Inhalt

OLG München, Beschluss v. 29.04.2020 – 21 U 50/20
Titel:

Keine Vermutung aufklärungsrichtigen Verhaltens“ im Deliktsrecht

Normenkette:
BGB § 826
Leitsatz:
Eine „Vermutung aufklärungsrichtigen Verhaltens“ zugunsten der Käufer betroffener Fahrzeuge im Dieselabgasskandal kommt im Bereich des Deliktsrechts nicht in Betracht, weil eine solche vom Bundesgerichtshof nur im Bereich der Verletzung vertraglicher oder vorvertraglicher Aufklärungspflichten angenommen wird. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Sittenwidrige Schädigung, Vermutung, Deliktsrecht, Aufklärungspflicht, Dieselabgasskandal
Vorinstanz:
LG Ingolstadt, Endurteil vom 19.12.2019 – 64 O 760/18
Fundstelle:
BeckRS 2020, 7302

Tenor

1. Die Berufung der Klagepartei gegen das Urteil des Landgerichts Ingolstadt vom 19.12.2019, Aktenzeichen 64 O 760/18, wird zurückgewiesen.
2. Die Klagepartei hat die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
3. Das in Ziffer 1 genannte Urteil des Landgerichts Ingolstadt ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
4. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 8.000,00 € festgesetzt.

Gründe

I.
1
Der Kläger begehrt von der Beklagten aus Deliktsrecht die Rückabwicklung eines Kaufvertrages über ein von der Beklagten hergestelltes Fahrzeug, das vom sog. Dieselabgasskandal betroffen war.
2
Der Kläger erwarb das streitgegenständliche Fahrzeug, einen Audi A 3 TDI, mit dem Motor EA 189 am 02.02.2017 von einem Hamburger Gebrauchtwagenhändler. Zu den konkreten Umständen des Kaufs konnte der Kläger vom Landgericht nicht angehört werden, da er der verfügten Anordnungen zum persönlichen Erscheinen vor Gericht nicht nachgekommen ist. Bereits im Herbst 2015 wurde der Dieselabgasskandal in der breiten Öffentlichkeit bekannt und die Beklagte vom Kraftfahrtbundesamt verpflichtet, geeignete Maßnahmen zur Wiederherstellung der Ordnungsgemäßheit der Fahrzeuge zu ergreifen.
3
Das Landgericht hat die Klage mit Urteil vom 19.12.2019 abgewiesen.
4
Hinsichtlich der Darstellung des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf den Tatbestand im angefochtenen Urteil sowie auf den Hinweisbeschluss des Senats vom 04.03.2020 Bezug genommen. Ferner gilt § 313 a Abs. 1 ZPO analog.
5
Zu den Ausführungen des Senats im Beschluss vom 04.03.2020 hat die Klagepartei mit Schriftsatz vom 24.04.2020, Bl. 241 ff. d.A., Stellung genommen. Der Kläger vertritt die Auffassung, dass es nicht darauf ankomme, ob er beim Kauf des Fahrzeugs vom Dieselabgasskandal Kenntnis gehabt habe, konkret informiert worden sei er, was entscheidend sei, erst im März 2017. Die Beklagte verhalte sich treuwidrig, wenn sie bis in das Jahr 2018 hinein behaupte, es habe keine Manipulation gegeben und sich nunmehr darauf berufe, dass seit 2015 darüber in der Öffentlichkeit gesprochen worden sei. Dass eine persönliche Anhörung des Klägers nicht erfolgt ist, sei unerheblich.
II.
6
Die Berufung gegen das Urteil des Landgerichts Ingolstadt vom 19.12.2019, Aktenzeichen 64 O 760/18, ist gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil nach einstimmiger Auffassung des Senats das Rechtsmittel offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung zukommt, weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.
7
Das Landgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Zur Begründung wird auf das landgerichtliche Urteil sowie den vorausgegangenen Hinweis des Senats Bezug genommen, an dem der Senat auch unter Berücksichtigung der Ausführungen des Klägers im Schriftsatz vom 24.04.2020 festhält.
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Im Hinblick auf diesen Schriftsatz sind noch folgende Ausführungen veranlasst:
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1. Entgegen der Ansicht des Klägers ist entscheidend, dass der Kläger durch sein Ausbleiben zum Termin nicht über die konkreten Umstände des Erwerbs angehört werden konnte und damit die von der Beklagten bestrittene haftungsbegründende Kausalität zwischen schadensbegründender Handlung der Beklagten und dem Abschluss des Kaufvertrages nicht nachgewiesen ist. Nicht die Beklagte hat es „vollumfänglich unterlassen den Gerichtsterminen und Ladungen der ersten Instanz“ nachzukommen, vgl. Seite 3 des Schriftsatzes vom 24.04.2020, sondern der Kläger, dem das Gericht auch mit dem Hinweis vom 22.07.2019 deutlich gemacht hat, weswegen sein persönliches Erscheinen unerlässlich ist.
10
Das Landgericht konnte durch die fehlende Anhörung des Klägers keine Überzeugung dahingehend gewinnen, dass für den Kläger die strittige Täuschung (heimliche, sittenwidrige Ausstattung des Wagens mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung, wodurch anfangs die Gefahr des Verlustes der Zulassung bestand) eine kausale Rolle für seinen Kaufentschluss hatte. Damit bleibt offen, ob der Kläger täuschungsbedingt eine ungewollte Verbindlichkeit eingegangen ist, also bei Kenntnis der wahren Umstände vom Kauf Abstand genommen hätte. Der Kläger ist insoweit beweisfällig geblieben. Die entsprechende Darlegungs- und Beweislast trägt der Anspruchsteller, vgl. Palandt/Sprau BGB, 79. Auflage 2020, Rn. 18 zu § 826 BGB.
11
Eine „Vermutung aufklärungsrichtigen Verhaltens“ zugunsten der Käufer betroffener Fahrzeuge kommt nicht in Betracht, weil eine solche vom Bundesgerichtshof nur im Bereich der Verletzung vertraglicher oder vorvertraglicher Aufklärungspflichten angenommen wird, vgl. BGH, Urteil vom 19.11.2019, Az. VI ZR 575/16 Rn. 23 m.w.N. Außerhalb (vor-)vertraglicher Beziehungen, insbesondere im hier einschlägigen Bereich des Deliktsrechts wird diese Rechtsfigur nicht herangezogen, vgl. BGH, Urteil vom 28.06.2016, Az. VI ZR 541/15, Rn. 30 m.w.N. Im Urteil vom 04.06.2013, Az. VI ZR 293/12, Rn. 25 ff. m.w.N., wurde vielmehr für § 826 BGB entschieden, dass auf den Nachweis der konkreten Kausalität nicht verzichtet werden kann.
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Es besteht auch keine generelle Lebenserfahrung dahingehend, dass ein verständiger Käufer bei Kenntnis vom Vorhandensein einer unzulässigen Abschalteinrichtung sich nicht für den Kauf eines solchen Fahrzeugs entscheiden würde, weil die betroffenen Fahrzeuge trotz Bekanntwerden des Abgasskandals weiter verkauft worden sind (ggf. mit Preisabschlägen), nachdem vom Kraftfahrtbundesamt nicht die Stilllegung der betroffenen Fahrzeuge, sondern eine Nachbesserung verfügt worden ist. Jedenfalls kann die Kausalität unter Hinweis auf die Lebenserfahrung im Rahmen deliktischer Haftung nicht pauschal ohne individuelle Prüfung bejaht werden, vgl. BGH, Urteil vom 04.06.2013, Az. VI ZR 293/12, Rn. 25 ff. m.w.N. Schließlich ist auch kein Raum für einen Anscheinsbeweis, weil dieser nur bei typischen Geschehensabläufen gilt, nicht aber bei bestimmten Verhaltensweisen von Menschen in bestimmten Lebenslagen zur Anwendung kommt, vgl. Zöller, ZPO, 33 Aufl. Rn. 31, Vorb. Zu § 284 ZPO.
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2. Bei der Frage, ob der Käufer täuschungsbedingt einen ungewollten, für ihn nachteiligen Vertrag geschlossen hat, handelt es sich um die Feststellung einer inneren Tatsache, vgl. BGH, Urteil vom 05.03.2009, Az. III ZR 17/18, zu der der Kläger befragt werden sollte, um ausreichende Feststellungen für eine Entscheidung zu haben. Dass solche Feststellungen nicht getroffen werden konnten, geht zu Lasten des Klägers, weil - wie oben ausgeführt - Beweiserleichterungen nicht in Betracht kommen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der Kläger hier lange Zeit nach Bekanntwerden des Abgasskandals ein Fahrzeug erworben hat, das letztlich nicht unmittelbar von einer Betriebsuntersagung bedroht war, weil sich das Kraftfahrtbundesamt bereits im Herbst 2015 für die Anordnung einer (von Beklagtenseite entwickelten) Umrüstung und nicht für eine Stilllegung der Fahrzeuge entschieden hatte.
14
3. Der Senat wirft dem Kläger nicht vor, dass er sich nicht ausreichend über den Dieselskandal informiert hat und wirft ihm auch nicht vor, dass er konkrete Kenntnis von der Betroffenheit seines Fahrzeuges schon vor März 2017 hätte haben können oder müssen. Hierauf kommt es im Hinblick auf die obigen Ausführungen nicht entscheidungserheblich an.
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4. Es kann dahinstehen wie das Verhalten der Beklagten zu bewerten ist, dass sie einerseits den Standpunkt vertritt, keine unzulässige Abschalteinrichtung in Fahrzeuge verbaut und keine Manipulation vorgenommen zu haben, vgl. Klageerwiderung, andererseits aber darauf verweist, dass sie potentielle Käufer, Händler, Fahrzeughalter und Vertriebspartner umfangreich informiert habe und der Kläger Kenntnis von der Betroffenheit des Fahrzeugs gehabt habe, vgl. Schriftsatz vom 29.04.2019, Seite 35. Die Berichterstattung in den Medien war jedenfalls nicht verharmlosend, weil dadurch bekannt geworden ist, dass Millionen von Dieselfahrzeugen des Volkswagenkonzerns und auch der Beklagten mit einer Technik ausgestattet waren, die in unzulässiger Weise Abgaswerte auf dem Prüfstand verändert hat. Zum Erwerbszeitpunkt des Klägers, im Februar 2017, war auch geklärt und allgemein publiziert, wie die Behörden die technische Einrichtung beurteilen und wie sie auf diese Problematik reagieren. Das Kraftfahrtbundesamt hat mit veröffentlichtem Bescheid vom 15.10.2015 gegenüber der Beklagten angeordnet, geeignete Maßnahmen zur Wiederherstellung der Ordnungsgemäßheit der Fahrzeuge zu ergreifen. Dass eine solche Maßnahme verbindlich ist und mithin auch Folgen für den jeweiligen Eigentümer des Fahrzeugs hat, nämlich dass ein Update vorgenommen werden muss und auch mit Konsequenzen zu rechnen ist, wenn man dies unterlässt, liegt auf der Hand.
16
5. Eine Entscheidung im Beschlussweg nach § 522 Abs. 2 ZPO ist möglich, weil im hier zu entscheidenden Einzelfall keine Fragen von grundsätzlicher Bedeutung zu klären sind. Der pauschale Vortrag des Klägers zur grundsätzlichen Bedeutung verfängt nicht. Der Umstand, dass der Kläger ein vom Dieselabgasskandal betroffenes Fahrzeug erworben hat und darüber in verschiedenen Fallgestaltungen in der Bundesrepublik schätzungsweise mehrere 10.000 Verfahren geführt werden, ändert hieran nichts. Maßgeblich ist stets die konkrete Fallgestaltung, die hier die Besonderheit aufweist, dass der Kläger trotz Ladung zu einer Anhörung vor Gericht nicht erschienen ist und sein Ausbleiben auch nicht entschuldigt hat. Es ist nicht ersichtlich, dass hier konkret klärungsbedürftige und klärungsfähige Rechtsfragen entscheidungserheblich sind und deshalb ein abstraktes Interesse der Allgemeinheit an einer einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt ist. Der Senat wendet hier vielmehr gefestigte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auf den konkreten Fall an.
III.
17
Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.
18
Die Feststellung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit des angefochtenen Urteils erfolgte gemäß §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.
19
Der Streitwert für das Berufungsverfahren wurde in Anwendung der §§ 47, 48 GKG, § 3 ZPO bestimmt.