Titel:
Erteilung einer isolierten Abweichung von Abstandsflächen für Terrassenüberdachung
Normenkette:
BayBO Art. 6, Art. 63 Abs. 1
Leitsätze:
1. Balkone oder Terrassen sind, auch wenn sie selbst keine Aufenthaltsräume sind, funktional typischerweise der Nutzung von Aufenthaltsräumen zuzurechnen. Sie stellen gleichsam eine der Nutzung von Aufenthaltsräumen gleichstehende, ins Freie verlagerte Nutzung auf Balkonen oder Terrassen dar. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei der Zulassung einer Abweichung von nachbarschützenden Vorschriften kann der Nachbar nicht nur eine ausreichende Berücksichtigung seiner Interessen beanspruchen. Er ist darüber hinaus auch dann in seinen Rechten verletzt, wenn die Abweichung aus einem anderen Grund, etwa weil sie nicht mit den öffentlichen Belangen zu vereinbaren ist, (objektiv) rechtswidrig ist. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die gesetzlichen Ziele der Abstandsflächenvorschriften gelten für Neubauten und Umbauten gleichermaßen. Auf eine nachprägende Wirkung eines früheren Altbestandes kann sich der Bauherr grundsätzlich nicht berufen, da ein nachwirkender Bestandsschutz nur ausnahmsweise anerkannt werden kann. Abstandsflächenwidrige Verhältnisse sollen nach Möglichkeit auch bereinigt werden, wenn ein vorhandener baulicher Bestand durch einen Neubau ersetzt wird. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
4. Die Sicherung des sozialen Wohnfriedens - etwa durch Wahrung von Abstandsflächen - muss grundstücksbezogen betrachtet werden, da es jederzeit zu einem Eigentümerwechsel kommen kann. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Baurecht, Terrassenüberdachung, Abstandsflächen, isolierte Abweichung, Grenzgebäude, Aufenthaltsräume, nachwirkender Bestandsschutz, Belichtung, Besonnung und Belüftung, Einsichtsmöglichkeiten, Sicherung des sozialen Wohnfriedens
Fundstelle:
BeckRS 2021, 2172
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Klägerin zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Die Klägerin begehrt mit ihrer Klage die Verpflichtung des Beklagten auf Erteilung einer Abweichung von der Abstandsvorschrift nach Art. 6 BayBO für die Errichtung einer Terrassenüberdachung auf den Grundstücken Fl.Nr. ... und ... Gemarkung ...
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Das vorbezeichnete Grundstück befindet sich im Geltungsbereich des Bebauungsplans „Badegelände“ vom 29. September 1976, der im fraglichen Bereich als Art der baulichen Nutzung ein Mischgebiet festsetzt. Es sind nur Einzel- und Doppelhäuser zulässig.
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Die Klägerin ist Eigentümerin der Grundstücke Fl.Nr. ... und, welche mit einem selbst genutzten Wohnhaus (Doppelhaushälfte mit rückwärtigem Anbau) bebaut sind. An der Nordwestseite des Gebäudes war ein Wintergarten aus Glas- und Kunststoffelementen angebaut. Der Anbau befand sich unmittelbar an der Grenze zu den Nachbargrundstücken Fl.Nr. ... und ... Eine Baugenehmigung liegt hierfür nicht vor.
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Anlässlich einer Nachbarbeschwerde wurde bei einer Baukontrolle am 27. April 2018 festgestellt, dass der „alte“ Wintergarten abgerissen und mit dessen Neuerrichtung begonnen worden sei. Daraufhin ordnete der Beklagte mit Bescheid vom 3. Mai 2018 die sofortige Einstellung der Bauarbeiten zum Anbau eines Wintergartens an. Die hiergegen erhobene Klage wurde am 18. Oktober 2018 zurückgenommen und daraufhin das Verfahren mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 22. Oktober 2018 (Au 4 K 18.834) eingestellt.
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Mit Schriftsatz vom 17. Mai 2018 ließ die Klägerin die Zulassung einer Abweichung von den Anforderungen des Art. 6 BayBO für eine Terrasseneinhausung beantragen. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Klagepartei 1989 die an der Nordwestseite des Gebäudes vorhandene Terrasse überdacht und auf der zum Nachbargrundstück gelegenen Seite eine Fensterfläche angebracht habe. Dies sei in Abstimmung und Absprache mit den Nachbarn erfolgt, welche seinerzeit mit der Klägerseite eine schriftliche Vereinbarung getroffen hätten, wonach „die Errichtung eines gemeinsamen Sichtmauerwerkes auf gleichteiliger Grenzbebauung“ mit einer Länge von 9,6 m, einer Breite von 25 cm und einer Höhe von 1,8 m „beschlossen“ worden sei. Ferner sei die „grundstückseigene Nutzung des Mauerwerks für beide Eigentümer“ vereinbart worden. Jeder Nachbar könne auf seiner Seite der Grenzmauer demnach nach eigenem Gutdünken verfahren. Aufgrund der Vereinbarung und des fast 30 Jahre hingenommenen Zustands seien nachbarliche Interessen nicht berührt. Die Nachbarn verhielten sich widersprüchlich, wenn sie sich an dem bisherigen Zustand nicht festhalten lassen wollten. Die Erneuerung der Glaswand auf der Grenzmauer und die Überdachung führten zu keiner zusätzlichen Belastung. Öffentliche Belange seien durch das Vorhaben ohnehin nicht berührt.
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Der Beklagte wies unter dem 25. Mai 2018 darauf hin, dass der Antrag auf isolierte Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften nur dann sinnvoll erscheine, wenn es sich um ein ansonsten verfahrensfreies Vorhaben handle. Dies sei noch entsprechend darzulegen.
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Deshalb beantragte die Klägerin mit Formblatt vom 22. Oktober 2018, eingegangen bei der Stadt ... am 22. März 2019 und beim Beklagten am 11. April 2019, die Erteilung einer Baugenehmigung für eine 5,85 m lange und 3 m breite offene Überdachung einer Terrasse. Am 6. Juni 2019 bestätigte der Beklagte die Verfahrensfreiheit des Vorhabens, wies jedoch darauf hin, dass der erforderliche Grenzabstand von 3 m nicht eingehalten werden könne. Die Klägerin ließ auf Aufforderung des Beklagten unter dem 6. Februar 2020 ergänzend ausführen bzw. klarstellen, dass die (seinerzeit) eingereichten Pläne den reduzierten Bauwunsch nicht wiedergäben, sondern noch die alten, zwischenzeitlich aufgegebenen Pläne beinhalten würden. Die Klägerin wolle lediglich die Terrasse mit einem einfachen Glasdach überdachen. Dieses werde am Haus befestigt und auf der Mauer zum Nachbarn hin aus statischen Gründen abgestützt. Eine Verglasung der Seiten sei nicht vorgesehen.
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Mit Bescheid vom 15. April 2020, zugestellt am 18. April 2020, hat der Beklagte den Antrag auf Zulassung einer Abweichung von den Abstandsvorschriften nach Art. 6 BayBO in Gestalt des Bauantrags vom 22. Oktober 2018 abgelehnt. Zur Begründung wird ausgeführt, dass die von der Terrassenüberdachung ausgehende Abstandsfläche auf dem eigenen Grundstück einzuhalten sei, was aufgrund der Grenzbebauung nicht möglich sei. Eine dafür notwendige Abweichung könne ermessensfehlerfrei nicht erteilt werden, da die Abweichung unter Würdigung der nachbarlichen Belange nicht mit den öffentlichen Belangen vereinbar sei. Die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO seien nicht gegeben, weil das gesamte Erscheinungsbild einer erweiterten Doppelhaushälfte durch den geplanten nochmaligen Anbau nicht mehr als maßvoll zurückhaltend in Bezug auf das Nachbargrundstück angesehen werden könne und auf diese Weise der Charakter eines Doppelhauses abhandenkomme. Die Voraussetzungen für eine Abweichung nach Art. 63 Abs. 1 BayBO lägen nicht vor. Die nachbarlichen Interessen seien nachteilig berührt durch eine zusätzliche Verschattung, auch bei transparenter Ausführung, sowie hinsichtlich des Sozialabstandes. Auch sei nicht nachgewiesen, inwiefern den Belangen des Brandschutzes Rechnung getragen werde.
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Mit Schriftsatz vom 7. Mai 2020, eingegangen bei Gericht am 8. Mai 2020, ließ die Klägerin Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg erheben und beantragen,
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den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 15. April 2020 zu verpflichten, der Klägerin zur Errichtung einer Terrassenüberdachung mit vier Stützen auf dem Grundstück Fl.Nr. ... und Fl.Nr. ... der Gemarkung ... entsprechend dem Bauantrag vom 11. April 2019 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts eine Abweichung von der Abstandsvorschrift des Art. 6 BayBO zu bewilligen.
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Zur Begründung wird ausgeführt, dass eine optische Beeinträchtigung nicht erkennbar sei, da die Terrasse schon seit Errichtung des Gebäudes und die Überdachung seit nunmehr 30 Jahren bestünden. Eine ausreichende Belichtung und Belüftung sei gewährleistet. Da das Wohnhaus ein Satteldach habe, sei eine zusätzliche Verschattung des Nachbargrundstücks ausgeschlossen. Auch wenn die Abstandsvorschriften dem sozialen Frieden dienten, so sei hier zu berücksichtigen, dass die Nachbarn 30 Jahre lang die Überdachung nebst Verglasung hingenommen hätten. Im Übrigen bestehe die Terrasse auch ohne die Überdachung und werde als solche genutzt. Die seitliche Verglasung habe dem Nachbarn eigentlich mehr Schutz gebracht als die Überdachung ohne Seitenelemente. Eine Beeinträchtigung des Brandschutzes durch die Glasüberdachung sei nicht erkennbar. Die Entscheidung des Beklagten erweise sich als ermessensfehlerhaft, weil die von der Klägerin vorgebrachten Belange weder berücksichtigt noch gewürdigt worden seien. Im Hinblick auf die Vorgeschichte und die örtlichen Gegebenheiten sei der Klägerin die beantragte Abweichung für ihr verfahrensfreies Vorhaben zu bewilligen.
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Die Beklagte ist der Klage entgegengetreten und hat mit Schriftsatz vom 3. Juni 2020 beantragt,
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In der Begründung wird betont, dass für die im Jahr 2018 beseitigte Überdachung und Einhausung keine Baugenehmigung vorliege. Für die Ablehnung seien nicht die optische Beeinträchtigung, sondern ausschließlich der in mehrerlei Hinsicht nicht eingehaltene Schutzzweck der Abstandsvorschriften sowie die Defizite des Antrags im Hinblick auf eine entsprechende Kompensation maßgeblich gewesen.
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Mit Schriftsätzen vom 26. Oktober 2020 und vom 22. Januar 2021 erklärten die Beteiligten den Verzicht auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie auf die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Über die Klage konnte aufgrund des übereinstimmenden Einverständnisses der Parteien ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entschieden werden (§ 101 Abs. 2 VwGO).
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Die zulässige Klage ist unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zulassung der Abweichung bzw. auf erneute Verbescheidung ihres Antrags auf Zulassung der Abweichung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts. Der dies ablehnende Bescheid des Beklagten vom 15. April 2020 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 VwGO).
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Die Terrassenüberdachung verstößt gegen die Abstandsflächenvorschrift des Art. 6 BayBO und es besteht kein Anspruch auf die beantragte isolierte Abweichung bzw. auf erneute Verbescheidung gem. Art. 63 BayBO unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts.
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1. Der beantragte Neubau der Terrassenüberdachung, der zwar gemäß Art. 57 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. g BayBO verfahrensfrei aber abstandsflächenpflichtig ist, hält unstreitig den nach Art. 6 BayBO erforderlichen Abstand zum nördlich angrenzenden Grundstück nicht ein.
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Die Terrassenüberdachung kann dabei auch die abstandsflächenrechtliche Privilegierung des Art. 6 Abs. 9 BayBO nicht in Anspruch nehmen. Balkone oder Terrassen sind, auch wenn sie selbst keine Aufenthaltsräume sind, funktional typischerweise der Nutzung von Aufenthaltsräumen zuzurechnen. Sie stellen gleichsam eine der Nutzung von Aufenthaltsräumen gleichstehende, ins Freie verlagerte Nutzung auf Balkonen oder Terrassen dar. Grenzgebäude nach Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 BayBO dürfen aber gerade keine Aufenthaltsräume enthalten (vgl. Hahn in Simon/Busse, BayBO, Stand: Oktober 2020, Art. 6 Rn. 548; BayVGH, B.v. 10.7.2015 - 15 ZB 13.2671 - juris Rn. 15), sodass der Privilegierungstatbestand seinem Zwecke nach nicht auf die vorliegende Terrassenüberdachung anwendbar ist.
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Auch ungeachtet der Frage, ob für die Terrassenüberdachung der Privilegierungstatbestand des Art. 6 Abs. 6 Satz 1 BayBO in Anspruch genommen werden kann, wäre jedenfalls der Mindestabstand von 3 m zu der Grundstücksgrenze einzuhalten. Das ist unstreitig nicht der Fall.
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Die Terrassenüberdachung verstößt daher, so wie sie errichtet werden soll, gegen die Abstandsflächenvorschriften. In der von der Klagepartei in Bezug genommenen Vereinbarung die Errichtung eines gemeinsamen Sichtmauerwerks betreffend kann angesichts der neuen Planungssituation keine Abstandsflächenübernahme im Sinne des Art. 6 Abs. 2 Satz 3 BayBO erblickt werden.
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2. Die Voraussetzungen, unter denen die Bauaufsichtsbehörde nach Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO Abweichungen von den Anforderungen der Bayerischen Bauordnung und damit auch von den Vorschriften über die Abstandsflächen gemäß Art. 6 BayBO zulassen kann, liegen indes nicht vor.
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Eine Abweichung kann gem. Art. 63 Abs. 1 BayBO nur dann zugelassen werden, wenn sie unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderungen und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen, insbesondere den Anforderungen des Art. 3 Satz 1 BayBO vereinbar sind (vgl. BayVGH, B.v. 20.4.2020 - 15 ZB 19.1846 - juris Rn. 18).
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Unabhängig von der Frage, ob das bislang von der Rechtsprechung geforderte Vorliegen einer atypischen, von der gesetzlichen Regel nicht zureichend erfassten oder bedachten Fallgestaltung (vgl. BayVGH, B.v. 13.2.2002 - 2 CS 01.1506 - juris Rn. 16; B.v. 15.11.2005 - 2 CS 05.2817 - juris Rn. 2; B.v. 4.8.2011 - 2 CS 11.997 - juris Rn. 23; U.v. 22.12.2011 - 2 B 11.2231 - BayVBl. 2012, 535; B.v. 29.4.2020 - 15 ZB 18.946 - juris Rn. 13) erforderlich ist (vgl. zum Meinungsstand: VG Augsburg U.v. 28.10.2020 - Au 4 K 20.773 - Rn. 28 ff.; B.v. 19.11.2019 - Au 4 S 19.1926 - juris Rn. 27 ff.), ist im Rahmen der Abwägung der öffentlichen Belange mit den nachbarlichen Belangen der Beklagte zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, dass der Abstandsflächenverstoß nicht durch die Erteilung einer Abweichung gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 4 i.V.m. Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO legalisiert werden kann.
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Mit der Verpflichtung zur Würdigung nachbarlicher Interessen verlangt das Gesetz eine Abwägung zwischen den für das Vorhaben sprechenden Gründen und den Belangen des Nachbarn. Die Abweichung dient daher gerade dem Interessensausgleich zwischen den Nachbarbelangen und den sonstigen öffentlichen Belangen, die durch das konkrete Bauvorhaben berührt werden. Den mit der Norm verfolgten Zielen soll dabei so weit wie möglich Rechnung getragen werden (Dhom/Simon in Simon/Busse, BayBO, Stand: Oktober 2020, Art. 63 Rn. 21). Dabei wurde die Erteilung einer Abweichung ebenfalls unter das Gebot der Rücksichtnahme gestellt, wie dies im Rahmen des § 31 Abs. 2 BauGB der Fall ist. Bei der Anwendung des Art. 63 Abs. 1 BayBO sind daher dieselben Grundsätze heranzuziehen, wie bei der Erteilung einer Befreiung von den Festsetzungen eines Bebauungsplanes nach § 31 Abs. 2 BauGB (Dhom/Simon in Simon/Busse, BayBO, Stand: Oktober 2020, Art. 63 Rn. 31 ff.). Wird folglich von Normen abgewichen, die nicht dem Nachbarschutz dienen, so hat der Nachbar nur einen Anspruch darauf, dass seine nachbarlichen Interessen mit dem ihnen zukommenden Gewicht berücksichtigt werden. Bei der Zulassung einer Abweichung von nachbarschützenden Vorschriften, wie den Abstandsflächenvorschriften, kann der Nachbar hingegen nicht nur eine ausreichende Berücksichtigung seiner Interessen beanspruchen. Er ist darüber hinaus auch dann in seinen Rechten verletzt, wenn die Abweichung aus einem anderen Grund, etwa weil sie nicht mit den öffentlichen Belangen zu vereinbaren ist, (objektiv) rechtswidrig ist (vgl. BayVGH, B.v. 16.7.2007 - 1 CS 07.1340 - juris Rn. 17). Bei der Frage, ob eine Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften zugelassen werden kann, ist stets auch zu prüfen, ob die Schmälerung nachbarlicher Interessen durch überwiegende Interessen des Bauherrn oder überwiegende öffentliche Belange gerechtfertigt sind (vgl. BayVGH, B.v. 16.7.2007 - 1 CS 07.1340 - juris Rn. 23). Gemäß Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO ist dabei auch der Zweck der jeweiligen Anforderung‚ in diesem Fall des Abstandsflächenrechts‚ zu berücksichtigen. Der Zweck des Abstandsflächenrechts besteht darin‚ eine ausreichende Belichtung, Besonnung und Belüftung sowie die Sicherung des sozialen Wohnfriedens zu gewährleisten (vgl. zu Letzterem: BayVGH, U.v. 3.12.2014 - 1 B 14.819 - juris Rn. 14, 17; U.v. 5.5.2015 - 1 ZB 13.2010 - juris Rn. 5; B.v. 1.6.2012 - 15 ZB 10.1405 - juris Rn. 7; U.v. 30.5.2003 - 2 BV 02.689 - juris Rn. 43). Die gesetzlichen Ziele der Abstandsflächenvorschriften gelten für Neubauten und Umbauten gleichermaßen (vgl. BayVGH, B.v. 8.12.2011 - 15 ZB 11.1882 - juris). Auf eine nachprägende Wirkung eines früheren Altbestandes kann sich der Bauherr grundsätzlich nicht berufen, da ein nachwirkender Bestandsschutz nur ausnahmsweise anerkannt werden kann (vgl. BayVGH, B.v. 5.4.2012 - 15 CS 11.2628 - juris Rn. 28). Abstandsflächenwidrige Verhältnisse sollen nach Möglichkeit auch bereinigt werden, wenn - wie im vorliegenden Fall - ein vorhandener baulicher Bestand durch einen Neubau ersetzt wird (vgl. BayVGH, U.v. 22.11.2006 - 25 B 05.1714 - juris Rn. 20).
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Gemessen an diesen Maßstäben kann eine Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften in Bezug auf das nördliche Grundstück nicht erteilt werden, da die nachbarlichen Belange insoweit überwiegen. Unter Berücksichtigung des Zwecks der Abstandsflächenvorschriften, insbesondere der Sicherung des sozialen Wohnfriedens, beeinträchtigt der geplante Neubau einer Terrassenüberdachung die Interessen der nördlich angrenzenden Nachbarn derart, dass eine Abweichung nicht erteilt werden kann. Eine Terrasse dient naturgemäß als eine ins Freie verlagerte Aufenthaltsfläche und nicht nur dem kurzweiligen Verweilen. Es handelt sich mithin um eine an die Grenze gelangende Wohnnutzung, sodass nicht zuletzt auch dadurch der soziale Wohnfrieden in nicht unerheblicher Weise gestört wird. Dabei muss vor allem auch der Zweck der Privilegierungsvorschrift des Art. 6 Abs. 9 BayBO in die Abwägung miteinbezogen werden. Der Gesetzgeber hat ausweislich des Gesetzeswortlauts nur für den Fall, dass es sich um ein Gebäude ohne Aufenthaltsräume handelt, unter bestimmten baulichen Voraussetzungen die Möglichkeit der Grenzbebauung geschaffen. Eine an die Grenze gerückte Wohnbebauung wollte er gerade ausschließen (vgl. Hahn in Simon/Busse, BayBO, Stand Oktober 2020, Art. 6 Rn. 519 m.w.N.), um u.a. den Einsichtsmöglichkeiten auf das nachbarliche Grundstück entgegenzuwirken. Nicht zuletzt deshalb dienen die Abstandsflächenvorschriften dem Nachbarschutz (BayVGH, U.v. 14.10.1985 - 14 B 85 A.1224 - BayVBl 1986, 143). Selbst die Tatsache, dass die Terrasse seit über 30 Jahren besteht und es seither angeblich zu keiner Beeinträchtigung des Wohnfriedens gekommen sei, vermag eine andere Bewertung nicht zu rechtfertigen. Der Beklagte soll gerade bei der Neubewertung einer baulichen Anlage die Möglichkeit bekommen, abstandsflächenwidrige Verhältnisse zu beseitigen und rechtmäßige Zustände zu schaffen. Auch wenn die Klägerin zu ihren Nachbarn momentan ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis pflegt, muss die Sicherung des sozialen Wohnfriedens grundstücksbezogen betrachtet werden, da es jederzeit zu einem Eigentümerwechsel kommen kann.
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Zusammenfassend ist daher festzustellen, dass die nachbarlichen Belange sowie die öffentlichen Belange überwiegen und daher eine Erteilung einer Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften nicht in Betracht kommt. Das private Interesse der Klägerin an der Überdachung ihrer Terrasse muss insofern zurücktreten.
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3. Insgesamt steht der Klägerin daher kein Anspruch auf Erteilung der beantragten isolierten Abweichung zu, sodass sie durch den ablehnenden Bescheid des Beklagten nicht in ihren Rechten verletzt ist. Die Klage war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
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Der Ausspruch hinsichtlich der vorläufigen Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.