Titel:
Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts nach Verurteilungen wegen Raubes und Körperverletzung
Normenketten:
FreizügG/EU § 6 Abs. 1 S. 1, Abs. 5
AEUV Art. 45 Abs. 3, Art. 83 Abs. 1
GG Art. 1
Leitsätze:
1. Eine strafrechtliche Verurteilung kann den Verlust des Freizügigkeitsrechts nur insoweit rechtfertigen, als die ihr zugrundliegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Dies lässt sich nur aufgrund der Umstände des Einzelfalles beurteilen (Anschluss an EuGH BeckRS 2004, 73063). (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2. Von der Prognose aus einer Bewährungsentscheidung darf grundsätzlich nur bei Vorliegen überzeugender Gründe abgewichen werden, etwa, wenn umfassenderes Tatsachenmaterial zur Verfügung steht, welches genügend zuverlässig eine andere Einschätzung der Wiederholungsgefahr erlaubt. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
3. Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit, die zu einer Verlustfeststellung gem. § 6 Abs. 5 FreizügG/EU berechtigen, können nicht nur dann angenommen werden, wenn es sich um Straftaten handelt, die in Art. 83 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV aufgeführt sind (Anschluss an VGH München BeckRS 2014, 59696 Rn. 11). (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Feststellung des Verlustes des Rechtes auf Einreise und Aufenthalt, Verlustfeststellung, Freizügigkeitsrecht, strafrechtliche Verurteilung, Gefährdung der öffentlichen Ordnung, Bewährungsentscheidung, Prognose, Wiederholungsgefahr
Rechtsmittelinstanzen:
VGH München, Beschluss vom 16.12.2021 – 10 ZB 21.1491
VGH München, Beschluss vom 13.01.2022 – 10 ZB 22.20
Fundstelle:
BeckRS 2021, 16940
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kläger als Gesamtschuldner haben die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Die Kläger wenden sich gegen die Feststellung des Verlustes der Freizügigkeit des Klägers zu 1.
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Der am … September … geborene Kläger zu 1 ist italienischer Staatsangehöriger. Mit 14 Jahren zog er nach Deutschland und ist dort seit 1996 mit Unterbrechungen gemeldet. Er arbeitete in italienischen Restaurants, überwiegend als ungelernte Küchenhilfe bzw. Koch. Immer wieder hat er nach dem Versicherungsverlauf auch Arbeitslosengeld II bezogen (Bl. 305 ff. d. BA). Für eine Alkoholabhängigkeit des Klägers bestehen keine relevanten Anhaltspunkte.
3
Seit dem 20. März 2017 befindet sich der Kläger zu 1 in Haft.
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Die Kläger zu 3 bis 8 sind die Kinder des Klägers zu 1. Die Klägerin zu 2 ist die Ehefrau des Klägers zu 1, welche er am 21. Oktober 2019 während der Haft geheiratet hat. Die Kläger zu 3 bis 5 sind die gemeinsamen Kinder des Klägers zu 1 und der Klägerin zu 2. Die Kläger zu 6 bis 8 sind Kinder aus einer früheren Beziehung des Klägers zu 1. Die Kinder sind zwischen 2001 und 2012 geboren. Volljährig ist bisher nur der Kläger zu 6, welcher am ... August … geboren wurde.
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Mit Urteil vom ... Oktober … des Landgerichts München I ist der Kläger zu 1 aufgrund eines gemeinschaftlichen schweren Raubes nach §§ 249 Abs. 1, 250 Abs. 1 Nr. 1b StGB in Tatmehrheit mit vorsätzlicher gefährlicher Körperverletzung nach §§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 4 StGB rechtskräftig zu einer Gesamtfreiheitsstrafe i.H.v. fünf Jahren und drei Monaten verurteilt worden. Die Einzelstrafe für den gemeinschaftlichen schweren Raub betrug vier Jahre und sechs Monate. Die Einzelstrafe für die gefährliche Körperverletzung betrug ein Jahr und vier Monate.
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Der Verurteilung lagen folgende Sachverhalte zugrunde:
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Am … Februar … zwischen … bis … betrat der Kläger zu 1 mit zwei oder drei weiteren Personen, alle maskiert, die Gaststätte „…“. Zwei von ihnen trugen Revolver. Einer von diesen hielt einem Kellner einen Revolver an den Kopf und ließ ihn am Boden knien. Ein weiterer Kellner wurde zu Boden gestoßen. Eine von den eingetretenen Personen nahm dann gezielt eine Stofftasche mit den Tageseinnahmen in Höhe von ca. 5.500 bis 6.300 € an sich. Anschließend flüchteten alle mit dem Geld. Der Kläger zu 1 sagte zur Sache nicht aus. Die Tatbeteiligung des Klägers zu 1 ergab sich aber aus DNA-Spuren in einem in tatortnähe gefundenen Seidenstrumpf mit Löchern für Augenpartie und Nase. Außerdem hatten die Täter Kenntnis vom genauen Ort der Tageseinnahmen. Der Kläger zu 1 hatte vor der Tat in der Gaststätte gearbeitet und ist am nächsten Tag in der Gaststätte aufgetaucht. Außerdem passte die Körpergröße auf die Täterbeschreibung. Das Landgericht München I nahm keinen minder schweren Fall, § 250 Abs. 1 StGB, an. Die Tat zeige eine hohe kriminelle Energie (arbeitsteiliges Vorgehen, Koordinierung, Insiderwissen). Ein Revolver sei als Drohmittel eingesetzt worden. Es sei Gewalt durch Umstoßen eines Kellners angewendet worden und eine besonders angsteinflößende und demütigende Lage des Opfers (Hinknien) sei herbeigeführt worden. Die Beute sei relativ hoch gewesen. Zugunsten des Klägers zu 1 habe gesprochen, dass die Opfer trotzdem nicht sonderlich beeindruckt von der Tat waren und der Kläger sechs unterhaltspflichtige Kinder habe. Außerdem liege die Tat schon längere Zeit zurück. Die Verjährungsfrist von 20 Jahren sei aber noch lange nicht erreicht.
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Am … November … bewarf der damals 13 Jahre alte Sohn des Klägers zu 1 (Kläger zu 6) den fahrenden PKW des späteren Opfers mit einem Ei. Das spätere Opfer hielt daraufhin den Sohn des Klägers zu 1 fest und verständigte die Polizei. Der Kläger und zwei weitere anderweitig verfolgte Personen begaben sich, nachdem sie von einem Zeugen über den Sachverhalt informiert wurden, zum Tatort. Der Kläger zu 1 schlug zweimal mit der Faust gegen die Stirn und die Oberlippe des Geschädigten. Als dieser zusammensackte traten der Kläger zu 1 und die beiden anderweitig Verfolgten auf den Geschädigten ein. Als der Geschädigte auf die andere Straßenseite laufen konnte, setzte der Kläger zu 1 ihm nach und brachte ihn zu Boden. Zu dritt schlugen und traten sie weiter auf ihn ein. Die Schläge gingen ins Gesicht und die Tritte auf den Oberkörper. Der Geschädigte erlitt hierdurch diverse Verletzungen, musste ambulant im Krankenhaus behandelt werden und war eine Woche arbeitsunfähig. Im Strafverfahren gestand der Kläger zu 1 zwei Faustschläge. Alle weiteren Tritte und Schläge seien von den beiden anderweitig Verfolgten begangen worden. Nach dem Urteil des Landgericht München I sagten die Zeugen aber glaubhaft aus, dass der Kläger zu 1 und die zwei anderen während des gesamten Geschehens zu dritt auf den Geschädigten eingeschlagen und eingetreten haben. Nur unter Berücksichtigung des durchgeführten Täter-Opfer-Ausgleichs sei ein minder schwerer Fall nach § 224 Abs. 1 Alt. 2 StGB anzunehmen, da ein massives mehraktiges Geschehen im öffentlichen Raum vorgelegen habe und der Kläger diverse Vorstrafen habe.
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Der Kläger ist seit 1999 diverse Male strafrechtlich in Erscheinung getreten. Unter anderem auch wiederholt wegen Körperverletzungsdelikten.
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Mit streitgegenständlichen Bescheid vom 21. November 2018 stellte die Beklagte fest, dass der Kläger zu 1 sein Recht auf Einreise und Aufenthalt verloren hat (Ziffer 1). Die Einreise und der Aufenthalt wurden für sechs Jahre untersagt (Ziffer 2). Der Kläger zu 1 wurde aufgefordert, das Bundesgebiet innerhalb eines Monats nach Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise oder der Unmöglichkeit der Ausreise aufgrund der Inhaftierung wurde die Abschiebung nach Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht nach Italien oder in einen anderen Staat, in den der Kläger einreisen darf oder der zur Rückübernahme verpflichtet ist, angedroht (Ziffer 3). Rechtsgrundlage für die Verlustfeststellung sei § 6 Abs. 1 FreizügG/EU. Die Voraussetzungen des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU müssten nicht erfüllt sein, da die Haft den dauerhaften Aufenthalt unterbrochen habe und die Integrationsverbindungen vorher nicht besonders stark waren. Die deswegen lediglich notwendigen schwerwiegenden Gründe i.S.d. § 6 Abs. 4 FreizügG/EU seien tatbestandlich gegeben. Im Rahmen des Ermessens nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU seien Art. 6 GG, Art. 8 EMRK berücksichtigt worden. Es sei aber nicht anzunehmen, dass dem Kläger zu 1 ein Leben in Italien nicht mehr zugemutet werden könne. Der Kläger spreche immer noch italienisch. Seine Mutter und seine Schwester lebten noch in Italien. Zu beiden bestehe noch Kontakt. Seine Berufsaussichten seien in Deutschland und Italien vergleichbar. Eine reine Schutzbehauptung sei, dass die Kinder nur Deutsch sprechen könnten. Bei der Abwägung mit Art. 6 GG überwiege das öffentliche Interesse an der Ausweisung des Klägers. Die Kinder hätten sich aufgrund der Inhaftierung bereits an den wenigen Kontakt mit dem Vater gewöhnt. Über Fernkommunikationsmittel sei auch ein Kontakt nach Italien möglich. In den Ferien wären Besuche möglich. Gerade die gefährliche Körperverletzung zum vermeintlichen Schutz des Sohnes zeige, dass der Kläger zu 1 der Vorbildfunktion für seine Kinder nicht gerecht würde. Die Taten zeigten, dass der Kläger zu 1 seine Belange über die Belange der Opfer und auch seiner Kinder stelle. Das Wiedereinreise und Aufenthaltsverbot und dessen Befristung erfolgten aufgrund von § 7 FreizügG/EU. Bei der Länge der Befristung sei die hohe Wiederholungsgefahr für die gewichtigen gefährdeten Rechtsgüter mit den familiären und sozialen Bindungen abgewogen worden.
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Mit Schriftsatz vom 21. Dezember 2018 haben die Kläger Klage erhoben. Sie beantragen,
1. Der Bescheid vom 21. November 2018 - Az. 162101022912/11 wird aufgehoben.
2. Hilfsweise: Die Einreisesperre wird auf ein Jahr verkürzt.
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Der Kläger sei vor seiner Inhaftierung Alleinverdiener der Familie gewesen. Die familiäre Situation sei seit der Inhaftierung schwierig. Eine Abschiebung des Vaters sei nach der Stellungnahme des Sozialdienstes katholischer Frauen e.V. München vom 19. Dezember 2018 sehr kritisch zu sehen. Die Klägerin zu 2 müsse fünf minderjährige Kinder alleine erziehen. Zwei weitere Kinder des Klägers zu 1 besuchten die Klägerin zu 2 regelmäßig. Der Bruder der Klägerin zu 2 sei aufgrund einer Behinderung hilfsbedürftig. Die Klägerin zu 2 habe die gesetzliche Betreuung übernommen. Der Klägerin zu 2 sei eine Berufstätigkeit deswegen nicht möglich. Die Familie sei gezwungen ihrem Vater nach Italien zu folgen. Die Kinder entwickelten Verhaltensauffälligkeiten. Einziger Halt für die Familie sei die Aussicht auf die Rückkehr des Vaters. Nach der Stellungnahme des Sozialreferats der Beklagten vom 20. März 2019 hätten die Kinder 3- bis 4-mal pro Monat Kontakt zum Vater. Die Kinder hätten sich inzwischen an den beschränkten Kontakt zum Vater gewöhnt. Der Klägerin zu 2 sei es mit Hilfe der ambulanten Erziehungshilfe gelungen den Familienalltag zu bewältigen. Der persönliche Kontakt zum Vater könne bei einer Ausreisepflicht nach Italien aufgrund fehlender finanzieller Mittel schwierig sein. Ein Kontakt über Skype könne dies nicht ersetzen. Die Kinder besuchten den Vater intensiv in der Haftanstalt. Die Kinder und vor allem der Kläger zu 4 litten unter verschiedenen Ängsten und hätten Schwierigkeiten im Lebensalltag. Für die Kinder sei die deutsche Staatsangehörigkeit beantragt. Es sei nicht vorstellbar, dass die Kinder in Italien leben würden. Die Kinder bräuchten nach der Haft den Vater an ihrer Seite. Der Kläger zu 3 sei aufgrund der belastenden familiären Situation in psychotherapeutischer Behandlung. In der Haft habe sich der Kläger zu 1 um eine Sozialtherapie bemüht, welche aber nur in der JVA S. … stattfinde. Der Bericht der JVA über ein fehlendes Interesse des Klägers an einer Therapie stimme deswegen nicht. Aufgrund von Corona habe weder ein weiterführender Sprachkurs, eine Sozialtherapie noch eine Gewaltpräventionstherapie stattfinden können. Der Bericht der JVA zur Führung des Klägers zu 1 sei widersprüchlich und deswegen nicht verwertbar. In der Haft habe der Kläger regelmäßig Besuch von seiner Frau und seinen Kindern erhalten. Er sei das Familienoberhaupt und die Kinder pflegten ein sehr gutes Verhältnis zu ihrem Vater. Die starke Familienbindung zeige sich gerade auch in der Heirat zwischen den Klägern zu 1 und 2 während der Inhaftierung. Der Kläger befinde sich seit mehr als zehn Jahren in Deutschland, sodass die Verlustfeststellung am strengen Maßstab des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU zu messen sei. Das für die Anwendung des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU notwendige Daueraufenthaltsrecht habe der Kläger erworben. Es sei unzutreffend, dass keine ausreichende Integration stattgefunden habe. Eine Verlagerung des Lebensmittelpunkt in einen anderen Staat sei nicht erfolgt. Die Unterbrechungen seien unbeachtlich. Auch die Haft habe zu keinem Abreißen der Integration geführt. Hierfür reiche die Haft ab dem 20. März 2017 nicht aus. Eine Diskontinuität des Aufenthalts im Sinne der EuGH-Rechtsprechung liege nicht vor. Der Kläger und seine Ehefrau hätten sich vor der Haft in Deutschland mit ihren Kindern ein soziales Netzwerk aufgebaut. Die Kinder hätten keinen Bezug zu Italien. Der Kläger zu 1 würde nur mit seinen Eltern in Italien telefonieren. Bei einem Voraufenthalt von 21 Jahren führe die Inhaftierung deswegen zu keiner Diskontinuität des Aufenthalts. Zwingende Gründe lägen nach § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU schon nicht vor, da die Einzelstrafen jeweils unter fünf Jahren betragen hätten und mehrere Verurteilungen nicht zusammengezählt werden dürften. Außerdem müsste für die zwingenden Gründe eine Wiederholungsgefahr für Straftaten im Bereich der BtMG-Straftaten oder der organisierten Kriminalität vorliegen. Dies sei nicht der Fall und somit seien die Voraussetzungen des Art. 28 Abs. 3 Freizügigkeits-RL nicht erfüllt. § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU müsse deswegen unionsrechtskonform dahingehend ausgelegt werden, dass eine Straftat i.S.d. des Art. 83 Abs. 1 Unterabschnitt 2 AEUV vorliege. Des Weiteren sei zu berücksichtigen, dass ein Tatgeschehen aus … verurteilt worden sei. Dieses liege 14 Jahr in der Vergangenheit und könne keine konkreten und aktuellen Anhaltspunkte für eine Wiederholungsgefahr liefern. Bei der Tat handele es sich zudem nicht um eine Tat im Bereich der organisierten Kriminalität bzw. dem illegalen Drogenhandel. Die gefährliche Körperverletzung im Jahr … stelle per Definition keine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit dar. Höchst vorsorglich sei auch das Ermessen durch die Beklagte nicht fehlerfrei ausgeübt worden, da der Kläger bis auf wenige Unterbrechungen sich in einem Angestelltenverhältnis befunden habe und der zeitweise Bezug von Arbeitslosengeld II in einem Sozialstaat nicht negativ bewertet werden dürfte. Die qualitativen Anforderungen an einen Beruf dürften ebenfalls nicht berücksichtigt werden. Auch die Möglichkeit über Fernkommunikationsmittel den Kontakt zur Familie aufrecht zu halten, dürfe, weil weltfremd und unmenschlich, nicht herangezogen werden. Außerdem liege ein Verstoß gegen Art. 8 EMRK vor, da die Familie gezwungen würde dem Kläger zu 1 nach Italien zu folgen. Aufgrund der Rechtwidrigkeit der Verlustfeststellung sei auch die Ausreisepflicht nach § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU und das Wiedereinreise und Aufenthaltsverbot nach § 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU rechtwidrig. Hilfsweise sei die Befristung auf sechs Jahre unverhältnismäßig. Die kurzen und pauschalen Ausführungen der Beklagten könnten diese Frist nicht rechtfertigen. Unter Berücksichtigung der Familie des Klägers zu 1 sei allenfalls eine Befristung auf ein bzw. zwei Jahre angebracht. Der Kläger zu 6 trägt persönlich vor, dass er und seine Geschwister ihren Vater brauchen. Außerdem werde er selbst gerade Vater und der Großvater solle sein Enkelkind sehen können.
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Die Beklagte hat mit Schreiben vom 14. Januar 2019 beantragt,
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Der Kläger sei in insgesamt neun Strafverfahren zu einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren und 3 Monaten und Geldstrafen in einer Gesamthöhe von 445 Tagessätzen verurteilt worden. Selbst der Strafbefehl vom … April … sei noch nicht getilgt.
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Mit Beschluss vom 16. Juni 2020 des Landgerichts A. … wurde der Strafrest des Klägers zu 1, nach Verbüßung von 2/3 der Strafe, nicht zur Bewährung ausgesetzt. Der Kläger zu 1 sei zwar Erstverbüßer, verfüge über stabile familiäre Bindungen und könnte bei seiner Familie wohnen sowie nach eigenen Angaben in einem Restaurant arbeiten. Dennoch sei das aufgrund des gemeinschaftlich schweren Raubes erforderliche besonders hohe Maß an Erfolgswahrscheinlichkeit für ein künftig straffreies Leben nicht gegeben. Er sei langjährig hinsichtlich Körperverletzungsdelikten einschlägig in Erscheinung getreten. Eine sozialtherapeutische Behandlungsmaßnahme für Gewaltstraftäter scheitere an der eingeschränkten Behandlungsfähigkeit und Behandlungsbereitschaft des Klägers zu 1. Die Gewaltproblematik bestehe unverändert fort. Es gäbe Anlass zur Befürchtung neuerlicher einschlägiger Straftaten. Nicht ansatzweise sei die Gewaltproblematik aufgearbeitet.
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Mit Urteil des Amtsgerichts A. … vom … Mai … wurde der Kläger von der Anklage, einen Mithäftling mit einer Nagelpfeile verletzt zu haben, freigesprochen.
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Nach dem letzten Haftbericht vom 8. Dezember 2020 kommt der Kläger zu 1 seiner Arbeitspflicht nach, übt aber einen schlechten Einfluss auf Mitgefangene aus. Er erhält regelmäßige Besuche von Ehefrau und den gemeinsamen Kindern. Nach eigenen Angaben hatte er zu diesem Zeitpunkt noch ca. 30.000 € Schulden. Inzwischen stehe er wieder auf der Warteliste für die nächste Gewalt-Präventionsgruppe. Ein Deutschkurs A2 sei wegen Corona unterbrochen worden.
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Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 12. März 2021 wurden der Kläger zu 1 und die Klägerin zu 2 informatorisch angehört. Der Kläger zu 1 erklärte dabei, außer den Schulden aufgrund der vorliegenden Klage und Unterhaltsrückständen habe er keine weiteren Schulden mehr. Auf Nachfrage der Beklagten wurden insbesondere auch die Meldeunterbrechungen beim Kläger zu 1 erörtert. Für die Unterbrechung vom 12. Mai 2008 bis zum 10. Januar 2009 führten der Kläger zu 1 und die Klägerin zu 2 aus, dass der Kläger lediglich zwei Monate in Italien gewesen sei. Danach sei er aufgrund der Geburt seines Sohnes P. … im August 2008 wieder zurückgekommen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die vorgelegte Behördenakte, die Gerichtsakte und das Protokoll zur mündlichen Verhandlung am 12. März 2021 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage hat keinen Erfolg.
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1. Die zulässige Anfechtungsklage gegen den Bescheid vom 21. November 2018 ist unbegründet, da der Bescheid rechtmäßig ist und die Kläger nicht in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Klagebefugnis der Kläger zu 2 bis 8 ergibt sich aus der Geltendmachung einer Verletzung in ihren Rechten aus Art. 6 Abs. 1 GG.
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a) Rechtsgrundlage für die rechtmäßige Verlustfeststellung in Ziffer 1 des Bescheides ist § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU. Danach kann die Verlustfeststellung aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit (Art. 45 Abs. 3, Art. 52 Abs. 1 AEUV) getroffen werden.
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aa) Vorliegend sind die maßgeblichen Voraussetzungen für eine Verlustfeststellung aus Gründen der öffentlichen Ordnung nach § 6 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 4 FreizügG/EU erfüllt.
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Soweit - wie hier - die Verlustfeststellung aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung erfolgt, genügt die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung für sich allein nicht, um diese Maßnahme zu begründen (§ 6 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU). Es dürfen nur im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zugrundeliegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt (§ 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU). Grundsätzlich muss für die Verlustfeststellung eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (§ 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU). Nach § 6 Abs. 4 FreizügG/EU darf eine Feststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU nach Erwerb des Daueraufenthaltsrechts nur aus schwerwiegenden Gründen getroffen werden. Das Erfordernis einer gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung verlangt eine hinreichende - unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit nach dem Ausmaß des möglichen Schadens und dem Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts differenzierte - Wahrscheinlichkeit, dass der Ausländer künftig die öffentliche Ordnung i. S. d. Art. 45 Abs. 3 AEUV beeinträchtigen wird (BVerwG, U.v. 3.8.2004 - 1 C 30/02 - juris). Eine strafrechtliche Verurteilung kann den Verlust des Freizügigkeitsrechts daher nur insoweit rechtfertigen, als die ihr zugrundliegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Ob die Begehung einer Straftat nach Art und Schwere ein persönliches Verhalten erkennen lässt, dass ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, lässt sich nur aufgrund der Umstände des Einzelfalles beurteilen (vgl. EuGH, U.v. 27.10.1977 - C-30/77 - juris - Bouchereau; U.v. 4.10.2007 - C-349/96 - juris - Polat; U.v. 4.10.2012 - C 249/11 - Rn. 40 f. - Hristo Byankor; BVerwG, U.v. 3.8.2004 - 1 C 30/02 - juris). Schwerwiegende Gründe i.S.d. § 6 Abs. 4 FreizüG/EU liegen insbesondere bei drohender Wiederholung von Verbrechen und besonders schweren Vergehen vor, wenn der Betroffene wegen eines einzelnen Delikts rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt und die Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist. Durch das Tatbestandsmerkmal „schwerwiegend“ wird an das geschützte Rechtsgut angeknüpft, so dass gesteigerte Anforderungen an das berührte Grundinteresse der Gesellschaft zu stellen sind. Ausreichend ist insoweit eine konkrete Wiederholungsgefahr. Dies ist insbesondere bei drohender Wiederholung von Verbrechen und besonders schweren Vergehen anzunehmen (BayVGH, U.v. 29.1.2019 - 10 B 18.1094 - juris Rn. 32).
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Ausgehend von diesen Grundsätzen ist das Gericht überzeugt, dass die Straftaten des Klägers zu 1 auf eine Persönlichkeit hinweisen, welche auch zukünftig mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die Begehung von Verbrechen und besonders schweren Vergehen befürchten lässt. Es besteht zum einen die Gefahr, dass der Kläger wieder Verbrechen in Form von Eigentumsdelikten unter Anwendung von Gewalt begeht. Aufgrund des gemeinschaftlichen schweren Raubes erhielt er eine Einzelstrafe von 4 Jahren und 6 Monaten. Beim Kläger besteht eine nicht behandelte Gewaltproblematik. Es besteht die Gefahr, dass er nach einer Entlassung aus der Tat wieder Straftaten zu Erlangung von Geld begehen wird. Es ist nicht ersichtlich, dass in Bezug auf die Arbeit und seine Familie der Kläger nach der Haft in eine Situation entlassen wird, welche sich gegenüber der Lage vor der Haft verbessert hat. Vielmehr ist nach der Klagebegründung das familiäre Umfeld noch deutlich schwieriger geworden. Das Familieneinkommen wird weiterhin sehr niedrig sein und die wirtschaftliche Situation der Familie mit den sechs Kindern wird problematisch sein. Offenbleiben kann deswegen, ob die Schulden des Klägers zu 1 nach dem Haftbericht vom 8. Dezember 2020 in Höhe von 30.000 € zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung tatsächlich nicht mehr vorgelegen haben. Aus der Aktenlage ergibt sich zumindest nicht, woher die entsprechenden Geldmittel für eine Tilgung stammen sollten. Es ist nicht ersichtlich, weshalb der Kläger zukünftig nicht mehr einschlägig straffällig werden sollte. Eine erfolgreiche Behandlung der Gewaltproblematik ist nicht erfolgt. Es besteht zu anderen die erheblich Gefahr, dass der Kläger aus nichtigem Anlass weitere gefährliche Körperverletzungen begeht und dabei mit Hilfe von Bekannten gezielt vorgeht. Das Opfer der Körperverletzung war durch den Sohn des Klägers zu 1 durch den Eierwurf auf das fahrende Auto in nicht unerhebliche Gefahr gebracht worden. Der Fahrer wurde anschließend dann vom Kläger zu 1 als Erziehungsberechtigten und seinen zwei Freunden zusammengeschlagen. Dies hat er in Anwesenheit seines Sohnes begangen, sodass nicht davon auszugehen ist, dass ihn seine Familie von Straftaten abhalten wird. Der verurteilte schwere Raub zeigte des Weiteren eine erhebliche kriminelle Energie und die Inkaufnahme eines erheblichen Eskalationspotential durch die Verwendung von Revolvern. Die Kombination aus krimineller Energie und Hang zur Gewalt ist äußerst gefährlich. Auch wenn der schwere Raub bereits im Jahr … durch den Kläger zu 1 verübt wurde, so zeigt er doch ein persönliches Verhalten, dass eine gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Ordnung i.S.d. § 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU darstellt. Insbesondere hat der Kläger die damaligen Mittäter immer noch nicht bekannt gegeben und sich von der damaligen Tat nicht distanziert. Hätte er inzwischen den Kontakt zu den Mittätern im Rahmen des schweren Raubes abgebrochen, hätte es nahegelegen, die damaligen Mittäter gegenüber den Ermittlungsbehörden bekannt zu geben. Die aktuellere Tat der gemeinschaftlichen gefährlichen Körperverletzungen begründet zudem die Gefahr, dass der Kläger zu 1 nach seiner Haft wieder Kontakt zu einem kriminellen Umfeld suchen wird.
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Vorliegend ist im Rahmen der Prognose auch der Bewährungsbeschluss des Landgerichts A. … vom … Juni … zu berücksichtigen (vgl. BayVGH, B.v. 8.4.2019 - 10 ZB 18.2284, Rn. 11; BayVGH, B.v. 1.3.2019 - 10 ZB 18.2494 - juris, Rn. 8 ff.). Grundsätzlich darf nur bei Vorliegen überzeugender Gründe von dieser Prognose abgewichen werden, etwa, wenn umfassenderes Tatsachenmaterial zur Verfügung steht, welches genügend zuverlässig eine andere Einschätzung der Wiederholungsgefahr erlaubt (Gerstner-Heck in: BeckOK MigR, 7. Ed. 1.1.2021, FreizügG/EU § 6 Rn. 7). Der nachvollziehbaren Einschätzung des Landgerichts, dass insbesondere aufgrund der Vorstrafen in Form von Körperverletzungsdelikten und der unbehandelten Gewaltproblematik, auch bei einem Erstverbüßer nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit von einem straffreien Leben auszugehen ist, folgt das Gericht. Neue umfassende Tatsachen, die eine andere Einschätzung notwendig machen, sind für das Gericht nicht ersichtlich. Der letzte Haftbericht vom 8. Dezember 2020 gibt keine Anhaltspunkte für eine diesbezügliche positive Änderung des persönlichen Verhaltens des Klägers zu 1. Ansonsten lässt das Gericht den für den Kläger zu 1 negativen Teil des Haftberichts im Rahmen der Prognose außer Betracht, da er widersprüchliche Angaben zum Verhalten des Klägers zu 1 gegenüber den Mithäftlingen enthält. Für die Prognose des Gerichts ist aber nicht entscheidend, ob der Kläger seine Mithäftlinge negativ beeinflusst hat.
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bb) Die Beklagte hat zutreffend angenommen, dass die erhöhten Voraussetzungen des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU im Falle des Klägers nicht erfüllt seien müssen (1). Unabhängig davon liegen darüber hinaus nach Ansicht der Kammer die zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit i.S.d. § 6 Abs. 5 FreizügG/EU vor (2).
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(1) Nach § 6 Abs. 5 FreizügG/EU darf eine Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU bei Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen, die ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit getroffen werden. Bei Bescheiderlass lag ein zehnjähriger ununterbrochener Aufenthalt des Klägers zu 1 im Bundesgebiet nicht vor.
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Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ist für die Frage, ob eine Person die Voraussetzung des Art. 28 Abs. 3 Buchst. a RL 2004/38/EG, den „Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat“ gehabt zu haben, erfüllt, auf den Zeitpunkt abzustellen, zu dem die ursprüngliche Ausweisungsverfügung ergeht (EuGH, U.v. 17.4.2018 - C-316/16 und C-424/17 - juris Rn. 88). Des Weiteren muss bei der Prüfung zum Zwecke der Feststellung, ob die Zeiträume der Haft zu einem Abreißen des zuvor geknüpften Bandes der Integration zum Aufnahmemitgliedstaat dergestalt geführt haben, dass der Betroffene nicht mehr in den Genuss des durch § 6 Abs. 5 FreizügG/EU verbürgten verstärkten Schutzes kommen kann, eine umfassende Beurteilung der Situation des Betroffenen zu dem genauen Zeitpunkt vorgenommen werden. Im Rahmen dieser umfassenden Beurteilung sind die Zeiträume der Verbüßung einer Haftstrafe zusammen mit allen anderen Anhaltspunkten zu berücksichtigen, die die Gesamtheit der im Einzelfall relevanten Gesichtspunkte ausmachen; zu diesen Gesichtspunkten gehören insbesondere die Stärke der vor der Inhaftierung des Betroffenen zum Aufnahmemitgliedstaat geknüpften Integrationsbande, die Art der die verhängte Haft begründenden Straftat und die Umstände ihrer Begehung sowie das Verhalten des Betroffenen während des Vollzugs (vgl. EuGH, U.v. 17.4.2018 - C-316/16 und C-424/17 - juris Rn. 70, 83). Dabei geht der Gerichtshof der Europäischen Union davon aus, dass je fester die Integrationsbande zum Staat insbesondere in gesellschaftlicher, kultureller und familiärer Hinsicht sind, umso geringer die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Verbüßung einer Freiheitsstrafe zu einem Abreißen der Integrationsbande und damit zu einer Diskontinuität des Aufenthalts führt (EuGH, a.a.O. Rn. 72).
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Ausgehend von diesen Grundsätzen wurde der Aufenthalt des Klägers durch die bis zum Bescheiderlass verbüßte Haftstrafe von … Monaten unterbrochen, sodass kein Aufenthalt von zehn Jahren im Bundesgebiet vorliegt. Der Kläger hatte zwar zum Bescheiderlass seine Lebensgefährtin und seine Kinder in Deutschland, aber er hatte auch noch Familie in Italien. Des Weiteren hatte er nur geringe deutsche Sprachkenntnisse und war wirtschaftlich nicht besonders integriert. Gearbeitet hatte er nur als ungelernte Küchenhilfe in italienischen Restaurants. Dazwischen bezog er immer wieder Arbeitslosengeld II. Seine äußerst geringe Integration zeigt sich ebenfalls in seinen diversen Straftaten seit 1999. Des Weiteren geht das Gericht aufgrund der Einwohnermeldedaten (BL. 378 d. BA) davon aus, dass der Kläger zu 1 sich zumindest bis 2009 regelmäßig mehrere Monate im Jahr in Italien aufgehalten hat. Offenbleiben kann, ob die Voraussetzungen des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU auch deswegen nicht erfüllt seien müssen, weil der Kläger eventuell erst im Januar 2009 einen relevanten Aufenthalt im Bundesgebiet begründet hat. Zwar muss der Aufenthalt nicht unterbrechungsfrei gewesen sein (EuGH NJW 2011, 1201). Aufenthaltsunterbrechungen, die einer Bewertung im Einzelfall unterliegen, sind aber dann für die Anwendung des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU schädlich, wenn sie den Integrationszusammenhang mit der Bundesrepublik unterbrechen (EuGH NVwZ-RR 2014, 245 = BeckRS 2014, 80039). Hierfür wird teilweise eine Orientierung an den Voraussetzungen des § 4a Abs. 6 FreizügG/EU und insbesondere der dortigen Grenze von sechs Monaten befürwortet (vgl. Kurzidem in: BeckOK AuslR, 28. Ed. 1.1.2021, FreizügG/EU § 6 Rn. 22). Vorliegend kann die Beurteilung der Unterbrechung zwischen 2008 und 2009 aber unterbleiben, da schon aufgrund der Haftstrafe ein zehnjähriger Aufenthalt ausscheidet. Gleichwohl sei darauf hingewiesen, dass durch die mehrere Monate dauernden Unterbrechungen in den Jahren davor, das Gericht entgegen dem Vortrag der Klägerseite keine Aufenthaltsdauer von 21 Jahren im Bundesgebiet zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses sieht.
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(2) Letztlich liegen aber auch die zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit nach § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU vor. Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit können nur dann vorliegen, wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe vom mindestens fünf Jahren verurteilt oder bei der letzten rechtskräftigen Verurteilung Sicherheitsverwahrung angeordnet wurde, wenn die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland betroffen ist oder wenn von Betroffenen eine terroristische Gefahr ausgeht, § 6 Abs. 5 Satz 2 FreizügG/EU. Soweit die Bevollmächtigte der Kläger der Meinung ist, dass schon aufgrund einer fehlenden Einzelstrafe von mindestens fünf Jahren, die Voraussetzungen des § 6 Abs. 5 Satz 2 FreizügG/EU nicht vorliegen, verkennt sie den eindeutigen Wortlaut der Vorschrift. Diese spricht von einer oder mehreren Straftaten. Vorliegen wurde der Kläger zu 1 wegen zweier vorsätzlicher Straftaten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten verurteilt. Die von der Bevollmächtigten der Kläger zitierte obergerichtliche Rechtsprechung (BayVGH, B.v. 21.4.2009 - 19 CS 08.3334 - juris Rn. 4; VGH BW, B.v. 22.7.2008 - 13 S 1917/07 - juris Rn. 28) enthält lediglich die Aussage, dass mehrere Verurteilungen nicht summiert werden dürfen. Die Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten beruht hier nur auf einer Verurteilung, nämlich dem Urteil des Landgerichts München I vom 4. Oktober 2017. Eine Summierung von mehreren Verurteilungen erfolgt somit nicht. Die im Gesetz getroffene Entscheidung an eine einheitliche Verurteilung auch für Fälle der Tatmehrheit anzuknüpfen ist auch im Hinblick auf die Regelung des § 54 Abs. 2 Satz 1 StGB unproblematisch möglich.
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Der Begriff der zwingenden Gründe der öffentlichen Sicherheit im Sinne des § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU, der der Umsetzung des Art. 28 Abs. 3 Buchst. a der RL 2004/38/EG dient, setzt nicht nur das Vorliegen einer Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit voraus, sondern darüber hinaus, dass die Beeinträchtigung einen besonders hohen Schweregrad aufweist. Eine Ausweisungsmaßnahme ist hier auf außergewöhnliche Umstände begrenzt (EuGH, U.v. 23.11.2010 - C-145/09- juris Rn. 40 f.; EuGH, U.v. 22.5.2012 - C-348/09, I. - juris Rn. 19 f.). Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit werden nach Art. 28 Abs. 3 RL 2004/38/EG „von den Mitgliedstaaten festgelegt“; diese unterliegen bei der Bestimmung dieser Anforderungen jedoch der Kontrolle durch die Organe der Europäischen Union (EuGH, U.v. 22.5.2012 - C-348/09, I. - juris Rn. 22 u. 23). Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit, die zu einer Verlustfeststellung gemäß § 6 Abs. 5 FreizügG/EU berechtigen, können nicht nur dann angenommen werden, wenn es sich um Straftaten handelt, die in Art. 83 Abs. 1 UnterAbs. 2 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) aufgeführt sind (vgl. z.B. BayVGH, B.v. 10.12.2014 - 19 ZB 13.2013 - juris Rn. 11 ff. m.w.N.). Keinesfalls zwingend erforderlich ist deswegen, dass es sich um Fälle der organisierten Kriminalität handelt. Die körperliche Unversehrtheit des Menschen ist auch ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut (s. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG; vgl. dazu BayVGH, U.v. 29.1.2019 - 10 B 18.1094 - juris Rn. 34; BayVGH, B.v. 15.10.2020 - 10 ZB 20.1584 - juris Rn. 7).
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Der schwere Raub in der Öffentlichkeit des Restaurants unter Einsatz einer Schusswaffe zur Drohung war in seinen gefährlichen Wirkungen auf die körperliche Unversehrtheit von anderen Personen nicht begrenzt. Selbst die Verwendung eines Scheinrevolvers birgt eine erhebliche Eskalationsgefahr, die bis zum Schusswaffengebrauch durch eintreffende Polizisten reicht. Diese Eskalationsgefahr hat der Kläger zu 1 damals in Kauf genommen und es besteht die ausreichende Wahrscheinlichkeit, dass er auch zukünftig solche Gefahren in Kauf nimmt. Es besteht deswegen neben der Gefahr für fremdes Eigentum gleichzeitig die Gefahr für das Leben zukünftiger Opfer (z.B. durch Querschläger) und der zukünftigen beteiligten Personen. Es bedarf igentlich keiner großen Erläuterung, dass diese potentielle Eskalationsgefahr bei zukünftigen Taten in Kombination mit der beim Kläger zu 1 bestehenden und ungelösten Gewaltproblematik überragend wichtige Gemeinschaftsgüter betrifft.
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cc) Die Verlustfeststellung ist verhältnismäßig und Ermessenfehler der Beklagten liegen nicht vor. Die Beklagte hat die nach § 6 Abs. 1, Abs. 3 FreizügG/EU notwendige Ermessensentscheidung in nicht zu beanstandender Weise getroffen (vgl. BayVGH, B.v. 2.8.2012 - 10 ZB 11.2751 - juris Rn. 4). Gemäß § 6 Abs. 3 FreizügG/EU sind bei der Entscheidung über eine Feststellung des Verlustes des Rechts auf Einreise und Aufenthalt eines Unionsbürgers insbesondere die Dauer des Aufenthalts in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen. Die aus dem Bescheid ersichtlichen Ermessenserwägungen sind entsprechend erfolgt. Die Beklagte hat die Familie des Klägers zu 1 in Deutschland fehlerfrei entsprechend Art. 8 EMRK und Art. 6 GG berücksichtigt. In der mündlichen Verhandlung hat der Vertreter der Beklagten auch noch ergänzt, dass die Heirat nach Bescheiderlass nicht sehr stark gewichtet werden könne, da diese unter dem Eindruck der drohenden Abschiebung nach Italien erfolgt sei. Die Ermessensausübung wurde insoweit durch die Beklagte zutreffend aktualisiert.
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Die Verlustfeststellung ist nicht unverhältnismäßig. Zugunsten des Klägers zu 1 sprechen die durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützte familiären Verbindungen in Deutschland. Aber selbst das jüngste Kind ist inzwischen acht Jahre und wird zehn Jahre sein, wenn der Kläger zu 1 aus der Haft entlassen wird. Alle Kinder werden sich an die Trennung vom Vater bereits gewöhnt haben. Der Kontakt nach Italien ist über Fernkommunikationsmittel möglich. Soweit die Bevollmächtigte den ausreichenden Kontakt über Skype und Telefon als weltfremd bezeichnet, wird zusätzlich noch darauf hingewiesen, dass es der Kläger zu 1 selbst in der Hand hat durch seine spätere Wohnsitzwahl, z.B. in Südtirol, die Entfernung nach Deutschland gering zu halten. Dann wären auch Besuche über das Wochenende realistisch. Besuche der Kinder und der Ehefrau in den Ferien können unproblematisch erfolgen. Der Umfang der Kontakte wird sich nicht maßgeblich zu den bisherigeren Kontakten in der Justizvollzugsanstalt ändern. An diesen beschränkten Kontakt zum Vater hat sich die Familie bereits gewöhnt. Zwar hat der Kläger zu 1 früher nach eigenen Angaben das Familieneinkommen erwirtschaftet. Die Erwirtschaftung des Familieneinkommens ist aber auch durch die Klägerin zu 2 möglich. Der Kläger zu 1 besitzt keine Ausbildung und arbeitete hauptsächlich als ungelernte Küchenhilfe. Der Klägerin zu 2 kann es zukünftig gelingen einen ähnlichen Job zu finden. Eine besondere wirtschaftliche oder sprachliche Integration des Klägers zu 1 in Deutschland ist trotz der längeren Aufenthaltszeit in Deutschland nicht erkennbar. Die diversen Straftaten sprechen sehr stark gegen eine gelungene Integration. Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass der Umfang der wirtschaftlichen Integration sehr Wohl von der Art des Berufes abhängt und ob dieser in gleicherweise im anderen Land ausgeübt werden kann. Es sind keine Gründe ersichtlich, weshalb der Kläger als ungelernte Küchenkraft nur in Deutschland und nicht auch in Italien arbeiten kann. Besondere wirtschaftliche Kontakte zu deutschen Unternehmen bedarf es für die Ausübung dieses Berufes nicht.
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b) Gegen die Befristungsentscheidung in Ziffer 2 des Bescheides bestehen unter Berücksichtigung der erheblichen Straffälligkeit des Klägers und der bestehenden Wiederholungsgefahr aufgrund der fehlenden Distanzierung von seinen Taten und der unbehandelten Gewaltproblematik keine Bedenken. Bei der Befristung auf sechs Jahre sind die Kinder und die Ehefrau in Deutschland ausreichend berücksichtigt (§ 7 Abs. 2 Satz 6 FreizügG/EU). Dass es sich bei der Klägerin zu 2 im Zeitpunkt des Bescheiderlasses noch um die Lebensgefährtin des Klägers zu 1 gehandelt hat, macht die Befristung auf sechs Jahre zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht rechtswidrig. Maßgeblich ist die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Ehegatten (vgl. BayVGH, B.v. 23.4.2020 - 10 ZB 20.752 - juris Rn. 10). Zur Überzeugung des Gerichts hat die Heirat während der Haft zu keiner engeren tatsächlichen Verbundenheit zwischen dem Kläger zu 1 und der Kläger zu 2 geführt. Durch die Heirat konnte allenfalls die bestehende vorherige Verbindung trotz haftbedingter Trennung und unter dem Eindruck der späteren Ausreisepflicht nochmals bestätigt, aber nicht vertieft werden. Eine Heirat im Wissen um die Straftaten und eine Ausreiseaufforderung hat nach der ständigen Rechtsprechung des BayVGH im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 GG ein relativiertes Gewicht (vgl. z.B. BayVGH, B.v. 5.11.2018 - 10 ZB 18.1710 - juris Rn. 18). Die Heirat nach Bescheiderlass führt deswegen nicht zu einer Unverhältnismäßigkeit der Befristung auf sechs Jahre.
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c) Die in Ziffer 3 verfügte Ausreisepflicht und Abschiebungsandrohung beruht auf § 7 Abs. 1 FreizügG/EU. Die Ausreisefrist entspricht den Anforderungen des § 7 Abs. 1 Satz 2, Satz 3 FreizügG/EU. Die Abschiebungsandrohung entspricht ebenfalls den gesetzlichen Vorgaben nach §§ 7 Abs. 1, 11 Abs. 2 FreizügG/EU i.V.m. § 59 AufenthG (zu den gesetzlichen Grundlagen der Abschiebungsandrohung vgl. BayVGH, B.v. 6.6.2019 - 10 C 19.1081 - juris Rn. 10).
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2. Die hilfsweise erhobene Klage hat keinen Erfolg, da sie bereits unzulässig ist. Die unbedingt erhobene Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO ist auch gegen die Befristungsentscheidung in Ziffer 2. des Bescheides statthaft. Im Falle einer rechtswidrig zu langen Frist, wäre der Bescheid nur insoweit aufzuheben gewesen, als die Frist die rechtmäßige Länge überschreitet (vgl. für eine Teilaufhebung z.B. VG München, U.v. 16.1.2020 - M 10 K 18.6014 - juris). Bei der Befristungsentscheidung nach § 7 Abs. 2 FreizügG/EU handelt es sich um eine gerichtlich vollüberprüfbare gebundene Entscheidung (BVerwG, U.v. 25.3.2015 - 1 C 18/14 -, BVerwGE 151, 361 Rn. 29). Die Teilaufhebung bis auf eine Dauer von einem Jahr war deswegen im Rahmen der unbedingt erhobenen Anfechtungsklage bereits zu prüfen (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO: „Soweit“). Die hilfsweise erhobene teilweise Anfechtungsklage ist wegen entgegenstehender Rechtshängigkeit unzulässig (vgl. Ehlers in: Schoch/Schneider VwGO, 39. EL Juli 2020, § 17 GVG Rn. 14). Ihr Streitgegenstand ist vollständig im Streitgegenstand der unbedingt erhobenen Anfechtungsklage enthalten (vgl. VG München, U.v. 4.3.2020 - M 9 K 19.857 - Rn. 18).
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3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.