Titel:
mögliche Grenzbebauung im unbeplanten Innenbereich bei Einfügen des Vorhabens in die Umgebung (hier: faktisch festgesetzte geschlossene Bauweise bzw. Hausgruppe)
Normenketten:
BayBO Art. 6 Abs. 1 S. 3
BauGB § 34 Abs. 1
Leitsätze:
1. Sowohl eine faktisch festgesetzte geschlossene Bauweise (§ 22 Abs. 3 BauNVO) als auch faktisch festgesetzte Hausgruppen (§ 22 Abs. 2 S. 1 BauNVO) führen dazu, dass iSd Art. 6 Abs. 1 S. 3 BayBO an die Grenze gebaut werden muss oder darf. Daher ist eine differenzierte Qualifizierung der Bauweise der Bebauung im maßgeblichen Geviert – faktisch festgesetzte geschlossene Bauweise, faktisch festgesetzte Hausgruppen – entbehrlich. (Rn. 45) (redaktioneller Leitsatz)
2. Fügt sich das streitgegenständliche Bauvorhaben im unbeplanten Innenbereich gem. § 34 Abs. 1 BauGB in die nähere Umgebung ein, folgt daraus, dass iSd Art. 6 Abs. 1 S. 3 BayBO nach planungsrechtlichen Vorschriften ohne Einhaltung von Abstandsflächen gebaut werden darf. (Rn. 46) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nachbarklage gegen Anbau, Aufzugsanlage, Planungsrechtlich gebotener Grenzanbau, Gebot der Rücksichtnahme, planungsrechtlich gebotener Grenzanbau, Abstandsflächen, einfügen, unbeplanter Innenbereich, faktisch festgesetzte geschlossene Bauweise, faktisch festgesetzte Hausgruppe, Grenzbebauung
Fundstelle:
BeckRS 2021, 18282
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.
Tatbestand
1
Die Kläger wenden sich gegen eine Baugenehmigung zum Anbau einer Aufzugsanlage an ein Mehrfamilienhaus, die die Beklagte den Beigeladenen erteilt hat.
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Die Kläger sind Miteigentümer des Grundstücks Flur-Nummer* …, Gemarkung … - … Straße …in … Nördlich ihres Grundstücks liegt das unmittelbar angrenzende Grundstück der Beigeladenen, Miteigentümer der Flur-Nummer …, Gemarkung … - … in … Die Grundstücke der Beteiligten liegen nicht im Geltungsbereich eines Bebauungsplans.
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Die Grundstücke der Kläger und der Beigeladenen sind jeweils mit mehrstöckigen Wohngebäuden bebaut. Das Grundstück der Beigeladenen ist ein Eckhaus. Die seitlichen Außenwände dieses Eckhauses in Richtung Süden grenzen unmittelbar an die nördlichen seitlichen Außenwände des Wohngebäudes der Kläger; in Richtung Osten grenzen die seitlichen Außenwände des Eckhauses unmittelbar an die westlichen seitlichen Außenwände des Anwesens … …, Flur-Nummer …, Gemarkung … Die Grundstücke in der näheren Umgebung - …, … und …- sind ebenfalls mit mehrstöckigen Wohnhäusern bebaut. Die jeweils unmittelbar an die Grundstücke der Kläger und der Beigeladenen angrenzenden Grundstücke wurden jeweils direkt an die Grundstücksgrenze errichtet. Nur an drei Stellen des so bebauten … Straße - … - …straße finden sich Durchbrechungen in Form einer Einfahrt.
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Die von der …straße aus östlich gelegenen Innenfassaden des Gebäudes der Kläger und des Gebäudes der Beigeladenen liegen nicht auf einer Linie. Vielmehr ragt das klägerische Gebäude weiter in Richtung Osten; insoweit besteht ein Versatz von etwa 2,90 Metern.
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Am 5. August 2019 beantragten die Beigeladenen bei der Beklagten die Baugenehmigung für den Anbau einer Aufzugsanlage mit Stahl- und Glasschacht. Demnach solle sich die Aufzugsanlage über die sechs Stockwerke des Gebäudes der Beigeladenen erstrecken. Sie solle an die östliche Innenfassade des Gebäudes der Beigeladenen angebaut werden. Ihre Grundfläche solle 3,10 x 1,65 Meter betragen. Die beantragte Aufzugsanlage solle das Gebäude in Richtung Süden - zum klägerischen Grundstück - gewissermaßen teilweise auffüllen. Als Konsequenz des Anbaus solle die Innenfassade einschließlich der Aufzugsanlage um etwa zwanzig Zentimeter über die klägerische Innenfassade hinausragen; die Dachgaube der Kläger solle sich auf einer Höhe mit der Aufzugsanlage der Beigeladenen befinden.
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Am 11. Oktober 2019 wies die Bauordnungsbehörde der Beklagten die Beigeladenen darauf hin, dass nach ihrer Ansicht eine Befreiung von den notwendigen Abstandsflächen nötig sei; den diesbezüglichen Antrag stellten die Beigeladenen mit Schreiben vom 14. Oktober 2019.
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Mit Bescheid vom 22. Oktober 2019 erteilte die Beklagte den Beigeladenen die Baugenehmigung für die Errichtung der beantragten Aufzugsanlage (Ziffer 1). Dabei ließ die Beklagte in Ziffer 2. des Bescheides nach Art. 63 Absatz 1 BayBO eine Abweichung von Art. 6 Abs. 2 BayBO wegen Nichteinhaltung von Abstandsflächen der Aufzugsanlage nach Süden und Osten zu den Nachbargrundstücken Flur-Nummer* …und … zu; zugleich ließ sie eine Abweichung nach Art. 6 Abs. 3 BayBO wegen Nichteinhaltung von Abstandsflächen zwischen der Aufzugsanlage und dem Bestandsgebäude auf dem Baugrundstück zu. In rechtlicher Hinsicht lägen die Voraussetzungen für die Zulassung solcher Abweichungen nach Art. 63 Abs. 1 BayBO vor. Insbesondere sei keine wesentliche Beeinträchtigung der Belichtung, Belüftung, Besonnung und des Wohnfriedens für die Nachbargrundstücke und das Baugrundstück gegeben.
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Dagegen haben die Kläger mit am 7. November 2019 bei Gericht eingegangenem Schriftsatz Klage erhoben.
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Die Kläger führen aus, sie richteten sich insbesondere dagegen, dass der angegriffene Bescheid die Beigeladenen von der Einhaltung der erforderlichen Abstandsflächen befreie. Die Kläger wollten sich mit der Klage das Recht wahren, an ihrem eigenen Anwesen künftig bauliche Änderungen wie den Anbau von Balkonen oder einer Aufzuganlage vorzunehmen. Die Nichteinhaltung der erforderlichen Abstandsflächen durch das Gebäude der Beigeladenen könne dieses möglicherweise verhindern; dies würde das Anwesen der Kläger entwerten.
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Zuletzt wiesen sie darauf hin, dass der Aufzugsanbau nunmehr abgeschlossen sei. Der Anbau fülle die bisherige etwa 2,90 Meter tiefe Nische im Bereich der von der …Straße aus östlich gelegenen Innenfassade des Gebäudes der Kläger und des Gebäudes der Beigeladenen nicht vollständig aus. Sie befürchteten daher, dass eindringendes Regenwasser nicht absehbare Feuchtigkeitsschäden am Mehrfamilienhaus auf ihrem Grundstück verursachen könnte.
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Die Kläger beantragen,
Der Bescheid der Beklagten vom 22. Oktober 2019, Aktenzeichen …, wird aufgehoben.
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Die Beklagte beantragt,
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Zur Begründung führt sie im Wesentlichen aus, die angegriffene Baugenehmigung sei unter Befreiung gemäß Art. 63 Abs. 1 BayBO hinsichtlich der Abstandsflächen nach Art. 6 Abs. 2 und 3 BayBO erfolgt. Die genehmigte Abweichung von den Abstandsflächen habe sich auf die Nichteinhaltung der erforderlichen Abstandsflächen der Aufzugsanlage nach Süden zum Grundstück der Kläger und Osten zum Grundstück Flur-Nummer …, Gemarkung … sowie auf die Nichteinhaltung der erforderlichen Abstandsflächen zwischen der Aufzugsanlage und dem Bestandsgebäude auf dem Baugrundstück bezogen. Die Beklagte meint, die Baugenehmigung verletze aber nicht die einzig in Betracht kommenden drittschützenden, im Baugenehmigungsverfahren nach Art. 59 Satz 1 Nr. 1 lit. b BayBO zu prüfenden Vorschriften über Abstandsflächen nach Art. 6 BayBO. Es sei überhaupt nicht erforderlich gewesen, in der Baugenehmigung Befreiungen von den Abstandsflächen zu erteilen. Das Vorhaben müsse keine Abstandsflächen einhalten.
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Nach der Privilegierung aus Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO seien keine Abstandsflächen erforderlich vor Außenwänden, die an Grundstücksgrenzen errichtet werden, wenn nach bauplanungsrechtlichen Vorschriften an die Grenze gebaut werden muss oder darf. Wenn auch keine planungsrechtlichen Festsetzungen bestünden, sei diese Ausnahme auch einschlägig, wenn sich aus dem Rahmen der näheren Umgebung (§ 34 Abs. 1 BauGB) eine Bauweise mit Grenzbebauung als notwendig oder zumindest möglich ableiten lasse.
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Letzteres sei bei einer geschlossenen Bauweise i.S.d. § 22 Abs. 3 BauNVO sowie bei Doppelhäusern und Hausgruppen in der offenen Bauweise i.S.v. § 22 Abs. 2 BauNVO möglich. Auf verschiedenen Grundstücken errichtete Doppelhäuser und Hausgruppen zeichneten sich dadurch aus, dass sie gemeinsame Grundstücksgrenzen ohne seitlichen Grenzabstand überwindeten. Dies sei eine Modifikation der offenen Bauweise, die dem Begriff des Doppelhauses und der Hausgruppe eine eigenständige, das Abstandsgebot an der gemeinsamen Grundstücksgrenze überwindende Bedeutung verleihe (verweisen wird auf: BVerwG, NVwZ 2000, 1055). § 22 BauNVO sei im unbeplanten Innenbereich zwar nicht direkt anwendbar, könne aber Auslegungshilfe sein, die mit der Prägung der Umgebungsbebauung abzugleichen sei.
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Doch selbst wenn man die Bebauung im Umfeld des klägerischen Grundstücks wegen vorhandener Baulücken der näheren Umgebung nicht als geschlossene, sondern als offene Bauweise einordne, bedürfe es keiner Abstandsflächen. In der näheren Umgebung seien die Gebäude als Hausgruppen im Sinne von § 22 Abs. 2 BauNVO aneinandergebaut. Eine Hausgruppe bestehe aus mindestens drei selbstständigen, aneinander gebauten Häusern. Das Mehrfamilienhaus der Kläger bilde vor allem mit dem Eckgebäude der Beigeladenen und den direkt an ihr Gebäude im Süden und an das Gebäude der Beigeladenen im Osten angebauten Gebäuden eine Hausgruppe. Dies gelte trotz des leichten Versatzes der Fassaden - die Gebäude erschienen als einheitlicher Baukörper. Die Aufzugsanlage überschreite die ohnehin weiter hervorragende Innenfassade des klägerischen Gebäudes nur um etwa 20 Zentimeter und befinde sich auf einer Höhe mit dessen Dachgaube.
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Die Beklagte meint, der Aufzugsanbau verletzte nicht das Gebot der Rücksichtnahme innerhalb der Häusergruppe, da der Anbau und die geringfügige Fassadenüberschreitung die Wirkung als einheitlicher, harmonischer Gebäudekomplex nicht aufhöben. Der Anbau sei wechselseitig verträglich und stimmig zum Gebäude der Kläger - auch wegen der nördlichen Lage gegenüber dessen Treppenhauswand. Der Anbau hebe die Bauweise der Hausgruppe nicht auf. Es hätten insoweit überhaupt keine Abweichungen von den Abstandsflächen zugelassen werden müssen.
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Im Übrigen müssten die Kläger nicht befürchten, dass das geringfügige Vortreten der Aufzugsanlage vor die Fassade ihres Hauses die bauliche Erweiterung ihres Gebäudes erschwert.
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Mit Beschluss vom 24. August 2020 wurden die Beigeladenen notwendig beigeladen. Sie stellen keinen eigenen Antrag.
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In einer Stellungnahme geben sie zu bedenken, dass ihre Beiladung sehr spät erfolgt sei. Sie seien von der Bestandskraft ihrer Baugenehmigung vom 22. Oktober 2019 ausgegangen. Daher sei die Aufzugsanlage zwischenzeitlich errichtet worden. Im Übrigen schließe man sich der rechtlichen Wertung der Beklagten an: Es sei nicht ersichtlich, inwieweit der Anbau der Aufzugsanlage die Kläger bei etwaigen künftigen eigenen baulichen Veränderungen behindere. Der Aufzug sei in die Hausnische eingebaut worden, die das Gebäude der Beigeladenen zur Fassadenebene des klägerischen Anwesens bilde. Zwar rage der Stahl-Glasschacht als Folge der notwendigen Schachtmaße des Aufzuges über die Fassadenebene des klägerischen Anwesens nach Osten vor - jedoch in einem Bereich von etwa Zentimetern.
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Mit Beschluss vom 28. Oktober 2020 wurde der Rechtstreit auf den Einzelrichter übertragen.
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In der mündlichen Verhandlung vom 7. Juni 2021 wurde mit den Beteiligten die Sach- und Rechtslage erörtert. Die Beteiligten wiederholten ihre schriftlich gestellten Klageanträge.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt des Sitzungsprotokolls verwiesen. Im Übrigen wird auf den Inhalt der Schriftsätze der Beteiligten sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen. Sie sind Inhalt der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Anfechtungsklage bleibt ohne Erfolg. Die den Beigeladenen erteilte Baugenehmigung vom 22. Oktober 2019 verletzt keine drittschützenden Vorschriften. Die Kläger sind daher nicht in ihren Rechten verletzt.
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Eine Anfechtungsklage führt nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO nur zum Erfolg, wenn der angefochtene Verwaltungsakt - hier die Baugenehmigung - rechtswidrig ist und den Kläger zugleich in seinen Rechten verletzt. Für den Erfolg einer Nachbarklage ist eine mögliche objektive Verletzung einer Rechtsnorm allein somit nicht ausreichend. Vielmehr muss sich die Rechtswidrigkeit zum einen aus einer Norm ergeben, die dem Schutz des Nachbarn dient (Schutznormtheorie, vgl. nur BayVGH, B.v. 24.3.2009 - 14 CS 08.3017 - juris). Maßgeblich kann zum anderen nur eine Rechtsverletzung sein, die zum Prüfungsumfang des bauaufsichtsrechtlichen Verfahrens gehört, Art. 68 Abs. 1 Satz 1 BayBO. Folglich stellt das gerichtliche Verfahren keine umfassende Rechtmäßigkeitskontrolle dar; die Prüfung beschränkt sich vielmehr darauf, ob durch die angefochtene Baugenehmigung drittschützende Vorschriften verletzt sind, die dem Nachbarn einen Abwehranspruch gegen das Vorhaben vermitteln (BayVGH a.a.O.).
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1. a) Die von den Beigeladenen zur Genehmigung gestellte und bereits fertiggestellte Aufzugsanlage mit Stahl- und Glasschacht ist eine nach Art. 55 Abs. 1 BayBO genehmigungspflichtige bauliche Anlage. Da sie keinen Sonderbau im Sinne von Art. 2 Abs. 4 BayBO darstellt, bestimmt sich das Prüfprogramm der Beklagten als Bauaufsichtsbehörde nach Art. 59 Satz 1 Nr. 1 BayBO.
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Als insoweit nachbarschützende Prüfvorschrift kommt vorliegend das Abstandsflächenrecht nach Art. 6 BayBO in Betracht. Die Vorschriften über die Abstandsflächen dienen in ihrer Gesamtheit auch dem Nachbarschutz (VGH München B.v. 30.11.2005 - 1 CS 05.2535, BeckRS 2005, 17740; B.v. 13.12.2004 - 20 CS 04.2915, BeckRS 2004, 33984; Busse/Kraus/Hahn/Kraus, 141. EL März 2021 Rn. 550, BayBO Art. 6 Rn. 550).
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Jedoch verletzt die Aufzugsanlage der Beigeladenen die Vorschriften des Abstandsflächenrechts nicht. Denn ihr Anbau muss keinerlei Abstandsflächen wahren.
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aa) Nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 BayBO müssen bauliche Anlagen vor den Außenwänden von Gebäuden Abstandsflächen von oberirdischen Gebäuden freihalten. So will das Abstandsflächenrecht eine ausreichende Belichtung und Belüftung der Gebäude gewährleisten (VGH München U.v. 31.7.2020 15 B 19.823, B.v. 6.4.2018 - 15 ZB 17.36; U.v. 3.12.2014 - 1 B 14.819 unter Bezugnahme auf VGH München U.v. 14.10.1985- 14 B 85 = BayVBl. 1986, 143, U.v. 14.12.1994 - 26 B 93.4017 = VGHE nF 48,24; Busse/Kraus/Kraus, 141. EL März 2021, BayBO Art. 6 Rn. 4).
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Hingegen sind gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO vor an der Grundstücksgrenze errichteten Außenwänden dann keine Abstandsflächen einzuhalten, wenn nach planungsrechtlichen Vorschriften an die Grenze gebaut werden muss oder darf. Somit räumt Art. 6 Abs. 1 Satz. 3 BayBO dem Städtebaurecht den Vorrang ein, soweit es um die Errichtung von Gebäuden ohne Grenzabstand geht.
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Planungsrechtlich kann sich eine Pflicht zum Grenzanbau im unbeplanten Innenbereich - für das Vorhaben der Beigeladenen gilt kein Bebauungsplan - auch aus dem Vorliegen einer faktischen Bauweise ergeben, § 34 Abs. 1 BauGB i.V.m. § 22 BauNVO. So hält das BVerwG, B.v. 11.03.1994 - 4 B 53/94, ausdrücklich fest, dass, wenn innerhalb eines im Zusammenhang bebauten Ortsteils ein Grundstück nur in geschlossener Bauweise bebaut werden darf, die Einhaltung der seitlichen Abstandsflächen nicht verlangt werden darf (Busse/Kraus/Kraus, 141. EL März 2021, BayBO Art. 6 Rn. 46f).
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bb) Vorliegend ist demnach an die Grenzen zu bauen, wobei dahinstehen kann, ob sich die Eigenart der näheren Umgebung durch eine faktisch festgesetzte geschlossene Bauweise (§§ 34 Abs. 1 i.V.m. 22 Abs. 1, 3 BauNVO) oder durch eine faktisch festgesetzte offene Bauweise in Form von Hausgruppen (§§ 34 Abs. 1 BauGB i.V.m. 22 Abs. 1, 2 BauNVO) auszeichnet.
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Jedenfalls erweist sich das Vorhaben als planungsrechtlich zulässig, da es sich insbesondere mit Blick auf die Bauweise in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt. Daraus folgt zugleich, dass im Sinne des Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO nach planungsrechtlichen Vorschriften ohne Einhaltung von Abstandsflächen gebaut werden darf.
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(1) Das in einem im Zusammenhang bebauten Ortsteil i.S.v. § 34 Abs. 1 BauGB liegende Vorhaben der Beigeladenen liegt nicht im Geltungsbereich eines Bebauungsplans. Daher ist es nach § 34 Abs. 1 BauGB zu beurteilen. Insofern ist entscheidend, ob es sich im Hinblick auf die Eigenart der näheren Umgebung einfügt.
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(2) Die für ein Bauvorhaben maßgebliche nähere Umgebung i.S.v. § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist der den Vorhabenstandort umgebende Bereich, soweit sich die Ausführung des Vorhabens auf ihn auswirken kann und soweit er seinerseits den bodenrechtlichen Charakter des Vorhabengrundstücks prägt oder doch beeinflusst.
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Die Grenzen der näheren Umgebung i.S.d. § 34 BauGB lassen sich nicht schematisch festlegen, sondern sind nach der tatsächlichen städtebaulichen Situation zu bestimmen, in die das für die Bebauung vorgesehene Grundstück eingebettet ist (vgl. BayVGH, U.v. 24.11.2010 - 9 B 10.363 - juris). Damit sind die Grundstücke in der Umgebung insoweit zu berücksichtigen, als sich die Ausführung des Vorhabens auf sie auswirken kann und zum anderen insoweit, als die Umgebung ihrerseits den bodenrechtlichen Charakter des Baugrundstücks prägt oder doch beeinflusst. Eine Straße kann dabei ein trennendes oder verbindendes Element sein (BVerwG U.v. 25.5.1978, 4 C 9.77; Söfker in Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauGB, § 34 Rn. 36; VG Ansbach, U.v. 14.11.2018 - AN 9 K 16.641 - juris).
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Maßstab für die Beurteilung von Vorhaben im unbeplanten Innenbereich ist nach § 34 Abs. 1 BauGB die Eigenart der näheren Umgebung. Entscheidend ist, ob sich der jeweils beachtlichen Umgebung ein Rahmen entnehmen lässt. Dabei ist unter der „Eigenart“ die Summe der städtebaulich relevanten Aspekte zu verstehen, auf die sich die Zulässigkeitsbeurteilung nach § 34 bezieht. Dies setzt die Prüfung des räumlichen Umfangs der maßgeblichen Umgebung sowie die städtebaulichen Elemente voraus, nach denen sich die Beurteilung des Einfügens richtet. Festzustellen ist insbesondere auch die Eigenart der Bauweise der näheren Umgebung (zur je gesonderten Ermittlung der Eigenart der näheren Umgebung für jedes der in § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB benannten Merkmale u.a.: BVerwG B.v. 13.5.2014 - 4 B 38.13, NVwZ 2014, 1246 = BeckRS 2014, 51700; U.v. 8.12.2015 - 4 C 5.14, ZfBR 2017, 263 = BeckRS 2016, 11376; OVG Münster B.v. 27.9.2016 - 10 A 2670.15, BeckRS 2016, 112419; OVG Schleswig U.v. 31.8.2016 - 1 LB 4.14, BeckRS 2016, 53813; vgl. auch BVerwG U.v. 26.5.1978 - 4 C 9.77).
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Unter Heranziehung des Akteninhalts - vor allem der Lagepläne - ist hier das Geviert* …Straße, …, …straße und unterer Teil des Kreisverkehrs am …als insoweit prägende nähere Umgebung anzusehen.
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Die das Geviert umgebenden Straßen weisen angesichts des Ausbaugrads eine trennende Wirkung auf - der …weg und der untere Teil des Kreisverkehrs im Norden des Vorhabengrundstücks, die* … Straße im Westen sowie die …straße im Osten. Die Straßen sind jeweils großzügig ein- oder gar zweispurig ausgebaut und mit einem oder zwei Parkstreifen versehen, wobei diese zum Teil sogar quer angeordnet sind. Zudem weist das maßgebliche Geviert soweit ersichtlich einheitlich vorwiegend Wohnnutzung auf, wobei es sich insoweit um mehrstöckige Wohnhäuser handelt.
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Angesichts dieser Struktur handelt es sich insoweit um ein erkennbar abgegrenztes Geviert, das auf weiter entferntere Bebauung nicht mehr prägend ausstrahlt und seinerseits von entfernterer Bebauung nicht mehr geprägt wird.
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(3) Aus der vorliegend relevanten näheren Umgebung lässt sich eine Bauweise mit Grenzbebauung als notwendig oder zumindest möglich ableiten. Die vorliegende Blockrandbebauung im Geviert* …Straße, … und* …straße zeichnet sich weitgehend durch eine Bebauung ohne seitlichen Grenzabstand aus; nur an drei Stellen finden sich Durchbrechungen in Form einer Einfahrt (eine südlich des Vorhabengrundstücks in der* …straße, sowie zwei östlich des Vorhabengrundstücks in der …straße).
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Das Gericht schließt sich insoweit dem Vortrag der Beklagten an - dem die Kläger auch nicht entgegengetreten sind.
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Die mögliche beziehungsweise notwendige Grenzbebauung ergibt sich daraus, dass in der maßgeblichen näheren Umgebung von einer faktisch festgesetzten geschlossenen Bauweise i.S.d. § 22 Abs. 3 BauNVO oder von Hausgruppen in der offenen Bauweise i.S.v. § 22 Abs. 2 BauNVO auszugehen ist. In beiden Fällen ist aber Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO erfüllt, so dass das klägerische Vorhaben keine Abstandsflächen einzuhalten hat.
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Für eine geschlossene Bauweise spräche, dass die hier auf den Grundstücken der näheren Umgebung errichteten Häuser mehrheitlich gemeinsame Grundstücksgrenzen ohne seitlichen Grenzabstand überwinden. Für die Annahme einer offenen Bauweise könnte angeführt werden, dass jedenfalls an drei Stellen im Geviert nicht grenzständig aneinandergebaut worden ist. Nähme man dies an, trägt indes der unwidersprochene Vortrag der Beklagten, dass das Mehrfamilienhaus der Kläger mit dem Eckgebäude der Beigeladenen und den direkt an ihr Gebäude im Süden und an das Gebäude der Beigeladenen im Osten angebauten Gebäuden eine Hausgruppe i.S.v. 22 abs. 3 BauNVO bildet.
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Sowohl eine faktisch festgesetzte geschlossene Bauweise (§ 22 Abs. 3 BauNVO), als auch faktisch festgesetzte Hausgruppen (§ 22 Abs. 2 Satz 1 BauNVO) führen dazu, dass im Sinne des Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO an die Grenze gebaut werden muss oder darf. Daher ist eine differenzierte Qualifizierung der Bauweise der Bebauung im maßgeblichen Geviert - faktisch festgesetzte geschlossene Bauweise, faktisch festgesetzte Hausgruppen - entbehrlich.
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(4) Da das klägerische Vorhaben die faktischen Vorgaben zur Bauweise für beide Alternativen einhält, fügt es sich im Sinne des § 34 Abs. 1 BauGB hinsichtlich der Bauweise in die Eigenart der näheren Umgebung ein. Daraus folgt, dass im Sinne des Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO nach planungsrechtlichen Vorschriften ohne Einhaltung von Abstandsflächen gebaut werden darf.
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b) Aus dem Gebot der Rücksichtnahme kann sich im vorliegenden Fall kein anderes ergeben. Die klägerische Aufzugsanlage ist nicht rücksichtslos.
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Nach ständiger Rechtsprechung des BVerwG (grundlegend insb. U.v. 25.2.1977 - 4 C 22.75; U.v. 26.5.1978 - 4 C 9.77; U.v. 18.10.1985 - 4 C 19.82; U.v. 23.5.1986 - 4 C 34.85; U.v. 27.8.1998 - 4 C 5.98) gehört die Beachtung des Gebots der Rücksichtnahme zum Bestandteil der Zulässigkeitsvoraussetzungen des Einfügens iSd § 34 Abs. 1. Hält sich ein Vorhaben danach innerhalb des aus der Umgebung zu ermittelnden Rahmens, fügt sich dennoch nicht in die Umgebung ein, wenn es die notwendige Rücksichtnahme auf die sonstige, insb. in der unmittelbaren Nähe vorhandene Bebauung fehlen lässt (BVerwG U.v. 26.5.1978 - 4 C 9.77). Das Gebot der Rücksichtnahme ist Bestandteil des Einfügensgebots nach § 34 Abs. 1 BauGB (BVerwG U.v. 13.2.1981 - 4 B 14.81). Es bezieht sich auf die in § 34 Abs. 1 Satz 1 geregelten Zulässigkeitsmerkmale (Art und Maß der baulichen Nutzung, Bauweise und überbaubare Grundstücksfläche; BVerwG U.v. 23.5.1986 - 4 C 34.85).
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Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Zulässigkeitsmerkmale des § 34 Abs. 1 die berührten Belange der Grundstückseigentümer und ihr Ausgleich bereits wesentlich bewirken (vgl. nur die Hinweise des VGH München, B.v. 16.5.2017 - 1 ZB 16.1938, BeckRS 2017, 111580). Vorhaben, die den maßgeblichen Rahmen einhalten oder ihn zwar überschreiten, die städtebauliche Situation aber nicht verschlechtern, fügen sich regelmäßig auch im Sinne von § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ein; eine Unzulässigkeit aufgrund des Rücksichtnahmegebots bildet insoweit einen Ausnahmefall (u.a. BVerwG U.v. 26.5.1978 - 4 C 9.77; U.v. 4.7.1980 - 4 C 101.77).
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Die Anforderungen, die das Gebot der Rücksichtnahme im Einzelnen begründet, hängen wesentlich von den jeweiligen Umständen ab. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zu Gute kommt, umso mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Abzustellen ist darauf, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist (vgl. BVerwG U.v. 18.11.2004 - 4 C 1/04 - juris; BayVGH B.v. 12.9.2013 - 2 CS 13.1351 - juris; BayVGH, B.v. 3.6.2016 - 1 CS 16.747 - juris Rn. 4 m.w.N).
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Schon daraus folgt, dass das Gebot der Rücksichtnahme durch Gegenseitigkeit geprägt ist. Ein Nachbar kann sich somit etwa nicht auf eine Unterschreitung des Grenzabstands durch ein Vorhaben berufen, wenn er selbst den Abstand in gleicher Weise unterschreitet (OVG Lüneburg B.v. 12.4.2017 - 1 ME 34.17, NVwZ-RR 2017, 683 = BeckRS 2017, 109037); zur Reziprozität auch: VGH München B.v. 28.4.2020 - 9 ZB 18.1493, BeckRS 2020, 9653.
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Wesentlich ist, ob unter Berücksichtigung der grundsätzlichen Zulässigkeit von Vorhaben, die sich im vorgegebenen Rahmen halten, gewichtigere Belange der Nachbarschaft entgegenzuhalten sind. Schlichte Situationsveränderungen berühren das Rücksichtnahmegebot nicht (VGH Mannheim B.v. 24.1.1991 - 8 S 112/91, VBlBW 1991, 297). Das Gebot der Rücksichtnahme schützt regelmäßig nicht vor einer Verschlechterung der freien Aussicht oder vor Einsichtsmöglichkeiten von benachbarten Häusern (BVerwG B.v. 3.1.1983 - 4 B 224.82, BRS 40 Nr. 192 = BeckRS 2016, 41930; VGH München B.v. 15.2.2017 - 1 CS 16.2396, BeckRS 2017, 104044; B.v. 26.11.2018 - 9 ZB 18.912, BeckRS 2018, 32495 und B.v. 10.7.2020 - 15 CS 20.1409, BeckRS 2020, 16902; OVG Münster U.v. 30.5.2017 - 2 A 130.16, NWVBl 2017, 520 = BeckRS 2017, 118692; B.v. 3.8.2017 - 7 A 1830.16, BeckRS 2017, 120623; B.v. 22.1.2018 - 7 A 2183.16, BeckRS 2018, 370; B.v. 11.9.2018 - 7 B 918.18, BeckRS 2018, 21761; B.v. 28.2.2019 - 10 B 41.19, BeckRS 2019, 2710).
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Eine Rücksichtslosigkeit aufgrund einer erdrückenden oder abriegelnden Wirkung kommt bei nach Höhe, Breite und Volumen „übergroßen“ Baukörpern in geringem Abstand zu benachbarten Wohngebäuden in Betracht (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 13.3.1981 - 4 C 1.78 - DVBl. 1981, 928 ff. = juris Rn. 32 ff.: zwölfgeschossiges Gebäude in 15 m Entfernung zu zweieinhalb geschossigem Wohnhaus; BVerwG, U.v. 23.5.1986 - 4 C 34.85 - DVBl. 1986, 1271 f. = juris Rn. 15: grenznahe 11,5 m hohe und 13,31 m lange, wie eine „riesenhafte metallische Mauer“ wirkende Siloanlage bei einem sieben Meter breiten Nachbargrundstück; vgl. auch BayVGH, B.v. 3.5.2011 - 15 ZB 11.286 - juris Rn 13; B.v. 17.7.2013 - 14 ZB 12.1153 - BauR 2014, 810 f. = juris Rn. 14; B.v. 30.9.2015 - 9 CS 15.1115 - juris Rn. 13; B.v. 3.6.2016 - 1 CS 16.747 - juris Rn. 5; VGH BW, B.v. 16.2.2016 - 3 S 2167/15 - juris Rn. 38; Sächs.OVG, B.v. 4.8.2014 - 1 B 56/14 - juris Rn. 16 ff.; B.v. 16.6.2015 - 1 A 556/14 - juris Rn. 16; B.v. 25.7.2016 - 1 B 91/16 - juris Rn. 13 ff.; ein Rechtsprechungsüberblick findet sich bei Troidl, BauR 2008, 1829 ff.).
54
Nach alledem ist eine Rücksichtslosigkeit der von den Beigeladenen geplanten Aufzugsanlage nicht ersichtlich: Der Anbau beeinflusst das Gebäude der Klägerin baurechtlicher Sicht nicht. Baurechtlich relevante nachteilige Effekte sind nicht zu befürchten. Die weitgehend transparente Aufzugsanlage liegt nördlich des klägerischen Gebäudes gegenüber dessen Treppenhauswand. Der Aufzugsanbau fügt sich weitgehend in den offenen „Schacht“ - die Folge eines baulichen Versatzes zwischen dem klägerischen Grundstück und dem Grundstück der Beigeladenen - ein. Im Übrigen ist es das Gebäude der Kläger, das weiter in Richtung Osten ragt. Insofern ist es im Sinne gegenseitiger Rücksichtnahme sachgerecht, nun auch den Beigeladenen einen Anbau nach Osten zu ermöglichen - zumal sich die Aufzugsanlage nach den unwidersprochenen Angaben der Beklagten auf einer Höhe mit der Dachgaube der Kläger befindet.
55
3. Zuletzt ist darauf hinzuweisen, dass eine Baugenehmigung nach Art. 68 Abs. 5 BayBO unbeschadet der privaten Rechte Dritter erteilt wird. Die klägerseits vorgetragene Sorge von Feuchtigkeitsschäden als Folge der Ausführung der Aufzugsanlage ist demnach kein für die Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung entscheidender Belang.
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Das öffentliche und das private Recht sind strukturell zu trennen. Gegenstand der Baugenehmigung ist ausschließlich das öffentliche Recht. Private Rechte Dritter - worunter etwa mögliche privatrechtlich Ersatzansprüche als Folge der Ausführung der betreffenden baulichen Anlage fallen - haben keinerlei Relevanz. Insoweit verbliebe allenfalls der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten. Es ist nicht Aufgabe der Verwaltungsbehörden und -gerichte, private Rechtsverhältnisse zu regeln und über sie zu entscheiden (vgl. auch BVerwGE 20, 124, 126).
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4. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO: Als Unterliegende haben die Kläger die Kosten des Verfahrens zu tragen.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1 GKG.