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VG München, Gerichtsbescheid v. 08.09.2020 – M 11 K 20.50050
Titel:

Erfolgreiche Asylklage wegen Ablaufs der Überstellungsfrist

Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1a
Dublin III-VO § 29 Abs. 2
VwGO § 80 Abs. 4
Leitsatz:
Die im nationalen Recht vorgesehene Aussetzungsentscheidung nach der VwGO kann nicht die Aussetzung der Überstellungsfrist nach der Dublin III-VO bewirken. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Dublin-Überstellung (Italien), Ablauf der Überstellungsfrist trotz behördlicher „Corona-Aussetzung“, Asylverfahren, Überstellung, Italien, behördliche Aussetzungsentscheidung, Aussetzungsgrund, verfahrensrelevante Überstellungshindernisse
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 24.11.2020 – 9 ZB 20.50022
Fundstelle:
BeckRS 2020, 36208

Tenor

II. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 9. Januar 2020 wird aufgehoben.
III. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
IV. Die Entscheidung ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger, nach eigenen Angaben Staatsangehöriger Sierra Leones, reiste nach seinen Angaben am 20. Oktober 2019 in das Bundesgebiet ein und äußerte ein Asylgesuch, von dem das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 21. Oktober 2019 schriftlich Kenntnis erlangte.
2
Eine Eurodac-Abfrage am 21. Oktober 2019 ergab einen Eurodac-Treffer der „Kategorie 1“, wonach der Kläger am 26. September 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz in Italien gestellt hat.
3
Bei seiner Befragung durch die Regierung von Oberbayern (Zentrale Ausländerbehörde Oberbayern) am 5. November 2019 gab der Kläger an, dass er über Italien und Frankreich (Transit) nach Deutschland gereist sei. In Italien habe er sich nach seiner Ankunft ca. 2 Jahre aufgehalten und einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt, der abgelehnt worden sei. Nach 6 Monaten in einem Camp auf Sardinien habe er dieses verlassen müssen und dann in Napoli auf der Straße gelebt.
4
Eine Befragung oder Anhörung des Klägers durch das Bundesamt fand nicht statt. In der Akte finden sich zwei Aufforderungen zur Asylantragstellung für den 20. November 2019 und den 15. Januar 2020 sowie eine Ladung zur Aktenanlage für den 7. Januar 2020.
5
Das Bundesamt richtete am 10. Dezember 2019 ein Wiederaufnahmegesuch nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. b) der VO (EU) Nr. 604/2013 an Italien, dem die italienischen Behörden mit Schreiben vom 23. Dezember 2019 unter Bezugnahme auf Art. 18 Abs. 1 Buchst. d) der VO (EU) Nr. 604/2013 zustimmten.
6
Mit Bescheid vom 9. Januar 2020, zur Post gegeben am 15. Januar 2020, lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorliegen (Nr. 2), ordnete die Abschiebung nach Italien an (Nr. 3). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz wurde angeordnet und auf 15 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4). Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen.
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Mit Schreiben vom … Januar 2020 (Bl. 86 d.BA) bat der Kläger um einen neuen Termin zur Aktenanlage.
8
Am … Januar 2020 hat der Kläger zur Niederschrift beim Verwaltungsgericht München Klage gegen den Bescheid erhoben und beantragt,
9
den Bescheid des Bundesamts vom 9. Januar 2020 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz bestehen.
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Zur Begründung nahm der Kläger auf seine Angaben gegenüber dem Bundesamt Bezug und führte ergänzend aus, dass die Lebensverhältnisse in Italien sehr schlecht seien.
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Ein von dem Kläger zugleich gestellter Eilantrag wurde mit Beschluss vom 19. Februar 2020 (M 11 S 20.50051) abgelehnt.
12
Mit Schreiben vom 15. April 2020 teilte das Bundesamt mit, dass die Vollziehung der Abschiebungsanordnung gemäß § 80 Abs. 4 VwGO i.V.m. Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO ausgesetzt werde. In Hinblick auf die Entwicklung der Corona-Krise seien derzeit Dublin-Überstellungen nicht zu vertreten. Daher setze das Bundesamt „bis auf weiteres“ Dublin-Überstellungen aus. Die zeitweise Aussetzung des Überstellungsverfahrens impliziere nicht, dass der zuständige Dublin-Staat nicht mehr zur Übernahme bereit und verpflichtet sei. Vielmehr sei der Vollzug vorübergehend nicht möglich. Die abgegebene Erklärung gelte unter dem Vorbehalt des Widerrufs.
13
Mit Schreiben vom 31. Juli 2020 teilte das Bundesamt weiter mit, dass es gegenüber der Klägerseite den Widerruf der Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung gemäß § 80 Abs. 4 VwGO in Verbindung mit Art. 27 Abs. 4 Dublin IIIVO erkläre. In Hinblick auf die Entwicklung der Corona-Krise seien Dublin-Überstellungen nach Italien wieder zu vertreten. Die Reisebeschränkungen nach Italien zur Eindämmung des Covid-19 Virus seien weitestgehend aufgehoben. Die Ausbreitung des Virus habe eingedämmt werden können. Der Grund für die Aussetzungserklärung sei somit weggefallen. Daher nehme das Bundesamt Dublin-Überstellungen wieder auf. Die Rahmenbedingungen der Überstellungen seien an die geänderten Hygienebestimmungen angepasst worden. Die Ausländerbehörde werde über den Widerruf der Aussetzung informiert. Weiter legte das Bundesamt eine Mitteilung vom 29. Juli 2020 vor, mit denen die italienischen Behörden informiert wurden, dass die Aussetzung gemäß Art. 27 Abs. 4 zum 29. Juli 2020 widerrufen worden und neues Fristende der 29. Januar 2021 sei.
14
Das Gericht hat die Beteiligten mit Schreiben vom 27. August 2020 zur Entscheidung durch Gerichtsbescheid angehört.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakten in diesem Verfahren sowie im Verfahren M 11 S 20.50051 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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1. Über die Klage kann gemäß § 84 Abs. 1 VwGO ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entschieden werden, da die Streitsache keine besondere Schwierigkeit tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beklagte mit Schreiben vom 31. August 2020 auf mündliche Verhandlung verzichtet. Seitens des Klägers erfolgte keine Äußerung.
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2. Die Klage ist im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung (§ 77 AsylG) zulässig und auch begründet.
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2.1 Gegen den streitgegenständlichen Dublin-Bescheid ist die Anfechtungsklage statthaft (vgl. BVerwG, U.v. 27.10.2015 - 1 C 32/14 - juris). Auch ein etwaiger Ablauf der Überstellungsfrist führt nicht dazu, dass der Bescheid seine Regelungsfunktion und damit seine rechtliche Wirkung verlieren und in der Folge das Rechtsschutzbedürfnis für eine Anfechtungsklage entfallen würde (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2016 - 1 C 24.15 - juris). Soweit seitens der Rechtsantragsstelle darüber hinaus ein Verpflichtungsantrag des anwaltlich nicht vertretenen Klägers aufgenommen wurde, ist dieser dahingehend auszulegen, dass es sich um einen bloßen Hilfsantrag handelt (§ 88 VwGO).
19
2.2 Zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) ist der angefochtene Bescheid rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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2.2.1 Rechtsgrundlage der Ziff. 1 des angefochtenen Bescheids ist § 29 Abs. 1 Nr. 1 a) des Asylgesetzes (AsylG). Hiernach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (im Folgenden: Dublin-III-VO) für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist. Diese Voraussetzungen liegen im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht (mehr) vor, da die Beklagte aufgrund des Ablaufs der Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO der zuständige Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers geworden ist.
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Gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO geht die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat über, wenn die Überstellung des Asylantragstellers nicht innerhalb einer Frist von sechs Monaten durchgeführt wird. Nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO kann die Frist höchstens auf achtzehn Monate verlängert werden, wenn die betreffende Person flüchtig ist. Fristbeginn ist nach Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO die Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs oder die endgültige Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin-III-VO aufschiebende Wirkung hat.
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Fristauslösendes Ereignis für die Überstellungfrist war vorliegend zunächst die am 23. Dezember 2019 erklärte Zustimmung der italienischen Behörden. Nachdem der Kläger am 27. Januar 2020 fristgerecht einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO gestellt hatte, begann die 6-monatige Überstellungfrist mit der (letzten) Zustellung des ablehnenden Eilbeschlusses vom 19. Februar 2020 am 26. Februar 2020 erneut zu laufen (vgl. BVerwG, U.v. 8.1.2019 - 1 C 16/18; U.v. 26.5.2016 - 1 C 15.15 - jew. juris).
23
Im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt ist die Überstellungsfrist damit abgelaufen. Entgegen der Auffassung der Beklagten wurde durch die auf § 80 Abs. 4 VwGO i.V. m. Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO gestützte behördliche Aussetzungsentscheidung keine Unterbrechung des Fristlaufs bewirkt.
24
Zwar haben die Behörden nach § 80 Abs. 4 Satz 1 VwGO grundsätzlich die Befugnis, die Vollziehung auszusetzen. Regelungen des Asylgesetzes schließen eine behördliche Aussetzung nach § 80 Abs. 4 VwGO nicht aus (vgl. BVerwG, U.v. 8.1.2019 - 1 C 16.18 - juris Rn. 23). Die im nationalen Recht vorgesehene Aussetzungsentscheidung (§ 80 Abs. 4 Satz 1 VwGO) kann jedoch vorliegend nicht die Aussetzung der Überstellungsfrist nach Art. 29 Dublin III-VO bewirken.
25
Nach Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass die zuständigen Behörden beschließen können, von Amts wegen tätig zu werden, um die Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung auszusetzen. Wortlaut, Systematik und Regelungszweck der Dublin III-VO setzen indes voraus, dass diese Aussetzung zum Zwecke einer Prüfung der Überstellungsentscheidung (in Form eines Rechtsbehelfsverfahrens oder einer behördlichen Überprüfung) angeordnet wird. Eine von der Durchführung eines solchen Prüfungsverfahrens unabhängige Aussetzung der Überstellungsentscheidung aufgrund tatsächlicher Unmöglichkeit der Überstellung sieht Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO nicht vor. Erfolgt die Aussetzungsentscheidung allein aufgrund tatsächlicher Unmöglichkeit - wie sie sich infolge der als Reaktion auf die COVID-19-Pandemie unionsweit erlassenen Einreisebeschränkungen ergibt -, ohne dass dies der rechtlichen Prüfung der Überstellungsentscheidung dient, bewegt sich die Aussetzungsentscheidung nicht in dem von Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO vorgegebenen Rahmen (vgl. ausführlich OVG Schleswig-Holstein, B.v. 9.7.2020 - 1 LA 120/20 - juris).
26
Die vorliegend ohne konkreten Verfahrensbezug, „flächendeckend“ und unter dem Vorbehalt des jederzeitigen Widerrufs erfolgte Aussetzungsentscheidung des Bundesamts diente nicht dazu, dem Kläger effektiven Rechtsschutz zu gewähren, indem eine Prüfung der Rechtmäßigkeit der Überstellungsentscheidung etwa bis zum Abschluss des Rechtsbehelfsverfahrens ermöglich worden wäre. Vielmehr diente die Aussetzung (nur) dazu, auf außerhalb des konkreten Verfahrens liegende Entwicklungen (das Auftreten einer Pandemie und damit zusammenhängende rechtliche und/ oder tatsächlicher Überstellungshindernisse) zu reagieren (ebenso: VG München, U.v. 7.7.2020 - M 2 K 19.51274; VG Aachen, U.v. 10.6.2020 - 9 K 2584/19.A; VG Schleswig Holstein, U.v. 15.5.2020 - 10 A 596/19, VG Münster, B.v. 22.5.2020 - 8 L 367/20.A, VG Düsseldorf, B.v. 18.5.2020 - 15 L 776/20.A - jew. juris m.w.N.).
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2.2.2 Angesichts der gebotenen Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung können auch die übrigen Regelungen des Bescheids keinen Bestand haben. Die Feststellung, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht vorliegen, nebst der Abschiebungsanordnung sind jedenfalls verfrüht ergangen (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.2016 - 1 C 4.16 - juris Rn. 21).
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2.3 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.