich nicht stattgefunden. Zudem habe der Kläger selbst angegeben, die russischen Sicherheitsbehörden hätten Beweismaterial gegen ihn, das sie jederzeit verwenden könnten. Das Verbot und dessen Vollzug erreichten daher nicht die Qualität einer schwerwiegenden Rechtsverletzung im Sinne des Art. 10 Abs. 1 EU-GR-Charta. Es möge sein, dass der Kläger nach seinem subjektiven Empfinden tatsächlich sehr große Angst habe, in die Russische Föderation zurückzukehren und dort aus religiösen Gründen verfolgt oder strafrechtlich belangt zu werden. Maßstab für das Gericht sei jedoch der „vernünftig denkende, besonnene Mensch“. Nach der hierfür relevanten qualifizierenden Betrachtungsweise erscheine dem Gericht eine Rückkehr des Klägers nicht unzumutbar. Es bestehe auch keine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung dergestalt, dass der Kläger einer strafrechtlichen Verfolgung ausgesetzt wäre, wenn er z.B. im Krankenhaus eine blutlose Behandlung verlangen würde oder die Gefahr bestünde, dass ein Arzt deswegen seine Behandlung verweigern würde oder er keinen Zugang zu grundliegender medizinischer Versorgung hätte. Aus den vom Bundesamt dargelegten Gründen habe der Kläger auch keinen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG. Damit seien auch die Voraussetzungen für eine Asylanerkennung nicht gegeben. Ebenso wenig könne sich der Kläger auf das Bestehen von Abschiebungsverboten berufen.
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Mit Beschluss vom 4. September 2019 ließ der Senat die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zu.
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Zur Begründung der Berufung trägt der Kläger im Wesentlichen vor, er gehöre seit 2004 den Zeugen J. an, deren zentrale Glaubensinhalte die Missionstätigkeit, die Abhaltung von öffentlichen und privaten Versammlungen, die Verweigerung des Wehrdienstes etc. seien. Der Glaube sei für ihn identitätsprägend. Die religiösen Überzeugungen seien tief in seinem Leben verwurzelt und so bedeutsam für seine Identität, dass er nicht gezwungen werden könne, auf sie zu verzichten. Die Befolgung von Religionsgeboten sei mit der konkreten Gefahr der Verfolgung verbunden. Allein aufgrund des gefahrerhöhenden Umstands, dass die Mitglieder der Religionsgemeinschaft gehalten seien, Versammlungen und Gottesdienste zu besuchen, bestehe eine konkrete Gefahr, verfolgt und verhaftet zu werden. Gemessen an den in der obergerichtlichen Rechtsprechung aufgestellten Grundsätzen drohe dem Kläger sowohl eine Einzel- als auch eine Gruppenverfolgung wegen seiner Religionszugehörigkeit. Die Auffassung, die Anzahl der bisher bekannt gewordenen Strafverfahren gegen Zeugen J. (70 bis 100) lasse angesichts einer geschätzten Zahl von 170.000 Anhängern der Gemeinschaft nicht auf eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit schließen, greife zu kurz. Eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungshandlung könne nicht nur in der schwerwiegenden Verletzung der Freiheit, seine Religion im privaten Rahmen zu praktizieren (forum internum) liegen, sondern auch in der Verletzung der Freiheit, den Glauben öffentlich zu leben (forum externum). Somit könne schon das Verbot bestimmter Formen der Religionsausübung eine beachtliche Verfolgungshandlung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie darstellen, unabhängig davon, ob sich der davon betroffene Gläubige tatsächlich religiös betätigen werde oder auf die Ausübung aus Furcht vor Verfolgung verzichte. Angesichts der Verhaftung einer nicht unerheblichen Zahl von Zeugen J. in den letzten beiden Jahren erscheine es jedenfalls denkbar, dass viele Gläubige auf eine öffentliche Religionsausübung allein aus Furcht vor Verfolgung verzichteten. Zudem hätten ca. 10.000 Personen das Land verlassen. Die Tatsache, dass gegenwärtig nicht alle Mitglieder der Religionsgemeinschaft verhaftet worden seien, sei deshalb (zum Teil) darauf zurückzuführen, dass sie sich gezwungen fühlten, auf die Teilnahme an religiösen Riten in der Öffentlichkeit zu verzichten. Eine Verfolgung scheide nur aus, wenn es den Anhängern der Zeugen J. noch immer möglich wäre, zentrale Glaubensinhalte (Missionstätigkeit, Abhaltung von Versammlungen, Verweigerung des Wehrdienstes etc.) zu leben, ohne mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit hierfür strafrechtlich belangt zu werden. Die neuen Erkenntnisse sprächen dafür, dass es den Organen der Russischen Föderation nicht nur um die Zerschlagung der Organisation der Zeugen J. als solcher gehe, sondern auch um die Sanktionierung von individuellen glaubensgeleiteten Verhaltensweisen. Diese Umstände rechtfertigten die Annahme eines staatlichen Verfolgungsprogramms, zumal Staatsanwälte und Abgeordnete im Fernsehen dazu aufriefen, die Zeugen J. bei der Polizei zu melden. Eine rein quantitative Ermittlung der Verfolgungswahrscheinlichkeit oder der Verfolgungsdichte scheide schon deswegen aus, weil sich den Erkenntnismitteln keine verlässlichen Hinweise darauf entnehmen ließen, dass die russischen Strafverfolgungsbehörden eine an sich von Art. 282.2 des Strafgesetzbuches erfasste Religionsausübung geduldet hätten. Nur die Relation der Anzahl strafrechtlicher Sanktionen und der vom russischen Staat tolerierten formell strafbaren Verhaltensweisen könne Aufschluss über die Verfolgungswahrscheinlichkeit geben. Zudem lasse die rein quantitative Ermittlung der Verfolgungsdichte zu Unrecht diejenigen außer Betracht, die aus Furcht vor Verfolgung auf eine verfolgungsträchtige Religionsausübung verzichteten. Diese Dunkelziffer lasse sich nicht zuverlässig ermitteln. Da die russischen Strafverfolgungsbehörden weder die Existenz der Religionsgemeinschaft noch die Religionsausübung tolerierten, betrage die Verfolgungswahrscheinlichkeit 100%. Sie erhöhe sich aufgrund einer besonders exponierten Stellung innerhalb der Glaubensgemeinschaft als sog. Dienstamtsgehilfe oder Ältester, weil die Strafverfolgungsbehörden in erster Linie die Ältesten und Ältestengehilfen verfolgten. Außerdem verkenne das Verwaltungsgericht, dass die Strafverfolgungsbehörden nicht in der Lage seien, alle Straftaten sofort aufzudecken, was jedoch nicht das Verfolgungsrisiko reduziere. Die vom Gericht behauptete „geringe Zahl der Verfolgungen“ sei nicht auf mangelnden Verfolgungswillen oder die behördliche Duldung der Religionsausübung zurückzuführen, sondern auf verschiedene Geheimhaltungs- und Sicherheitsmaßnahmen der Zeugen J.. Trotzdem gelinge es den Behörden, die Gläubigen zu identifizieren und ausfindig zu machen. Dies und die tendenziell weiter steigende Zahl von Verhaftungen lasse auf eine planmäßige Zerschlagung der Religionsgemeinschaft bzw. Sanktionierung der Religionsausübung schließen (Verfolgungsprognose). Zielrichtung und Intention sei es, die Religion jedenfalls sukzessiv auszurotten. Das Verwaltungsgericht verkenne zudem, dass das Verbot der religiösen Gemeinschaft jeden einzelnen ihrer Angehörigen betreffe und in seiner Religionsausübung wesentlich einschränke, weil die kollektive Religionsausübung ein wesentlicher Bestandteil ihres religiösen Selbstbewusstseins sei. Das Vereinigungsverbot stelle für sich genommen eine individuelle Verfolgung dar und verletze jedes Mitglied in seiner kollektiven Religionsfreiheit. Außerdem schließe das Gericht aus der bis zuletzt erfolgten Religionsausübung des Klägers zu Unrecht auf mangelnde Verfolgungsfurcht und die Möglichkeit, den Glauben öffentlich und privat leben zu können. Die Zeugen J. seien vor die Wahl gestellt worden, entweder auf die Ausübung ihrer Religion zu verzichten oder hinter Gitter zu geraten. Wie viele die Religionsausübung aus Furcht vor Verfolgung unterlassen hätten, lasse sich nicht sagen. Es sei jedoch sicher, dass die aktiven Mitglieder der Religionsgemeinschaft verfolgt würden. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis man sie verhafte. Gemessen an den Grundsätzen des Bundesverfassungsgerichts sei kein elementarer Bereich ersichtlich, den ein Zeuge J. als „religiöses Existenzminimum“ zu seinem Leben- und Bestehenkönnen als sittliche Person benötige. Sie hätten nicht einmal die Möglichkeit, ihre Religion in privaten Wohnungen auszuüben.
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Der Kläger beantragt,
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den Gerichtsbescheid des Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 5. August 2019 zu ändern, den Bescheid der Beklagten vom 6. März 2018 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und ihn als Asylberechtigten anzuerkennen, ihm hilfsweise subsidiären Schutz zuzuerkennen, weiter hilfsweise Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG festzustellen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Der Kläger sei nicht allein wegen seiner Zugehörigkeit zu den Zeugen J. flüchtlingsschutzrelevanter Verfolgung ausgesetzt. Die Zeugen J. hätten nach eigenen Angaben rund 175.000 Anhänger in Russland. Im Verfahren vor dem Obersten Gericht Russlands am 20. April 2017 seien zwar die Organisationen der Religionsgemeinschaft landesweit verboten worden. Das Gericht habe jedoch darauf hingewiesen, dass Einzelpersonen ihren Glauben ungehindert ausüben könnten. Es sei zwischen der - verbotenen - körperstaatlichen Organisation der Religionsgemeinschaft und der Möglichkeit der Glaubensausübung zu unterscheiden. Die bisherigen Strafverfahren richteten sich nach Art. 282 des russischen StGB gegen die Organisation und Finanzierung einer „extremistischen Organisation“. Bei Zugrundelegung der bekannt gewordenen Maßnahmen (Strafverfahren, Festnahmen, Geldstrafen, Hausarrest, Hausdurchsuchungen etc.) ergebe sich eine rechnerische Verfolgungsdichte von 0,04%. Hieran habe sich durch die zwischenzeitlichen Ausreisen der Zeugen J. nichts geändert. Es liege keine Quelle vor, die darauf schließen lasse, dass die Glaubensausübung des Einzelnen, insbesondere das sog. „Predigen“ oder Zusammenkünfte an anderen Orten als in den geschlossenen Königreichssälen, nicht mehr möglich seien. Informationen über flächendeckende Repressionen lägen nicht vor. Allein die Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft reiche deshalb für die Annahme einer Gruppenverfolgung nicht aus. Der Kläger sei unverfolgt ausgereist und habe auch keine besonders herausgehobene Stellung innerhalb der religiösen Gemeinde gehabt.
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Auf die Erwiderung des Klägers vom 28. Oktober 2019 wird Bezug genommen.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Berufung ist begründet.
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Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 des Asylgesetzes [AsylG] vom 2.9.2008 [BGBl I S. 1798], zuletzt geändert durch das Gesetz vom 9.7.2021 [BGBl I S. 2467]), Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG und auf Anerkennung als Asylberechtigter gemäß Art. 16a GG. Der ablehnende Bescheid der Beklagten vom 6. März 2018 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
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1. Nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 Buchst. a AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951 (BGBl 1953 II S. 559), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
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1.1. Als Verfolgung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder Handlungen, die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Als Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 bis 6 AsylG gelten unter anderem die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden, unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, die Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung und Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen. Gemäß § 3a Abs. 3 AsylG muss zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. den in § 3b Abs. 1 und 2 AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen.
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1.2. Gemäß § 3e AsylG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftsstaates keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (sog. inländische Fluchtalternative).
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1.3. Die Furcht vor Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist begründet, wenn dem Ausländer diese aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht (stRspr, vgl. BVerwG, B.v. 11.12.2019 - 1 B 79.19 - juris Rn. 15; U.v. 20.2.2013 - 10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67 = juris Rn. 19; U.v. 1.6.2011 - 10 C 25.10 - BVerwGE 140, 22 Rn. 22). Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erfordert, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (stRspr BVerwG, B.v. 11.12.2019 a.a.O. Rn. 15; U.v. 20.2.2013 a.a.O. Rn. 32 m.w.N.). Wurde der Ausländer bereits vor der Ausreise in seinem Herkunftsland verfolgt bzw. war er von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht, ist dies nach Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist; d.h. es besteht die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere (unmittelbar drohende) Verfolgungshandlungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden, wenn stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgungshandlungen entkräften, was im Rahmen freier Beweiswürdigung zu beurteilen ist (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 - 1 C 29.17 - BVerwGE 162, 44 = juris Rn. 15; U.v. 27.4.2010 - 10 C 5.09 - BVerwGE 136,377 = juris Rn. 23).
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1.4. Der in § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG näher definierte Verfolgungsgrund der Religion umfasst insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind.
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1.5. Eine schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit nimmt das Bundesverwaltungsgericht (U.v. 20.2.2013 - 10 C 23.12 - BVerwGE 146, 67 = juris) unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, U.v. 5.9.2012 - C-71/11 und C-99/11 - NVwZ 2012, 1612) nicht nur bei gravierenden Eingriffen in die Freiheit des Betroffenen an, seinen Glauben im privaten Rahmen zu praktizieren (forum internum), sondern auch bei solchen in seine Freiheit, diesen Glauben öffentlich zu leben (forum externum). Bei der Bestimmung der Handlungen, die aufgrund ihrer Schwere verbunden mit der ihrer Folgen für den Betroffenen als Verfolgung gelten können, ist auf die Art der ausgeübten Repressionen und ihre Folgen für den Betroffenen abzustellen und nicht darauf, in welche Komponente der Religionsfreiheit eingegriffen wird (BVerwG, a.a.O. Rn. 24). Ein hinreichend schwerer Eingriff in die Religionsfreiheit setzt nicht voraus, dass der Ausländer seinen Glauben nach Rückkehr in sein Herkunftsland tatsächlich in einer Weise ausübt, die ihn der Gefahr der Verfolgung aussetzt (BVerwG, a.a.O. Rn. 26). Vielmehr kann bereits der unter dem Druck der Verfolgungsgefahr erzwungene Verzicht auf die Glaubensbetätigung die Qualität einer Verfolgung erreichen (BVerwG, a.a.O. Rn. 26 f.; Treiber in GK-AsylG, Stand August 2021, § 3a AsylG Rn. 88). Schon das Verbot der Teilnahme an religiösen Riten im öffentlichen Bereich kann eine Verfolgung darstellen, wenn der Verstoß dagegen die tatsächliche Gefahr der dort genannten Sanktionen und Konsequenzen heraufbeschwört. Kann Verfolgung somit schon in dem Verbot als solchem liegen, kommt es auf das tatsächliche künftige Verhalten des Asylbewerbers und daran anknüpfende Eingriffe in andere Rechtsgüter des Betroffenen (z.B. in Leben oder Freiheit) letztlich nicht an (BVerwG, a.a.O. Rn. 26).
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Die Beurteilung, wann eine Verletzung der Religionsfreiheit die erforderliche Schwere aufweist, um die Voraussetzungen einer Verfolgungshandlung zu erfüllen, hängt von objektiven wie auch subjektiven Gesichtspunkten ab (vgl. Dörig in Dörig, Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2. Aufl. 2020, § 19 Nationales Asyl- und Asylverfahrensrecht, Rn. 38 ff.).
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1.5.1 Objektive Gesichtspunkte sind insbesondere die Schwere der dem Ausländer bei Ausübung seiner Religion drohenden Verletzung anderer Rechtsgüter wie z.B. Leib und Leben. Die erforderliche Schwere kann insbesondere dann erreicht sein, wenn dem Ausländer durch die Teilnahme an religiösen Riten in der Öffentlichkeit die Gefahr droht, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Bei strafrechtsbewehrten Verboten kommt es insoweit maßgeblich auf die tatsächliche Strafverfolgungspraxis im Herkunftsland des Ausländers an, denn ein Verbot, das erkennbar nicht durchgesetzt wird, begründet keine erhebliche Verfolgungsgefahr (BVerwG, a.a.O. Rn. 28 m.w.N.). Handelt es sich um sonstige Eingriffe oder sonstige Beeinträchtigungen im Sinne von § 3a Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 2 AsylG, wie etwa die Diskriminierung beim Zugang zu Bildungs- oder Gesundheitseinrichtungen oder berufliche oder wirtschaftliche Einschränkungen, müssen sie in ihrer kumulierten Wirkung einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte gleichkommen bzw. existenzgefährdend sein (BVerwG, a.a.O. Rn. 34, 36; Dörig, a.a.O. Rn. 44 f.; kritisch Marx, AsylG, 10. Aufl. 2019, § 3a Rn. 17 ff.; vgl. auch Becker in von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 16a GG Rn. 39).
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1.5.2 Relevanter subjektiver Gesichtspunkt für die Schwere der drohenden Verletzung der Religionsfreiheit ist der Umstand, dass die Befolgung einer bestimmten gefahrträchtigen religiösen Praxis in der Öffentlichkeit für den Ausländer zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist (BVerwG, a.a.O. Rn. 29 m.w.N.). Denn der Schutzbereich der Religion erfasst sowohl die von der Glaubenslehre vorgeschriebenen Verhaltensweisen als auch diejenigen, die der einzelne Gläubige für sich selbst als unverzichtbar empfindet. Es kommt auf die Bedeutung der religiösen Praxis für die Wahrung der religiösen Identität des einzelnen Ausländers an, auch wenn die Befolgung einer solchen religiösen Praxis nicht von zentraler Bedeutung für die betreffende Glaubensgemeinschaft ist (BVerwG, a.a.O. Rn. 29 m.w.N.; B.v. 9.12.2010 - 10 C 19.09 - BVerwGE 138, 270 Rn. 43). Dem Umstand, dass die konkrete Form der Glaubensbetätigung (z.B. Missionierung) nach dem Selbstverständnis der Glaubensgemeinschaft, der der Schutzsuchende angehört, zu einem tragenden Glaubensprinzip gehört, kann dabei eine indizielle Wirkung zukommen. Maßgeblich ist aber, wie der einzelne Gläubige seinen Glauben lebt und ob die verfolgungsträchtige Glaubensbetätigung für ihn persönlich nach seinem Glaubensverständnis unverzichtbar ist (BVerwG, U.v. 20.2.2013 a.a.O. Rn. 29). Der Maßstab, dass die Befolgung einer bestimmten religiösen Praxis zur Wahrung der religiösen Identität besonders wichtig ist, setzt nicht voraus, dass der Betroffene innerlich zerbrechen oder jedenfalls schweren seelischen Schaden nehmen würde, wenn er auf eine entsprechende Praktizierung seines Glaubens verzichten müsste (BVerwG, a.a.O. Rn. 30 m.w.N.). Jedoch muss die konkrete Glaubenspraxis für den Einzelnen ein zentrales Element seiner religiösen Identität und in diesem Sinne für ihn unverzichtbar sein. Es reicht nicht aus, dass der Asylbewerber eine enge Verbundenheit mit seinem Glauben hat, wenn er diesen - jedenfalls im Aufnahmemitgliedstaat - nicht in einer Weise lebt, die ihn im Herkunftsstaat der Gefahr der Verfolgung aussetzen würde. Maßgeblich für die Schwere der Verletzung der religiösen Identität ist die Intensität des Drucks auf die Willensentscheidung des Betroffenen, seinen Glauben in einer für ihn als verpflichtend empfundenen Weise auszuüben oder hierauf wegen der drohenden Sanktionen zu verzichten. Die Tatsache, dass er die unterdrückte religiöse Betätigung seines Glaubens für sich selbst als verpflichtend empfindet, um seine religiöse Identität zu wahren, muss der Asylbewerber zur vollen Überzeugung des Gerichts nachweisen (BVerwG, a.a.O. Rn. 30 m.w.N.). Die religiöse Identität als innere Tatsache lässt sich nur aus seinem Vorbringen sowie im Wege des Rückschlusses von äußeren Anhaltspunkten auf die innere Einstellung des Betroffenen feststellen. Dafür ist das religiöse Selbstverständnis eines Asylbewerbers grundsätzlich sowohl vor als auch nach der Ausreise aus dem Herkunftsland von Bedeutung (BVerwG, a.a.O. Rn. 31).
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1.6 Das Verbot einer öffentlichen religiösen Betätigung als solches kann nur dann als hinreichend schwere Verletzung der Religionsfreiheit und damit als Verfolgungshandlung angesehen werden, wenn der Asylbewerber - über die genannten objektiven und subjektiven Gesichtspunkte hinaus - bei Ausübung der verbotenen öffentlichkeitswirksamen Glaubensausübung in seinem Herkunftsland tatsächlich Gefahr läuft, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden (BVerwG, a.a.O. Rn. 32; EuGH, U.v. 4.10.2018 - C-56/17 - NVwZ 2019, 634 Rn. 98; Dörig, Flüchtlingsschutz wegen Eingriffs in die Religionsfreiheit, www.doerig. de/veroeffentlichungen/20.pdf, S. 1/7). Das bedeutet, dass die genannten Folgen und Sanktionen dem Ausländer im Herkunftsland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen müssen.
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2. Im Anwendungsbereich des Art. 16a GG hat das Bundesverfassungsgericht den asylrechtlichen Schutz auf das religiöse Existenzminimum beschränkt (BVerfG, B.v. 1.7.1987 - 2 BvR 478/86, 2 BvR 962/86 - BVerfGE 76, 143/158 = juris Rn. 34; BVerwG, U.v. 20.1.2004 - 1 C 9.03 - BVerwGE 120, 16 = juris Rn. 12 ff.; Gärditz in Dürig/Herzog/Scholz, GG, Stand Juli 2021, Art. 16a Rn. 217; Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, Art. 16a GG Rn. 30). Hiernach erreicht eine religiöse oder religiös motivierte Verfolgung die asylerhebliche Schwelle, wenn die Religionsfreiheit Eingriffen und Beeinträchtigungen von einer die Menschenwürde verletzenden Schwere und Intensität ausgesetzt ist (vgl. BVerfG, B.v. 1.7.1987 a.a.O. Rn. 33). Dies ist der Fall, wenn die dem Herkunftsstaat zurechenbaren Maßnahmen auf die physische Vernichtung der Angehörigen einer religiösen Gruppe, vergleichbar schwere Sanktionen (z.B. Austreibung, Vorenthaltung elementarer Lebensgrundlagen) oder die Beraubung der religiösen Identität gerichtet sind, indem den Glaubensangehörigen z.B. unter Androhung von Strafen an Leib, Leben oder persönlicher Freiheit eine Verleugnung oder Preisgabe tragender Inhalte ihrer Glaubensüberzeugung zugemutet wird oder sie daran gehindert werden, ihren Glauben, so wie sie ihn verstehen, im privaten Bereich und unter sich zu bekennen. Die Religionsausübung im häuslich-privaten Bereich, wie etwa der häusliche Gottesdienst, aber auch die Möglichkeit zum Reden über den eigenen Glauben und zum religiösen Bekenntnis im nachbarschaftlich-kommunikativen Bereich, ferner das Gebet und der Gottesdienst abseits der Öffentlichkeit in persönlicher Gemeinschaft mit anderen Gläubigen dort, wo man sich nach Treu und Glauben unter sich wissen darf, gehören unter dem Gesichtspunkt der Menschenwürde wie nach internationalem Standard zu dem elementaren Bereich, den der Mensch als „religiöses Existenzminimum“ zu seinem Leben- und Bestehenkönnen als sittliche Person benötigt (vgl. BVerfG, B.v. 1.7.1987 a.a.O. Rn. 34 m.w.N.). Eingriffe in diese religiösen Betätigungsformen können nur gerechtfertigt sein, wenn etwa die besondere Art und Weise des Bekenntnisses oder der Glaubensbekundung in erheblich friedenstörender Weise in die Lebenssphäre anderer Bürger hinübergreift oder mit dem Grundbestand des ordre public nicht vereinbar ist (z. B. Witwenverbrennungen oder Kindesopfer). Weitergehende Verbote oder sonst eingreifende Maßnahmen würden die Grenze zur politischen Verfolgung grundsätzlich überschreiten; das gilt jedenfalls dann, wenn sie mit Strafsanktionen für Leib, Leben oder die persönliche Freiheit verbunden sind (BVerfG, a.a.O.). Glaubensbetätigungen in der Öffentlichkeit (forum externum), darunter auch die Missionierung, gehören nicht zum religiösen Existenzminimum (vgl. BVerwG, U.v. 20.1.2004 - 1 C 9.03 - BVerwGE 120, 16 = juris Rn. 12; Barden in Heusch/Haderlein/Fleuß/Barden, Asylrecht in der Praxis, 2. Aufl. 2021, § 3b AsylG, A III 4 Rn. 66). Eingriffe in den menschenrechtlich geforderten Mindestbestand der Religionsfreiheit führen allerdings nur dann zur Asyl- oder Flüchtlingsanerkennung im Einzelfall, wenn der jeweilige Glaubensangehörige von ihnen auch selbst betroffen ist. Wird etwa die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gruppe als solche unter Strafe gestellt, ergibt sich eine Betroffenheit schon aus der bloßen Mitgliedschaft in dieser Gruppe. Werden hingegen lediglich bestimmte Verhaltensweisen, Äußerungen oder Bekenntnisse untersagt, so ist nicht ohne weiteres auch jedes einzelne Mitglied der Gruppe schutzbedürftig. Das ist vielmehr nur bei denjenigen Mitgliedern der Fall, die durch das Verbot auch selbst in ihrer religiös-personalen Identität betroffen sind. Dies hängt maßgeblich davon ab, wie der einzelne Glaubensangehörige seinen Glauben lebt. Innerhalb einer Religionsgemeinschaft können sich demnach durchaus für praktizierende oder eher am Rande stehende Gläubige Unterschiede ergeben (BVerwG, U.v. 20.1.2004 a.a.O. Rn. 13).
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3. Im Rahmen der Beweiswürdigung ist die besondere Bedeutung des Grundrechts auf Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit zu beachten (BVerfG, B.v. 3.4.2020 - 2 BvR 1838/15 - NVwZ 2020, 950 = juris Rn. 34). Zwar unterliegt es im Ausgangspunkt der freien Beweiswürdigung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO, auf welche Weise das Tatsachengericht sich die erforderliche Überzeugungsgewissheit vom Vorliegen der entscheidungserheblichen Tatsache verschafft, ob der Schutzsuchende eine verfolgungsträchtige religiöse Betätigung seines Glaubens für sich selbst als verpflichtend empfindet, um seine religiöse Identität zu wahren (BVerfG a.a.O. unter Bezugnahme auf BVerwG, U.v. 20.2.2013 a.a.O. Rn. 30 und B.v. 25.8.2015 - 1 B 40.15 - juris Rn. 14). Auch sind die Umstände, unter denen das Gericht die Überzeugung von dieser inneren Tatsache gewinnt, grundsätzlich einer abstrakt-generellen Verallgemeinerung nicht zugänglich. Es handelt sich stets um eine Frage des jeweiligen Einzelfalls (BVerfG, a.a.O. Rn. 24). Es bedarf in aller Regel der Gesamtschau einer Vielzahl von Gesichtspunkten, die Aufschluss über die religiöse Identität des Schutzsuchenden geben können, wie etwa die religiöse Vorprägung des Betroffenen und seiner Familie, Art und Umfang der Betätigung des Glaubens im Herkunftsland und in Deutschland wie z.B. die Teilnahme an Gottesdiensten, an Gebeten und am kirchlichen Leben, das Wissen über die Religion und die Kirche, die Bedeutung und Auswirkungen des Glaubens für bzw. auf das eigene Leben (vgl. BVerfG, a.a.O. Rn. 25 m.w.N. zu Konvertiten).
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4. Nach Maßgabe dieser Grundsätze drohte dem Kläger in der Russischen Föderation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine staatliche Verfolgung aus religiösen Gründen. Er gehört zu den Zeugen J., die ihren Glauben öffentlichkeitswirksam praktizieren, und war aufgrund eines staatlichen Verbots seiner Religionsgemeinschaft gezwungen, weitgehend auf die Ausübung seines Glaubens, die für ihn zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist, zu verzichten. Er konnte seinen Glauben zuletzt allenfalls heimlich betätigen und musste bei Entdeckung beachtlich wahrscheinlich eine schwere Rechtsgutverletzung, insbesondere strafrechtliche Verfolgung und die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe, befürchten (§ 3 Abs. 1, § 3a, § 3b Abs. 1 Nr. 2, § 3c Nr. 1 AsylG). Die Situation der Zeugen J., die ihren Glauben aktiv praktizieren, hat sich seit der Ausreise des Klägers aus der Russischen Föderation nicht verbessert, so dass er auch bei einer Rückkehr strafrechtliche und administrative Repressionen zu befürchten hätte.
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4.1. Bei den moralischen Lehren, theistischen Überzeugungen und den Glaubenspraktiken der Zeugen J. handelt es sich nach dem weiten Religionsbegriff gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG ohne Zweifel um eine Religion (vgl. BVerfG, U.v. 19.12.2000 - 2 BvR 1500/97 - BVerfGE 102, 370; BVerwG, U.v. 17.5.2001 - 7 C 1.01 - NVwZ 2001, 924; Zillmann, Jehovas Zeugen aus religionswissenschaftlicher Sicht, Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, 2018, S. 15 f.).
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4.2. Das Oberste Gericht der Russischen Föderation in Moskau hat die Zeugen J., denen in der Russischen Föderation rund 170.000 Personen angehören, mit Urteil vom 20. April 2017 als extremistische Gruppe eingestuft, die die Bürgerrechte sowie die öffentliche Ordnung bedrohe, ihnen sämtliche Aktivitäten auf russischem Territorium verboten und ihren Besitz beschlagnahmt (Auswärtiges Amt [AA], Lagebericht Russische Föderation vom 2.2.2021 in der Fassung vom 21.5.2021, S. 8; norwegische Facheinheit der Ausländerverwaltung für Landinformationen [Landinfo], Themenbericht Russland: Jehovas Zeugen vom 18.6.2021, S. 10). Von dem Verbot sind alle 395 Regionalverbände betroffen. Die Versammlungsgebäude (Königreichsäle) sind geschlossen und die Herstellung und Verteilung religiöser Druckwerke ist verboten (AA, Auskunft an VG Trier vom 27.1.2020, S. 6; Amnesty International [AI], Auskunft vom 6.8.2021, S. 4 f.). Die von den Zeugen J. benutzte Neue-Welt-Übersetzung der Bibel und die Webseiten der Glaubensgemeinschaft werden von den russischen Behörden als extremistisch eingestuft und unterfallen daher ebenfalls dem Verbot (AA, Auskunft vom 6.4.2020 an den BayVGH, S. 5; Brit. Home Office, Country Policy and Information Note, Russia: Jehovah´s Witnesses, April 2021, S. 7, 21; Schweizerische Flüchtlingshilfe [SFH], Russland: Zeugen J., 2.12.2020, S. 13).
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Die Angehörigen der Glaubensgemeinschaft können für die Ausübung ihres Glaubens strafrechtlich verfolgt werden. Die russischen Behörden gehen gezielt gegen Einzelpersonen und deren Religionsausübung vor. Die Zahl der Betroffenen, gegen die strafrechtlich ermittelt wird, stieg laut der Nichtregierungsorganisation Memorial, die das Auswärtige Amt für glaubwürdig erachtet, bis Sommer 2020 auf 333. 23 Zeugen J. seien in Untersuchungshaft, 19 befänden sich im Hausarrest und acht seien zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden, in einem Fall im Juni 2020 zu sechs Jahren und sechs Monaten (AA, Lagebericht vom 2.2.2021 i.d.F. vom 21.5.2021, S. 8). Nach aktuellen Erkenntnissen der norwegischen Ausländerverwaltung (Landinfo, Themenbericht vom 18.6.2021, S. 7) sind seit dem Verbot vom April 2017 65 Zeugen J. in ganz Russland verurteilt worden, weil sie eine Aktivität für eine extremistische Organisation ausgeführt oder geleitet hätten, wobei ca. 430 weitere mit einer Anklage gegen sich konfrontiert waren oder sind. Nach eigenen Angaben der Glaubensgemeinschaft (https://www.jw.org/de/nachrichten/rechtlich/nach-regionen/russland/zeugen-jehovas-im-gefaengnis/, Stand 20.9.2021) befinden sich 53 Zeugen J. in Untersuchungshaft bzw. sind sie zu Freiheitsstrafen verurteilt worden, stehen 26 weitere unter Hausarrest und dürfen 215 ihren Wohnort nicht verlassen. Gegen mindestens 358 Zeugen J. im Alter von 20 bis 91 Jahren werde zurzeit strafrechtlich ermittelt. Von 2017 bis Sommer 2021 sind rund 1.000 Hausdurchsuchungen durchgeführt worden (österr. Bundesamt, Länderinformation der Staatendokumentation vom 10.6.2021, Russische Föderation, S. 67; AA, Auskunft vom 6.4.2020, S. 4: bis Anfang 2020 mehr als 780 Hausdurchsuchungen in mehr als 70 Städten; Landinfo, Themenbericht vom 18.6.2021, S. 16: von 2017 bis 1.2.2021 ca. 1.296 Hausdurchsuchungen; vgl. ähnliche Zahlen von AI zu staatlichen Maßnahmen in der Auskunft an den BayVGH vom 6.8.2021, S. 1 f.). Ferner ist davon auszugehen, dass es darüber hinaus eine nicht unerhebliche Dunkelziffer nicht im Internet dokumentierter Fälle staatlicher Repressalien gibt. Dies konnten die in der mündlichen Verhandlung am 8. November 2021 in Parallelverfahren gehörten Kläger, die unter Vorlage von Fotos und schriftlichen Unterlagen weitere, nicht veröffentlichte Einzelschicksale von Glaubensangehörigen aus ihren Heimatgemeinden geschildert haben, glaubhaft vermitteln. Nach der Einschätzung von Amnesty International können Zeugen J. in der Russischen Föderation nicht mit einem fairen Verfahren rechnen, das minimalen rechtsstaatlichen Grundsätzen genügt (Auskunft vom 6.8.2021, S. 5). Im Zuge der staatlichen Maßnahmen ist es zu extrem belastenden Verhören, Bedrohungen, Folterungen und Misshandlungen gekommen (AI, Auskunft vom 6.8.2021, S. 6 f.; SFH, Auskunft vom 2.12.2020, S. 9; Landinfo, Themenbericht vom 18.6.2021, S. 16 ff.), was von russischen Behörden bestritten und nicht untersucht wird; Krankenhäuser weigern sich, die Verletzungen der Betroffenen zu dokumentieren (AI, Auskunft vom 6.8.2021, S. 6 f.). Daher kann insoweit nicht von vereinzelten, dem Staat nicht zurechenbaren Amtswalterexzessen ausgegangen werden (vgl. BVerfG, B.v. 5.3.2003 - 2 BvR 134/01 - DVBl 2003, 1260 = juris Rn. 16 f.).
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Allein wegen ihrer Taufe drohen den Angehörigen der Zeugen J. zwar keine staatlichen Maßnahmen (AA, Auskunft vom 6.4.2020 an den BayVGH, S. 1; SFH, Auskunft vom 2.12.2020, S. 21 f.: jedenfalls geringes Risiko; AI, Auskunft vom 6.8.2021, S. 2). Art. 282.2 Abs. 2 des russischen Strafgesetzbuchs (RussStGB) stellt allein die aktive Teilnahme an den Aktivitäten einer öffentlichen oder religiösen Vereinigung, welche nach russischem Recht als extremistisch eingestuft worden ist, unter Strafe (bis zu sechs Jahre Freiheitsstrafe; vgl. BFA, Auskunft vom 2.3.2018, S. 2 f.). Bei der Strafverfolgung wird allerdings nicht zwischen der privaten und öffentlichen Teilnahme an Aktivitäten einer öffentlichen oder religiösen Vereinigung unterschieden. Russische Gerichte subsumieren unter den Begriff der Teilnahme auch religiöse Aktivitäten, die im privaten Bereich stattfinden, wie etwa häusliche Gottesdienste, Beten oder Bibellesungen (AA, Auskunft vom 6.4.2020, S. 2; SFH, Auskunft vom 2.12.2020, S. 22; Landinfo, Themenbericht vom 18.6.2021, S. 24 f.). Das russische Bundesgesetz zur Bekämpfung extremistischer Aktivitäten definiert Extremismus vage als „Propaganda der Exklusivität, Über- oder Unterlegenheit einer Person aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit oder ihrer Einstellung zur Religion“, ohne dass die Anwendung oder Befürwortung von Gewalt oder die Verbreitung von Hass vorausgesetzt wird (SFH, Auskunft vom 2.12.2020, S. 5 f.). Jede Manifestation ihres Glaubens durch Zeugen J. kann zur Durchsuchung ihrer Wohnungen, zu langer Haft, strafrechtlicher Verfolgung und Inhaftierung führen. Als Beweise für „kriminelles“ Verhalten in durchgeführten Strafverfahren genügen gewöhnliche Aspekte des gemeinschaftlichen religiösen Lebens, einschließlich des Bibellesens bei einer Bibelstudiensitzung, der Teilnahme an einer Gottesdienstveranstaltung oder der Aufnahme von Menschen in der eigenen Wohnung für Bibellesungen oder Gottesdienste (SFH, Auskunft vom 2.12.2020, S. 10; Landinfo, Themenbericht vom 18.6.2021, S. 24 f.). Amnesty International sind Fälle bekannt geworden, in denen Zeugen J. allein aufgrund ihrer privaten Glaubensausübung mit staatlichen Maßnahmen überzogen worden sind (Auskunft vom 6.8.2021, S. 2 f.). Auch der Umstand, dass sich von 430 Anklagen gegen Zeugen J. (bis 1.2.2021) ungefähr 85 gegen Frauen richten (Landinfo, Themenbericht vom 18.6.2021, S. 25), die in der Glaubensgemeinschaft keine Führungsfunktionen wahrnehmen (https://www.jw.org/de/jehovas-zeugen/oft-gefragt/frauen-predigerinnen), kann als Indiz dafür gewertet werden, dass das Risiko staatlicher Maßnahmen nicht funktionsabhängig ist. Das Auswärtige Amt berichtet ebenfalls, dass es seit der Einstufung der Zeugen J. als extremistische Organisation mehrere Strafverfahren gab, in denen Anhänger der Zeugen J. aufgrund privat gehaltener Veranstaltungen zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden sind. In deren Rahmen ist auch unter Einsatz von V-Männern, Video- und Audioüberwachung ermittelt worden und es sind Wohnungen durchsucht worden (AA, Auskunft vom 6.4.2020, S. 2; AI, Auskunft vom 6.8.2021, S. 3).
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Allerdings erhöhen eine herausgehobene Funktion in der Glaubensgemeinschaft wie die eines Ältesten oder Dienstamtsgehilfen, aber auch die Verbindung zum Verwaltungszentrum in Sankt Petersburg oder die Gründung einer regionalen Gemeinde, sowie die sichtbare bzw. öffentliche Ausübung des Glaubens, z.B. das Missionieren oder die Bereitstellung der eigenen Wohnung für religiöse Zusammenkünfte, das Risiko einer Strafverfolgung und härterer Strafen (AI, Auskunft vom 6.8.2021, S. 6; SFH, Auskunft vom 2.12.2020, S. 23 f.; Landinfo, Themenbericht vom 18.6.2021, S. 24 ff.). Die öffentliche Glaubensausübung, wie missionarische Aktivitäten, die in der Regel, unabhängig von einer bestimmten Stellung in der Glaubensgemeinschaft, eine entsprechende Maßnahme auslöst (AA, Auskunft an VG Trier vom 27.1.2020, S. 3), fällt unter die Teilnahme an Aktivitäten einer als extremistisch eingestuften Organisation (AA, Auskunft vom 6.4.2020, S. 3). Die missionarische Tätigkeit kann zudem unter Art. 282.2 Abs. 1.1 RussStGB fallen, der das Rekrutieren von Mitgliedern für eine als extremistisch eingestufte Organisation verbietet. Hierfür ist ein höherer Strafrahmen von bis zu acht Jahren Freiheitsstrafe vorgesehen (AA, Auskunft vom 6.4.2020, S. 3). Art. 282.2 Abs. 1 RussStGB sieht für die Organisation von Aktivitäten einer als extremistisch eingestuften Organisation eine Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren vor. Von dieser Vorschrift haben russische Strafgerichte bereits Gebrauch gemacht. So sind Angehörige der Zeugen J., die leitende Aufgaben innerhalb der Glaubensgemeinschaft wahrnahmen, gemäß dieser Vorschrift zu Haftstrafen verurteilt worden (AA, Auskunft vom 6.4.2020, S. 3 f.). Als extremistisch eingestuftes Material wie die Neue-Welt-Übersetzung der Bibel unterliegt gemäß Art. 13 Abs. 3 des Gesetzes zur Extremismusbekämpfung der Einziehung. Die Verbreitung einer extremistischen Schrift fällt nach Einschätzung des Auswärtigen Amts unter den Teilnahmetatbestand des Art. 282.2 Abs. 2 RussStGB, den russische Strafgerichte derzeit sehr weit auslegen. Zudem kann bei einer Verbreitung der Schrift im Rahmen der Missionierungstätigkeit eine Strafbarkeit nach Art. 282.2 Abs. 1.1 RussStGB gegeben sein. Auch wenn der bloße Besitz einer extremistischen Schrift nicht unter den Teilnahmetatbestand des Art. 282.2 Abs. 2 RussStGB fallen dürfte, könnte er als Beweis für eine strafbare Teilnahme an extremistischen Aktivitäten herangezogen werden (AA, Auskunft vom 6.4.2020, S. 5 f.; vgl. auch SFH, Auskunft vom 2.12.2020, S. 13 f.). Ferner können sich Anhänger der Zeugen J. aufgrund der Einstufung als „extremistische Organisation“ nicht mehr auf Art. 59 Abs. 3 der Russischen Verfassung berufen, wonach jeder russische Staatsbürger das Recht hat, den Wehrdienst durch einen alternativen Zivildienst zu ersetzen, wenn seine Überzeugungen oder seine Religion dem Wehrdienst zuwiderlaufen. Anwärter für einen Ersatzdienst müssen im Rahmen ihrer Antragstellung genau darlegen, warum ihnen eine Ausübung des Militärdienstes aus religiösen Gründen nicht möglich ist (AA, Auskunft vom 6.4.2020, S. 6; vgl. auch AI, Auskunft vom 6.8.2021, S. 10).
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In den Jahren 2019 und 2020 haben die russischen Strafverfolgungsbehörden die Verfolgung der Zeugen J. in ganz Russland intensiviert (SFH, Auskunft vom 2.12.2020, S. 6 unter Verweis auf Human Rights Watch, Escalating Persecution of Jehovah´s Witnesses, 9.1.2020; AI, Auskunft vom 6.8.2021, S. 11; Landinfo, Themenbericht vom 18.6.2021, S. 16, 19: 2020 doppelt so viele Verurteilungen (39) wie 2019 [18]), wobei gewisse regionale Unterschiede in der Verfolgungsintensität beobachtet wurden. In etwa 60 von 85 Regionen werden Strafverfahren durchgeführt, ohne dass sich jedoch ein bestimmtes geographisches Muster ausmachen ließe. In muslimisch besiedelten Gebieten wie Tschetschenien und Inguschetien leben keine oder allenfalls wenige Christen. In Irkutsk, aus dessen Gebiet lange keine Verfolgungen bekannt geworden sind (Landinfo, Themenbericht vom 18.6.2021, S. 27), ist es nach einem aktuellen Bericht der Glaubensgemeinschaft im Oktober 2021 ebenfalls zu Wohnungsdurchsuchungen und zur Misshandlung von zwei Ehepaaren gekommen (https://www. jw.org/de/nachrichten/jw/region/russland/Zwei-Ehepaarevon…). Die in der Vergangenheit wohl von den Provinzen ausgehende Verfolgung findet mittlerweile auch in Moskau und anderen größeren Städten statt (SFH, Auskunft vom 2.12.2020, S. 14 f.; Landinfo, Themenbericht vom 18.6.2021, S. 26 f.). Regionen, in denen Zeugen J. vor der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung sicher sind, gibt es nach Einschätzung von Amnesty International nicht (AI, Auskunft vom 6.8.2021, S. 11).
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4.3. Das mit einer Schließung sämtlicher Versammlungsstätten und Einziehung des Besitzes der Religionsgemeinschaft sowie mit schweren strafrechtlichen Sanktionen und sonstigen polizeilichen und administrativen Repressionen verbundene Verbot der Zeugen J. stellt sich in objektiver Hinsicht als schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit im Sinne der dargelegten obergerichtlichen Rechtsprechung dar. Diese Verfolgungshandlung greift unmittelbar in die Religionsfreiheit ein, weil sie die Betroffenen zum Verzicht auf die Glaubensausübung zwingt (vgl. Treiber in GK-AsylG, § 3a AsylG Rn. 87 f.). Die Möglichkeit öffentlicher Zusammenkünfte und sonstiger Glaubensmanifestationen ist weitgehend unterbunden worden. Das Betätigungsverbot wurde und wird durch Strafverfolgung und begleitende Maßnahmen wie Hausdurchsuchungen, Untersuchungshaft sowie administrative Maßnahmen und die davon ausgehende Abschreckung zunehmend durchgesetzt, was sich auch in dem erheblichen Vertreibungsdruck widerspiegelt, den es entfaltet hat. Der Kläger, der über den Messenger „Signal“ weiterhin mit Glaubensangehörigen in der Russischen Föderation in Verbindung steht, hat glaubhaft berichtet, dass nach seiner Ausreise zehn Personen aus der Zentralen Versammlung der Zeugen J. in Rostow am Don, die er zuletzt besucht hat, verhaftet worden seien. Dies lässt sich teilweise durch Internetmeldungen über entsprechende Repressalien belegen (z.B. https://www.jw.org/de/nachrichten/jw/ region/russland/Drei-Brüderlange-in…; https:// www.facebook.com/GermanJW/posts /1535781946772 208). Seit April 2017 haben schätzungsweise 5.000 bis 10.000 Zeugen J. die Russische Föderation verlassen (AA, Auskunft vom 6.4.2020, S. 4; AI, Auskunft vom 6.8.2021, S. 8; SFH, Auskunft vom 2.12.2020, S. 16). Die staatlichen Maßnahmen haben trotz der nicht unerheblichen Zahl der Zeugen J. in der Russischen Föderation (ca. 170.000) und der missionarisch-aktivistischen Ausprägung der Glaubensgemeinschaft (Schreiber in Theologische Realenzyklopädie, 2004, S. 661), die dem Einzelnen kontinuierlich religiöse Pflichten abverlangt (vgl. Utsch in Jehovas Zeugen, Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, 2018, S. 48 ff.), dazu geführt, dass öffentliche Glaubensmanifestationen seit 2019 nicht bekannt geworden sind. Angesichts der massiven Strafverfolgung durch russische Behörden bei praktizierter Glaubensausübung durch Anhänger der Zeugen J. ist nach der Einschätzung des Auswärtigen Amts davon auszugehen, dass eine öffentliche Glaubensausübung wie das Missionieren derzeit kaum noch stattfinde (AA, Auskunft vom 6.4.2020, S. 5; SFH, Auskunft vom 2.12.2020, S. 23; Landinfo, Themenbericht vom 18.6.2021, S. 14). Auch Amnesty International hält die öffentliche Glaubensbetätigung für nahezu unmöglich, nachdem alle Gemeindegebäude geschlossen sind und die Erstellung und Verbreitung religiöser Schriften verboten ist (Auskunft vom 6.8.2021, S. 4). Der Kläger hat für seinen Lebensbereich die sich aus den herangezogenen Erkenntnismitteln ergebende Schlussfolgerung bestätigt, dass eine öffentliche Glaubensausübung nicht mehr möglich war und ist, er sich aus Angst vor Repressionen dieser enthalten hat und zuletzt im Wesentlichen heimlich bzw. unter Sicherheitsvorkehrungen seinen Glauben praktiziert hat.
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Gegen eine effektive Strafverfolgung spricht nicht, dass sich die Zahl derjenigen, die strafrechtlich verfolgt wurden, im Verhältnis zur Gesamtzahl der aktiven Glaubensangehörigen noch in überschaubaren Größen bewegt. Zwar ist davon auszugehen, dass die überwiegende Mehrheit der Zeugen J. in der Russischen Föderation ihren Glauben trotz Angst vor Strafverfolgungsmaßnahmen weiterhin privat in den eigenen vier Wänden ausübt (vgl. SFH, Auskunft vom 2.12.2020, S. 16; Landinfo, Themenbericht vom 18.6.2021, S. 14). Dies deckt sich mit den glaubhaften Angaben, die mehrere Kläger am 8. November 2021 in Parallelverfahren vor dem Senat gemacht haben. Da sie allerdings weitestgehend auf öffentliche Glaubensbekundungen, insbesondere das Predigen an öffentlich zugänglichen Orten und das Missionieren, aber auch auf Versammlungen an öffentlich zugänglichen Orten verzichten, kann diese Zahl für die Feststellung einer beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit nicht den Ausschlag geben. Die ebenfalls unter Strafe stehende und offenbar noch weithin praktizierte Glaubensausübung in privaten Räumen dürfte den staatlichen Stellen oft unbekannt bleiben. Diese können davon nur erfahren, wenn sie entsprechende Beobachtungen machen oder Dritte dies anzeigen. Beobachtbare Anhaltspunkte für eine illegale Religionsausübung wie private Gottesdienstfeiern und das Lesen der Bibel sind - wenn sie nicht völlig fehlen - häufig nicht besonders auffällig oder eindeutig. So kann das Zusammenkommen mehrerer Personen in einer Wohnung verschiedene Gründe haben. Ferner treffen die Zeugen J. Vorkehrungen gegen Entdeckung, indem sie sich in kleineren Gruppen an wechselnden Orten treffen oder ihre Aktivitäten ins Internet verlegen. Dass die strafrechtliche Verfolgung sich in Fällen privater Religionsausübung auf eine (noch) überschaubare Anzahl von Personen beschränkt, dürfte folglich daran liegen, dass sie unentdeckt geblieben ist; ferner aber auch daran, dass eine flächendeckende Überwachung einer ca. 170.000 Mitglieder starken Glaubensgemeinschaft und der Nachweis der begangenen Straftat die Strafverfolgungsbehörden vor Kapazitätsprobleme stellt (vgl. Landinfo, Themenbericht vom 18.6.2021, S. 17). Auf derartige Probleme weist z.B. hin, dass die im Rahmen von Hausdurchsuchungen zahlreich Festgenommenen wegen Unterbringungs- und Ermittlungskapazitäten häufig wieder auf freien Fuß gesetzt werden (vgl. Landinfo, Themenbericht vom 18.6.2021, S. 17). Allerdings sind keiner Quelle Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, dass die russischen Behörden das gesetzliche Verbot der Glaubensgemeinschaft nicht oder nur halbherzig umsetzen. Soweit über Mutmaßungen berichtet wird, dass Gerichte ihre möglicherweise mangelnde Überzeugung vom kriminellen Tun der Gläubigen dadurch zum Ausdruck bringen, dass sie die von der Staatsanwaltschaft geforderten Strafen erheblich unterschreiten, sind die von ihnen verhängten Freiheits- und Geldstrafen immer noch so empfindlich hoch (vgl. Landinfo, Themenbericht vom 18.6.2021, S. 19 f.), dass sie die Schwelle des § 3a Abs. 1 AsylG überschreiten. Zur Bewährung ausgesetzte Gefängnis- oder Geldstrafen werden teilweise von Hausarresten, Aufenthalts- und Reiseverboten, dem Verlust des passiven Wahlrechts und Meldeauflagen begleitet; Verurteilte werden häufig unter wirtschaftliche und finanzielle Aufsicht gestellt (vgl. Landinfo, Themenbericht vom 18.6.2021, S. 20 f.). Es wird lediglich von einem Freispruch und der Einstellung von zwei Ermittlungsverfahren berichtet (vgl. Landinfo, Themenbericht vom 18.6.2021, S. 20 f.). Es ist damit zu rechnen, dass im Laufe der Zeit mehr und mehr private religiöse Aktivitäten, an denen viele Zeugen J. festhalten, bekannt werden und zur Einleitung von Strafverfahren führen.
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4.4. Auch in subjektiver Hinsicht treffen das Betätigungsverbot und die zu seiner Durchsetzung angedrohten Sanktionen den Kläger schwer.
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Der Senat ist davon überzeugt, dass der Kläger seit seiner Taufe im Jahr 2004, die das Zweigbüro Zentraleuropas der Zeugen J. in Selters unter dem 27. Dezember 2017 bescheinigt hat, den Zeugen J. angehört und dieser Glaube seine religiöse Identität prägt. Dem steht nicht entgegen, dass er bei der Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Namen des Ältesten seiner Heimatgemeinde nicht preisgeben wollte und keine russische Patientenverfügung vorlegen konnte. Er hat plausibel dargelegt, dass er den Namen des Ältesten aus Angst, diesem könne etwas passieren, nicht genannt hat. Vor dem Hintergrund der vorstehend dargelegten Verhältnisse in der Russischen Föderation ist ferner glaubhaft, dass er die Patientenverfügung, die ihn als Angehörigen einer extremistischen Organisation ausgewiesen hätte, bei seiner Ausreise über den Flughafen Moskau aus Angst vor Entdeckung seiner Glaubenszugehörigkeit nicht mitgenommen hat. Unter Berücksichtigung der relativen Geschlossenheit der Glaubensgemeinschaft und der bekanntermaßen ernsthaften Prüfung beitritts- und taufwilliger Personen kann ohne entsprechende tatsächliche Anhaltspunkte auch nicht angenommen werden, dass „jeder“ sich eine (inhaltlich unwahre) Taufbescheinigung und Patientenverfügung der Zeugen J. beschaffen könnte.
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Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger die Unwahrheit gesagt hat, haben sich während des gesamten behördlichen und gerichtlichen Verfahrens nicht ergeben. Seine Personalpapiere und andere vorgelegte Dokumente haben bei einer technischen Überprüfung keine Fälschungsmerkmale aufgewiesen. Er hat detaillierte Angaben zu den Verhältnissen in der Russischen Föderation gemacht, die mit der Erkenntnislage in Einklang stehen, und in Zusammenhang damit die ihn persönlich treffenden Einschränkungen und vor allem seine Furcht vor Strafverfolgung nachvollziehbar dargestellt. Dabei hat er weder widersprüchliche Angaben gemacht noch seine Angaben gesteigert oder sich im Dienste der Zeugen J. wichtiggemacht. Ein offizielles Amt hatte er nach eigenem Bekunden nicht inne. Sein Gemeindedienst habe im Vorlesen der Bibel während der Versammlungen, Predigen und Halten kurzer Reden bestanden. Ferner habe er in etlichen Städten religiöse Literatur verteilt. Nach dem staatlichen Verbot der Zeugen J. habe er auf offene Formen des Gemeindedienstes verzichtet und sich - wenn auch in großer Angst - heimlich weiter betätigt, so per Telefon und Post gepredigt und heimliche Versammlungen besucht. Auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat der Kläger nachvollziehbare und schlüssige Angaben gemacht. Sein Vorbringen zur Art und Weise, wie er aktuell im Bundesgebiet seinen Glauben praktiziert, hielt sich im Rahmen der vorliegenden Erkenntnisse zur Glaubenspraxis der Zeugen J. und im Rahmen dessen, was andere Kläger aus den Parallelverfahren als für sie religiös verpflichtend geschildert haben. Die Zeugen J. erachten die Teilnahme an Gebetsgruppen, Bibelstudien und den Predigt- und Missionsdienst als Teil ihrer religiösen Verpflichtungen (SFH, Auskunft vom 2.12.2020, S. 20; Zillmann, Jehovas Zeugen aus religionswissenschaftlicher Sicht, a.a.O., S. 13 f.). Aktiv zu sein, ist ein natürlicher Bestandteil dessen, Zeuge J. zu sein (Landinfo, Themenbericht vom 18.6.2021, S. 24). Nach dem Selbstverständnis der Glaubensgemeinschaft (https://www.jw.org/de/jehovas-zeugen/oft-gefragt/was-glauben-zeugen-jehovas/) zählen zu den wesentlichen jeweils aus der Bibel abgeleiteten und weltweit geltenden Bestandteilen des Dienstes für Gott das gemeinsame Gebet, Bibelstudium und Gespräch über den Glauben, der Gesang, das Predigen der „guten Botschaft vom Königreich“, die Hilfe an Bedürftige und die Leistung von Katastrophenhilfe, und der Bau und die Instandhaltung von Königreichssälen und anderer Gebäude, die für das weltweite biblische Bildungswerk genutzt werden. Der Vortrag des Klägers wird den in der Rechtsprechung entwickelten Maßstäben zur Glaubhaftigkeitsprüfung der Angaben eines Asylsuchenden (vgl. BVerwG, B.v. 10.5.2002 - 1 B 392.01 - NVwZ 2002, 1381 = juris Rn. 5; U.v. 16.4.1985 - 9 C 109.84 - BVerwGE 71, 180/182 = juris Rn. 16; BayVGH, U.v. 19.4.2021 - 11 B 19.30575 - juris Rn. 23 m.w.N.; VGH BW, U.v. 27.8.2013 - A 12 S 2023/11 - juris Rn. 35) vollständig gerecht.
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Glaubhaft war schließlich auch die Darstellung, dass die besondere Glaubenspraktik der Zeugen J. die religiöse Identität des Klägers, der sich selbst als aktiven Verkünder bezeichnet und seinen Glauben in der Russischen Föderation nach seinen Angaben viele Jahre aktiv gelebt hat, prägt und für ihn unverzichtbar ist. Indem er seinen Glauben trotz des staatlichen Verbots und der geschilderten psychischen Belastung - wenn auch möglichst unauffällig - ausgeübt hat, ist er bis zu seiner Ausreise ein persönliches Risiko eingegangen. Die oben dargestellten staatlichen Repressalien gefährden nicht nur vorübergehend die Freiheit des hiervon Betroffenen, sondern können auch zu schwerwiegenden Beeinträchtigungen der Gesundheit und des weiteren sozialen und wirtschaftlichen Lebens führen. Auf Versammlungen in den Königreichsälen musste der Kläger verzichten, weil diese geschlossen waren und die Teilnahme an öffentlichen Versammlungen mit hoher Wahrscheinlichkeit Strafverfolgung nach sich gezogen hätte. Auf offenes Missionieren hat er ebenfalls nur unter dem Druck der Strafverfolgung verzichtet. Zusammenfassend hat sich der Kläger am Ende der Anhörung beim Bundesamt, die bereits rund zwei Wochen nach seiner Einreise ins Bundesgebiet und damit noch unter dem frischen Eindruck seiner Erlebnisse in der Russischen Föderation stattfand, dahin eingelassen, er könne in der Russischen Föderation nichts mehr unternehmen, seinen Glauben nicht leben. Alles, was ihm im Leben wichtig sei, könne er nicht machen. Darin kommt der Stellenwert, den seine Glaubensausübung für ihn hat, deutlich zum Ausdruck. Dies hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung nochmals bestätigt.
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Im Bundesgebiet hat der Kläger seinen Glauben, zuletzt unter pandemiebedingten Einschränkungen, nach den Vorgaben seiner Glaubensgemeinschaft weiter ausgeübt und dabei auch erhebliche Anstrengungen auf sich genommen, die nicht von jedem Gläubigen zu erwarten sind. So hat er zu Zwecken der Glaubensvermittlung mehrere Fremdsprachen gelernt bzw. vertieft und spricht neben Personen mit russischen Nachnamen solche aus anderen Herkunftsgebieten an. Außerdem nimmt er regelmäßig an den virtuellen Versammlungen und sonstigen Angeboten der Zeugen J. teil und liest bei dieser Gelegenheit auch aus der Bibel vor. Der Senat nimmt es dem Kläger ab, dass er, wie auf Frage bekundet, seinen Glauben auch bei einer Rückkehr in sein Heimatland, wenn auch mit Vor- und Umsicht, weiterhin leben und verkünden würde, was ihn der Gefahr der Verfolgung aussetzen würde.
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4.5. Die Verfolgungsgefahr geht von der spezifischen Glaubensausübung aus, wie sie der Kläger und die meisten Zeugen J. praktizieren, weil nur die getauften und aktiven Verkünder als Mitglieder gezählt werden und damit wesentlich weniger Personen als die, die an Versammlungen oder dem Gedächtnismahl teilnehmen (Zillmann, Jehovas Zeugen aus religionswissenschaftlicher Sicht, a.a.O., S. 11, 13 f.; https:// www.jw.org/de/jehovas-zeugen/oft-gefragt/wie-viele-zeugen-jehovas/; Landinfo, Themenbericht vom 18.6.2021, S. 10 f.). Wie bereits dargelegt, spricht die noch überschaubare Zahl der bisher strafrechtlich Verfolgten nicht gegen eine tatsächliche Gefahr, von Strafverfolgungsmaßnahmen betroffen zu werden.
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Auch die Verwaltungsgerichte gehen überwiegend davon aus, dass den von dem Betätigungsverbot betroffenen, in den Fokus der Ermittlungsbehörden geratenen Angehörigen der Zeugen J. landesweit in der Russischen Föderation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, jedenfalls sofern sie aktiv und getauft sind (vgl. u.a. VG Stuttgart, U.v. 22.4.2021 - A 14 K 3523/20 - juris; VG Karlsruhe, U.v. 25.2.2021 - A 11 K 3943/17 - juris Rn. 40 ff.; VG Bremen, U.v. 28.8.2020 - 6 K 3654/17 - juris Rn. 23 ff.; VG Kassel, U.v. 29.7.2020 - 1 K 2836/18.KS.A - juris Rn. 33 ff.; VG Trier, U.v. 19.5.2020 - 1 K 5531/18.TR - juris Rn. 33 ff.; VG Berlin, U.v. 5.6.2019 - 33 K 771.17A - juris Rn. 23 ff.; VG Augsburg, U.v. 10.5.2019 - 2 K 19.30587 - juris Rn. 37 ff.; VG Stuttgart, U.v. 15.3.2019 - A 14 K 16637/17 - juris; VG Sigmaringen, U.v. 17.1.2019 - A 4 K 6178/16 - juris Rn. 34; VG Münster, Gerichtsbescheid v. 22.2.2018 - 2 K 1079/17.A - juris Rn. 17 ff.; VG Hamburg, U.v. 27.6.2018 - 17 A 2777/18 - juris Rn. 21 ff.).
45
Vor diesem Hintergrund kann offenbleiben, ob als Beweiserleichterung (Wittmann in BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Stand 15.10.2021, § 3 AsylG Rn. 35; Bergmann in Bergmann/Dienelt, AuslG, Art. 16a GG Rn. 46) auch die Annahme einer Gruppenverfolgung unter dem Gesichtspunkt eines staatlichen Verfolgungsprogramms, dessen Umsetzung bereits eingeleitet ist oder alsbald bevorsteht (vgl. BVerwG, U.v. 5.7.1994 - 9 C 158.94 - BVerwGE 96, 200 = juris Rn. 20), gerechtfertigt wäre. Auch ohne Feststellung einer konkreten Verfolgungsdichte kann hier in der Regel davon ausgegangen werden, dass ein (formal) geordnetes Staatswesen in der Lage ist, ein beschlossenes Verfolgungsprogramm auch tatsächlich umzusetzen (Wittmann, a.a.O. Rn. 35). Für diese Annahme spricht freilich einiges, auch wenn die staatlichen Maßnahmen in der Russischen Föderation nicht auf die physische Vernichtung und Ausrottung der Zeugen J. oder ihre Vertreibung aus dem Staatsgebiet gerichtet sein mögen, die das Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 5. Juli 1994 (juris Rn. 20) als Beispiele („das kann etwa der Fall sein, wenn…“) für ein staatliches Verfolgungsprogramm genannt hat, sondern „nur“ auf eine umfassende Beraubung der religiösen Identität durch drastische Strafverfolgungsmaßnahmen, die dem Individuum auch keinen Raum mehr für die Religionsausübung im häuslich-privaten Bereich, das Gebet und den Gottesdienst mit anderen Gläubigen sowie das Glaubensgespräch und -bekenntnis im nachbarschaftlich-kommunikativen Bereich mehr belassen. Hinzu kommt, dass der russische Staat die Bekämpfung der Zeugen J. öffentlichkeitswirksam inszeniert und sie gezielt als gefährliche Extremisten und Spione für die westliche Welt darstellt (vgl. Landinfo, Themenbericht vom 18.6.2021, S. 13, 17). Dies ist geeignet, einen eventuellen Rückhalt in der Bevölkerung oder bei einzelnen Behördenvertretern zu zerstören und ein allgemeines Klima der Denunziation zu schaffen. Für die Glaubensgemeinschaft handelt es sich insofern um eine „extreme Situation“, die das Bundesverwaltungsgericht mit den angeführten Beispielen umreißen wollte.
46
Damit ist dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
47
5. Die gegen die Glaubensausübung der Zeugen J. gerichteten Maßnahmen der russischen Behörden vermitteln dem auf dem Luftweg eingereisten (vgl. Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG) Kläger auch einen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter gemäß Art. 16a Abs. 1 GG. Denn sie zielen auf die Beraubung der religiösen Identität ab, da sie im Sinne der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung (BVerfG, B.v. 1.7.1987 a.a.O. Rn. 34 m.w.N.) die Zeugen J. daran hindern, ihren Glauben nach eigenem Verständnis auch im privaten Bereich und unter sich zu bekennen, insbesondere durch strafrechtliche Verfolgung der Gläubigen wegen privater religiöser Treffen, der Abhaltung häuslicher Gottesdienste, des Redens über den eigenen Glauben sowie des religiösen Bekenntnisses im nachbarschaftlich-kommunikativen Bereich. Wie unter 4. dargelegt, ist beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger in seinem Heimatland durch die Art und Weise, wie er seinen Glauben praktiziert, von derartigen repressiven staatlichen Maßnahmen betroffen sein wird.
48
6. Damit waren auch die verfügte Abschiebungsandrohung mit Ausreiseaufforderung und das befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot rechtswidrig und aufzuheben.
49
7. Nachdem der Kläger mit seinen Hauptanträgen in vollem Umfang obsiegt hat, war über seine Hilfsanträge nicht mehr zu entscheiden.
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8. Die Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen sind nach § 154 Abs. 1 VwGO von der Beklagten zu tragen. Gerichtskosten werden nach § 83 b AsylG nicht erhoben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 und 2 VwGO i.V.m. § 709 Satz 1 ZPO.
51
9. Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.