Titel:
Keine grundrechtswidrig Behandlung von Asylsuchenden in Ungarn
Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
Leitsatz:
Das ungarische Asylsystem weist in der Praxis keine größere Funktionsstörungen auf, sodass für Personen, die internationalen Schutz beantragen, bei einer Überstellung nach Ungarn kein ernsthaftes Risiko besteht, grundrechtswidrig behandelt zu werden. (Rn. 20 – 38) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
unbegründete Anfechtungsklage eines jungen, arbeitsfähigen Mannes aus Äthiopien gegen Unzulässigkeitsbescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge mit dem Zielland, Ungarn, Einzelbetrachtung trotz Kernfamilie des Klägers in Deutschland, Funktionsstörung, grundrechtswidrige Behandlung
Fundstelle:
BeckRS 2020, 38995
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) vom 22. November 2019, der als Unzulässigkeitsbescheid mit dem Rückführungszielland Ungarn ergangen ist.
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Der am … 1993 in … geborene Kläger ist äthiopische Staatsangehörige amharischer Volkszugehörigkeit. Er reiste eigenen Angaben zufolge am 29. August 2013 in die Bundesrepublik Deutschland auf dem Landweg aus Ungarn kommend ein und stellte sodann am 4. September 2013 einen Asylantrag. Der Antrag wurde unbeschränkt gestellt (§ 13 Abs. 2 Satz 1 AsylG). Persönliche Dokumente konnte der Kläger nicht vorlegen. Er gab an, nie Personaldokumente besessen zu haben. Er sei im April 2012 in Ungarn als unerlaubt eingereiste Person aufgegriffen und erkennungsdienstlich behandelt worden. Er habe in Ungarn einen Asylantrag gestellt und sich in diesem Land ein Jahr und drei Monate aufgehalten. Dann sei er aufgefordert worden, das Land zu verlassen. Seine asylrechtlichen Papiere aus Ungarn habe er verloren. Er habe mit seiner Lebensgefährtin (der Klägerin im Verfahren AN 17 K 19.51146) ein gemeinsames Kind, das im … in Deutschland geboren worden sei. Seine Lebensgefährtin sei bereits im Dezember 2012 nach Deutschland eingereist. Er habe in seinem Heimatland acht Jahre lang die Schule besucht und abgeschlossen, danach aber keinen Beruf erlernt und nie gearbeitet. Ergänzend führte der Kläger in einem Fragebogen der Regierung von Mittelfranken zur Identitätsklärung aus: Er spreche nur seine Muttersprache Oromo sowie Amharisch. Durch die ungarischen Behörden sei er nur aufgefordert worden, nach 15 Monaten das Asylbewerberheim zu verlassen, nicht aber, auch das Land zu verlassen. Er habe sich zunächst neun Monate in der Erstaufnahmeeinrichtung … aufgehalten und sei dann umverteilt worden in die Erstaufnahmeeinrichtung … Er habe nach Verlassen dieser Unterkunft ca. einen Monat auf der Straße gelebt. Auf der Straße habe er zwei afrikanische Männer kennengelernt, die ihm eine Fahrkarte nach Deutschland besorgt hätten.
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Am 27. November 2013 stellte das Bundesamt an Ungarn ein Wiederaufnahmeersuchen aufgrund einer EURODAC-Treffermeldung für den Kläger nach der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (Dublin II-VO). Die ungarischen Behörden teilten am 10. Dezember 2013 mit, der Kläger habe zunächst einen ablehnenden Asylbescheid erhalten, dagegen aber erfolgreich vor Gericht geklagt. Aufgrund der Gerichtsentscheidung sei dem Kläger bereits am 14. Februar 2013 die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt und ein Reisedokument ausgestellt worden. Das Ergebnis der Anfrage teilte das Bundesamt der zuständigen Ausländerbehörde mit und bat darum, von dort das Einverständnis Ungarns für eine Rücküberstellung einzuholen. Es wurde sodann der Erlass einer Abschiebungsanordnung nach Ungarn auf Grundlage des § 34a AsylVfG in Aussicht gestellt. Mit Schreiben vom 14. Juli 2014 stimmten die ungarischen Behörden der Übernahme des Klägers unter Hinweis auf das Rückübernahmeabkommen zwischen der Beklagten und Ungarn vom 1. Dezember 1997 zu.
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Erstmals stellte das Bundesamt in der Folge mit Bescheid vom 23. Oktober 2014 fest, dass dem Kläger in der Bundesrepublik Deutschland kein Asylrecht zustehe und ordnete die Abschiebung nach Ungarn an. Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger durch seinen Bevollmächtigten am 29. Oktober 2014 Klage zum Verwaltungsgericht Ansbach (Verfahren AN 14 K 14.50171 - später AN 3 K 14.30862) und stellte einen Antrag im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes (Verfahren AN 14 S 14.50170 - später AN 3 S 14.30861). Mit Beschlüssen vom 23. Februar 2015 im Verfahren AN 3 S 14.30861 und vom 10. September 2019 im Verfahren AN 3 K 17.35268 (nach zuvor erfolgter Ruhendstellung des Verfahren und Wiederaufnahme unter neuem Aktenzeichen) wurden die Verfahren eingestellt. Die Beklagte hatte ihren Bescheid vom 23. Oktober 2014 mit Entscheidung vom 22. August 2019 insgesamt aufgehoben. Hinsichtlich der Ruhendstellung des Klageverfahrens war nach allseitigem Einverständnis der Ausgang des Verfahrens der Lebensgefährtin des Klägers (der Klägerin im Verfahren AN 17 K 19.51146) und des gemeinsamen Kindes abgewartet worden. Im Zuge des ersten Gerichtsverfahrens des Klägers legte der Bevollmächtigte für den Kläger mit Schriftsatz vom 15. August 2019 die Kopie eines Schwerbehindertenausweises über einen GdB von 50, gültig bis Februar 2020 sowie ein ärztliches Attest des „…“ vom … … 2018 vor, wonach bei dem Kläger Diabetes mellitus Typ 1 und eine Hypercholesterinämie diagnostiziert worden sei. Bei derzeit formal sehr guter Blutzuckereinstellung und niedrigem Insulinbedarf sei aber bei körperlich anstrengenden Arbeiten zwischenzeitlich immer wieder auf die Einnahme von Kohlehydraten zu achten, um den stark schwankenden Blutzuckerspiegeln und Hypoglykämien vorzubeugen. Hinweise auf diabetische Folgeerkrankungen ergäben sich derzeit nicht. Die restlichen Laborwerte seien sehr gut.
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Am 17. Oktober 2019 erfolgte die Anhörung des Klägers zur Zulässigkeit seines Asylantrages und zu seinen Asylgründen nach § 25 AsylG. Hierbei trug er im Wesentlichen zu seiner Erkrankung vor und gab an, er wolle nicht, dass sein Kind, das die Schule besuche, noch einmal woanders neu anfangen müsse. Ein neues Leben anzufangen, sei für sein Kind schwer.
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Am 31. Oktober 2019 stellte das Bundesamt an die ungarischen Behörden ein Informationsersuchen nach Art. 34 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO). Hierauf antworteten die ungarischen Behörden mit Schreiben vom 11. November 2019 und teilten mit, der Flüchtlingsstatus des Klägers in Ungarn sei unverändert und bestehe fort.
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Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 22. November 2019 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab (Ziffer 1.), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen (Ziffer 2.), drohte die Abschiebung - in erster Linie - nach Ungarn an und forderte den Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland binnen einer Frist von einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen und stellte fest, dass der Kläger nicht nach Äthiopien abgeschoben werden dürfe (Ziffer 3.). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG befristete das Bundesamt erstmals auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4.). Schließlich setzte das Bundesamt die Vollziehung der Abschiebungsandrohung aus (Ziffer 5.). Zu den Gründen führt der Bescheid im Wesentlichen aus, die Unzulässigkeit des Asylantrages ergebe sich aus § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, da dem Kläger bereits in Ungarn internationaler Schutz zuerkannt worden sei. Abschiebungsverbote lägen unter Beachtung der Situation anerkannt Schutzberechtigter in Ungarn, der individuellen Umstände des Klägers und auch bei einer Rückkehrprognose des Klägers nach Ungarn zusammen mit seiner Lebensgefährtin und dem gemeinsamen Kind nicht vor. Zum einen seien die Umstände für anerkannt Schutzberechtigte in Ungarn mit denen von ungarischen Staatsangehörigen gleichgestellt. Integrationsunterstützung werde im Rahmen eines Integrationsvertrages gewährt. Dabei sei ein Grundeinkommen für den Schutzberechtigten vorgesehen und weitere Unterstützungsleistungen durch Sozialarbeiter des örtlich zuständigen Sozialdienstes für Familien und auch kirchlicher Einrichtungen. Die Unterbringungsbedingungen hätten sich verbessert und erfolgten nunmehr dezentral. Es werde ein Aufenthaltstitel mit Gültigkeit für die Dauer von zehn Jahren ausgestellt. Die Beschäftigungsquote habe in Ungarn zur Jahresmitte 2017 den höchsten Stand seit Anfang der 1990er Jahre erreicht. Der Trend zeige in Richtung einer weiter sinkenden Arbeitslosenzahl. Für Kinder werde Kindergeld und Kindergartenunterstützung gewährleistet. Es gebe für sozial Schwache auch Naturalleistungen (kostenlose Schulverpflegung, Hilfe zum Kauf von Schulmaterialien etc.). Bei entsprechender Eigeninitiative des Klägers könne dieser für sich und für die gemeinsame Familie somit eine Situation extremer materieller Not vermeiden und die elementarsten Bedürfnisse befriedigen. Der Kläger sei jung und arbeitsfähig und könne auf Hilfsangebote staatlicher Stellen und der Zivilgesellschaft zurückgreifen. Darüber hinaus drohe dem Kläger keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr habe der Kläger bereits nicht ausreichend nachgewiesen. Eine solche liege nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen vor, die sich durch die Abschiebung verschlechtern würden. Das sei im Hinblick der vom Kläger angegebenen Erkrankung nicht der Fall. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die den Bescheid tragenden Feststellungen und Gründe Bezug genommen. Dem Bescheid beigegeben war eine Rechtsbehelfsbelehrung:mit der Möglichkeit der Klageerhebung binnen zwei Wochen ab Zustellung des Bescheids. Der Bescheid wurde am 27. November 2019 mittels Postzustellungsurkunde im Wege der Ersatzzustellung durch Einlegen des Schriftstücks in einen zur Wohnung gehörenden Briefkasten zustellt.
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Mit Telefaxschreiben vom 29. November 2019 erhob der Bevollmächtigte des Klägers gegen diesen Bescheid Klage zum Verwaltungsgericht Ansbach. Er trägt zur Begründung zunächst vor, die Beklagte habe bereits einen inhaltlich identischen Bescheid am 23. Oktober 2014 erlassen und später die zuständige Ausländerbehörde gebeten, den Vollzug des Bescheids auszusetzen. Das angestrengte Eilverfahren sei für erledigt erklärt worden. Das Hauptsacheverfahren sei im Hinblick auf das Parallelverfahren der Lebensgefährtin des Klägers zunächst ausgesetzt worden. Die Beklagte habe den Bescheid vom 23. Oktober 2014 schließlich aufgehoben, den Kläger angehört und einen inhaltlich identischen Bescheid erlassen. Der Klägerbevollmächtigte hat beantragt,
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Der Bescheid der Beklagten vom 22. November 2019 wird aufgehoben.
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Die Beklagte wird verpflichtet, Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG für den Kläger festzustellen.
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Die Beklagte erwiderte mit Schriftsatz vom 11. Dezember 2019 und beantragte,
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Sie verteidigt den angegriffenen Bescheid unter Bezugnahme auf dessen Gründe.
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Mit weiterem Schriftsatz vom 20. April 2020 ergänzte der Klägerbevollmächtigte die Klagebegründung und legte ein weiteres fachärztliches Attest des „…“ mit Datum vom … … 2020 sowie Kopien des Mutterpasses der Lebensgefährtin des Klägers und (unvollständig) eines fachärztlichen Attestes der Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Frau Dr. … aus … betreffend die Lebensgefährtin des Klägers vor. Aus dem Mutterpass ergab sich eine Schwangerschaft der Passinhaberin mit berechnetem Entbindungstermin am *. … 2020. In der mündlichen Verhandlung teilte der Kläger mit, er und seine Lebensgefährtin seien am *. … 2020 Eltern eines weiteren Kindes geworden, das gesund sei. Ergänzend wird für den Kläger im Schriftsatz vom 20. April 2020 vorgetragen, er leide an Diabetes mellitus Typ 1, was im Rahmen der Betrachtung des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK beachtlich sei. Es handle sich um eine lebensbedrohliche und schwerwiegende Erkrankung. Der Kläger sei als besonders vulnerable Person einzustufen. Er habe in Ungarn keinen Anspruch auf eine staatliche Basisgesundheitsversorgung. Die vom Bundesamt vorgetragene Regelung zum Integrationsvertrag existiere nicht mehr und der Kläger sei auch nicht mehr anspruchsberechtigt. Ungarn habe mit Gesetz vom 1. April 2016 und 1. Juni 2016 sämtliche Unterstützungsleistungen für anerkannte Asylbewerber, Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte eingestellt. Der Erhalt einer Gesundheitskarte in Ungarn sei vom Bestehen einer Adresse abhängig. Betroffene ohne Wohnsitz erhielten eine solche Karte nur unter erschwerten Bedingungen. Es stehe ernsthaft zu befürchten, dass der Kläger daher in Ungarn ohne die erforderliche ärztliche Behandlung bleibe und aufgrund seiner Mittellosigkeit auch keine Medikamente kaufen könne. Arbeit werde er auch nicht finden, dies schon aufgrund seiner Erkrankung. Überdies werde eine Wohnung für eine vierköpfige Familie nicht zu finden sein. Die Aufrechterhaltung der Familieneinheit zu seiner Lebensgefährtin und dem gemeinsamen Kind ergebe sich aus Art. 8 EMRK. Der Kläger habe die Vaterschaft anerkannt. Eine Abschiebung sei ferner rechtlich wegen des Rückübernahmeabkommens zwischen Ungarn und der Beklagten (BGBl. II 1999, S. 90) nicht möglich, da ein Antrag auf Übernahme nach Art. 5 des Abkommens nicht gestellt worden sei und nicht mehr gestellt werden könne.
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Für die weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die in elektronischer Form vorgelegte Behördenakte sowie für den Gang der am 22. Oktober 2020 stattgefundenen mündlichen Verhandlung und das Vorbringen der Klägerseite auf die dazu gefertigte Niederschrift verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist zulässig, aber unbegründet und damit abzuweisen. Der streitgegenständliche Bescheid vom 22. November 2019 ist rechtmäßig. Er verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 u. Abs. 5 VwGO), so dass die Klage erfolglos bleibt.
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1. Die Klage ist zulässig.
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a) Das im Jahr 2014 angestrengte Gerichtsverfahren des Klägers vor dem Verwaltungsgericht Ansbach steht einer Entscheidung in der Sache nicht entgegen. Das frühere Klageverfahren wurde durch Beschluss analog § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO ohne inhaltliche Entscheidung eingestellt, nachdem der Bescheid der Beklagten vom 23. Oktober 2014, mit dem erstmals über den Asylantrag des Klägers in der Bundesrepublik Deutschland entschieden worden war, durch das Bundesamt selbst aufgehoben worden war. Eine bestandskräftige Entscheidung in der Sache bzw. ein rechtskräftiges Urteil über den Streitgegenstand liegt damit noch nicht vor.
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b) Die Anfechtungsklage ist grundsätzlich die allein statthafte Klageart gegen Ziffer 1. des angefochtenen Bescheids und seine Folgeentscheidungen. Hinsichtlich der Feststellung von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG für Ungarn ist die Verpflichtungsklage die richtige Klageart. Bei verständiger Würdigung des rechtlich Gemeinten ist der Klageantrag zu 2. aus der Klageschrift vom 29. November 2019, wie er in der mündlichen Verhandlung gestellt worden war, als hilfsweiser Antrag im Falle des Scheiterns des Klageantrags zu 1. und nur bezogen auf das Rückführungszielland Ungarn auszulegen (§ 88 VwGO).
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Die Zulässigkeit der Anfechtungsklage ergibt sich dabei aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Zuge der Änderung des Asylverfahrensgesetzes infolge des Inkrafttretens des Integrationsgesetzes vom 31. Juli 2016 (BGBl. I Nr. 39 v. 5.8.2016). Danach ist die Anfechtungsklage gegen Bescheide, die die Unzulässigkeit eines Asylantrags nach § 29 Abs. 1 AsylG feststellen, die allein statthafte Klageart. Hintergrund hierfür ist der Umstand, dass die Asylanträge in diesen Fällen ohne Prüfung der materiell-rechtlichen Anerkennungsvoraussetzungen, also ohne weitere Sachprüfung, abgelehnt werden. Insoweit kommt auch kein eingeschränkter, auf die Durchführung eines Asylverfahrens beschränkter Verpflichtungsantrag in Betracht (vgl. BVerwG U.v. 1.7.2017 - 1 C 9.17 - NVwZ 2017, 1625; BayVGH U.v. 13.10.2016 - 20 B 14.30212 - juris). Bei einer erfolgreichen Klage führt die isolierte Aufhebung der angefochtenen Regelung zur weiteren Prüfung der Anträge durch die Beklagte und damit zum erstrebten Rechtsschutzziel. Dabei bleibt es auch nach der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, B.v. 13.11.2019 - Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 - NVwZ 2020, 137; zuvor schon angelegt in EuGH, U.v. 19.3.2019 - Ibrahim, C-297/17 u.a. - juris), der lediglich inhaltliche Vorgaben im Hinblick auf den effektiven Rechtsschutz für international Anerkannte im Sinne des Art. 47 GRCh und Art. 46 Verfahrens-RL macht, aber keine prozessualen oder verfahrensrechtlichen Vorgaben, die dem nationalen Recht überlassen sind.
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Hinsichtlich der Feststellung von Abschiebungsverboten in Bezug auf Ungarn gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG ist indes die Verpflichtungsklagen deshalb zulässig, weil das Bundesamt insoweit gemäß § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG bereits eine Sachprüfung durchgeführt hat und deshalb eine gerichtliche Überprüfung möglich ist (vgl. BVerwG U.v. 14.12.2016 - 1 C 4/16 - juris, Rn. 20).
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Die Klage ist fristgerecht erhoben worden. Die in der Rechtsmittelbehrung benannte Frist von zwei Wochen nach § 74 Abs. 1 Halbs. 1 AsylG ist zweifelsohne eingehalten, so dass es nicht darauf ankommt, ob die Rechtsbehelfsbelehrung:unrichtig ist, weil die Wochenfrist nach § 74 Abs. 1 Halbs. 2 AsylG gilt und die Jahresfrist nach § 58 Abs. 2 VwGO in Lauf gesetzt wurde.
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2. Die Klage ist jedoch unbegründet. Das Bundesamt hat den Antrag des Klägers zu Recht als unzulässig gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG abgelehnt und zu Recht die Feststellung, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG in Bezug auf Ungarn nicht vorliegen, getroffen.
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Die Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamtes in Ziffer 1. des Bescheids vom 22. November 2019 ist auch unter Berücksichtigung der europarechtlichen Vorgaben des Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrens-RL 2013/32/EU und der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof (EuGH, B.v. 13.11.2019 - Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 - NVwZ 2020, 137; s.a. schon EuGH, U.v. 19.3.2019 - Ibrahim, C-297/17 u.a. - juris) - dazu nachfolgend (a) - und der in Ungarn für international Anerkannte herrschenden tatsächlichen Verhältnisse - dazu nachfolgend (b) - rechtmäßig (c).
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a) (1) Nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Dies ist für den Kläger der Fall; ihm wurde ausweislich der Mitteilung der ungarischen Behörden auf das Übernahmeersuchen des Bundesamtes im November 2013 in Ungarn am 14. Februar 2013 die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Dieser Status besteht fort, wie die ungarischen Behörden auf das Informationsersuchen des Bundesamtes vom Oktober 2019 mit Schreiben vom 11. November 2019 mitteilten. Auf die Frage, ob Ungarn zur tatsächlichen Übernahme des Klägers unter Berücksichtigung des Übernahmeabkommens zwischen Ungarn und der Beklagten sowie des zwischenzeitlichen Zeitablaufs seit Einreise des Klägers in das Bundesgebiet verpflichtet ist, kommt es rechtlich nicht an, denn jedenfalls lassen solche Vollzugsfragen den rechtlichen Status des Klägers als anerkannt Schutzberechtigter in Ungarn unberührt und wurde seitens Ungarn auch keine Überprüfung dieses Status mit einem für den Kläger negativen Ergebnis vorgenommen.
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(2) Nach Art. 33 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a der Verfahrens-RL dürfen die Mitgliedsstaaten einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig ablehnen, wenn ein anderer Mitgliedsstaat internationalen Schutz gewährt hat. Nach der Entscheidung des EuGH vom 13. November 2019 ist es den Mitgliedsstaaten aber nicht möglich, von der Befugnis des Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrens-RL Gebrauch zu machen und einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen, wenn dem Anerkannten in diesem Land Lebensverhältnisse erwarten, die für ihn eine ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh darstellen (EuGH, B.v. 13.11.2019 - Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 - NVwZ 2020, 137; s.a. schon EuGH, U.v. 19.3.2019 - Ibrahim, C-297/17 u.a. - juris). Nach Art. 52 Abs. 3 GRCh ist insofern auch die zu Art. 3 EMRK ergangene Rechtsprechung des EGMR zu berücksichtigen.
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Zwar ist nach dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens im Unionsrecht, der besagt, dass die Mitgliedsstaaten regelmäßig grundlegende Werte der Union, wie sie etwa in Art. 4 GRCh zum Ausdruck kommen, anerkennen, das sie umsetzende Unionsrecht beachten und auf Ebene des nationalen Rechts einen wirksamen Schutz der in der GRCh anerkannten Grundrechte gewährleisten sowie dies gegenseitig nicht in Frage stellen, grundsätzlich auf eine rechtstaatliche Behandlung von Flüchtlingen im gemeinsamen Rechtsraum auszugehen (EuGH, U.v. 19.3.2019 - Jawo, C-163/17 - juris Rn. 80 ff.; EuGH, U.v. 19.3.2019 - Ibrahim, C-297/17 u.a. - juris Rn. 83 ff.; s.a. Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, Art. 4 GRCh Rn. 3).
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Der Grundsatz gegenseitigen Vertrauens gilt jedoch nicht absolut und unwiderlegbar. Die Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte haben zu überprüfen, ob das Asylsystem in der Praxis eines Staates auf größere Funktionsstörungen stößt, so dass ein ernsthaftes Risiko besteht, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen, bei einer Überstellung in diesen Mitgliedsstaat grundrechtswidrig behandelt werden (EuGH, U.v. 19.3.2019 - Jawo, C-163/17 - juris Rn. 83 ff.; EuGH, U.v. 19.3.2019 - Ibrahim, C-297/17 u.a. - juris Rn. 86 ff.).
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Derartige Funktionsstörungen müssen jedoch eine besonders hohe Schwelle an Erheblichkeit erreichen und den anerkannt Schutzberechtigten tatsächlich einer ernsthaften Gefahr aussetzen, im Zielland eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren, was von sämtlichen Umständen des Falles abhängt (EuGH, B.v. 13.11.2019 - Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 - NVwZ 2020, 137 Rn. 36; EuGH, U.v. 19.3.2019 - Ibrahim, C-297/17 u.a. - juris Rn. 89). Nicht ausreichend für das Erreichen dieser Schwelle ist der bloße Umstand, dass die Lebensverhältnisse im Rückführungsstaat nicht den Bestimmungen des Kapitels VII der Qualifikations-RL 2011/95/EU entsprechen (EuGH, B.v. 13.11.2019 - Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 - NVwZ 2020, 137 Rn. 36). Die Schwelle ist jedoch dann erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedsstaates zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (EuGH, B.v. 13.11.2019 - Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 - NVwZ 2020, 137 Rn. 39; EuGH, U.v. 19.3.2019 - Ibrahim, C-297/17 u.a. - juris Rn. 90). Plakativ formuliert kommt es darauf an, ob der Anerkannte bei zumutbarer Eigeninitiative in der Lage wäre, an „Bett, Brot und Seife“ zu gelangen (VGH BW, B.v. 27.5.2019 - A 4 S 1329/19 - juris Rn. 5). Angesichts dieser strengen Anforderungen überschreitet selbst eine durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichnete Situation nicht die genannte Schwelle, sofern diese nicht mit extremer materieller Not verbunden ist, aufgrund derer sich die betreffende Person in einer solch schwerwiegenden Situation befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (EuGH, B.v. 13.11.2019 - Hamed, Omar, C-540/17, C-541/17 - NVwZ 2020, 137 Rn. 39; EuGH, U.v. 19.3.2019 - Ibrahim, C-297/17 u.a. - juris Rn. 91).
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Daher kann auch der Umstand, dass international Schutzberechtigte in dem Mitgliedsstaat, der sie anerkannt hat, keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedsstaaten nur in deutlich reduziertem Umfang existenzsichernde Leistungen erhalten, ohne dabei anders als die Angehörigen dieses Mitgliedsstaats behandelt zu werden, nur dann zur Feststellung der Gefahr einer Verletzung des Standards des Art. 4 GRCh führen, wenn der Antragsteller sich aufgrund seiner besonderen Verletzbarkeit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not im oben genannten Sinne befände. Dafür genügt nicht, dass in dem Mitgliedsstaat, in dem ein neuer Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, höhere Sozialleistungen gewährt werden oder die Lebensverhältnisse besser sind als in dem Mitgliedsstaat, der bereits internationalen Schutz gewährt hat (EuGH, U.v. 19.3.2019 - Ibrahim, C-297/17 u.a. - juris Rn. 93 f.; EuGH, U.v. 19.3.2019 - Jawo, C-163/17 - juris Rn. 97). Ebenso wenig ist das Fehlen familiärer Solidarität in einem Staat in Vergleich zu einem anderen eine ausreichende Grundlage für die Feststellung extremer materieller Not. Gleiches gilt für Mängel bei der Durchführung von Integrationsprogrammen (EuGH, U.v. 19.3.2019 - Jawo, C-163/17 - juris Rn. 94, 96).
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Bei dem so definierten Maßstab ist weiter zu berücksichtigen, ob es sich bei der betreffenden Person um eine gesunde und arbeitsfähige handelt oder eine Person mit besonderer Verletzbarkeit (Vulnerabilität), die leichter unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten kann (EuGH, U.v. 19.3.2019 - Ibrahim, C-297/17 u.a. - juris Rn. 93; EuGH, U.v. 19.3.2019 - Jawo, C-163/17 - juris Rn. 95; Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 29 AsylG Rn. 26). Damit schließt sich der Europäische Gerichtshof der Tarakhel-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte an (EGMR, U.v. 4.11.2014 - Tarakhel, 29217/12 - NVwZ 2015, 127), die wegen Art. 52 Abs. 3 GRCh auch im Rahmen des Art. 4 GRCh zu berücksichtigen ist.
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Für die demnach zu treffende Prognoseentscheidung, ob dem Antragsteller eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh droht, ist eine tatsächliche Gefahr („real risk“) des Eintritts der maßgeblichen Umstände erforderlich, d.h. es muss eine ausreichend reale, nicht nur auf bloßen Spekulationen gegründete Gefahr bestehen. Die tatsächliche Gefahr einer Art. 4 GRCh zuwiderlaufenden Behandlung muss insoweit aufgrund aller Umstände des Falles hinreichend sicher und darf nicht hypothetisch sein (OVG RhPf, B.v. 17.3.2020 - 7 A 10903/18.OVG - BeckRS 2020, 5694 Rn. 28 unter Verweis auf VGH BW, U.v. 3.11.2017 - A 11 S 1704/17 - juris Rn. 184 ff. m.w.N. zur Rspr. des EGMR). Es gilt der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Die für eine solche Gefahr sprechenden Umstände müssen ein größeres Gewicht als die dagegensprechenden Tatsachen haben (OVG RhPf, a.a.O.; vgl. VGH BW, a.a.O., juris Rn. 187).
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b) Das Gericht geht nach Auswertung der zur Verfügung stehenden und in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel von folgender Lage für in Ungarn anerkannte international Schutzberechtigte aus, die nach ihrer Anerkennung Ungarn verlassen haben und nun wieder zurückgeführt werden sollen:
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In Ungarn anerkannte Schutzberechtigte (anerkannte Flüchtlinge ebenso wie subsidiär Schutzberechtigte) erhalten nach ihrer Anerkennung einen ungarischen Identitätsausweis mit einer Gültigkeit von drei Jahren. Nach Ablauf der drei Jahre findet von Amts wegen eine Regelüberprüfung statt, ob die Gründe für die Anerkennung weiterbestehen oder andere Gründe für eine Rücknahme der Zuerkennungsentscheidung existieren (Asylum Information Database - aida -, Country Report: Hungary Update 2018, S. 102 und 107; Auswärtiges Amt an das Bundesamt vom 5.6.2019). Bei einer Rückführung, die über den Flughafen Budapest erfolgt und von der ungarischen Polizei koordiniert wird, können Personen, die internationalen Schutz genießen, den Flughafen frei verlassen (Auswärtiges Amt an das VG Braunschweig vom 25.4.2018) und sich in Ungarn auch im Weiteren frei bewegen (aida, S. 112). Reisedokumente für den Grenzübertritt in andere Staaten werden international Schutzberechtigten erteilt, wobei die Ausstellung aber auf bürokratische Hindernisse im Zusammenhang mit der Vorlage hierfür notwendiger Dokumente stoßen kann (im Einzelnen aida, S. 112).
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Zurückgeführte Schutzberechtigte sind ab ihrer Ankunft in Ungarn auf sich selbst gestellt. Sie erhalten keine spezielle staatliche Betreuung oder Unterstützung mehr (Liaisonbeamter Ungarn des Bundesamts zur Anfrage an das Auswärtiges Amt vom 2.8.2018), sie erhalten jedoch die gleichen sozialen Leistungen wie sie ungarischen Staatsangehörigen gewährt werden (Auswärtiges Amt, Anfragebeantwortungen an das VG Braunschweig vom 25.4.2018 und an das VG Trier vom 29.5.2018; aida, S. 117). Aufgrund von Sprachschwierigkeiten und bürokratischer Hürden sind international Schutzberechtigte dabei oftmals Problemen ausgesetzt (aida, S. 113, 115, 117). Die im Jahr 2013 eingeführte Möglichkeit einer Integrationsvereinbarung besteht infolge von Gesetzesänderungen im April und Juni 2016 - anders als das Bundesamt dies in seinem Bescheid zugrunde legt - nicht mehr (aida, S. 113). Auch spezielle Integrationsmaßnahmen wie Sprachkurse werden anerkannt Schutzberechtigten staatlicherseits nicht mehr angeboten. Eine kostenlose staatliche Unterbringung von Schutzberechtigten ist nur noch innerhalb der ersten 30 Tage nach der Anerkennungsentscheidung möglich (aida, S. 113). Für die Vermittlung von Sozialwohnungen ist teilweise ein längerer Aufenthalt im entsprechenden Kommunalbezirk Voraussetzung (Auswärtiges Amt an das VG Braunschweig vom 25.4.2018), sodass Rückkehrer auf Schwierigkeiten stoßen. Für die Vermittlung von Wohnungen an Obdachlose sind die Kommunalverwaltungen zuständig. In Budapest, wo sich die meisten Flüchtlinge aufhalten, ist die Budapest Methodological Centre of Social Policy and Its Institutions - BMSZKI -, offenbar eine kommunale Einrichtung mit Unterstützung von weiteren Trägern wie Caritas und ERASMUS (https://www.bmszki.hu), bei der Unterbringung von Obdachlosen tätig.
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Das ungarische Sozialsystem gewährt grundsätzlich Versicherungsschutz für Krankheit, Mutterschutz, Alter, Invalidität, Berufskrankheiten und -unfälle, Hinterbliebene, Kindererziehung und Arbeitslosigkeit. Der Bezug von Sozialhilfe setzt jedoch voraus, dass zuvor eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit mindestens ein Jahr lang ausgeübt worden ist (Auswärtiges Amt an das VG Schleswig vom 14.2.2020). Die Sozialhilfe betrug im Jahr 2018 dabei ca. 30% des Existenzminimums (Auswärtiges Amt an das VG Braunschweig vom 25.4.2018). Kinder erhalten Hilfe in Form von Kindergeld, Eingliederungshilfen in der Schule und dort bei Bedarf kostenlose Schulverpflegung und Schulmaterialien (Auswärtiges Amt an das VG Braunschweig vom 25.4.2018). Die Schulen sind zur adäquaten Unterstützung der Flüchtlingskinder tatsächlich jedoch kaum in der Lage (aida, S. 116).
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Sozialhilfeberechtigte und Arbeitssuchende sind gesetzlich krankenversichert. Bei Bedürftigkeit besteht ein kostenloser Krankenversicherungsschutz auch für andere Personengruppen, auch international Schutzberechtigte (Auswärtiges Amt an das Bundesamt vom 5.6.2019). Nach den ungarischen Gesetzen hat jeder Patient in dringenden Fällen darüber hinaus das Recht auf eine lebensrettende Versorgung und auf Vorbeugung gegen schwere oder bleibende gesundheitliche Schäden, wobei eine Notfallversorgung gegebenenfalls auch ohne Feststellung der Identität erfolgt (Auswärtiges Amt an das Bundesamt vom 5.6.2019). Die staatliche Grundversorgung für Asylbewerber steht Anerkannten nur bis sechs Monate nach der Zuerkennung eines Schutzstatus zu (aida, S. 118, Auswärtiges Amt an das Bundesamt vom 5.6.2019).
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Der Arbeitsmarkt steht Schutzberechtigten, bis auf einige Berufe, die ungarischen Staatsangehörigen vorbehalten sind, offen (aida, S. 115). Anerkannte Schutzberechtigten, die sich um eine Beschäftigung bemühen, haben aufgrund des Arbeitskräftemangels in Ungarn große Chancen und es relativ leicht, eine Anstellung zu finden (Auswärtiges Amt an das VG Braunschweig vom 25.4.2018 und an das VG Greifswald vom 20.4.2020, Länderinformationsblatt Ungarn, Stand 9.3.2020, S. 20). Der ungarische Arbeitsmarkt ist - auch für ungelernte Kräfte - sehr aufnahmefähig (Auswärtiges Amt an das VG Greifswald vom 20.4.2020). Es herrscht in Ungarn Vollbeschäftigung mit einer Arbeitslosenquote von lediglich 3,5%. Arbeitgeber stellen in der Regel über dem Mindestlohn ein und leisten teils auch Integrationshilfen (Auswärtiges Amt an das VG Braunschweig vom 25.4.2018). Nach Einschätzung von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) können ungelernte Arbeitskräfte ein monatliches Einkommen von rund 180.000 bis 200.000 HUF erzielen. Das Existenzminimum liegt nach Angaben des Ungarischen Zentralen Amts für Statistik für eine Familie mit zwei Kindern bei rund 275.000 HUF (Auswärtiges Amt an das VG Greifswald vom 20.4.2020). Hauptschwierigkeit beim Finden einer Arbeitsstelle sind für Schutzberechtigte die fehlenden Sprachkenntnisse und ein mangelndes Wissen über die rechtlichen Möglichkeiten (Länderinformationsblatt Ungarn, S. 20).
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Die fehlenden staatlichen Integrationsleistungen und Lücken im Sozialsystem schließen zahlreiche NGOs und kirchliche Träger, insbesondere die Organisationen Menedek (https://mene-dek.hu) und Kalunba, die Diakonie (http://diakoweb.webnode.hu), Malteser und in Budapest BMSZKI (https://www.bmszki.hu). Sie unterstützen anerkannt Schutzberechtigte in zahlreichen Bereichen (Länderinformationsblatt Ungarn. S.19). Sie helfen insbesondere bei der Vermittlung von Unterkünften und der sozialen Integration. Sie unterstützen zurückkehrende Schutzberechtigte in allen Bereichen des täglichen Lebens und bei der Integration in der Regel bis zu einem Jahr (Auswärtiges Amt an das VG Greifswald vom 20.4.2020). Sie bieten auch Hilfen direkt bei der Ankunft aus dem Ausland an, vermitteln Sprachkurse und andere Bildungsangebote wie Job-Trainings, bieten diese zum Teil auch selbst an und kümmern sich auch um vulnerable Personen (Auswärtiges Amt an das VG Braunschweig vom 25.4.2018; aida, S. 115/116). Rückkehrer können bis zu einem Jahr, auch kurzfristig, in von diesen Organisationen angemieteten Wohnungen untergebracht werden. Entsprechende Vermittlungen von Hilfsorganisationen waren in der Vergangenheit mehrfach erfolgreich (Auswärtiges Amt an das VG Braunschweig vom 25.4.2018). In Budapest bietet insbesondere BMSZKI Obdachlosenunterkünfte unterschiedlicher Art und Bedürfnisse an, die auch Schutzberechtigten offenstehen (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Ungarn, S. 19). Mit den Organisationen kann dabei bereits vor der Rücküberstellung vom Ausland aus Kontakt aufgenommen werden. Sie informieren auf ihren Internetseiten nicht nur in ungarischer, sondern auch in englischer, zum Teil zusätzlich in deutscher Sprache über ihre Leistungen und Möglichkeiten. Wie sich aktuellen Auftritten im Internet entnehmen lässt, sind diese Hilfsorganisationen weiter im Bereich der Unterstützung von anerkannten Migranten tätig. Sie werden zwar nicht mehr mit staatlichen Mitteln aus Ungarn und seit 2019 auch nicht durch das European Asylum, Migration and Integration Fund-Programm (AMIF-Programm) mitfinanziert, existieren aber unverändert fort, sind weiter tätig und finanzieren sich nach deren Darlegungen aus privaten Geldern. Soweit NGOs anerkannte Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte unterstützen, sind sie auch nicht von der ungarischen Gesetzgebung von Juni 2018 betroffen, die die Unterstützung von Flucht und Migration mit - insbesondere strafrechtlichen - Konsequenzen belegt. Lediglich die Gruppierung Migszol (http://www.migszol.com), die es sich vorwiegend zur Aufgabe gemacht hatte, Asylbewerber politisch zu unterstützen, hat - wie sich deren Internetauftritt entnehmen lässt - angesichts der politischen und rechtlichen Lage in Ungarn ihre Aktivitäten im ersten Halbjahr 2018 eingestellt.
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c) Den vorangestellten rechtlichen Maßstab sowie die tatsächliche Lage in Ungarn zugrunde gelegt, erweist sich der Antrag des Klägers auf Gewährung internationalen Schutzes in der Bundesrepublik Deutschland im Zeitpunkt des Schlusses der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG) nicht als zulässig und der Unzulässigkeitsbescheid der Beklagten als rechtlich zutreffend.
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(1) Nach dem anzuwendenden Rechtsmaßstab und den dargestellten tatsächlichen Verhältnissen steht nach der Ansicht des erkennenden Gerichts der Rückführung international Schutzberechtigter nach Ungarn grundsätzlich kein rechtliches Hindernis entgegen (s. bereits VG Ansbach für Familien mit minderjährigen Kindern, U.v. 12.9.20219 - AN 17 K 18.50204 und U.v. 5.3.2020 AN 17 K 18.50059/17 K 18.50411 - jeweils juris, ebenso VG Cottbus, U.v. 9.1.2020 - 5 K 1960/18.A - juris, VG Berlin, B.v. 29.1.2020 - 33 L 1/20A - juris, a.A. für Familien mit Kindern, aber zum Teil ohne Berücksichtigung neuer Erkenntnismittel etwa VG Augsburg, U.v. 20.5.2020 - Au 5 K 20.20088 - juris, OVG Saarlouis, B.v. 12.3.2018 - juris). Mit der Situation von Asylbewerbern in Ungarn, die nach weitgehend übereinstimmender verwaltungsgerichtlicher Rechtsprechung aufgrund der dort zu erwartenden haftähnlichen Unterbringungen und der erheblichen Defizite im Asylverfahren, nicht zurückgeführt werden können, sondern systemische Mängel angenommen werden (vgl. etwa BayVGH, U.v. 23.3.2017 - 13a B 17.50003 u. B.v. 23.1.2018 - 20 B 16.50073, jeweils juris), ist die Situation von dort Anerkannten gerade nicht vergleichbar. Die Mängel des ungarischen Asylverfahrens treffen die dort bereits Anerkannten nicht mehr.
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(2) Bei dem Kläger handelt es sich um einen jungen Erwachsenen, nach Auffassung der Kammer arbeitsfähigen und nicht an einer lebensbedrohlichen Erkrankung leidenden Mann und damit nicht um eine vulnerable Person. Dass der Kläger gesundheitliche Einschränkungen aufweist, dabei insbesondere in die Betrachtung einzustellen an einem angeborenen Diabetes erkrankt ist, verkennt die Kammer nicht. Unter Berücksichtigung der vorgelegten Atteste des „…“ ist jedoch nicht im Ansatz erkennbar, dass es sich um eine entgleiste Form der Erkrankung handelt, die für den Kläger schwerwiegende Beeinträchtigungen in der Bewältigung seines Lebensalltages mit sich bringt. Ein Diabetes ist im Allgemeinen vielmehr in Europa zwischenzeitlich als „Volkskrankheit“ einzustufen und gut behandelbar (vgl. bspw. https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/volkskrankheit-diabetes-484206). Dass die Erkrankung beim Kläger Besonderheiten aufweist oder bereits zu Folgeerkrankungen geführt hat, die ihrerseits als schwerwiegend einzustufen sind, ist dem Vortrag und insbesondere den vorgelegten Attesten gerade nicht zu entnehmen. Insoweit bedurfte es auch keiner weiteren Sachaufklärung des Gerichts zur Gesundheitssituation des Klägers. Die Kammer ist vielmehr davon überzeugt, dass allein aufgrund der Erkrankungen des Klägers diesem noch nicht das Merkmal einer besonderen Schutzbedürftigkeit zuzusprechen ist. Dagegen spricht insbesondere auch, dass es der Kläger trotz der bereits bestehenden Erkrankung in Ungarn geschafft hat, über einen Zeitraum von über einem Jahr, darunter gut einen Monat ohne Obdach, seine allgemeinen Lebensbedürfnisse zu befriedigen, ohne gesundheitlich bleibende Beeinträchtigung in dieser Zeit erlitten zu haben. Dem Kläger droht daher bei einer Rückkehr nach Ungarn angesichts der dortigen allgemeinen Lage für Rückkehrer nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine erniedrigende und unmenschliche Behandlung.
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Dem Kläger ist nach Auffassung des Gerichts eine besondere Verletzlichkeit auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Mitbetrachtung der Kernfamilie des Klägers bei zugrunde zu legenden gemeinsamen Rückkehrwillen aller Familienmitglieder nach Ungarn zuzusprechen (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 45.18 - juris). Zur Kernfamilie gehören dabei jedenfalls die minderjährigen leiblichen Kinder des Klägers. Gegen die Annahme eines gemeinsamen Rückkehrwillens der Kernfamilie spricht im Regelfall auch nicht der Umstand, dass einem Mitglied der Kernfamilie bereits Schutz und ein Bleiberecht in der Bundesrepublik Deutschland zuerkannt worden ist. Insoweit verkennt die Kammer nicht, dass eine solche Situation im Falle der Lebensgefährtin des Klägers und seiner Kinder zumindest denkbar ist, da einerseits das Klageverfahren der Lebensgefährtin des Klägers Erfolg hatte und zum anderen derzeit noch nicht abzuschätzen ist, welchen Fortgang das Asylverfahren für das im Jahr 2020 geborene Kind des Klägers und seiner Lebensgefährtin nehmen wird. Gleichwohl sprechen Umstände gegen die Annahme eines gemeinsamen Rückkehrwillens. Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Urteil vom 4. Juli 2019 dabei Folgendes ausgeführt:
„Lebt der Ausländer auch in Deutschland in familiärer Gemeinschaft mit der Kernfamilie, ist hiernach für die Bildung der Verfolgungsprognose der hypothetische Aufenthalt des Ausländers im Herkunftsland in Gemeinschaft mit den weiteren Mitgliedern dieser Kernfamilie zu unterstellen (BVerwG, Urteil vom 16. August 1993 - 9 C 7.93 - Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 163 S. 391 f.). Art. 6 GG gewährt zwar keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt (BVerfG, Beschluss vom 5. Juni 2013 - 2 BvR 586/13 - NVwZ 2013, 1207 <1208>), enthält aber als wertentscheidende Grundsatznorm, dass der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, und gebietet die Berücksichtigung bestehender familiärer Bindungen bei staatlichen Maßnahmen der Aufenthaltsbeendigung. Bereits für die Bestimmung der voraussichtlichen Rückkehrsituation ist daher im Grundsatz davon auszugehen, dass ein nach Art. 6 GG/Art. 8 EMRK besonders schutzwürdiger Familienverband aus Eltern mit ihren minderjährigen Kindern nicht aufgelöst oder gar durch staatliche Maßnahmen zwangsweise getrennt wird. Die Mitglieder eines solchen Familienverbandes werden im Regelfall auch tatsächlich bestrebt sein, ihr - grundrechtlich geschütztes - familiäres Zusammenleben in einem Schutz- und Beistandsverband entweder im Bundesgebiet oder im Herkunftsland fortzusetzen.
Diese Regelvermutung gemeinsamer Rückkehr als Grundlage der Verfolgungsprognose setzt eine familiäre Gemeinschaft voraus, die zwischen den Eltern und ihren minderjährigen Kindern (Kernfamilie) bereits im Bundesgebiet tatsächlich als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft (fort-)besteht und infolgedessen die Prognose rechtfertigt, sie werde bei einer Rückkehr in das Herkunftsland dort fortgesetzt werden. Für eine in diesem Sinne „gelebte“ Kernfamilie reichen allein rechtliche Beziehungen, ein gemeinsames Sorgerecht oder eine reine Begegnungsgemeinschaft nicht aus. Maßgeblich ist für die typisierende Betrachtung im Rahmen der Rückkehrprognose nicht der - nicht auf Kernfamilien beschränkte - Schutzbereich des Art. 6 GG (dazu Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 15. Aufl. 2018, Art. 6 Rn. 10) bzw. des Art. 8 EMRK. Bestehende, von familiärer Verbundenheit geprägte enge Bindungen jenseits der Kernfamilie mögen ebenfalls durch nach Art. 6 GG schutzwürdige besondere Zuneigung und Nähe, familiäre Verantwortlichkeit füreinander, Rücksichtnahme- und Beistandsbereitschaft geprägt sein (BVerfG, Beschluss vom 24. Juni 2014 - 1 BvR 2926/13 - BVerfGE 136, 383 Rn. 22 f.); sie rechtfertigen für sich allein aber nicht die typisierende Regelvermutung gemeinsamer Rückkehr als Grundlage der Verfolgungsprognose.
1.3.2 Eine im Regelfall gemeinsame Rückkehr im Familienverband ist der Gefährdungsprognose auch dann zugrunde zu legen, wenn einzelnen Mitgliedern der Kernfamilie bereits bestandskräftig ein Schutzstatus zuerkannt oder für diese ein nationales Abschiebungsverbot festgestellt worden ist (…).
1.3.3 Nicht zu vertiefen ist aus Anlass des vorliegenden Falles, unter welchen Voraussetzungen der an den Fortbestand der familiären Lebensgemeinschaft geknüpfte Regelfall einer gemeinsamen Rückkehr im Familienverband nicht (mehr) vorliegt. Dies kommt insbesondere dann in Betracht, wenn - unter Beachtung der hierzu in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts entwickelten Grundsätze (dazu eingehend Welte, Der Familienschutz im Spektrum des Ausländerrechts, 2012, S. 309 ff., passim; Hoppe, ZAR 2008, 251; Tanneberger, in: BeckOK Ausländerrecht, Stand Mai 2019, § 55 AufenthG Rn. 12 ff.; für die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung s.a. Kluth/Breidenbach, in: BeckOK Ausländerrecht, Stand Mai 2019, § 60a AufenthG Rn. 15 ff.) - der Konventions- und Grundrechtsschutz familiärer Bindungen etwa aus Gründen der öffentlichen Sicherheit zurückzutreten hat und eine zur Trennung des Familienverbandes führende Abschiebung rechtlich zulässig wäre. Näherer Betrachtung mögen bei tatsachengestütztem Missbrauchsverdacht auch Fälle bedürfen, in denen die familiäre Lebensgemeinschaft nicht schon im Herkunftsland bestanden hat, sondern erst nach der Einreise begründet worden ist, oder es sich nicht um leibliche Kinder zumindest eines der Ehegatten handelt.“
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Unter Berücksichtigung dieser Ausführungen ist erkennbar, dass mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die Regelvermutung eines gemeinsamen Rückkehrwillens im Einzelfall durchbrochen werden kann, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dies rechtfertigen. Eine weitergehende Konkretisierung dieser Möglichkeit hat das Bundesverwaltungsgericht nicht vorgenommen. Dass der vom Bundesverwaltungsgericht angesprochene Missbrauchsverdachtsfall im Fall des Klägers vorliegt, kann die Kammer nicht erkennen. Jedoch rechtfertigen es die persönlichen Umstände gerade auch der Lebensgefährtin des Klägers, davon auszugehen, dass eine gemeinsame Rückkehr der Lebensgefährtin und damit auch der Kinder mit dem Kläger nach Ungarn fernliegend ist. Die Lebensgefährtin des Klägers ist schon einmal ohne den Kläger und im schwangeren Zustand allein weitergereist, insbesondere, weil sie sich davon eine bessere gesundheitliche Versorgung für sich und ihr damals noch ungeborenes Kind versprach. Aktuell ist die Lebensgefährtin wieder Mutter eines Kindes, das noch als besonders betreuungsbedürftig einzustufen ist, wenngleich das Kind gesund ist und daher keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass das Kind einen über das Maß des Üblichen hinausgehenden besonderen medizinischen Betreuungsbedarf hat. Die Lebensgefährtin befindet sich gegenüber dem Kläger in einem deutlich schlechteren gesundheitlichen (psychisch belasteten) Zustand und bedarf nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme in der mündlichen Verhandlung einer kontinuierlichen fachärztlichen Behandlung und Betreuung. Halt sucht die Lebensgefährtin des Klägers dabei auch in schulischen und beruflichen Integrationsleistungen, die sie unter Zugrundelegung der von ihr zur Bundesamtsakte gereichten Zeugnisse mit sehr guten Ergebnissen meistert. Die Lebensgefährtin des Klägers hatte darüber hinaus gegenüber ihrer behandelnden Ärztin Frau Dr. … ausweislich eines ärztlichen Attestes vom … 2018 folgendes angegeben:
„Ihren jetzt *-jährigen Sohn hat sie von einem gleichaltrigen Äthiopier, den sie im Auffanglager kennenlernte und mit dem sie seit nunmehr fast 5 J. in einer sehr konfliktbelasteten Partnerschaft zusammenlebt.“
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Die Gesamtschau dieser Umstände belegt trotz einer bestehenden Kernfamilie, dass die Lebensgefährtin des Klägers und ihre Kinder bei einer ihnen zukommenden deutlich günstigeren Bleibeprognose ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland nicht ohne Not aufgeben werden. Bei einer lebensnahen Betrachtung wird die Lebensgefährtin für sich und ihre Kinder mit einer höheren Wahrscheinlichkeit zunächst in Deutschland bleiben und dem Kläger allenfalls nach Ungarn nachfolgen, wenn dieser dort eine Wohnung und Arbeit gefunden und eine günstigere Integrationsbasis aufgebaut hat als dies anfänglich der Fall sein wird. Dafür spricht auch die Aussage der Lebensgefährtin des Klägers in der mündlichen Verhandlung, sie befürchte im Falle einer Rückkehr nach Ungarn eine Verschlechterung ihrer Hilfssituation in Bezug auf ihre Krankheitsbilder, was eine (nachvollziehbare und glaubhafte) Sorge um ihre eigene Gesundheitssituation ausdrückt. Dass die Lebensgefährtin des Klägers mit diesem gerade ob dieser Umstände auch nach Ungarn in eine noch ungewisse Zukunft zurückkehren wird, ist jedenfalls prognostisch weniger wahrscheinlich als der Fall des Verbleibens der Lebensgefährtin und der Kinder im Bundesgebiet.
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Eine Rückkehr nach Ungarn ist damit konkret auch dem Kläger als nicht vulnerable Person zumutbar. Er hat nach eigener Aussage in der mündlichen Verhandlung in Deutschland eine Lehre als Metallbauer abgeschlossen. Aufgrund des aufnahmefähigen ungarischen Arbeitsmarktes kann davon ausgegangen werden, dass er prognostisch - jedenfalls mittelfristig - in der Lage sein wird, die zum Lebensunterhalt und zum Wohnen erforderlichen Einkünfte selbst zu erwirtschaften. Dem Kläger ist dabei grundsätzliche eine Arbeitsaufnahme möglich und zumutbar. Kurzfristig und zur Überbrückung einer Anfangszeit kann er auf die Unterstützung der o.g. Hilfsorganisationen und kommunalen Einrichtungen zurückgreifen. Aufgrund der effektiven Arbeit der Hilfsorganisationen ist nicht ernsthaft zu befürchten, dass der Kläger ohne „Bett, Brot und Seife“ dastehen wird. Eine Kontaktaufnahme zu den Organisationen ist bereits von Deutschland aus möglich. Eine Unterstützung erfolgt insbesondere bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, dem Erlernen der ungarischen Sprache, bei organisatorischen und bürokratischen Problemen, z.B. bei Antragstellungen auf Sozialleistungen bei den ungarischen Behörden, außerdem sind finanzielle Unterstützungen zur Überbrückung bis zu einer Arbeitsaufnahme möglich. Da es sich bei dem Kläger nicht um eine vulnerable Person handelt, ist ihm vorübergehend auch eine Obdachlosenunterkunft zumutbar, die er mit ausreichender Wahrscheinlichkeit erhalten wird. Überdies spricht der Kläger neben seiner Muttersprache auch Deutsch und Englisch, was seine Kommunikationsmöglichkeiten allgemein verbessert.
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Angesichts der relativ geringen Anzahl von anerkannt Schutzberechtigten in Ungarn ist - bei entsprechender Eigeninitiative - auch hinreichend sicher, dass dem Kläger von den Hilfsorganisationen tatsächlich Hilfe zu Teil wird und dies nicht nur eine theoretische Möglichkeit bleibt. Durch die Integrationshilfe von Seiten der NGOs wird der Kläger auch in die Lage versetzt, seinen Alltag in Ungarn auf Dauer selbst zu bestreiten, das Leben dort in sprachlicher und organisatorischer Hinsicht zu meistern, so dass ihm prognostisch auch auf Dauer keine Verelendung droht.
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3. Die Ablehnung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 des AufenthG in Ziffer 2. des Bescheids vom 22. November 2019 erweist sich ebenfalls als rechtmäßig.
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Hinsichtlich § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK stellen sich inhaltlich die gleichen rechtlichen Fragen. Ein Anspruch auf Zuerkennung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ergibt sich aus der allgemeinen Lage für international Schutzberechtigte in Ungarn für den Kläger nicht. Auf die vorstehenden Ausführungen wir insoweit verwiesen.
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Ferner kann der Kläger kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG mit Erfolg geltend machen. Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für ihn eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Die Norm setzt voraus, dass der Ausländer bei einer Rückkehr mit hoher - und nicht nur beachtlicher - Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage hinsichtlich der genannten Rechtsgüter ausgesetzt wäre (BVerwG, U.v. 8.8.2018 - 1 B 25/18 - NVwZ 2019, 61 Rn. 13). Er müsste „gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert“ sein. Nur dann gebieten es die Grundrechte der Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 1 Abs. 1 GG trotz fehlender politischer Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren (BayVGH, U.v. 8.11.2018 - 13a B 17.31960 - juris Rn. 60).
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Unter Berücksichtigung dieses strengen Maßstabs steht dem Kläger kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu. Er hat zwar individuelle Umstände gesundheitlicher Art vorgetragen, jedoch sieht die Kammer die Tatbestandsvoraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 2 i.V.m. § 60a Abs. 2c Sätze 2 u. 3 AufenthG nicht als erfüllt an. Die vorgelegten Atteste zur Diabetes-Erkrankung des Klägers belegen gerade keinen Gesundheitszustand, der lebensbedrohlich oder als schwerwiegend im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG zu qualifizieren ist und der sich durch die Rückführung nach Ungarn wesentlich verschlimmern würde. Wie bereits unter 2. dieser Entscheidungsgründe dargestellt, kommt der Kläger auch in Ungarn in den Genuss medizinischer Versorgung und insbesondere einer Notfallversorgung, wobei es sich bei der Behandlung von Diabetes nicht um eine Therapieform hoch spezialisierter Art handelt, die nur in wenigen Staaten durchgeführt werden kann. Vielmehr handelt es sich bei der Behandlung von Diabetes-Erkrankten um einen Standardfall der inneren Medizin, der zumeist hausärztlich begleitet wird (vgl. „Schwerpunkt Diabetiker-Versorgung - Zum Hausarzt? Oder doch zum Diabetologen?“, abrufbar unter: www.diabetes-online.de, Stand: 26.5.2017). Eine grundständige medizinische Versorgung ist auch in Ungarn gewährleistet.
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Ein Abschiebungshindernis ergibt sich auch nicht aus dem Infektionsgeschehen im Zusammenhang mit SARS-CoV-2-Virus. Insoweit besteht keine ein Abschiebungsverbot begründende Ansteckungswahrscheinlichkeit und auch im Fall einer Ansteckung keine allgemeine Lebens- oder erhebliche Gesundheitsgefahr. Im Übrigen liegt insoweit eine Allgemeingefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG vor, die ein Abschiebungsverbot grundsätzlich nicht begründet.
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Schließlich begründet auch der Umstand, dass Mitglieder der Kernfamilie des Klägers voraussichtlich in Deutschland verbleiben, kein im hiesigen Verfahren zu berücksichtigendes Abschiebungsverbot. Hierbei handelt es sich um ein rein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis, das ggf. durch die Ausländerbehörde, nicht aber durch das Bundesamt zu berücksichtigen ist (vgl. auch: BeckOK MigR/Röder, 6. Ed. 1.10.2020, AufenthG § 60a Rn. 59 ff.).
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4. Weiter begegnet auch die Abschiebungsandrohung unter Ziffer 3. des klagegegenständlichen Bescheids keinen Bedenken. Die gesetzte Ausreisefrist von einer Woche nach Bekanntgabe des Bescheids entspricht § 36 Abs. 1 AsylG. Da die Beklagte unter Ziffer 5. des Bescheids zugleich die Vollziehung der Abschiebungsandrohung ausgesetzt hat, kommt es auf die Frage, ob die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in der Sache „Gnandi“ (EuGH, U.v. 19.6.2018 - C-181/16 - ZAR 2018, 359) auf Fälle der vorliegenden Art überhaupt Anwendung findet, nicht an. Der Kläger hat mit seiner zulässigen Anfechtungsklage den Eintritt der Bestandskraft der Abschiebungsandrohung einstweilen verhindert, so dass ihm die volle Frist zur freiwilligen Ausreise nach Eintritt der Rechtskraft dieses Urteils noch zugutekommt.
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5. Rechtmäßig ist auch die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbote in Ziffer 4., die nunmehr aufgrund der Änderung des § 11 AufenthG als Anordnung von Einreise- und Aufenthaltsverboten mit Befristung der Wiedereinreisesperre auszulegen ist (vgl. BVerwG, B.v. 13.7.2017 - 1 VR 3.17 - juris Rn. 72; s. auch BVerwG, U.v. 21.8.2018 - 1 C 21/17 - NVwZ 2019, 483 Rn. 25). Die Befristung ist nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG eine Ermessensentscheidung. Das Gericht prüft die Festsetzung in zeitlicher Hinsicht damit nur auf Ermessensfehler (§ 114 Satz 1 VwGO), die hier nicht ersichtlich sind.
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6. Die Kostenentscheidung der damit vollumfänglich abzuweisenden Klage beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.