Inhalt

VG Würzburg, Urteil v. 10.11.2021 – W 2 K 19.1721
Titel:

zur Entscheidungskompetenz des Gemeinderats bei einem einmaligen und außergewöhnlichen Vorgang

Normenketten:
BayKAG Art. 5 Abs. 1 S. 1, Abs. 9
kommunale Ausbaubeitragssatzung § 8 Abs. 3 Nr. 2, § 11
BayGO Art. 37 Abs. 1 S. 1 Nr. 1
Leitsätze:
1. Die Unwirksamkeit einer Tiefenbegrenzungsregelung in einer kommunalen Ausbaubeitragssatzung wirkt sich weder auf den Verteilungsmaßstab noch auf die Satzung insgesamt aus.   (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2. Geschäfte der laufenden Verwaltung sind häufiger vorkommende, also routinemäßig anfallende Angelegenheiten, die für die Gemeinde keine grundsätzliche Bedeutung haben und keine erheblichen Verpflichtungen erwarten lassen. (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Kommunalabgaben, Straßenausbaubeitrag, Vereinbarung über Baukostenzuschuss, Zuständigkeit des Gemeinderats, Baukostenzuschuss, Beanstandung, Bayerischer Kommunaler Prüfungsverband
Fundstelle:
BeckRS 2021, 41726

Tenor

I. Der Bescheid des Beklagten vom 5. Dezember 2016 in Form des Änderungsbescheids vom 4. Januar 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids des Landratsamts H* … vom 5. Dezember 2019 wird aufgehoben.
II. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Hinzuziehung des Bevollmächtigten im Vorverfahren wird für notwendig erklärt.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu vollstreckenden Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
I. Der Kläger wendet sich gegen einen Bescheid, mit dem er zur Zahlung eines Straßenausbaubeitrages herangezogen wird.
2
Der Kläger ist Eigentümer der Grundstücke Fl.Nr. *9 und Fl.Nr. *5, Gemarkung S* …, die mit Wohn- und Nebengebäuden bebaut und an der sogenannten D* … gelegen sind.
3
In seiner Sitzung vom 20. Juni 2006 beschloss der Marktgemeinderat des Beklagten, die im Rahmen der Dorferneuerung entstehenden, umlagefähigen Kosten des Straßenausbaus nicht nach der geltenden Straßenausbausatzung abzurechnen, sondern nach einer Vereinbarung mit den betroffenen Bürgern über die Zahlung eines Baukostenzuschusses durchzuführen und abzurechnen.
4
Am 9. August 2006 schlossen der Kläger und der Beklagte eine „Vereinbarung über die Zahlung eines Baukostenzuschusses“. Danach verpflichtete sich der Kläger, für seine an der Ausbaustrecke gelegenen Grundstücke Fl.Nr. *5 und Fl.Nr. *9 einen Baukostenzuschuss in Höhe von 4.400,00 EUR zu leisten. Der Ausbaustrecke liege die noch zu erarbeitende und von den Beteiligten noch zu billigende Ausbauplanung zugrunde (§ 1 der Vereinbarung). Für die Ermittlung des Baukostenzuschusses sei die Berechnung nach § 5 dieser Vereinbarung maßgebend. Mit der Zahlung des Baukostenzuschusses seien alle Forderungen des Beklagten hinsichtlich der in § 1 genannten Maßnahme abgegolten (§ 2 der Vereinbarung).
5
In den Folgejahren wurde die D* … ausgebaut.
6
In seiner Sitzung vom 6. Mai 2013 beschloss der Marktgemeinderat des Beklagten, insbesondere die bisher angefallenen Mehrkosten der Baumaßnahme zu übernehmen.
7
Im Rahmen der überörtlichen Prüfung der Jahresrechnungen 2012 bis 2015 des Beklagten monierte der Bayerische Kommunale Prüfungsverband (BKPV) die aus seiner Sicht unzulässigen vertraglichen Vereinbarungen und die Nichtanwendung der Straßenausbaubeitragssatzung in S* … In der Sitzung des Marktgemeinderats des Beklagten vom 5. Dezember 2016 informierte der Erste Bürgermeister darüber, dass im Prüfbericht des BKPV die Vereinbarung als unzulässig beanstandet worden sei und deshalb Straßenausbaubeiträge erhoben werden müssten. Aufgrund der Verjährungsfrist müssten die Bescheide in den nächsten Tagen zugestellt werden. Eine Beschlussfassung zu dem Thema, das nicht als eigener Beratungsgegenstand auf der Tagesordnung aufgeführt war, erfolgte nicht.
8
Mit Bescheid vom 5. Dezember 2016, als Einschreiben am 8. Dezember 2016 zur Post gegeben, erhob der Beklagte vom Kläger für den Ausbau der Dorfstraße hinsichtlich des Grundstücks Fl.-Nr. *9 einen Straßenausbaubeitrag in Höhe von 2.857,19 EUR. Die Erhebung des Beitrags beruhe auf Art. 5 des Kommunalabgabengesetzes (KAG). Der umlagefähige Aufwand hinsichtlich der als Anliegerstraße zu qualifizierenden Dorfstraße betrage 111.828,79 EUR und der Beitrag je m² Nutzungsfläche 3,72922 EUR/m². Das klägerische Grundstück weise eine Fläche von 868 m² auf und es sei ein Nutzungsfaktor von 1,0 anzusetzen. Der zu zahlende Ausbaubeitrag betrage nach Abzug seinerzeit geleisteter Zuschüsse der örtlichen Vereine 2.857,19 EUR. Die mit den Anliegern im Jahre 2006 außerhalb des Straßenausbaurechts geschlossenen Vereinbarungen seien nichtig; die Straßenausbaubeitragssatzung müsse somit zwingend umgesetzt werden.
9
Mit Schreiben vom 16. Dezember 2016, beim Beklagten eingegangen am 21. Dezember 2016, legte der Kläger gegen den Bescheid Widerspruch ein.
10
Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus, dass im Jahr 2006 sowohl die betroffenen Grundstückseigentümer als auch der Beklagte sowie die zwei Berater der Verwaltungsgemeinschaft E* … und das Amt für Ländliche Entwicklung W* … einverstanden gewesen seien, die umlagefähigen Kosten durch eine Vereinbarung von den Bürgern tragen zu lassen. Infolge dessen sei im August 2006 der Vertrag geschlossen worden. Im Vertrag seien für beide Seiten Rechte und Pflichten genauestens beschrieben worden; unter anderem heiße es in § 2 Abs. 3 wörtlich: Mit der Zahlung des Baukostenzuschusses sind alle Forderungen des Marktes R* … hinsichtlich der in § 1 genannten Maßnahme abgegolten. Als Vertragsfolge habe er die jeweiligen Ratenzahlungen fristgerecht geleistet. Bis zu einem Zeitungsartikel in den Tageszeitungen im November und Dezember 2016 habe er keinen Hinweis erhalten, dass der Vertrag keine Gültigkeit habe. Die am 5. Dezember 2016 und 4. Januar 2017 erlassenen Bescheide stellten einen Vertragsbruch dar. Er müsse sich als Bürger darauf verlassen können, dass die Sachkunde der betrauten Institutionen ausreiche, einen einfachen Vertrag zu prüfen, dass Verträge von beiden Seiten eingehalten würden und dass bei möglichen Veränderungen rechtzeitig und schadensvermeidend reagiert werde. Da die Prüfung durch die Verwaltungsgemeinschaft Ebern erfolgt und ihm der Vertragsinhalt logisch erschienen sei, habe er im Vertrauen darauf eine externe rechtliche Prüfung nicht in Erwägung gezogen. Der Beschluss, die Beitragsbescheide zu erlassen, habe nicht auf der Tagesordnung der Sitzung des Marktgemeinderats vom 5. Dezember 2016 gestanden. Folglich hätten sich die Marktgemeinderäte nicht mit den Details befassen können. Vor allem hätten die Marktgemeinderäte in der großen Mehrzahl den mit den Bescheiden gebrochenen Vertrag nicht gekannt. Der Kostenrahmen sei massiv überschritten worden und die Mehrkosten in einer Form auf die Grundstückseigentümer umgelegt worden, die nicht vereinbart worden seien. Der Umfang der Dorferneuerungsmaßnahme sei ohne Vertragsanpassung erweitert worden. § 2 Abs. 3 des Vertrages enthalte eine besondere Vertrauensschutzklausel. Auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrauensschutz werde verwiesen. Im Rahmen des öffentlich-rechtlichen Vertrages befänden sich beide Parteien auf Augenhöhe. Bei Nichterfüllung der vertraglich vereinbarten Inhalte bestehe nur die Möglichkeit, eine Leistungsforderung mit einer Leistungsklage geltend zu machen. Die Gemeinde habe keine Verwaltungsaktbefugnis. Auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu Ablöseverträgen und der Missbilligungsgrenze werde verwiesen. Nach dieser Rechtsprechung habe der Beklagte keine rechtliche Grundlage, nachträglich Gebührenbescheide zu erlassen. Die Missbilligungsgrenze sei nicht überschritten worden. Die entstandenen Mehrkosten habe alleine die Gemeinde zu verantworten. Der Gemeinderatsbeschluss vom 6. Mai 2013 habe die Übernahme der Kostenmehrung durch den Beklagten bestätigt. Für den Erlass der Gebührenbescheide habe keine Entscheidung des zuständigen Marktgemeinderates vorgelegen. Der Marktgemeinderat hätte seinen ursprünglichen Beschluss aufheben und einen neuen Beschluss hinsichtlich der Satzung für die Abrechnung der Dorferneuerung fassen müssen. Für die weiteren Einzelheiten wird auf das Schreiben vom 26. Januar 2017 verwiesen.
11
Am 4. Januar 2017 erließ die Verwaltungsgemeinschaft E* … einen wortgleichen Änderungsbescheid, der als Rechtsgrundlage die Satzung des Beklagten über die Erhebung eines Straßenausbaubeitrags vom 30. Oktober 2003 nennt.
12
Mit Bescheid des Landratsamts H* … vom 22. August 2018 wurden die Beschlüsse des Marktgemeinderats des Beklagten vom 22. Juni 2006 (Top … Ziffer 1) und vom 6. Mai 2013 (Top …2) über den Abschluss einer Vereinbarung über die Zahlung eines Baukostenzuschusses außerhalb des geltenden Satzungsrechtes für die im Rahmen der Dorferneuerung S* … durchgeführten Straßenbaumaßnahmen zwischen der Gemeinde und den Straßenanliegern bzw. über die Tragung von Mehrkosten des Straßenausbaus durch den Beklagten rechtsaufsichtlich beanstandet. Die Beschlüsse seien rechtswidrig, weil sie der Beitragserhebungspflicht der Gemeinde aus Art. 5 Abs. 1 Satz 3 KAG in Verbindung mit der gemeindlichen Straßenausbaubeitragssatzung widersprächen. Darüber hinaus widersprächen diese Beschlüsse den haushaltsrechtlichen Vorgaben des kommunalen Haushaltsrechtes. Für die weiteren Einzelheiten wird auf den Bescheid vom 22. August 2018 verwiesen.
13
Mit Widerspruchsbescheid vom 5. Dezember 2019, dem Prozessbevollmächtigten des Klägers am 14. Dezember 2019 zugestellt, wies das Landratsamt H* … den Widerspruch zurück. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt: Der Beklagte sei durch die im Zeitpunkt des Entstehens der sachlichen Beitragspflichten geltenden Art. 5 ff. des KAG in Verbindung mit der gemeindlichen Straßenausbaubeitragssatzung und der sich daraus ergebenden Beitragserhebungspflicht berechtigt und nach haushaltsrechtlichen Gesichtspunkten auch verpflichtet, trotz der pauschalen Kostentragungsvereinbarungen entsprechende Straßenausbaubeitragsbescheide zu erlassen, da diese Vereinbarung nichtig seien. Es läge ein Verstoß gegen ein gesetzliches Verbot vor. Der Grundsatz, dass die Abgabenerhebung nur nach Maßgabe der Gesetze und nicht etwa abweichend von den gesetzlichen Regelungen aufgrund von willkürlichen Vereinbarungen zwischen Abgabegläubiger und Abgabeschuldner erfolgen könnten, sei für einen Rechtsstaat so fundamental, dass eine diesbezügliche Verletzung als Verstoß gegen ein gesetzliches Verbot zu betrachten sei, der die Nichtigkeit der Vereinbarung zu Folge habe. Durch seine Straßenausbaubeitragssatzung sei der Beklagte grundsätzlich gehalten, Kosten für beitragspflichtige Straßenausbaumaßnahmen durch Beitragserhebung bei den bevorteilten Eigentümern der jeweiligen Anliegergrundstücke zu decken. Eine Abweichung von diesem Grundsatz sei nur zulässig, wenn eine entsprechende Rechtsgrundlage vorhanden gewesen wäre. Eine Ablösung nach § 11 ABS sei möglich, wenn der Ablösebetrag nach der voraussichtlichen Höhe des nach Maßgabe der Satzung zu ermittelnden Ausbaubeitrags bemessen werde. In Abweichung davon seien in der im Jahr 2006 geschlossenen Vereinbarung die zu zahlenden Baukostenzuschüsse ohne Bewertung des Vorteils der ausgebauten Erschließungsanlagen für die Straßenanlieger und damit nicht nach der notwendigerweise zugrundezulegenden satzungsgemäßen Beitragskalkulation ermittelt worden. Dieses pauschalierende Abweichen der Vereinbarungen von den satzungsmäßigen verankerten Ablösebestimmungen führe zu deren Nichtigkeit, weil die Vertragspartner einen anderen Betrag vereinbart hätten, als die gesetzliche Ausnahmeregelung vorgebe. Eine zur Nichtigkeit führende Abweichung von den Ablösebestimmungen liege auch dann vor, wenn wie vorliegend der Aufwand auf der Basis einer unzulässigen Erschließungseinheit ermittelt werde. Hier seien Erschließungsanlagen unterschiedlichen Straßentyps mit unterschiedlichen Anteilssätzen zusammengefasst worden. Dadurch entsprächen die Beiträge für die einzelnen Anliegergrundstücke nicht mehr der unterschiedlichen Höhe der Vorteile. Die formale Voraussetzung für die rechtmäßige Bildung einer Erschließungseinheit habe ebenfalls nicht vorgelegen. Zudem sei kein entsprechender Gemeinderatsbeschluss gefasst worden. Die Nichtigkeit der Kostentragungsvereinbarungen führe dazu, dass der Beklagte verpflichtet gewesen sei, seiner Beitragserhebungspflicht nachzukommen und zur Wiederherstellung rechtmäßiger Zustände seinen Beitragsanspruch mittels Beitragsbescheid durchzusetzen habe. Dies gelte auch dann, wenn die Vertragspartner der Auffassung gewesen seien, sie handelten im guten Glauben. Das seitens des Klägers monierte Fehlen eines Gemeinderatsbeschlusses über den Erlass des Beitragsbescheids führe nicht zu seiner Rechtswidrigkeit, da es sich hier um ein „einfaches Geschäft“ der laufenden Verwaltung handele, das keines weiteren Beschlusses des Gemeinderats bedurft habe. Für die weiteren Einzelheiten wird auf den Widerspruchsbescheid vom 5. Dezember 2019 verwiesen.
14
II. Mit Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 28. Dezember 2019, bei Gericht am selben Tage eingegangen, ließ der Kläger gegen den Bescheid Klage erheben. Zur Begründung wurde im Wesentlichen auf die Ausführungen im Widerspruchsverfahren verwiesen und ergänzend vorgetragen, dass dem Erlass von Bescheiden auf Grundlage der Ausbaubeitragssatzung die im August 2006 geschlossene Vereinbarung über die Zahlung eines Baukostenzuschusses entgegenstehe. Durch den Vertrag habe die Gemeinde die Verwaltungsaktbefugnis zum Erlass der Bescheide verloren. Insofern wäre es widersprüchlich, erst einen Vertrag mit dem Bürger abzuschließen, anstelle einen Verwaltungsakt zu erlassen, und später ohne Verweis hierauf einen Bescheid auszufertigen. Begebe sich die Verwaltung auf eine mit dem Bürger gleichgeordnete Ebene, so könne diese nicht ohne weiteres verlassen werden. Die Vereinbarung selbst sei ordnungsgemäß zustande gekommen. Gegenstand des Vertrags sei der Ausbau der Ortsstraße gegen Zahlung eines festgelegten Geldbetrags. Es sei nicht gegen ein gesetzliches Verbot verstoßen worden. Im Kommunalabgabengesetz sei es ohne weiteres möglich, einen Ablösungsvertrag zu schließen. Dass sich die Grundlagen des Vertrags aufgrund falscher Kalkulationen zu Lasten des Beklagten verschoben hätten, könne eine Nichtigkeit als solche nicht begründen. Auch die Mustersatzung des Bayerischen Gemeindetags sehe in ihrer aktuellen Fassung vor, dass eine Ablösung des Beitrags denkbar sei. Die Höhe des Ablösebetrags orientiere sich am zu erwartenden Kostenaufwand. Dass hier der Kostenrahmen ohne Verschulden der betroffenen Bürger gesprengt worden sei, liege alleine in der Risikosphäre des Beklagten. Auch eine fehlerhafte Ermittlung der Höhe der Kostenbeteiligung könne die Rechtsposition der Vertragspartner nicht einseitig verschieben. Gegen die Inanspruchnahme sprächen Gründe des Vertrauensschutzes. Es werde nochmals betont, dass der abgeschlossene Vertrag nicht ein von Privatpersonen entworfenes Werk sei, sondern aus der Feder des Amts für Ländliche Entwicklung stamme, dass die Dorferneuerung begleitet habe. Für die weiteren Einzelheiten wird auf den Schriftsatz vom 25. Januar 2020 verwiesen.
15
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Bescheid des Beklagten vom 5. Dezember 2016 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 4. Januar 2017 in der Form des Widerspruchsbescheids des Landratsamts H* … vom 5. Dezember 2019 aufzuheben.
16
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
17
Die ersten Vorausberechnungen zur möglichen Beitragshöhe bei der Durchführung von Dorferneuerungsmaßnahmen seien schon in den Jahren 2001 und 2004 ermittelt worden. Schon damals sei aus der Bürgerschaft keine Bereitschaft zu erkennen gewesen, die Ausbaukosten durch Erhebung von Straßenausbaubeiträgen satzungskonform refinanzieren zu wollen. Der von der Verwaltung vorgeschlagene Vereinbarungstext eines Ablösebetrags, soweit keine Baukostenüberschreitung entstehe, sei auf Wunsch der Bürger gestrichen worden. Der Beklagte habe daher ausgehend von den voraussichtlich zu erwartenden Kosten für die Anlieger die Kostenvereinbarung mit den Anliegern gefertigt und im Marktgemeinderat beraten. Die Verwaltung habe schon damals und fortgehend darauf verwiesen, dass der Kostenrahmen beim Straßenausbau einzuhalten sei. Diese Formulierung sei aber in den mit den Beitragspflichtigen geschlossenen Vereinbarungen gestrichen worden, weil andernfalls keine Abschlüsse zu erzielen gewesen seien. Die Verwaltung habe schon damals aufgezeigt, dass vereinbarte Mehrkosten der abrechnungsfähigen Straßenausbaumaßnahmen zur Nachbesserung der Vereinbarung führen müssten. Dies sei im Zuge des später erfolgten Straßenausbaus ignoriert worden. Die mit der Teilnehmergemeinschaft S* … und dem Beklagten abgeschlossenen Maßnahmevereinbarungen belegten, dass erhebliche Mehrkosten durch Maßnahmeerweiterungen entstanden seien. Insofern hätte es auch der Anpassung der Vereinbarungen bedurft. Davon habe man aber im Vorfeld der Beauftragungen und der Bauausführung nichts wissen wollen. Es sei rechtlich nicht hinnehmbar, dass der Beklagte die Mehrkosten tragen solle. Die 2006 geschlossenen Vereinbarungen enthielten keine ausreichende Gegenleistung. Die Mehrkosten sollten bewusst dem Beklagten auferlegt und von der Allgemeinheit getragen werden. Diese Praxis müsse zur Nichtigkeit der vereinbarten Baukostenvereinbarung führen. Vertrauensschutz sei folglich nicht mehr gegeben. Denn der Ablösebetrag müsse dem Beitrag entsprechen, worauf die Verwaltung stets hingewiesen habe. Ablösevereinbarungen ohne ausreichende Gegenleistung seien nichtig mit der Maßgabe, dass die Gemeinde berechtigt und sogar verpflichtet sei, den Beitrag mit Bescheid festzusetzen. Dies gelte selbst dann, wenn die Gemeinde die Nichtigkeit zu vertreten habe.
18
Mit Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigen vom 11. März 2020 ließ der Kläger sein bisheriges Vorbringen vertiefen.
19
Für die weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte, die beigezogenen Behördenakten sowie das Protokoll über die mündliche Verhandlung vom 10. November 2021 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

20
Die zulässige Klage hat auch in der Sache Erfolg. Der Bescheid des Beklagten vom 5. Dezember 2016 in Form des Änderungsbescheids vom 4. Januar 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids des Landratsamtes H* … vom 5. Dezember 2019 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
21
1. Vorliegend findet nach der Übergangsvorschrift des Art. 19 Abs. 7 Satz 1 Kommunalabgabengesetz (KAG) in der Fassung vom 24. Mai 2019 (GVBl. S. 266) das Kommunalabgabengesetz in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung Anwendung.
22
2. Gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 1 KAG können die Gemeinden zur Deckung ihres anderweitig nicht gedeckten Aufwands für die Herstellung, Anschaffung, Verbesserung oder Erneuerung ihrer öffentlichen Einrichtungen Beiträge von den Grundstückseigentümern erheben, denen die Möglichkeit der Inanspruchnahme dieser Einrichtungen besondere Vorteile bietet. Nach der hier geltenden alten Gesetzeslage sollen gem. Art. 5 Abs. 1 Satz 3 KAG für die Verbesserung oder Erneuerung von Ortsstraßen und beschränkt-öffentlichen Wegen Beiträge erhoben werden, soweit nicht Erschließungsbeiträge nach Art. 5a KAG zu erheben sind. Der Beklagte hat hierfür die Satzung über die Erhebung von Beiträgen zur Deckung des Aufwands für die Herstellung, Anschaffung, Verbesserung oder Erneuerung von Straßen, Wegen, Plätzen, Parkplätzen, Grünanlagen und Kinderspielplätzen vom 30. Oktober 2003 (Ausbaubeitragssatzung - ABS -) erlassen.
23
Bedenken gegen das ordnungsgemäße Zustandekommen dieser Satzung sind nicht ersichtlich. In materiell-rechtlicher Hinsicht hat das Gericht jedoch Zweifel an der Wirksamkeit der Regelung in § 8 Abs. 3 Nr. 2 ABS. Danach gilt als Grundstücksfläche, soweit ein Bebauungsplan im Sinn von § 30 Abs. 1 und 2 BauGB nicht besteht, die tatsächliche Grundstücksfläche bis zu einer Tiefe von 50 m, gemessen von der gemeinsamen Grenze des Grundstücks mit der das Grundstück erschließenden Verkehrsfläche. Reicht die bauliche oder gewerbliche oder sonstige vergleichbare Nutzung über diese Begrenzung hinaus, so ist die Tiefe maßgebend, die durch die hintere Grenze der Nutzung bestimmt wird.
24
Eine solche Tiefenbegrenzungsregelung für vollauf im unbeplanten Innenbereich gelegene Grundstücke dürfte im Straßenausbaubeitragsrecht unzulässig sein, weil dieses eine dem § 131 Abs. 1 Satz 1 BauGB entsprechende Regelung nicht kennt und an einen anderen beitragsrelevanten Sondervorteil anknüpft als das Erschließungsbeitragsrecht (BayVGH, B. v. 6.10.2016 - 6 ZB 15.1163 - juris Rn. 9). Rechtsfolge wäre jedoch nicht die Unwirksamkeit der Satzung insgesamt, weil die Tiefenbegrenzung kein Teil des Verteilungsmaßstabs ist. Sie dient nicht der Verteilung des umlagefähigen Aufwands auf die dabei zu berücksichtigenden Grundstücksflächen, sondern der rechtslogisch vorausgehenden Ermittlung eben dieser Flächen. Die Unwirksamkeit der Tiefenbegrenzungsregelung wirkt sich deshalb weder auf den Verteilungsmaßstab noch auf die Satzung insgesamt aus (BayVGH, B. v. 3.7.2017 - 6 ZB 16.2272 - juris Rn. 8).
25
Allerdings ist bei der streitgegenständlichen Abrechnung die Tiefenbegrenzungsregelung tatbestandlich einschlägig gewesen, so dass sich die Unwirksamkeit zu Lasten des Klägers ausgewirkt haben könnte. Der Beklagte trägt vor, hinsichtlich des Grundstücks Fl.Nr. 31 die Tiefenbegrenzung angewandt zu haben. Jedoch entsprach die vorgenommene Abrechnung nicht dem Wortlaut der einschlägigen Satzungsregelung, weil statt der Anwendung der satzungsgemäßen Tiefenbegrenzung eine Aufteilung des Grundstücks nach Innen- und Außenbereich vorgenommen wurde (so wie es auch die Mustersatzung des Bayerischen Gemeindetags vorsieht). Die - unwirksame - Tiefenbegrenzungsregelung wurde also nicht angewandt, so dass nicht bereits deren Unwirksamkeit zur Rechtswidrigkeit des angegriffenen Bescheids führt. Offen bleiben kann, welche Auswirkung die tatsächlich angewandte, so jedoch satzungsrechtlich nicht verankerte, Flächenermittlung für die Rechtmäßigkeit des verfahrensgegenständlichen Bescheids hat, da dieser bereits aus anderen Gründen (siehe unten) rechtswidrig und aufzuheben ist.
26
3. Die abzurechnenden Baumaßnahmen in der Dorf straße stellen eine beitragsfähige Verbesserung im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und 3 KAG dar, so dass das Straßenausbaubeitragsrecht einschlägig ist. Es wird auch seitens des Klägers nicht bestritten, dass die Dorfstraße erneuerungsbedürftig war und ihr Ausbau nicht nur eine Instandhaltungsmaßnahme darstellt, sondern eine beitragsfähige Erneuerung. Eine solche liegt vor, wenn sich der Zustand der Ortsstraße nach dem Ausbau in irgendeiner Hinsicht (insbesondere räumlicher Ausdehnung, funktionaler Aufteilung der Gesamtfläche, Art der Befestigung) von ihrem ursprünglichen Zustand im Herstellungszeitpunkt in einer Weise unterscheidet, die positiven Einfluss auf die Benutzbarkeit hat (BayVGH, U.v. 11.12.2015 - 6 BV 14.586 - juris Rn. 15; B.v. 13.8.2014 - 6 ZB 12.1119 - juris Rn. 13). Dies ist hier offensichtlich der Fall.
27
4. Die im Jahre 2006 zwischen dem Kläger und dem Beklagten geschlossene „Vereinbarung über die Zahlung eines Baukostenzuschusses“ stand dem Erlass des streitgegenständlichen Beitragsbescheids nicht entgegen. Denn es liegt hier kein wirksamer öffentlich-rechtlicher Vertrag vor, der dem Beklagten das Recht nehmen würde, den Vertragsgegenstand per Bescheid festzusetzen.
28
a) Der Wirksamkeit des Vertrages steht nicht entgegen, dass der Marktgemeinderat des Beklagten seinen ursprünglichen Beschluss vom 20. Juni 2006, der dem Vertragsschluss zugrunde lag, in seiner Sitzung vom 22. Oktober 2018 und damit noch vor Erlass des Widerspruchsbescheids aufgehoben hat. Denn allein durch die Aufhebung des (bereits vollzogenen) Beschlusses entfällt nicht automatisch die Willenserklärung des Ersten Bürgermeisters des Beklagten, die zum Vertragsschluss geführt hat.
29
b) Entgegen der Auffassung der Widerspruchsbehörde handelt es sich bei der Vereinbarung nicht um einen öffentlich-rechtlichen Vertrag in Form einer Ablösevereinbarung nach Art. 5 Abs. 9 KAG und § 11 ABS. Denn der eindeutige Wortlaut und Hintergrund der Vereinbarung erlaubt keine derartige Auslegung.
30
In der gesamten Vereinbarung ist nicht von einer Ablösung eines Ausbaubeitrags die Rede, sondern ausdrücklich von der Leistung eines Baukostenzuschusses. Dies entspricht auch dem (damaligen) erklärten Willen der Vertragspartner, gerade keine Abrechnung nach Straßenausbaubeitragsrecht - zu der auch eine Ablösung nach § 11 ABS gehören würde -, sondern eine Finanzierung der Baumaßnahme außerhalb des Satzungsrechts vorzunehmen. In der Niederschrift der Sitzung des Marktgemeinderats des Beklagten vom 20. März 2017, in welcher der Widerspruch des Klägers behandelt wurde, heißt es ausdrücklich:
„Es handelt sich daher vorliegend nicht um einen öffentlich-rechtlichen Vertrag, der als Ablösungsvertrag nach § 11 ABS qualifiziert werden kann, sondern um eine Vereinbarung zur Leistung eines Baukostenzuschusses auf der Grundlage festgeschriebener Bausummen. (…). Eine vertragliche Ablösung nach § 11 ABS liegt mit der Vereinbarung über die Zahlung eines Baukostenzuschusses indes nicht vor, da die dort bezeichneten Vorschriften zur Geltendmachung einer vertraglichen Ablösung des Ausbaubeitrages nicht detailliert bestimmt worden sind. (…) Zweifelsfrei sollte mit der Vereinbarung über den Baukostenzuschuss das Straßenausbaurecht außer Kraft gesetzt werden, was rechtlich nur durch die Aufhebung der Straßenausbaubeitragssatzung selbst, nicht aber durch einen Einzelbeschluss, welcher die vertragliche Regelung über den Baukostenzuschuss zum Gegenstand hatte, erfolgen konnte.“
31
Die Zahlungen der betroffenen Grundstückseigentümer sollten also nicht der Ablösung des Straßenausbaubeitrags dienen, sondern stellten entsprechend der „eingebrachten Baukostenzuschüsse durch die Vereine aus S* …“ die „Bürgeranteile“ an den Baukostenzuschüssen dar (vgl. § 5 der Vereinbarung“). Als rechtlicher Maßstab für die Prüfung der Wirksamkeit der Vereinbarung können also nicht Art. 5 Abs. 9 KAG und § 11 ABS herangezogen werden, weil eine Ablösevereinbarung im Sinne dieser Vorschriften explizit nicht gewollt war und nicht getroffen wurde.
32
c) Eine - unterstellt wirksame - privatrechtliche Vereinbarung eines Baukostenzuschusses lässt zwar nicht die Befugnis des Beklagten entfallen, Ausbaubeitragsbescheide zu erlassen. Die geleisteten Zahlungen haben aber, da sie nicht zurückgezahlt worden waren, den umlagefähigen Aufwand des Beklagten gemindert und hätten insofern bei der Abrechnung entsprechend der Baukostenzuschüsse der Vereine nicht als „Vorauszahlung“ beim jeweiligen Grundstückseigentümer in Abzug gebracht werden dürfen. Letztlich kann dies aber dahingestellt bleiben, da der streitgegenständliche Bescheid bereits aus anderen Gründen rechtswidrig und aufzuheben ist.
33
5. Der Bescheid vom 5. Dezember 2016 ist rechtswidrig, weil keine entsprechende Beschlussfassung des Marktgemeinderats des Beklagten als zuständigem Organ vorliegt und er damit an einem formellen Fehler leidet, der weder geheilt wurde noch unbeachtlich ist.
34
Die ursprüngliche Entscheidung des Beklagten, keine Abrechnung der Baumaßnahme nach Straßenausbaubeitragsrecht vorzunehmen, sondern Vereinbarungen über Baukostenzuschüsse abzuschließen, wurde in der Sitzung des Marktgemeinderats vom 20. Juni 2006 beschlossen. Für die Entscheidung, entgegen des damaligen Beschlusses nunmehr Beitragsbescheide zu erlassen, fehlt es an einem Gemeinderatsbeschluss. In der Sitzung des Marktgemeinderats vom 5. Dezember 2016 informierte der Erste Bürgermeister lediglich über das Vorgehen. Die Bescheide wurden als „Geschäft der laufenden Verwaltung“ erlassen. Damit wurde gegen die Zuständigkeitsnormen der Bayerischen Gemeindeordnung verstoßen.
35
Gemäß Art. 29 der Gemeindeordnung für den Freistaat Bayern (Gemeindeordnung - GO) in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. August 1998 (GVBl. S. 796, BayRS 2020-1-1-I), zuletzt geändert durch Gesetz vom 9. März 2021 (GVBl. S. 74), wird die Gemeinde durch den Gemeinderat verwaltet, soweit nicht der erste Bürgermeister selbständig entscheidet (Art. 37). Die Organkompetenz liegt also grundsätzlich beim Gemeinderat, dessen Zuständigkeit nach der Auslegungsregel des Art. 29 GO vermutet wird.
36
Nach Art. 37 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 GO erledigt der erste Bürgermeister in eigener Zuständigkeit die laufenden Angelegenheiten, die für die Gemeinde keine grundsätzliche Bedeutung haben und keine erheblichen Verpflichtungen erwarten lassen. Eine wortgleiche Regelung enthält § 10 Abs. 1 Nr. 1 der Geschäftsordnung des Beklagten vom 1. Mai 2014.
37
Die Gemeindeordnung enthält keine Legaldefinition des Begriffs der „laufenden Angelegenheit“. Es handelt sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der gerichtlich voll nachprüfbar ist (BayVGH, U. v. 21.12.2004 - 8 B 03.1404 - juris Rn. 26). Insbesondere gehören zu den laufenden Angelegenheiten Geschäfte, die bei der Verwaltung einer Gemeinde in mehr oder minder regelmäßiger Wiederkehr anfallen und zur ungestörten und ununterbrochenen Fortführung der Verwaltung notwendig sind (vgl. BayObLG, B. v. 21.10.1974 - BReg 2 Z 24/74 - juris Rn. 12). Es muss sich für die konkrete Gemeinde um eine häufiger vorkommende, also routinemäßig anfallende Angelegenheit handeln (Widtmann/Grasser/Glaser, Bayerische Gemeindeordnung, Stand 31. EL Februar 2021. Art. 37 Rn. 6).
38
Nach diesem Maßstab handelt es sich bei der Entscheidung, entgegen des ursprünglichen Gemeinderatsbeschlusses vom 20. Juni 2006 Straßenausbaubeitragsbescheide zu erlassen, offensichtlich nicht um eine laufende Angelegenheit. Denn für den Beklagten handelte es sich beim Erlass der Beitragsbescheide in Abkehr von der Beschlusslage 2006 gerade nicht um eine häufiger vorkommende Angelegenheit, sondern - im Gegenteil - um einen einmaligen und außergewöhnlichen Vorgang, der so beim Beklagten noch nicht vorgekommen sein dürfte. Die Aussage des Landratsamts H* … im Widerspruchsbescheid vom 5. Dezember 2019, „beim Erlass eines Beitragsbescheids“ handele es sich um ein einfaches Geschäft der laufenden Verwaltung, ist bereits im Ansatz verfehlt, weil es den oben aufgezeigten rechtlichen Maßstab verkennt. Denn es geht nicht abstrakt-generell um den Erlass von Beitragsbescheiden, sondern erforderlich ist immer eine konkret-individuelle Betrachtung der Angelegenheit in der konkreten Gemeinde. Es mag sein, dass der Erlass von Beitragsbescheiden eine laufende Angelegenheit sein kann. Für den vorliegenden Fall ist damit aber keinerlei brauchbare Aussage getroffen.
39
Hinzu kommt, dass nach Art. 37 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 GO die laufenden Angelegenheiten zusätzlich „keine grundsätzliche Bedeutung“ haben und „keine erheblichen Verpflichtungen“ erwarten lassen dürfen. Die drei Voraussetzungen müssen also kumulativ vorliegen. Auch für die Frage der „grundsätzlichen Bedeutung“ ist jeweils auf „die“ (nicht: „eine“) konkrete, mit dem einzelnen Fall befasste Gemeinde abzustellen (BeckOK Kommunalrecht Bayern, Dietlein/Suerbaum, 12. Edition, Stand 1.11.2021, Art. 37 Rn. 5). Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof verstand unter „einfachen Geschäften“ im Sinne der früheren Fassung des Art. 37 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 GO diejenigen, bei denen die Entscheidung keine großen Schwierigkeiten macht und keine grundsätzlich wichtigen Fragen berührt (erstmals BayVGH, BayBgm 1953, 101).
40
Gemessen an diesem Maßstab handelt es sich bei der Entscheidung, nunmehr Straßenausbaubeitragsbescheide zu erlassen, ebenso offensichtlich auch nicht um eine Angelegenheit, die für den Beklagten keine grundsätzliche Bedeutung hat.
41
Dem Erlass der Beitragsbescheide lag eine Beanstandung durch den Bayerischen Kommunalen Prüfungsverband zugrunde. Er erfolgte auch auf Geheiß der Rechtsaufsicht, die mit der Angelegenheit befasst war und schließlich einen beanstandenden Bescheid erließ. Bereits vor diesem Hintergrund erscheint es zweifelhaft, der Angelegenheit die grundsätzliche Bedeutung abzusprechen. Entscheidend ist aber, dass - bei einer überaus komplexe Sach- und Rechtslage - die Bescheide erlassen wurden, obwohl es einen gegenteiligen Beschluss des Marktgemeinderats und vertragliche Vereinbarungen mit sämtlichen betroffenen Eigentümern der Straßenausbaumaßnahme gab. Die Auffassung, die Entscheidung über den Erlass der Bescheide mache vor diesem Hintergrund keine großen Schwierigkeiten, ist abwegig. Vielmehr handelt es sich bei der vorliegenden Angelegenheit um einen klaren und eindeutigen Fall einer grundsätzlichen Bedeutung.
42
Da nach alledem der Marktgemeinderat des Beklagten für die Entscheidung über den Erlass der Beitragsbescheide zuständig gewesen wäre, eine entsprechende Beschlussfassung aber jedenfalls bis zum Eintritt der Festsetzungsverjährung nicht erfolgt ist, ist der streitgegenständliche Bescheid formell rechtswidrig und aufhebbar. Eine Unbeachtlichkeit dieser Rechtswidrigkeit nach Art. 46 BayVwVfG kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil diese Vorschrift angesichts des ausdrücklichen Wortlauts nur Verstöße gegen die örtliche Zuständigkeit erfasst, aber nicht die Verletzung von anderen Zuständigkeitsvorschriften.
43
6. Der Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.
44
Die Hinzuziehung des Bevollmächtigten im Vorverfahren war für notwendig zu erklären. Die Notwendigkeit einer solchen Hinzuziehung beurteilt sich aus der Sicht einer verständigen Partei, die bemüht ist, die Kosten so niedrig wie möglich zu halten (BVerwG, B. v. 3.7.2000 - 11 A 1/99 - juris Rn. 3). Maßgebend ist, ob sich ein vernünftiger Bürger mit gleichem Bildungs- und Erfahrungsstand bei der gegebenen Sachlage eines Rechtsanwalts oder sonstigen Bevollmächtigten bedient hätte. Notwendig ist die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts danach nur dann, wenn es dem Beteiligten nach seinen persönlichen Verhältnissen und wegen der Schwierigkeit der Sache nicht zuzumuten war, das Vorverfahren selbst zu führen (BVerwG, B. v. 2.7.2014 - 6 B 21/14 - juris Rn. 7).
45
Nach diesem Maßstab ist im vorliegenden Fall die Beauftragung eines Rechtsanwalts als sachgerecht anzusehen. In einer Streitigkeit über gemeindliche Abgaben, hier über einen Straßenausbaubeitrag, treten typischerweise schwierige Sach- und Rechtsfragen auf, die nur eine mit dieser Materie vertraute rechtskundige Person übersehen und (zuverlässig) beantworten kann (vgl. BVerwG, U. v. 15.2.1991 - 8 C 83/88 - juris Rn. 15). Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Kläger über solche speziellen Rechtskenntnisse verfügt, welche ausnahmsweise eine andere Beurteilung erlaubten. Im Widerspruchsverfahren wurden diverse spezifische ausbaubeitragsrechtliche Fragestellungen erörtert. Der Bevollmächtigte des Klägers nahm hierzu ausführlich Stellung. Vom Kläger konnte nach obigem Maßstab daher nicht erwartet werden, das Vorverfahren allein zu betreiben.