Inhalt

VG München, Urteil v. 07.07.2021 – M 18 K 18.2218
Titel:

Hilfe für junge Volljährige, Privatschule mit Internat, Kostenübernahme für selbstbeschaffte Maßnahme (Stattgabe), Systemversagen, Hilfeplanverfahren

Normenketten:
SGB VIII § 35a
SGB VIII § 36
SGB VIII § 36a Abs. 3
SGB VIII § 41
Schlagworte:
Hilfe für junge Volljährige, Privatschule mit Internat, Kostenübernahme für selbstbeschaffte Maßnahme (Stattgabe), Systemversagen, Hilfeplanverfahren
Fundstelle:
BeckRS 2021, 35375

Tenor

I. Die Beklagte wird verpflichtet, die Kosten für den Internatsbesuch des privaten Internats und Gymnasiums B. für das Schuljahr 2016/17 in Höhe von Euro 33.480.- zu erstatten. Der Bescheid vom 17. November 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. April 2018, der Bescheid vom 20. Juni 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. Januar 2020 sowie der Bescheid vom 2. August 2018 werden aufgehoben. 
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Die Klägerin begehrt die Übernahme der Kosten für den Besuch des privaten Internats und Gymnasiums B. für das Schuljahr 2016/17 als Maßnahme der Jugendhilfe.
2
Die am … … … geborene Klägerin kehrte im Herbst 2015 aus einem Auslandsschuljahr während der zehnten Jahrgangsstufe zurück und setzte den Schulbesuch in der elften Klasse des von ihr bis dahin besuchten Gymnasiums fort. Nachdem sich im Schuljahr 2015/16 ab den Herbstferien psychische Beschwerden bei ihr zeigten, war sie in medizinischer Behandlung und längerfristig krankgeschrieben.
3
In einem Befundbericht des die Klägerin damals behandelnden Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie L. vom … … 2016 wurde eine mittelgradige depressive Episode (ICD-10: F 32.1) diagnostiziert. Die Leistungsdiagnostik habe eine durchschnittliche Allgemeinbegabung ergeben, wobei sie als gymnasialreif einzustufen sei. Die Konzentrationsprobleme würden wohl im Zusammenhang mit der depressiven Episode stehen. Aufgrund der sich verschlechternden Situation sei die Möglichkeit einer Klinikbehandlung diskutiert worden.
4
Am … … 2016 erfolgte auf Wunsch der Klägerin und mit dem Einverständnis ihrer Mutter die geschlossene Unterbringung der damals noch minderjährigen Klägerin in die Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie K. zur Abklärung akuter Eigengefährdung. Mit Beschluss des Amtsgerichts München vom 28. April 2016 wurde die vorläufige Unterbringung der Klägerin bis längstens 9. Juni 2016 familiengerichtlich genehmigt.
5
Die zuständige Sachbearbeiterin K. des Jugendamts der Beklagten teilte den Eltern der Klägerin mit Schreiben vom … … 2016 mit, dass die Beklagte durch das Amtsgericht München über die Unterbringung informiert worden sei und bat um eine Terminvereinbarung, um Unterstützungsmöglichkeiten seitens der Jugendhilfe im Anschluss an die klinische und medizinische Betreuung der Klägerin zu besprechen.
6
Eine Reaktion hierauf erfolgte nicht.
7
Nachdem die Klägerin am … … 2016 in die offen-stationäre Station der sie behandelnden Klinik K. wechselte, wurde mit Beschluss des Amtsgerichts München vom 13. Mai 2016 die Unterbringung der Klägerin „infolge Entlassung“ beendet.
8
Die Sachbearbeiterin K. der Beklagten wandte sich nach der Mitteilung durch das Amtsgericht hiervon mit weiterem Schreiben vom … … 2016 an die Eltern der Klägerin, teilte mit, dass es für die Beklagte wichtig sei, zu erfahren, wie es der Klägerin nach der Entlassung aus der Klinik gehe, welchen Unterstützung sie aktuell bekomme und bat um Rückmeldung bis zum 20. Juli 2016.
9
Am 1. Juli 2016 erfolgte ein Telefonat zwischen der Sachbearbeiterin K. der Beklagten und dem Vater der Klägerin. Dabei wurde (wohl) mitgeteilt, dass die Klägerin weiterhin in stationärer Behandlung sei und im Anschluss daran eine ambulante Therapie benötige; sie werde die 11. Klasse wiederholen müssen. Die Familie werde sich bei der Beklagten melden, sofern ein Beratungstermin gewünscht werde.
10
Mit E-Mail vom 1. August 2016 wandte sich die Mutter der Klägerin mit dem Betreff „Eilantrag zur Kostenübernahme nach § 35a“ an die zuständige Sachbearbeiterin K. der Beklagten und teilte mit, dass sie bereits am 25. Juli 2016 mit der Vertretung W. der Sachbearbeiterin K. telefoniert habe. Diese habe gebeten, einen schriftlichen, formlosen Antrag zu stellen sowie ein ärztliches Gutachten einzuholen. Ein Gutachten der Klinik werde in den nächsten Tagen erstellt und dann umgehend zugeleitet. Die Vertretung hätte zudem ermutigt, durchaus schon tätig zu werden, um für die Klägerin einen adäquaten Platz zu finden.
11
Der E-Mail beigefügt war ein Schreiben der Eltern der Klägerin, datiert auf den … … 2016, in dem ausgeführt wird, dass der Klinikaufenthalt die Klägerin deutlich stabilisiert habe und die Entlassung Anfang Juli langsam ins Auge gefasst worden sei. Leider habe sich gezeigt, dass jeder Versuch, den weiteren schulischen Weg (oder auch Alternativen wie eine Ausbildung) zu besprechen, in akute Rückfälle, Angst, Depression, Hoffnungslosigkeit und Suizidgedanken gemündet habe. Die Verzweiflung der Klägerin im Hinblick auf die Rückkehr in die Schule und die schulischen und sozialen Herausforderungen, die sie dort zu bewältigen habe, sei kaum geringer als zu Beginn des Klinikaufenthalts gewesen. Und dies, obwohl sie Abitur machen möchte, lernen möchte und sich den weiteren Schulbesuch auch vornehme und dazu selbst keine Alternative sehe. Gespräche mit der Klägerin und den behandelnden Ärzten und Ärztinnen hätten ergeben, dass die Klägerin die Sicherheit und Struktur und soziale Unterstützung eines Internats wünsche und diesen Wunsch mit großer Klarheit und Kraft äußern könne. Die Ärzte hätten dringend geraten, alles zu tun, um der Klägerin den Weg zum Abitur mit Unterstützung eines Internats zu ermöglichen. Nur mit Hilfe eines Internats könne die gesellschaftliche Wiedereingliederung und der Schulabschluss gewährleistet werden. Leider erscheine der Weg der Fremdunterbringung zwingend notwendig; eine Fremdunterbringung in einer hinreichenden Distanz von …, die einen neuen Lebensmittelpunkt ermögliche, sodass die Klägerin sich nicht zerrissen zwischen zwei Welten erlebe. Der eindeutige Hinweis der Ärzte sei gewesen, zur Stabilisierung der Klägerin in dieser kritischen Situation auf jeden Fall ein Vollinternat zu suchen, das a) eine Internatsschule und keine Regelschule mit angeschlossenem Internat sein solle, b) die Kinder auch über das Wochenende betreue und begleite und mit ihnen gelebt und gearbeitet werde, damit es der Klägerin nicht zugemutet werden müsse, zwischen beiden Welten zu pendeln und sich an zwei Orten sozial behaupten zu müssen und c) die erfahren sei, mit Schülerinnen in psychisch schwierigen Situationen offen umzugehen und in der Lage sei, die Klägerin sozial und psychologisch zu betreuen und eine weiterführende Therapie zu ermöglichen.
12
Die Entscheidung, dem Wunsch der Klägerin und dem Rat der behandelnden Ärzte zu folgen, sei Ende vorletzter Woche gefallen. Nun bestehe ein extremer Zugzwang, ein passendes Internat zu finden, das alle Bedingungen erfülle und die Zeit sei knapp um alles bis zum Beginn des neuen Schuljahres zu bewältigen. Gerne greife man auch auf die Expertise und den Rat der Beklagten zurück. Es wurde nachgefragt, ob ein Internat empfohlen werden könne. Als Möglichkeit wurde das Internat B. genannt. Diese Schule sei von dem behandelnden Arzt der Klinik empfohlen worden. Man habe sich diese unverbindlich angeschaut, die Klägerin sei mit der Schule und der Entfernung gut zurechtgekommen und hoffe, dort einen Platz zu bekommen.
13
Nachdem die Eltern auf diese E-Mail eine automatische Abwesenheitsmitteilung erhielten, in der mitgeteilt wurde, dass die Sachbearbeiterin K. bis zum 15. August 2016 im Urlaub sei und die E-Mail bis dahin nicht bearbeitet werde, leiteten die Eltern der Klägerin ihre E-Mail am 1. August 2016 an die in der Abwesenheitsmitteilung benannte Vertretung O. bei der Beklagten weiter und wiesen darauf hin, dass ein Untätigsein bis zum 15. August leider nicht möglich sei, so dass man den Antrag an die Vertretung weiterleite. Zeitgleich werde man entsprechend der Empfehlung im Telefonat mit Frau W. alles in der Macht Stehende tun, um für die Klägerin eine Lösung zu finden. Selbstverständlich sei man für Unterstützung, Rat und Erfahrung dankbar.
14
Mit E-Mail vom 8. August 2016 an die Sachbearbeiterin K. der Beklagten teilte die Mutter der Klägerin mit, dass sie am gleichen Tag mit der Vertretung O. der Sachbearbeiterin K. telefoniert habe. Ergebnis dieses Telefonates sei, dass die Klägerin nun in der Schule, die empfohlen worden sei, angemeldet werde. Die zuständige Schulpsychologin - deren Kontaktdaten in der Mail mitgeteilt wurden - habe angeboten, dass die Beklagte für alle Fragen zur Betreuung in der Schule, zu Schule und Internat direkt auf sie zugehen könne. Des Weiteren sei in dem Telefonat vereinbart worden, dass die Eltern die Sachbearbeiterin an ihrem 1. Arbeitstag, dem 16. August, anrufen würden, um noch die dringenden persönlichen Gespräche kurzfristig führen zu können. Die Familie fahre mit der Klägerin am 17. August für zweieinhalb Wochen in den Urlaub und bringe die Klägerin auf dem Rückweg am 4. September direkt in das Internat. Die Klägerin werde am Mittwoch entlassen. Mit der Entlassung werde den Eltern das Gutachten übergeben und direkt an die Beklagte weitergleitet. Für die Entlassung sei Voraussetzung gewesen, dass eine schulische Lösung (= Internatsplatz) vorhanden sei.
15
Die Eltern der Klägerin schlossen am 10. August 2016 mit dem privaten Internat und Gymnasium B. einen Vertrag über den Schul- und Internatsbesuch der Klägerin zum 1. September 2016 mit Erziehungs- und Pensionskosten für das Schuljahr 2016/2017 in Höhe von Euro 33.480,-. Gemäß den dortigen allgemeinen Schul- und Internatsbedingungen gelten die ersten sechs Wochen beginnend ab dem ersten Schultag als Probezeit. Während dieser Zeit kann der Vertrag unter Einhaltung einer Frist von sechs Wochen zum Monatsende gekündigt werden. Die ordentliche Kündigung des Vertrages ist nach Ablauf der Probezeit mit einer Frist von drei Monaten zum Ende eines jeden Tertials möglich.
16
Mit E-Mail vom 11. August 2016 teilte die Mutter der Klägerin der Sachbearbeiterin K. der Beklagten mit, dass die Klägerin am Vortag entlassen worden sei. Das Gutachten der Klinik, in dem zur Fremdbetreuung in einem Internat geraten werde, sei im Sozialbürgerhaus der Beklagten eingeworfen worden.
17
In dem Gutachten der Klinik, datiert vom 5. August 2016, wird eine mittelgradige depressive Episode (ICD-10: F32.1) diagnostiziert. In der zusammenfassenden Beurteilung und Empfehlung wird ausgeführt, dass aufgrund der diagnostischen und klinischen Beobachtungen bei der Klägerin von einer mittelgradigen depressiven Episode vor dem Hintergrund hoher Erwartungen an sich selber und die Umwelt und einem reduzierten Selbstwertgefühl ausgegangen werde. Die Klägerin habe sich effektiv und emotional zunehmend stabilisiert bei wiederholt auftretenden deutlichen Stimmungsschwankungen. Im Hinblick auf die Planung der weiteren schulischen Perspektive erscheine derzeit für die Klägerin auch zur weiteren psychischen Stabilisierung der strukturvermittelnde Rahmen eines Internats, am besten mit der Möglichkeit einer ambulanten psychotherapeutischen Begleitung, besonders sinnvoll. Die von der Klägerin und ihren Eltern favorisierte Einrichtung B. erscheine in diesem Zusammenhang durchaus geeignet. Aufgrund der vorliegenden Untersuchungsbefunde und der sozio-emotionalen Belastung, welche die Klägerin wesentlich in ihrer Fähigkeit an der Gesellschaft teilzuhaben einschränke, solle aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII gewährt werden. Ihre seelische Gesundheit weiche mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand ab. Eine Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft sei nach fachlicher Erkenntnis bereits vorhanden. Eine geistige oder körperliche Behinderung liege nicht vor. Das Gutachten wurde ausschließlich von dem ärztlichen Direktor des Klinikums unterschrieben.
18
Am 16. August 2016 sprachen (wohl) die Eltern der Klägerin gemeinsam mit dieser bei der zuständigen Sachbearbeiterin K. der Beklagten vor. Eine schriftliche Dokumentation dieses Termins existiert nicht. In den vorgelegten Behördenakten befinden sich jeweils auf den 16. August 2016 datiert und von beiden Eltern der Klägerin unterzeichnet ein Formular „Grundantrag“, ein handschriftlicher als „Anlassdarstellung“ bezeichneter Antrag auf Jugendhilfe nach § 35a SGB VIII sowie ein Formular „Einwilligung zur Beratung im Fachteam“. Des Weiteren befinden sich in der Behördenakte auf den 16. August 2016 datierte Schreiben der Sachbearbeiterin K. der Beklagten an die Eltern der Klägerin und die Klägerin. In diesen Schreiben wird gebeten, „zur Vorbereitung der Einleitung einer möglicherweise stationären Erziehungshilfe für die Klägerin als Hausaufgabe für die Falleingabe im Rahmen des Hilfeplanverfahrens“ einen im Folgenden aufgeführten Fragenkatalog zu beantworten.
19
In dem - der Beklagten zunächst nicht vorgelegten - ärztlich-psychologischen Bericht der Klinik K. vom 31. August 2016 an den die Klägerin behandelnden Facharzt wird u.a. ausgeführt, dass die Klägerin an eigenen Zielen genannt habe, wieder ein normales Leben führen zu können, wieder zur Schule zu gehen, ihre Nachrichten (WhatsApp) beantworten zu können, wieder positiver zu denken und ihre Gestaltung sozialer Kontakte zu verbessern. Bei zunehmender emotionaler Stabilisierung und nachdem auch die schulische Perspektive geklärt gewesen sei, habe am 10. August 2016 die Entlassung nach Hause erfolgen können. In Anbetracht der Anamnese, der familiären Situation, der psychosozialen Belastungsfaktoren und des stationären Verlaufes sei eine ambulante Psychotherapie dringend notwendig.
20
Die Klägerin besuchte ab 1. September 2016 die 11. Klasse des privaten Gymnasiums und Internats B.
21
Die Beklagte wandte sich mit Schreiben vom 1. September 2016 an das Internat B. und bat um Informationen hinsichtlich des Einrichtungskonzeptes. Im Folgenden fand ein Austausch hierzu statt.
22
Am 9. September 2016 fand ein weiterer Besprechungstermin (wohl) der Eltern der Klägerin mit Mitarbeitern der Beklagten statt. Der Termin ist lediglich durch stichpunktartige, handschriftliche Aufzeichnungen dokumentiert, aus denen sich weder Teilnehmerkreis noch Inhalte abschließend ergeben.
23
In der vorgelegten Behördenakte befindet sich, datiert auf den 23. September 2016, eine „Falleingabe im Fachteam“. Darin wird abschließend festgestellt, dass „im Rahmen Abklärung der Jugendhilfe keine Hilfearten besprochen“ hätten werden können, „da sich die Familie bereits für die Aufnahme im B. entschieden“ habe.
24
In der Stellungnahme der Schulberatung Inklusion der Beklagten, datiert auf den … … 2016, wird für die Klägerin ein schulischer Förderbedarf im Bereich „Emotionale und soziale Entwicklung“ festgestellt. Auf dem formularmäßigen Vordruck erfolgte weder eine Feststellung, ob der Förderbedarf an der allgemeinen Schule oder einem Förderzentrum erfüllt werden könne, noch eine Aussage welche Einrichtungen im örtlichen Zuständigkeitsbereich für den Förderschwerpunkt zur Verfügung stehen. Unter „Besondere Hinweise“ wird ausgeführt, dass Zeugnisse und Stellungnahme der bisherigen Schule der Klägerin gute bis befriedigende Leistungen bestätigen würden. Es sei davon auszugehen, dass nicht mangelnde intellektuelle Fähigkeit, sondern eine depressive Erkrankung entscheidend für die Überforderung sei. In Hinsicht auf die seelische Krise der Klägerin, ihre depressive Erkrankung und ihre derzeitige emotionale Labilität werde eine besondere Form der Beschulung angeraten. Folgende Rahmenbedingungen seien wichtig: eine geringe Klassenstärke, Lehrkräfte, die auf die besonderen Bedürfnisse der Klägerin eingingen und besondere pädagogische Angebote, die der Klägerin helfen sollten, ihre überzogene kritische Haltung zu verändern und den dadurch verursachten Stress zu reduzieren.
25
Entsprechend dem handschriftlichen Protokoll über die Empfehlung des Fachdiensts vom … … … … 2016 wurde im Fachteam der Beklagten hinsichtlich der Maßnahme keine Einigkeit erzielt.
26
In einer hausinternen psychologischen Stellungnahme vom … … 2016 wird mit umfangreicher Begründung empfohlen, den Antrag auf Kostenübernahme abzulehnen.
27
Mit streitgegenständlichen Bescheid vom 17. November 2016 lehnte die Beklagte den Antrag auf Gewährung von Eingliederungshilfe in Form eines Internatsbesuchs für das private Internat und Gymnasium B. ab.
28
Zur Begründung wird ausgeführt, dass ohne Zweifel bei der Klägerin eine seelische Behinderung vorliege und auch die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft beeinträchtigt sei. Jedoch könne aufgrund der vorgelegten Unterlagen die Notwendigkeit einer Internatsunterbringung sowie die besondere Eignung des privaten Internats und Gymnasiums B. für die Bedarfe der Jugendlichen nicht nachgewiesen werden.
29
Das Gymnasium biete keine ausreichenden Angebote zur Minderung des Integrationsrisikos, sodass eine systematische Bewältigung der sozialen Teilhaberisiken der Klägerin nicht zu erwarten sei. Es sei den Anforderungen des komplexen Störungsbildes der Klägerin nicht gewachsen. Es stehe zu befürchten, dass die Klägerin in einer schweren Krisensituation vom privaten Internat und Gymnasium B. ausgeschlossen werden könnte. Dies würde die Belastung der Klägerin in einer derartigen Situation zusätzlich erheblich verstärken. Auch könne keine systematische Eltern- und Familienarbeit angeboten werden. Zwar bestehe die Möglichkeit, dass die Klägerin durch den Internatsbesuch schulisch stabilisiert werde, dies stelle jedoch keine grundlegende ursächliche Veränderung der sozio-emotionalen Problematik dar. Die erheblichen Integrationsrisiken sowie die Komplexität des Störungsbildes der Klägerin würden zu einem erheblichen Hilfebedarf führen, der aus Sicht der Beklagten nur durch die stationäre Unterbringung in einer therapeutischen Jugendhilfemaßnahme mit individuell zugeschnittenen therapeutischen Angeboten gedeckt werden könne. Aufgrund der Selbstbeschaffung der Maßnahme hätten keine alternativen Perspektiven für die Klägerin erarbeitet werden können. Für die Entscheidung des Jugendhilfeträgers sei es unerheblich, ob der Klägerin aus jetziger Sicht ein Wechsel in eine andere Schule zumutbar wäre. Allein abzustellen sei auf die Frage, ob die Tatbestandsvoraussetzungen des § 35a SGB VIII gegeben seien und das gewählte Internat als Maßnahme der Eingliederungshilfe geeignet sei. Letzteres sei jedenfalls zu verneinen.
30
Mit Schreiben vom gleichen Tag wurde den Eltern der Klägerin ein Besprechungstermin angeboten, an dem auch der psychologische Dienst der Beklagten teilnehmen werde. Am … … 2016 fand daraufhin wohl ein Gespräch zwischen den Eltern der Klägerin sowie mehreren Mitarbeitern der Beklagten statt, worüber lediglich ein stichpunktartiger Aktenvermerk vorliegt.
31
Mit Schreiben vom … … 2016 legten die Eltern der Klägerin Widerspruch gegen den Bescheid der Beklagten ein und begründeten diesen umfangreich.
32
Mit Schreiben vom 13. März 2017 beantragte die Klägerin aufgrund ihrer Volljährigkeit persönlich Jugendhilfeleistungen nach § 35a SGB VIII und bat um eine positive Entscheidung über den Widerspruch vom 12. Dezember 2016. Mit E-Mail vom … März 2017 teilte die Beklagte daraufhin mit, dass der Antrag der Klägerin genau beschreiben müsse, was sie beantrage, möchte und sich erhoffe. Die Klägerin beantragte daraufhin mit Schreiben vom … … 2017 die Kostenübernahme für das Internat B. als Jugendhilfemaßnahme nach § 35a SGB VIII, schloss sich dem Antrag der Eltern vom … … 2016 an und begründete ihren Wunsch im Weiteren.
33
Die Bevollmächtigten der Klägerin bestellten sich mit Schreiben vom 2. Juni 2017.
34
Mit weiterem streitgegenständlichen Bescheid vom 20. Juni 2017 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin vom 28. April 2017 ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass durch die zwischenzeitlich geführten Gespräche mit den Eltern der Klägerin und den von der Klägerin im „Volljährigenantrag“ dargelegten Gründe keine neuen Sachverhalte zum Erstantrag vorgetragen worden seien, welche zu einer veränderten Entscheidung führen würden.
35
Die Bevollmächtigten der Klägerin legten mit Schreiben vom 17. Juli 2017 Widerspruch gegen den Bescheid vom 20. Juni 2017 ein und begründeten die Widersprüche mit Schreiben vom 28. Juli 2017 umfangreich und unter Vorlage weiterer Unterlagen.
36
Die Klägerin beantragte mit Schreiben vom … … 2017 die Übernahme der Internatskosten für die Klasse 12 (Schuljahr 2017/18) der Internatsschule B.
37
Die Bevollmächtigten der Klägerin legten der Beklagten sowie der Widerspruchsbehörde mit Schreiben vom 29. Januar 2018 unter anderem Zeugnisse, Schulfragebögen, aktuelle Stellungnahmen der behandelten Psychiaterin sowie der Psychotherapeutin, des Kinderarztes sowie der Heimpsychologin vor. Zudem nahmen sie umfangreich zu den Ausführungen der Beklagten im Bescheid vom 17. November 2016 Stellung.
38
Die Beklagte teilte den Bevollmächtigten mit E-Mail vom 26. Februar 2018 mit, dass beabsichtigt sei, zu dem Internat zu fahren, um dort mit der Klägerin sowie dem Fachpersonal zu sprechen.
39
Die Mutter der Klägerin antwortete hierauf mit E-Mail vom 1. März 2018, dass die unmittelbare Kontaktaufnahme mit dem Internat begrüßt werde. Sehr schön sei auch, dass man nun, nachdem die Klägerin es seit eineinhalb Jahren immer wieder anbiete, bereit sei, auch mit der Klägerin persönlich zu sprechen. Die Klägerin habe oft um dieses Gespräch gebeten, das Desinteresse habe eine große unnötige Belastung dargestellt. Warum bis zu den Abiturprüfungen gewartet worden sei, den persönlichen Kontakt aufzunehmen, sei unverständlich. Die Klägerin sei nun jedoch mitten in den Abiturprüfungen, sodass der Zeitpunkt für ein Gespräch denkbar ungünstig gewählt sei. Der Klägerin gehe es im Moment nicht gut, sie sei auf eigenen Wunsch wieder stationär aufgenommen worden. Es werde daher gebeten, das Gespräch bis nach den Abiturprüfungen aufzuschieben.
40
Nach weiterem Schriftverkehr zwischen den Parteien fand am 15. Mai 2018 ein Gespräch zwischen Mitarbeitern der Beklagten, der Klägerin, der persönlichen Mentoren der Klägerin sowie der Schul- und Heimpsychologen des privaten Internats und Gymnasiums B. an der Schule statt.
41
Die Regierung von Oberbayern wies mit Bescheid vom 27. April 2018 den Widerspruch gegen den Bescheid vom 17. November 2016 zurück; die Beurteilung des Jugendamtes sei angemessen, fachlich vertretbar und nachvollziehbar.
42
Am 8. Mai 2018 erhoben die Bevollmächtigten der Klägerin für diese Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München gegen den Bescheid der Beklagten vom 17. November 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. April 2018 und beantragten zuletzt in der mündlichen Verhandlung vom 7. Juli 2021,
43
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 17. November 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. April 2018 und unter Aufhebung des Bescheides vom 20. Juni 2017 zu verurteilen, die entstandenen Kosten für den Internatsbesuch des privaten Internats und Gymnasiums B. im Schuljahr 2016/17 in Höhe von Euro 33.480 zu erstatten.
44
Die Klägerin legte im Juni 2018 ihr Abitur erfolgreich ab.
45
Mit Schreiben vom 13. Juli 2018 an die Beklagte beantragten die Bevollmächtigten der Klägerin die Übernahme der entstandenen Kosten für den Internatsbesuch für das private Internat und Gymnasium B. im Schuljahr 2016/17.
46
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 19. Juli 2018 den Antrag vom 10. August 2017 auf Kostenübernahme für das Schuljahr 2017/18 ab.
47
Mit weiterem streitgegenständlichen Bescheid vom 2. August 2018 lehnte die Beklagte den Antrag vom 13. Juli 2018 auf Kostenübernahme für das Schuljahr 2016/17 ab, da zum Zeitpunkt der Antragstellung die Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe nicht vorgelegen hätten. Es habe keine vorrangige Notwendigkeit und Eignung einer Unterbringung der Klägerin im privaten Internat und Gymnasium B. zur Milderung ihrer Teilhaberisiken nachgewiesen werden können. Die Erlangung des Abiturs stelle kein primäres Ziel der Jugendhilfe dar. Zur ausführlichen Erläuterung wurde im Übrigen auf den Ablehnungsbescheid vom 17. November 2016 verwiesen.
48
Am 9. August 2018 erhoben die Bevollmächtigten der Klägerin für diese Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München gegen den Bescheid vom 19. Juli 2018 (M 18 K … …
49
Des Weiteren erhoben die Bevollmächtigten am 6. September 2018 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht gegen den Bescheid der Beklagten vom 2. August 2018 (M 18 K … …).
50
Mit Schriftsatz vom 30. Oktober 2018 kündigten die Bevollmächtigten der Klägerin Klageanträge an und führten zur Klagebegründung insbesondere aus, dass die Internatsunterbringung für die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft und insbesondere zur Erreichung einer angemessenen Schulbildung sowie für die Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung erforderlich und geeignet gewesen sei. Die Klägerin habe eine angemessene Schulbildung nur dort erhalten können und zwischenzeitlich das Abitur erfolgreich abgelegt. Die Ausführungen der Beklagten im Bescheid vom 17. November 2016 seien unzutreffend und würden in deutlichem Widerspruch zu den ärztlichen Empfehlungen stehen. Die Beklagte habe bei ihrer ablehnenden Entscheidung keine allgemeingültigen fachlichen Maßstäbe beachtet. Insbesondere sei kein Hilfeplanverfahren durchgeführt bzw. ein Hilfeplan aufgestellt worden. Die Beklagte sei zudem unzutreffend davon ausgegangen, dass bei der Klägerin ein komplexes Störungsbild vorliege.
51
Im Verfahren M 18 K … … kündigten die Bevollmächtigten mit Schriftsatz vom 23. November 2018 an, zu beantragen, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 2. August 2018 zu verurteilen, die entstandenen Kosten und Aufwendungen für den Internatsbesuch des privaten Internats und Gymnasiums B. im Schuljahr 2016/17 in Höhe von Euro 33.480.- zu erstatten.
52
Mit Schriftsatz vom 11. September 2019 beantragten die Bevollmächtigten im Verfahren M 18 K … … als Klageänderung, die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 19. Juli 2018 zu verurteilen, die entstandenen Kosten für den Internatsbesuch des privaten Internats und Gymnasiums B. Im Schuljahr 2017/18 in Höhe von Euro 33.612,15 zu erstatten.
53
Die Beklagte legte mit Schriftsatz vom 29. Juli 2019 die Behördenakten vor und beantragte,
54
die Klage abzuweisen.
55
Zur Begründung wurde eine umfangreiche Stellungnahme des psychologischen Dienstes vom … … 2019 vorgelegt. Darin wird zusammenfassend ausgeführt, dass nach den vorliegenden Unterlagen die Klägerin eine junge Frau sei, die bereits als Kleinkind immer wieder auffällige Entwicklungsverläufe gezeigt habe. Es sei davon auszugehen, dass diese in ihrer Gesamtheit zusammenhängen und auf das Vorliegen subjektiver Belastungen hinwiesen. Folglich sei auch die schulische Situation höchstwahrscheinlich nicht als alleinige Ursache der depressiven Entwicklung zu sehen. Vielmehr sei davon auszugehen, dass bei der Klägerin neben dem wahrgenommenen schulischen Leistungsdruck auch noch andere psychosoziale Belastungsfaktoren vorlägen, welche die dargestellte Symptomatik ausgelöst oder zumindest aufrechterhalten hätten. Ob diese im Rahmen der stationären psychiatrischen Behandlung eruiert und bearbeitet worden seien, sei dem Gutachten der Klinik leider nicht zu entnehmen. Mehrfache telefonische Nachfragen im September und Oktober 2016 beim behandelnden Psychologen seien ebenso wie eine E-Mail vom … … 2016 mit dezidierten Fragen bis heute unbeantwortet geblieben. Zur Bearbeitung sowie der Unterstützung des Familiensystems sei aus Sicht der Beklagten eine stationäre Jugendhilfemaßnahme mit therapeutischen und intensiv-pädagogischen Angeboten zur ursächlichen Behandlung der depressiven Symptomatik und der damit verbundenen Teilhaberisiken vorrangig notwendig. Das Erreichen eines optimalen Schulabschlusses stelle dabei nicht das vorrangige Ziel der Jugendhilfe dar. Nach Einschätzung der Beklagten müsse eine geeignete Maßnahme für die Klägerin folgende - im Näheren erläuterte - Merkmale aufweisen: engmaschige Betreuung durch erfahrene Bezugspersonen, hinreichende Erfahrung der Einrichtung mit erheblichen psychiatrischen Störungsbildern, verpflichtende Angebotsstrukturen und aufsuchende Hilfe, therapeutische Unterstützung innerhalb und außerhalb der Maßnahme, Notwendigkeit der Elternarbeit, Entwicklung einer entsprechenden Problemeinsicht, Mitwirkungs- und Veränderungsbereitschaft auch bei den Eltern der Klägerin, räumliche Nähe der Einrichtung, überschaubares soziales System, getrennte Institutionen Jugendhilfeeinrichtung vs. Schule, sowie unabhängige Maßnahmedauer vom Schulbesuch/Unterstützung beruflicher Perspektiven. Hinsichtlich der schulischen Perspektive habe zunächst die notwendige emotionale Stabilität der Klägerin eindeutig abgeklärt werden sollen. Die Beklagte habe dabei in keiner Weise an den intellektuellen Fähigkeiten der Klägerin gezweifelt, welche für den Besuch einer gymnasialen Oberstufe befähigt sei. Da die mittelgradig depressive Episode der Klägerin jedoch zum Zeitpunkt der Antragstellung nicht vollständig remittiert gewesen sei und auch von künftig auftretenden depressiven Episoden ausgegangen habe werden müssen, sei aus Sicht der Beklagten nicht eindeutig geklärt gewesen, ob die Klägerin über die notwendige emotionale Stabilität für den Besuch einer gymnasialen Oberstufe verfüge. Sobald die Klägerin über die notwendige emotionale Stabilität zum Besuch einer gymnasialen Oberstufe verfüge, solle in Zusammenarbeit mit einer Schulberatungsstelle geklärt werden, ob für die Klägerin ein geeigneter Schulplatz in einem öffentlichen Gymnasium vorliege. Nach der Stellungnahme der städtischen Schulberatung Inklusion vom … … 2016 sei bescheinigt worden, dass der Förderbedarf nicht nur an einem Förderzentrum oder einer Förderschule erfüllt werden könne, sowie im Raum München für den Förderschwerpunkt der Klägerin öffentlich-rechtliche Fördereinrichtung zur Verfügung stehen würden. Sollte bei entsprechender emotionaler Stabilität kein geeigneter Platz im öffentlichen Schulsystem für die Klägerin vorhanden sein, wäre auch die Kostenübernahme für eine Privatschule denkbar gewesen. Ganz bewusst habe die Beklagte den Wechsel in ein anderes Bundesland nicht empfohlen; dies hätte die bereits bekannte Vermeidungsstrategie bei Konflikten gefördert und nicht einen adäquaten Umgang mit Problemen. Zudem sei eine vorrangige Notwendigkeit und besondere Eignung des privaten Internats und Gymnasiums B. in allen vorliegenden Unterlagen und Gespräche nicht nachgewiesen worden. Die Anmeldung der Klägerin dort sei trotz mehrmaligen Hinweisen sowohl der Beklagten wie auch bereits während des Klinikaufenthalts durch den Sozialdienst der Klinik, dass eine Kostenübernahme für ein Internat nur in begründeten Ausnahmefällen nach ausführlicher Prüfung seitens des Jugendhilfeträgers möglich sei und daher nicht als gesichert gesehen werden dürfe, erfolgt. Die Familie sei auch darüber informiert worden, dass eine Aufnahme vor Kostenzusage auf eigenes finanzielles Risiko erfolge. Aus Sicht der Beklagten seien es die Kindeseltern gewesen, die sich nicht an den üblichen Ablauf einer Hilfeerschließung gehalten hätten, indem sie den Kontakt zum Sozialdienst abgebrochen und Schweigepflichtentbindungen nicht gegeben hätten. Daher habe der übliche Verlauf mit rundem Tisch mit allen Beteiligten oder Helferrunden nicht stattfinden können. Es liege unstreitig eine Selbstbeschaffung vor. Der Vorwurf, man habe sich nicht an das Hilfeplanverfahren gehalten, werde daher deutlich zurückgewiesen. Zudem würden in dem Verfahren im Einzelnen ausgeführte weitere Auffälligkeiten bestehen und habe die Zusammenarbeit mit der Familie von Seiten der Kindeseltern teilweise sehr unübliche Wege aufgewiesen.
56
Die Regierung von Oberbayern wies mit Bescheid vom 17. Januar 2020 den Widerspruch gegen den Bescheid vom 20. Juni 2017 zurück.
57
Am 7. Februar 2020 erhoben die Bevollmächtigten der Klägerin für diese Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München gegen den Bescheid der Beklagten vom 20. Juni 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. Januar 2020 (M 18 K 20.529).
58
Mit Beschluss vom 16. Oktober 2020 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen, § 6 Abs. 1 VwGO.
59
Eine von dem Gericht mit Schreiben vom 29. Juni 2021 angeforderte vollständige Aktenvorlage durch die Beklagte einschließlich einer Dokumentation der laut der Stellungnahme vom … … 2019 erfolgten Kontaktaufnahmen mit der Klinik K. unterblieb.
60
In der mündlichen Verhandlung vom 7. Juli 2021 des vorliegenden Verfahrens sowie der Verfahren M 18 K … …, M 18 K … … und M 18 K … … nahmen die Bevollmächtigten der Klägerin nach dem Hinweis des Gerichts auf die doppelte Rechtshängigkeit die Klagen M 18 K 18.4454 und M 18 K 20.529 zurück.
61
Die Parteien wurden insbesondere zu den Teilnehmern und Inhalten der Gespräche im Jahr 2016 informatorisch befragt. Zudem erklärten die Vertreterinnen der Beklagten, dass hinsichtlich der Akten des psychologischen Dienstes keine Aktenführungspflicht bestehe, sämtliche wesentlichen Unterlagen würden in die Hauptakte aufgenommen. Des Weiteren erklärten sie, dass im Fall eines Übergangs des Beurteilungsspielraumes auf die Klägerin bzw. deren Eltern die Entscheidung für das Internat B. nachvollziehbar sei und Einwände gegen die geltend gemachte Höhe der Kostenerstattung nicht erfolgten.
62
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 7. Juli 2021, den Inhalt der Gerichtsakten im vorliegenden Verfahren und den beigezogenen Verfahren M 18 K …, M 18 K … und M 18 K … sowie auf die vorgelegten Behördenakten zu den Verfahren verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Erstattung der Kosten für den Besuch des privaten Internats und Gymnasiums B. für das Schuljahr 2016/17 als selbstbeschaffte Eingliederungshilfe nach § 36a SGB VIII i.V.m. §§ 35a, 41 SGB VIII. Die ablehnenden Bescheide vom 17. November 2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. April 2018, vom 20. Juni 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Januar 2020 sowie vom 2. August 2018 sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
64
Der Klage ist der in der mündlichen Verhandlung gestellte Klageantrag auf Verpflichtung der Beklagten zur Erstattung der Kosten für eine in der Vergangenheit liegende selbstbeschaffte Maßnahme zu Grunde zu legen.
65
Für in der Vergangenheit liegende Maßnahmen scheidet eine rückwirkende Bewilligung von Jugendhilfemaßnahme aus, da Maßnahmen der Jugendhilfe der Deckung eines aktuellen Bedarfs des Hilfeempfängers dienen. Dementsprechend kann sich ein Anspruch für die Vergangenheit ausschließlich auf Erstattung der Kosten einer selbstbeschafften Maßnahme gemäß § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII richten (vgl. BayVGH, B.v. 28.10.2014 - 12 ZB 13.2025 - juris Rn. 12). Nachdem bereits im Zeitpunkt der Klageerhebung am 8. Mai 2018 der streitgegenständliche Zeitraum (September 2016 bis August 2017) abgeschlossen war, konnte mit der Klage ausschließliche eine solche Kostenerstattung begehrt werden.
66
Auch mit dieser Kostenerstattungsklage wird die Durchsetzung eines Anspruchs auf Erlass eines Verwaltungsaktes bezweckt, folglich liegt eine Verpflichtungsklage i.S.v. § 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO vor (vgl. BVerwG, U.v. 18.10.2012 - 5 C 15/11 - juris Rn. 12; VGH BW, B.v. 28.10.2019 - 12 S 1821/18 - juris Rn. 4; OVG NW, U.v. 8.7.2019 - 12 A 2195/16 - juris Rn. 22; OVG SH, U.v. 15.8.2019 - 3 LB 7/18 - juris Rn. 41; LPK-SGB VIII/Peter-Christian Kunkel/Andreas Pattar, 7. Aufl. 2018, SGB VIII § 36a Rn. 23; a. A. VGH BW, U.v. 8.12.2016 - 12 S 1782/15 - juris Rn. 30).
67
Die hierzu ergangenen Versagungsbescheide der Beklagten sowie die Widerspruchsbescheide sind insoweit als „Anfechtungsannex“ vom Streitgegenstand umfasst (Eyermann/Schübel-Pfister, 15. Aufl. 2019, VwGO § 113 Rn. 40). Die - mehrfachen - ablehnenden Entscheidungen der Beklagten sind daher im engeren Sinne nicht Gegenstand des Verfahrens; ihre Aufhebung braucht weder beantragt noch vom Gericht ausgesprochen zu werden (Wysk/Bamberger, 3. Aufl. 2020, VwGO § 113 Rn. 98); die gerichtliche (Aufhebungs-)Entscheidung ist insoweit rein deklaratorisch (vgl. VG München, U.v. 14.10.2020 - M 18 K 19.4963 - juris Rn. 65).
68
Für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist vorliegend der Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung hinsichtlich des streitgegenständlichen Zeitraumes maßgeblich (vgl. OVG Lüneburg, B.v. 31.3.2020 - 10 PA 68/20 - juris Rn. 6), folglich der 17. Januar 2020.
69
Die Klägerin hat nach § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII i.V.m. § 35a, 41 SGB VIII einen Anspruch auf Erstattung der Kosten für den Besuch des privaten Internats und Gymnasiums B. für das Schuljahr 2016/17 als selbstbeschaffte Eingliederungshilfe.
70
Nach § 36a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII hat der Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Kosten für eine Hilfe grundsätzlich nur dann zu übernehmen, wenn sie auf der Grundlage seiner Entscheidung nach Maßgabe des Hilfeplans unter Beachtung des Wunsch- und Wahlrechts erbracht wird. Eine solche positive Entscheidung der Beklagten liegt vorliegend nicht vor.
71
Für den Fall, dass Hilfen abweichend von § 36a Abs. 1 und 2 SGB VIII vom Leistungsberechtigten selbst beschafft werden, ist der Träger der öffentlichen Jugendhilfe nach § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII zur Übernahme der erforderlichen Aufwendungen nur verpflichtet, wenn (1.) der Leistungsberechtigte den Träger der öffentlichen Jugendhilfe vor der Selbstbeschaffung über den Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt hat, (2.) die Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe vorlagen und (3.) die Deckung des Bedarfs (a) bis zu einer Entscheidung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe über die Gewährung der Leistung oder (b) bis zu einer Entscheidung über ein Rechtsmittel nach einer zu Unrecht abgelehnten Leistung keinen zeitlichen Aufschub geduldet hat.
72
§ 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII sichert mit diesen Tatbestandsvoraussetzungen die Steuerungsverantwortung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe; dieser soll die Leistungsvoraussetzungen sowie mögliche Hilfemaßnahmen unter Zubilligung eines angemessenen Prüfungs- und Entscheidungszeitraums jeweils pflichtgemäß prüfen können und nicht nachträglich als bloße Zahlstelle für selbstbeschaffte Maßnahmen fungieren (BayVGH, B.v. 25.6.2019 - 12 ZB 16.1920 - juris Rn. 35). Liegt hingegen ein Systemversagen in dem Sinne vor, dass das Jugendamt gar nicht, nicht rechtzeitig oder nicht in einer den Anforderungen entsprechenden Weise über eine begehrte Hilfeleistung entschieden hat, darf ein Leistungsberechtigter im Rahmen der Selbstbeschaffung nach § 36a Abs. 3 SGB VIII an Stelle des Jugendamtes den sonst diesem zustehenden und nur begrenzt gerichtlich überprüfbaren Einschätzungsspielraum für sich beanspruchen. In dieser Situation ist er - obgleich ihm der Sachverstand des Jugendamts fehlt - dazu gezwungen, im Rahmen der Selbstbeschaffung eine eigene Entscheidung über die Geeignetheit und Erforderlichkeit einer Maßnahme zu treffen mit der Folge, dass sich die Verwaltungsgerichte hinsichtlich der Geeignetheit und Erforderlichkeit der selbstbeschafften Hilfe auf eine fachliche Vertretbarkeitskontrolle aus der ex-ante-Betrachtung des Leistungsberechtigten zu beschränken haben. Ist die Entscheidung des Leistungsberechtigten in diesem Sinne fachlich vertretbar, kann ihr im Nachhinein nicht etwa mit Erfolg entgegnet werden, das Jugendamt hätte eine andere Hilfe für geeignet oder notwendig gehalten (BVerwG, U.v. 18.10.2012 - 5 C 21/11 - juris Rn. 33 f.; U.v. 9.12.2014 - 5 C 32/13 - juris m.w.N.).
73
Die Voraussetzungen des § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII liegen vorliegend vor.
74
1) Die Klägerin bzw. ihre Eltern als zum damaligen Zeitpunkt gesetzliche Vertreter haben die Beklagte über den Hilfebedarf rechtzeitig i. S. v. § 36a Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII in Kenntnis gesetzt zu haben.
75
Das „Inkenntnissetzen“ umfasst grundsätzlich auch eine Beantragung der begehrten Jugendhilfeleistungen, wobei für einen solchen Antrag keine besondere Form vorgeschrieben ist und er auch in der Form schlüssigen Verhaltens gestellt werden kann (vgl. NdsOVG, B.v. 25.11.2020 - 10 LA 58/20 - juris Rn. 27; OVG NW, U.v. 16.11.2015 - 12 A 1639/14 - juris Rn. 75; BVerwG, B.v. 17.2.2011 - 5 B 43.10 - juris).
76
Vorliegend hat die Klägerin bzw. ihre Mutter die Beklagte (wohl) erstmals am 25. Juli 2016 telefonisch und nochmals ausführlich schriftlich per E-Mail vom 1. August 2016 über den Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt. Diese Termine liegen vor der Selbstbeschaffung, unabhängig davon, ob hinsichtlich des Zeitpunkts der Selbstbeschaffung auf den Vertragsschluss am 10. August 2016 (so wohl BayVGH, B.v. 25.6.2019 - 12 ZB 16.1967 - juris Rn. 34) oder den Beginn der Hilfemaßnahme zum 1. September 2016 (so überzeugend: NdsOVG, B.v. 25.11.2020 - 10 LA 58/20 - juris Rn. 26) abzustellen ist.
77
Nach ständiger Rechtsprechung muss der Antrag jedoch zudem so rechtzeitig gestellt werden, dass der Jugendhilfeträger zur pflichtgemäßen Prüfung sowohl der Anspruchsvoraussetzungen als auch möglicher Hilfemaßnahmen in der Lage ist (OVG NW, U.v. 22.8.2014 - 12 A 3019/11 - juris Rn. 38 m.w.N.; BVerwG, U.v. 11.8.2005 - 5 C 18/04 - juris Rn. 19 ff.). Hierbei gibt es keine regelmäßige Bearbeitungszeit für das Jugendamt, vielmehr hängt die dem Jugendhilfeträger für die Prüfung zur Verfügung stehende Zeit und damit die dem Hilfesuchende zumutbare Zeitspanne des Zuwartens von den Umständen des Einzelfalls ab (OVG NW; B.v. 9.10.2020 - 12 A 195/18 - juris Rn. 26). Der dem Jugendamt zuzubilligen Bearbeitungszeitraum steht dabei auch in Abhängigkeit vom Verhalten der Beteiligten (vgl. BVerwG, B.v. 14.7.2021 - 5 B 23/20 - juris Rn. 6; OVG NW; B.v. 9.10.2020 - 12 A 195/18 - juris Rn. 26; OVG Sachsen, U.v. 23.9.2020 - 3 A 975/19 - juris Rn. 30; OVG NW, U.v. 25.4.12 - 12 A 659/11 - juris Rn. 54). Es obliegt dem Hilfesuchenden, die Hilfeleistung so rechtzeitig zu beantragen bzw. von seiner Hilfebedürftigkeit Kenntnis zu geben, dass die Hilfe vom Sozialhilfeträger rechtzeitig gewährt werden kann. Eine sofortige Hilfeleistung kann deshalb nur in entsprechend beschaffenen Eilfällen erwartet werden (BVerwG, U.v. 23.6.1994 - 5 C 26/92 - juris Rn. 18).
78
Vorliegend standen der Beklagten maximal fünfeinhalb Wochen bis zur Selbstbeschaffung zur Verfügung. Ein solcher Zeitabschnitt dürfte sich regelmäßig, insbesondere für eine Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII mit besonderen Tatbestandsvoraussetzungen, als nicht ausreichend für eine angemessene Bearbeitung durch das Jugendamt darstellen. Allerdings ist im vorliegenden Einzelfall aufgrund der besonderen Umstände von einer ausreichend rechtzeitigen Inkenntnissetzung auszugehen.
79
Denn die Klägerin bzw. ihre sie damals noch vertretenden Eltern haben die Beklagte zeitnah über ihren Hilfebedarf informiert und auch im Übrigen ihre Mitwirkungspflichten erfüllt, während die Beklagte eine zeitnahe, sachgerechte und den Hilfebedarf berücksichtigende Sachbearbeitung versäumte.
80
Entgegen der Ansicht der Beklagten erfolgte das Inkenntnissetzen nicht schuldhaft verspätet. Es ist der Klägerin nicht vorzuwerfen, dass der Hilfebedarf nicht bereits nach den Kontaktaufnahmen durch die Beklagte im Mai und Juni 2016 sowie dem darauffolgenden Telefonat am 1. Juli 2016 angemeldet wurde. Die Mutter der Klägerin hat im Rahmen der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar und glaubhaft ausgeführt, dass noch im Juli 2016 angedacht war, dass die Klägerin aus der Klinik in ihr häusliches Umfeld zurückkehrt und ihre bisherige Schule weiter besucht. Eine Jungendhilfemaßnahme erschien nach dieser - in Abstimmung mit der behandelnden Klinik erfolgten - Planung nicht erforderlich, so dass eine Beteiligung des Jugendamtes in diesem Stadium zumindest nicht zwingend veranlasst war. Nachdem jedoch drei Entlassungsversuche stattgefunden hatten und letztmals Ende Juli 2016 scheiterten, hat sich der jugendhilferechtliche Hilfebedarf für die Klägerin tatsächlich erst Ende Juli 2016 ergeben.
81
Zudem fehlte es während des Zeitraums bis zur Selbstbeschaffung auch nicht an einer ausreichenden Mitwirkung durch die Klägerin bzw. deren Eltern (vgl. BVerwG, B.v. 14.7.2021 - 5 B 23/20 - juris Rn. 6 m.w.N). Zwar kann der Verweis auf einen Urlaub und das damit im Zusammenhang stehende Unterbleiben nötiger Gespräche und Beratungen dazu führen, dass von einer mangelnden Mitwirkung auszugehen ist, welche zumindest die angemessene Bearbeitungszeit durch die Beklagte verlängert; hiervon ist vorliegend jedoch nicht auszugehen. Aus der vorgelegten Behördenakte ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass die Beklagte aufgrund des Urlaubs der Klägerin an einer sachgerechten Bearbeitung gehindert war. Vielmehr hat die Mutter der Klägerin immer wieder auf eine zeitnahe Kontaktaufnahme gedrängt und aufgrund des geplanten Urlaubs auf ein Gespräch umgehend nach Rückkehr der Sachbearbeiterin der Beklagten und vor dem eigenen Urlaubsantritt gedrungen, um das Verfahren voranzubringen.
82
Die Beklagte versäumte hingegen, sachgerecht zeitnah die Fallbearbeitung zu beginnen, die Klägerin bzw. ihre Eltern umgehend auf die vorrangige Beurteilung und Entscheidung durch das Jugendamt, das Erfordernis einer angemessenen, zeitlich bestimmten Bearbeitungszeit und das Kostenrisiko im Fall der vorherigen Selbstbeschaffung hinzuweisen. Vielmehr reagierte die Beklagte bis zum 16. August 2016 wohl nur insoweit, als den Eltern der Klägerin mitgeteilt wurde, dass ein Gutachten nach § 35a SGB VIII erforderlich sei (welches umgehend vorgelegt wurde), zur Eigeninitiative hinsichtlich der Suche nach einer Schule geraten und auf die Rückkehr der bei der Beklagten zuständigen Sachbearbeiterin zur weiteren Kontaktaufnahme verwiesen wurde. Dieses Verhalten der Beklagten, das sich mangels eigener Dokumentation in der Behördenakte ausschließlich aus den E-Mails der Mutter der Klägerin ergibt, führte in nachvollziehbarer Weise dazu, dass die Eltern der Klägerin für diese tätig wurden und im Ergebnis die Maßnahme ohne Abstimmung mit der Beklagten selbstbeschafften. In einem Aktenvermerk der Beklagten vom … … 2016 heißt es insoweit lediglich, dass hinsichtlich des Telefonates Ende Juli 2016 lediglich in Erinnerung sei, dass die Mutter der Klägerin auf die Frage, ob ein Gutachten nach § 35a SGB VIII vorliege, dies bejaht habe und auf den zeitlichen Verlauf in der Angelegenheit hingewiesen habe. Man könne sich nicht mehr erinnern, ob sie darin bestätigt bzw. ihr dazu geraten worden sei, selbst aktiv zu werden; dies könne aber auch nicht ausgeschlossen werden. Aufgrund des damaligen intensiven Arbeitsanfalls sei es nicht möglich gewesen, zeitnah das Telefonat zu dokumentieren. Dieser Aktenvermerk widerspricht zumindest nicht der Darstellung der Mutter der Klägerin, sodass diese zugrunde zu legen ist.
83
Auch bei dem auf Drängen der Eltern der Klägerin am 16. August 2016 stattgefundenen Termin dürfte eine hinreichende Aufklärung hinsichtlich der grundsätzlich vorrangigen Prüfung und Entscheidung durch das Jugendamt (auch unter Berücksichtigung der Dringlichkeit des Falles) und die Benennung eines zeitlichen Entscheidungshorizonts unterblieben sein. In der vorgelegten Behördenakte fehlt eine Dokumentation dieses Termins, aus den auf dieses Datum datierten Schreiben der Beklagten lässt sich lediglich entnehmen, dass die Beklagte einen umfangreichen Aufklärungsbedarf sah und ein zeitlich nicht näher bestimmtes Verfahren durchzuführen plante. Im Übrigen dürfte selbst das Informationsblatt zu Privatschulen der Beklagten, in welchem sowohl die zunächst erforderliche Schulberatung als auch die Kostentragungspflicht erläutert wird, den Eltern der Klägerin erst bei dem Termin am 9. September 2016 und damit nach der Selbstbeschaffung übergeben worden sein.
84
Vorliegend ist daher von einer rechtzeitigen Inkenntnissetzung der Beklagten auszugehen. Die Beklagte hätte innerhalb des Zeitraums zumindest eine sachgerechte, zügige Bearbeitung und Beratung der Klägerin und ihrer Eltern in die Wege leiten müssen. Dies ist schuldhaft durch die Beklagte unterblieben. Der Klägerin war es nicht zuzumuten, unter diesen Voraussetzungen das weitere, zeitlich völlig offene Verfahren der Klägerin abzuwarten.
85
2) Des Weiteren lagen die Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe in Form der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII (ab dem Zeitpunkt der Volljährigkeit der Klägerin i.V.m. § 41 SGB VIII) für den streitgegenständlichen Zeitraum vor, § 36 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII. Der Beurteilungsspielraum hinsichtlich der geeigneten Maßnahme ist insoweit auf Grund des Systemversagens bei der Beklagten auf die Klägerin übergegangen.
86
Nach § 41 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII (in der zum maßgeblichen Zeitpunkt geltenden Fassung) soll jungen Volljährigen Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung gewährt werden, wenn und solange die Hilfe aufgrund der individuellen Situation des jungen Menschen notwendig ist. Für die Ausgestaltung der Hilfe gelten nach § 41 Abs. 2 SGB VIII § 27 Absatz 3 und 4 sowie die §§ 28 bis 30, 33 bis 36, 39 und 40 SGB VIII entsprechend mit der Maßgabe, dass an die Stelle des Personensorgeberechtigten oder des Kindes oder des Jugendlichen der junge Volljährige tritt.
87
Es bestehen keine Zweifel, dass die Persönlichkeitsentwicklung der Klägerin eine selbstbestimmte, eigenverantwortliche und selbständige Lebensführung auch im Zeitpunkt ihrer Volljährigkeit noch nicht gewährleistete und dementsprechend ein Anspruch auf Hilfe für junge Volljährige bestand; dies ist zwischen den Parteien auch unstreitig.
88
Auch der grundsätzliche Anspruch der Klägerin auf Eingliederungshilfe nach § 35a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII für das streitgegenständliche Schuljahr ist zwischen den Parteien unstreitig. Nach dieser Norm besteht ein Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn die seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht (Nr. 1) und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist (Nr. 2). Das Abweichen der seelischen Gesundheit nach § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII ist gemäß § 35a Abs. 1a Satz 1 SGB VIII durch die Stellungnahme eines Facharztes festzustellen. Welche Hilfeform im Rahmen des Anspruchs aus § 35a Abs. 1 SGB VIII geleistet wird, richtet sich nach dem jeweiligen Bedarf im Einzelfall, vgl. § 35a Abs. 2 und 3 SGB VIII.
89
Mit fachärztlichen Gutachten vom … … 2016 wurde das Abweichen der seelischen Gesundheit der Klägerin nach § 35a Abs. 1 Nr. 1 SGB VIII festgestellt. Die Parteien gehen auch übereinstimmend - sachgerecht - davon aus, dass zum maßgeblichen Zeitpunkt bei der Klägerin auch eine Teilhabebeeinträchtigung im Sinn des § 35a Abs. 1 Nr. 2 SGB VIII vorlag.
90
Konträre Vorstellungen bestanden jedoch hinsichtlich der geeigneten Hilfe für die Klägerin. Grundsätzlich kommt dem Jugendhilfeträger bei der Entscheidung, welche Hilfeform im Einzelfall geeignet und erforderlich ist, ein rechtlich nur eingeschränkt überprüfbarer Beurteilungsspielraum zu. Denn nach ständiger Rechtsprechung unterliegt die Entscheidung über die Erforderlichkeit und Geeignetheit einer bestimmten Maßnahme einem kooperativen sozialpädagogischen Entscheidungsprozess unter Mitwirkung der Fachkräfte des Jugendamts und des betroffenen Hilfeempfängers, der nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebt, sondern vielmehr eine angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation beinhaltet, die fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein muss (sog. sozialpädagogische Fachlichkeit). Die verwaltungsgerichtliche Überprüfung beschränkt sich in diesem Fall darauf, dass allgemeingültige fachliche Maßstäbe beachtet worden, keine sachfremden Erwägungen in die Entscheidung eingeflossen und der oder die Leistungsadressaten in umfassender Weise beteiligt worden sind. Die Entscheidung über die Geeignetheit und Notwendigkeit einer bestimmten Hilfemaßnahme ist daher nur auf ihre Vertretbarkeit hin überprüfbar (OVG SH, B.v. 3.2.2021 - 3 MB 50/20 - juris Rn. 11, BayVGH, B.v. 6.2.2017 - 12 C 16.2159 - juris Rn. 11 m.w.N.).
91
Liegt jedoch ein Systemversagen vor, so darf ein Leistungsberechtigter, wie bereits dargestellt, im Rahmen der Selbstbeschaffung nach § 36a Abs. 3 SGB VIII an Stelle des Jugendamtes den sonst diesem zustehenden Einschätzungsspielraum für sich beanspruchen. Die selbstbeschaffte Hilfe ist sodann in Hinblick auf ihre Geeignetheit und Erforderlichkeit lediglich einer fachlichen Vertretbarkeitskontrolle aus der ex-ante-Betrachtung des Leistungsberechtigten zu unterziehen.
92
Ein solches Systemversagen ist vorliegend für den gesamten streitgegenständlichen Zeitraum zu bejahen, sodass der Beurteilungsspielraum auf die Klägerin übergegangen ist.
93
Die Gewährung von Jugendhilfeleistungen erfolgt regelmäßig zeitabschnittsweise und damit befristet (vgl. BayVGH, B.v. 24.11.2016 - 12 C 16.1571 - juris). Denn die Frage, ob die Voraussetzungen für die Bewilligung von Jugendhilfe erfüllt sind, ist nach dem jeweils aktuellen Hilfebedarf zu beurteilen, der für folgende Zeitabschnitte jeweils gesondert festzustellen ist (vgl. BayVGH, B.v. 28.10.2014 - 12 ZB 13.2025 - juris Rn. 12; VG Magdeburg, B.v. 26.11.2012 - 4 B 235/12 - juris Rn. 5 f.). Dementsprechend sind auch im Hinblick auf die Beurteilung des Systemversagens, welches die Selbstbeschaffung zulässig werden lässt, Zeitabschnitte zu bilden. So kann sowohl eine zunächst unzulässig selbstbeschaffte Maßnahme im Folgenden mangels rechtmäßiger Entscheidung des Jugendhilfeträgers zulässig werden (vgl. BayVGH, B.v. 25.6.2019 - 12 ZB 16.1920 - juris Rn. 36 m.w.N.; OVG NW, U.v. 16.11.2015 - 12 A 1639/14 - juris Rn. 84 ff. m.w.N.; U.v. 25.4.2012 - 12 A 659/11 - juris 54 ff.), als auch eine zunächst zulässige Selbstbeschaffung für nachfolgende Zeiträume mangels weiterem Systemversagen unzulässig werden (vgl. VG Bremen, U.v. 17.5.2021 - 3 K 2333/18 - juris Rn. 42; LPK-SGB VIII/Peter-Christian Kunkel/Andreas Pattar, 7. Aufl. 2018, SGB VIII § 36a Rn. 22).
94
Inwieweit im Fall der Selbstbeschaffung einer Privatschule für die Beurteilung des Systemversagens auf das Schuljahr (vgl. BayVGH, B.v. 28.10.2014 - 12 ZB 13.2025 - juris Rn. 12), Schulhalbjahre (OVG NW, U.v. 25.4.2012 - 12 A 659/11 - juris 54 ff.) bzw. Trimester (vgl. BVerwG, U.v. 11.8.2005 - 5 C 18/04 - juris) abzustellen ist, kann vorliegend im Ergebnis offenbleiben, da das Systemversagen der Beklagten für das gesamte streitgegenständliche Schuljahr vorliegt. Allerdings dürften, zumindest für den Fall, dass das Jugendamt in einem laufenden Schuljahr das Systemversagen beendet und eine fachlich nachvollziehbare ablehnende Entscheidung trifft, auch die Kündigungsregelungen des (zunächst) zulässig geschlossenen Vertrages hinsichtlich der zu bildenden Zeitabschnitte zu berücksichtigen sein.
95
Die Beklagte hat die von der Klägerin begehrte Leistung mit Bescheiden vom 17. November 2016, 20. Juni 2017 sowie 2. August 2018 jeweils abgelehnt. Eine ausführliche Begründung der ablehnenden Entscheidung erfolgte lediglich im Bescheid vom 17. November 2016, auf die die Folgebescheide jeweils Bezug genommen haben.
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Die Beklagte hat es jedoch vollständig versäumt, vor ihrer Entscheidung über den streitgegenständlichen Zeitraum ein ordnungsgemäßes Hilfeplanverfahren durchzuführen; insbesondere hat sie es evident fehlerhaft unterlassen, die Klägerin als Leistungsadressatin sachgerecht zu beteiligen. Auch bei Erlass des Bescheides vom 2. August 2018 bzw. des Widerspruchsbescheids vom 17. Januar 2020 wurde es fehlerhaft unterlassen, die weiteren Erkenntnisse auf Grund der weiteren umfangreich vorgelegten Unterlagen sowie der persönlichen Gespräche am 15. Mai 2018 auch im Bezug zu dem streitgegenständlichen Schuljahr 2016/17 sachgerecht zu würdigen; vielmehr wurde explizit ausschließlich auf den Zeitpunkt der Selbstbeschaffung der Maßnahme abgestellt, weshalb keine Notwendigkeit mehr für einen engeren Kontakt bestanden habe.
97
Gemäß § 36 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII (in der zum maßgeblichen Zeitpunkt geltenden Fassung) sind die Personensorgeberechtigten und das Kind oder der Jugendliche - bzw. im vorliegenden Fall der junge Erwachsene - vor der Entscheidung über die Inanspruchnahme einer Hilfe und vor einer notwendigen Änderung von Art und Umfang der Hilfe zu beraten und auf die möglichen Folgen für die Entwicklung des Kindes oder des Jugendlichen hinzuweisen. § 36 Abs. 2 SGB VIII regelt, dass die Entscheidung über die im Einzelfall angezeigte Hilfeart, wenn Hilfe voraussichtlich für längere Zeit zu leisten ist, im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte getroffen werden soll. Als Grundlage für die Ausgestaltung der Hilfe sollen die Fachkräfte zusammen mit dem Personensorgeberechtigten und dem Kind oder dem Jugendlichen bzw. dem jungen Erwachsenen einen Hilfeplan aufstellen, der Feststellungen über den Bedarf, die zu gewährende Art der Hilfe sowie die notwendigen Leistungen enthält; sie sollen regelmäßig prüfen, ob die gewählte Hilfeart weiterhin geeignet und notwendig ist.
98
Aus dieser Regelung folgen ein subjektiv-rechtlicher Anspruch des Leistungsberechtigten auf qualifizierte Beteiligung im Hilfeplanverfahren und dem korrespondierend eine Pflicht zur Beteiligung auf Seiten des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe. Ein zentrales Leitbild der Kinder- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII ist es, junge Menschen und ihre Eltern nicht als Objekte fürsorgender Maßnahmen oder intervenierender Eingriffe zu betrachten, sondern sie stets als Expertinnen und Experten in eigener Sache auf Augenhöhe aktiv und mitgestaltend in die Hilfe- und Schutzprozesse einzubeziehen. Dem Auftrag der Kinder- und Jugendhilfe ist daher in sämtlichen Aufgabenfeldern immanent, Kinder, Jugendliche, junge Volljährige und Eltern in der Wahrnehmung ihrer Subjektstellung zu unterstützen bzw. hierzu zu befähigen (vgl. Gesetzesbegründung zum KJSG, BT-Drs. 19/26107, S. 1). Jugendhilfemaßnahmen sind keine Instrumente staatlichen Eingriffs bzw. keine einseitige Entscheidung des Jugendamtes, sondern Leistungen bzw. Angebote an die Betroffenen, bei deren Art, konkreter Ausgestaltung und Inanspruchnahme der Personensorgeberechtigte bzw. im vorliegenden Fall der junge Erwachsenen mitgestalten und darüber mitentscheiden soll. Die Einbeziehung ist ein entscheidendes Element der Leistungsgewährung im Kinder- und Jugendhilferecht. Beteiligung meint nicht nur die Mitwirkung bei der Feststellung bzw. Ermittlung von etwaigen Tatbestandsvoraussetzungen, sondern setzt eine aktive Mitwirkung, eine Partizipation der Betroffenen im Rahmen eines interaktiv gestalteten Prozesses voraus. Ganz zentral ist hierbei der Angebotscharakter sowie die vorgeschriebene Mitwirkung bzw. Beteiligung der Betroffenen, die ein wesentlicher Schritt zur Akzeptanz und damit auch zum Erfolg der jeweiligen Leistung ist. Aus § 36 SGB VIII ergibt sich, dass das Kinder- und Jugendhilferechtsverhältnis als kooperativer Prozess der Mitgestaltung und Mitwirkung ausgestaltet ist (von Koppenfels-Spies in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl., § 36 SGB VIII, Stand: 04.04.2019, Rn. 10 ff., 51 m.w.N.; Wiesner/Schmid-Obkirchner, 5. Aufl. 2015, SGB VIII § 36 Rn. 1, 9 ff; LPK-SGB VIII/Peter-Christian Kunkel/Jan Kepert, 7. Aufl. 2018, SGB VIII § 36 Rn. 8). Die Diagnostik findet im Rahmen eines interaktiven Prozesses statt, in den die Leistungsadressaten und die Fachkraft ihre Sichtweise zur Lebens- und Erziehungssituation des Kindes oder Jugendlichen einbringen. Gemeinsam stellen sie Überlegungen zur Situationsveränderung an, klären die Bedingungen und verständigen sich auf anzustrebende Ziele und die dazu notwendigen Schritte (Wiesner/Schmid-Obkirchner, 5. Aufl. 2015, SGB VIII § 36 Rn. 10 m.w.N.). Die Hilfeplanung dient der Offenlegung der Gründe für die Auswahl einer Hilfeform (BeckOGK/Bohnert, 1.4.2021, SGB VIII § 36 Rn. 3, 19). Die Information bzw. Beratung muss so umfassend sein, dass die Leistungsberechtigten verstehen und nachvollziehen können, dass, warum und welche Maßnahme gerade in ihrem Bedarfsfall geeignet und notwendig ist (von Koppenfels-Spies in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl., § 36 SGB VIII (Stand: 20.05.2021), Rn. 12).
99
Dementsprechend ist auch bei der Selbstbeschaffung einer aus fachlichen Gründen abgelehnten bzw. vom Hilfeplan ausgeschlossenen Leistung im Hinblick auf § 36a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII zu prüfen, ob der vom Jugendamt aufgestellte Hilfeplan (bzw. das Hilfekonzept) verfahrensfehlerfrei zustande gekommen, nicht von sachfremden Erwägungen beeinflusst und fachlich vertretbar ist. Diese Prüfung erstreckt sich dabei nicht auf eine reine Ergebniskontrolle, sondern erfasst auch die von der Behörde gegebene Begründung. Denn diese muss für den Betroffenen nachvollziehbar sein, um ihn in die Lage zu versetzen, mittels einer Prognose selbst darüber zu entscheiden, ob eine Selbstbeschaffung (dennoch) gerechtfertigt ist. Hat das Jugendamt die begehrte Hilfe aus im vorgenannten Sinne vertretbaren Erwägungen abgelehnt, besteht weder ein Anspruch des Betroffenen auf die begehrte Eingliederungshilfeleistung noch auf den Ersatz von Aufwendungen für eine selbst beschaffte Hilfe. Der Regelung des § 36a Abs. 3 SGB VIII liegt in dem Sinne der Gedanke des Systemversagens zugrunde, dass die selbst beschaffte Leistung nicht rechtzeitig erbracht oder zu Unrecht abgelehnt worden sein muss (BVerwG, U.v. 18.10.2012 - 5 C 21/11 - juris Rn. 32 f.; VG München, U.v. 14.10.2020 - M 18 K 19.4953 - juris Rn. 120).
100
Die Entscheidung der Beklagten leidet an einem Systemversagen.
101
Die Beklagte hat insoweit bereits verkannt, dass sie auch im Rahmen einer zunächst selbstbeschafften Leistung, sofern diese wie vorliegend noch andauert, für die in der Zukunft liegenden Zeitabschnitte (siehe hierzu bereits oben) für die ebenfalls Hilfe begehrt wird, ein den Anforderungen entsprechendes Hilfeplanverfahren durchzuführen hat. Denn unabhängig von der Frage der Zulässigkeit der Selbstbeschaffung führt eine solche nicht zum Ausschluss des Hilfeplanverfahrens für die Zukunft. Allein die Tatsache, dass die Klägerin bereits die von ihr priorisierte Hilfe selbst beschafft hatte, entbindet die Beklagte nicht von der Verpflichtung, die Klägerin für die Zukunft zu beraten und ggf. andere, für geeignet gehaltenen Hilfeformen an diese zumindest heranzutragen (vgl. VG München, U.v. 14.10.2020 - M 18 K 19.4963 - juris Rn. 123 ff. m.w.N.). Vielmehr ist für folgende Zeitabschnitte, auch unter Berücksichtigung der tatsächlichen Situation durch die selbstbeschaffte Maßnahme, die weitere Hilfe im Rahmen eines angemessenen Hilfeplanverfahrens zu entwickeln. Auch dies verkennt die Beklagte völlig, soweit sie im Bescheid vom 17. November 2016 ausführt, dass es für die Entscheidung des Jugendhilfeträgers unerheblich sei, ob der Klägerin aus jetziger Sicht ein Wechsel in eine andere Schule zumutbar wäre und somit ihrer Ablehnung für die Zukunft sowohl einen falschen Zeitpunkt als auch Sachverhalt zu Grunde legt.
102
Insbesondere hat es die Beklagte jedoch fehlerhaft vollständig versäumt, die Klägerin als Leistungsempfängerin in ihre Entscheidung miteinzubeziehen. Vielmehr erfolgte mit der Klägerin selbst - die während des gesamten Schuljahres, zunächst als Minderjährige, dann als Volljährige die Leistungsempfängerin war - lediglich am 16. August 2016 ein Gespräch. Nachvollziehbare Aktenvermerke über dieses Gespräch existieren - trotz entsprechender Dokumentationspflichten der Beklagten (vgl. BeckOGK/Bohnert, 1.10.2021, SGB VIII § 36 Rn. 3) - nicht. Beide Parteien gaben jedoch hierzu im Rahmen der mündlichen Verhandlung an, dass bei diesem Gespräch lediglich allgemein über das Verfahren informiert wurde und eine inhaltliche Klärung nicht erfolgte. Im Folgenden wurde die Klägerin lediglich gebeten, einen umfangreichen Fragenkatalog der Beklagten schriftlich zu beantworten. Hingegen fand ein Gespräch mit der Klägerin, in dem neben den Vorstellungen der Klägerin auch die Position der Beklagten und die von dieser angestellten Überlegungen ausführlich erörtert hätten werden müssen, zu keinem Zeitpunkt statt. Ein solches Gespräch wurde - nach den unwidersprochenen Angaben der Mutter der Klägerin in der E-Mail vom 1. März 2018 von der Klägerin auch mehrfach erbeten und angeregt, von der Beklagten jedoch abgelehnt.
103
Das am 15. Mai 2018 erfolgte Gespräch (sowie die zunächst entstandene Verzögerung dieses Gesprächs aus Gründen, die wohl der Klägerin zuzurechnen wären) kann für den vorliegend streitgegenständlichen Zeitraum nicht berücksichtigt werden, da dieses Gespräch weder von der Beklagten im Bescheid vom 2. August 2018 noch im Widerspruchsbescheid vom 17. Januar 2020 Berücksichtigung fand. Vielmehr bezogen sich beide Bescheid fehlerhaft ausschließlich auf die im Zeitpunkt der Antragstellung bzw. Selbstbeschaffung vorliegenden Erkenntnisse.
104
Im Übrigen widerspricht auch das Vorgehen der Beklagten, lediglich aufgrund angeforderter schriftlicher Unterlagen im Rahmen eines Fachteams unter Anstellen umfangreicher Vermutungen ohne hinreichende Abklärung und Beteiligung insbesondere auch der Gutachter nach § 35a SGB VIII (vgl. § 36 Abs. 3 SGB VIII) den fachlichen Anforderungen. Soweit sich die Beklagte darauf beruft, dass mit der, die Klägerin behandelnden Klinik offenbar Kontaktaufnahmen erfolgten, fehlt jede Dokumentation in der vorgelegten Behördenakte; auch eine entsprechende, durch das Gericht angeforderte Aktenergänzung erfolgte nicht. Die Beklagte kann sich daher auch nicht auf angebliche Gespräche mit Mitarbeitern der Klinik berufen, die zum Ausdruck gebracht haben sollen, dass die Eltern der Klägerin eine Zusammenarbeit mit dem sozialpädagogischen Dienst der Klinik verweigert hätten. Im Übrigen wäre es der Beklagten auch ein Leichtes gewesen - ebenso wie der Widerspruchsbehörde - bestehende Unklarheiten bzw. Widersprüche in vorgelegten medizinischen Gutachten von sich aus abzuklären bzw. mindestens die Klägerin auf diese im Vorfeld hinzuweisen und um Aufklärung zu bitten. Hingegen erscheint es nicht nachvollziehbar, dass Aussagen von die Klägerin behandelnden Ärzten ohne weitere Aufklärungsversuche angezweifelt und eigene, insbesondere medizinische Vermutungen angestellt werden, wie im Widerspruchsbescheid vom 27. April 2018 geschehen, welchen sich die Beklagte zurechnen lassen muss.
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Auf Grund dieses evidenten Systemversagens ging der Beurteilungsspielraum hinsichtlich der geeigneten Maßnahme für den gesamten streitgegenständlichen Zeitraum auf die Klägerin über.
106
Es kann daher offenbleiben, ob - selbst unter Zugrundelegung des von der Beklagten behaupteten, bei der Klägerin bestehenden komplexen Störungsbildes - die Entscheidung der Beklagten, die von der Klägerin begehrte Hilfemaßnahme als zu niederschwellig und ungeeignet abzulehnen und eine (weitere) stationäre Maßnahme anzuregen, im Übrigen noch im Rahmen der sozialpädagogischen Fachlichkeit liegt. Insoweit weist das Gericht jedoch ergänzend darauf hin, dass eine Maßnahme sich auch dann als ungeeignet darstellen kann, sofern sie mangels Akzeptanz durch den Leistungsempfänger nicht tauglich ist, die Zielerreichung, nämlich die Behebung des Defizits, zu fördern (VG München, U.v. 14.10.2020 - M 18 K 19.4963 - juris Rn. 124 ff. m.w.N.).
107
Zumindest ist die von der Klägerin gewählte Hilfe im Rahmen des ihr zukommenden Entscheidungsspielraums in Form des Besuchs des privaten Internats und Gymnasiums B.- insbesondere aus ihrer ex-ante-Laiensicht - geeignet und erforderlich gewesen.
108
Insoweit haben auch die Vertreterinnen der Beklagten im Rahmen der mündlichen Verhandlung eingeräumt, dass diese Entscheidung aus Sicht der Eltern bzw. der Klägerin nachvollziehbar sei. Auch das Gericht hat insoweit keinerlei Zweifel, dass diese Entscheidung im Rahmen des der Klägerin zukommenden Beurteilungsspielraumes fachlich vertretbar ist.
109
Im Rahmen der fachlichen Vertretbarkeitskontrolle darf der Vorrang des öffentlichen Schulsystems nicht unberücksichtigt bleiben. Dementsprechend kann die Selbstbeschaffung eines Privatschulplatzes nur dann zulässig sein, wenn aus der ex-ante-Sicht des Hilfesuchenden trotz unterstützender Maßnahmen keine Möglichkeit besteht, den Hilfebedarf im öffentlichen Schulsystem zu decken, und es fachlich vertretbar erscheint, dass der Betroffene den Besuch einer öffentlichen Schule für unmöglich bzw. unzumutbar hält (OVG NW, B.v. 9.10.2020 - 12 A 195/18 - juris Rn. 23, juris m.w.N.; VG München, B.v. 9.6.2020 - M 18 E 20.1392- juris Rn. 79 ff. m.w.N.).
110
Darüber hinaus ist in der Rechtsprechung bereits umfassend geklärt, dass Leistungen der Eingliederungshilfe in Bezug auf den Schulbesuch nicht mit dem Erreichen der allgemeinen Schulpflicht enden, sondern auf Grund des Anspruchs auf eine angemessene Schulbildung (§ 35a Abs. 3 SGB VIII i.V.m. § 90 Abs. 4 SGB IX i.V.m. § 54 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB XII (a.F.) i.V.m. § 12 EingliederungshilfeV zum damaligen Zeitpunkt bzw. inhaltsgleich ab 1.1.2020: § 112 SGB IX) auch den Besuch von weiterführenden Schulen umfassen kann (vgl. OVG Lüneburg, B.v. 25.11.2020 - 10 LA 58/20 - juris Rn. 28; BVerwG, B.v. 17.2.2015 - 5 B 61/14 - juris Rn. 4; BayVGH, B.v. 21.2.2013 - 12 CE.2136 - juris Rn. 33; VG München, B.v. 9.6.2020 - M 18 E 20.1392 - juris Rn. 70 m.w.N.; von Koppenfels-Spies in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl. 2018, § 35a SGB VIII, Rn. 69 m.w.N.). Hinsichtlich der intellektuellen Fähigkeiten der Klägerin bestanden, auch bei der Beklagten, keine Zweifel an der grundsätzlichen Geeignetheit der Klägerin für den Besuch der gymnasialen Oberstufe. Allerdings wurden, insbesondere im Rahmen des Widerspruchsbescheids vom 17. November 2016, welchen sich die Beklagte zurechnen lassen muss, erhebliche Zweifel geltend gemacht, ob die gymnasiale Oberstufe die Leistungsfähigkeit der Klägerin nicht überbeanspruche, weshalb ein Realschulabschluss eine entsprechend der Persönlichkeit der Klägerin angemessene Schulbildung darstellen könne. Diese Einschätzung der Beklagten bzw. der Widerspruchsbehörde beruht jedoch ausschließlich auf der Einschätzung, dass bei der Klägerin ein komplexes Störungsbild bestehe, welches einen Schulbesuch derzeit als unmöglich erscheinen lasse. Die Annahme eines komplexen Störungsbildes bei der Klägerin wiederum beruht auf Interpretationen durch die Beklagte ohne hinreichende fachliche Abklärung bzw. Bestätigung durch die die Klägerin behandelnden Ärzte und erscheint damit fachlich nicht hinreichend fundiert. Ob möglicherweise entsprechende Bedenken des Sozialen Dienstes der Klinik bestanden - worauf sich die Beklagte beruft - kann mangels Belege hierzu durch die Beklagte keine Berücksichtigung finden. Der Besuch der Oberstufe eines Gymnasiums ist daher als angemessene Schulbildung für die Klägerin anzusehen; was im Übrigen auch durch das Bestehen des Abiturs im Jahr 2018 bestätigt wird.
111
Die Klägerin durfte auch von einer fehlenden Bedarfsdeckung durch das öffentliche Schulsystem ausgehen. Insoweit kann das Gericht die von der Beklagten in ihrer Stellungnahme vom … … … vertretene Ansicht nicht nachvollziehen, dass nach der Stellungnahme der städtischen Schulberatung Inklusion vom … … 2016 bescheinigt worden sei, dass der Förderbedarf nicht nur an einem Förderzentrum oder einer Förderschule erfüllt werden könne, sowie im Raum München für den Förderschwerpunkt der Klägerin öffentlich-rechtliche Fördereinrichtung zur Verfügung stehen würden. In dieser formularmäßigen Bescheinigung wurden vielmehr die entsprechenden Felder gerade nicht angekreuzt, sodass nicht von einer öffentlichen Bedarfsdeckung auszugehen ist. Zudem führt die Beklagte im Folgenden selbst aus, dass - nach einer entsprechenden Stabilisierung - die Kostenübernahme für eine Privatschule denkbar gewesen wäre, was im Widerspruch dazu steht, dass sie die Klägerin vor dieser, von der Beklagten für nötig gehaltenen Stabilisierung auf das öffentliche Schulsystem verweist. Die Klägerin durfte schließlich auch auf Grund ihrer eigenen vergangenen Erfahrungen sowie den gescheiterten Entlassungs- und Schulversuchen sowie auf Grund der Beurteilung durch die sie behandelnde Klinik aus ihrer Laiensicht von einer fehlenden öffentlichen Bedarfsdeckung ausgehen.
112
Auch die Auswahl der Klägerin hinsichtlich der konkret von ihr priorisierten Schule erscheint angemessen. Die Klägerin hat im Vorfeld mit dem Internat und Gymnasium B. Kontakt aufgenommen, sich hinsichtlich der Rahmenbedingungen informiert und sich beraten lassen. Auch das Gericht hat auf Grund der vorliegenden Unterlagen zum Schulkonzept keine Zweifel an der aus Sicht der Klägerin bestehenden Geeignetheit der Schule. Im Übrigen wurde diese Schule auch durch den sie behandelnden Facharzt explizit als geeignet bezeichnet.
113
Schließlich erscheinen auch die Kosten des privaten Internats und Gymnasiums B. im üblichen Rahmen und nicht als unangemessen; auch die Beklagte erhebt hierzu keine Einwände.
114
3) Die Deckung des Bedarfs der Klägerin hat auch keinen zeitlichen Aufschub geduldet, § 36 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII.
115
Der Klägerin war weder ein Abwarten zunächst bis zu einer zeitlich nicht absehbaren Entscheidung der Beklagten, noch nach Bescheidserlass die Entscheidung über das Rechtsmittel gegen die ablehnende Entscheidung bzw. ein einstweiliges Rechtsschutzverfahren zumutbar (vgl. LPK-SGB VIII/Peter-Christian Kunkel/Andreas Pattar, 7. Aufl. 2018, SGB VIII § 36a Rn. 19 f.; von Koppenfels-Spies in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl., § 36a SGB VIII (Stand: 07.09.2021), Rn. 58).
116
Der Hilfedarf der Klägerin war dringlich. Entsprechend den Angaben der Mutter der Klägerin im Verfahren sowie dem ärztlich-psychologischen Bericht vom … … 2016 erschien eine Entlassung der Klägerin aus der Klinik erst möglich nach Klärung der schulischen Perspektive. Für die seelische Gesundheit der Klägerin war daher die umgehende Einleitung einer Jugendhilfemaßnahme dringlich, worauf die Mutter der Klägerin auch mehrfach hinwies. In dieser Situation war weder ein Verweis auf ein Verbleiben der Klägerin in einer medizinischen Klinik noch auf ein Abwarten zu Hause ohne schulische Perspektive bis zu einer Entscheidung des Jugendamts vertretbar. Vielmehr verlangte die aktuelle Situation ein umgehendes Tätigwerden.
117
Darüber hinaus hatte die Klägerin aufgrund ihrer Erkrankung bereits ein Schuljahr verloren und stellte insbesondere der Schulbesuch einen Schwerpunkt der bei der Klägerin bestehenden Problematik dar. Ihr war es daher auch nicht zumutbar, zum Beginn des neuen Schuljahres weiterhin keine Schule zu besuchen bzw. auf einen späteren Schuleintritt im laufenden Schuljahr - mit hierdurch deutlich erhöhten Schwierigkeiten der Eingewöhnung - verwiesen zu werden.
118
Der Klage war daher vollumfänglich stattzugeben.
119
Allerdings weist das Gericht ergänzend darauf hin, dass auch für selbstbeschaffte Maßnahme im Fall der Verpflichtung des Jugendamtes zur Kostenübernahme nach § 36a Abs. 3 SGB VIII, wie vorliegend, eine Kostenbeitragspflicht nach §§ 91 ff. SGB VIII gegeben sein kann (vgl. VG Oldenburg, B.v. 28.3.2011 - 13 B 3145/10 - juris; LPK-SGB VIII/Peter-Christian Kunkel/Andreas Pattar, 7. Aufl. 2018, SGB VIII § 36a Rn. 23; Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, SGB VIII § 92 Rn. 24, beck-online).
120
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
121
Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 188 Satz 2 VwGO.
122
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung - ZPO.