Titel:
zur Rücknahme eines bestandskräftigen rechtswidrigen Verwaltungsakts
Normenketten:
BayVwVfG Art. 12, Art. 13 Abs. 1 Nr. 3, Art. 41 Abs. 2
VwGO § 57 Abs. 2, § 70 Abs. 1, § 114 S. 1
BGB § 104
AO § 130 Abs. 1
Leitsatz:
Ist die Rechtsbehelfsfrist gegen einen Gebührenbescheid mangels Einlegung eines Rechtsbehelfs abgelaufen, schließt der Grundsatz der Rechtssicherheit einen Rechtsanspruch auf Beseitigung einer unanfechtbaren behördlichen Entscheidung grundsätzlich aus, weil die Rechtsmittelfristen nicht durch § 130 AO unterlaufen werden dürfen. (Rn. 35) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
wirksame Bekanntgabe eines Verwaltungsaktes, Handlungs- und Geschäftsfähigkeit, materielle Gerechtigkeit, Rechtssicherheit, Bestandskraft, Schmutzwassergebühr, Aufhebung, Ermessen, Entwässerungsanlage, Einleitungsgebühr
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Urteil vom 15.06.2023 – 20 B 23.63
Fundstelle:
BeckRS 2020, 30756
Tenor
1. Die Klagen werden abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens. Das Urteil ist insoweit vorläufig vollstreckbar.
3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über die im Grundabgabenbescheid vom 22. November 2018 festgesetzte Schmutzwassergebühr.
2
Die Klägerin ist Miteigentümerin des Grundstücks … …, … … Mit Bescheid vom 22. November 2018, Kassenzeichen …, erließ die Beklagte gegenüber der Klägerin als Gesamtschuldnerin für das Objekt einen Grundabgabenbescheid (Bl. 16-18 Behördenakte (BA)). In diesem wurde unter anderem eine Schmutzwassergebühr festgesetzt für eine Verbrauchsmenge in dem Zeitraum 1. August 2017 bis 31. Dezember 2017 von 5568 m³ zu je 2,02 Euro/m³ (gesamt 11.247,36 Euro) sowie für den Zeitraum 1. Januar 2018 bis 16. Juli 2018 von 7276 m³ zu je 2,02 Euro/m³ (gesamt 14.697,52 Euro). Im - hier nicht streitgegenständlichen - Grundabgabenbescheid vom 9. November 2017 war eine Verbrauchsmenge für Schmutzwasser vom 6. August 2016 bis 31. Dezember 2016 von 60 m³ (gesamt 121,20 Euro) sowie für den Zeitraum 1. Januar 2017 bis 31. Juli 2017 von 88 m³ (gesamt 177,76 Euro) festgesetzt worden (Bl. 19-21 BA).
3
Mit Schreiben vom 2. Januar 2019, bei der Beklagten eingegangen am 8. Januar 2019, wurde Widerspruch gegen den streitgegenständlichen Bescheid erhoben und um Abänderung des Grundabgabenbescheides gebeten. Zur Begründung wurde vorgetragen, der hohe Wasserverbrauch sei auf einen Wasserrohrbruch zurückzuführen. Das ausgetretene Wasser sei bis auf einen Wasserverbrauch von 150 m³ nicht als Schmutzwasser abgeleitet worden. Dem Schreiben lag eine Kopie der Rechnung von … Tiefbau an die … GmbH, … …, vom 20. Juni 2018 bei, aus der sich ergibt, dass in obigem Anwesen im Juni 2018 ein defekter Wasseranschluss repariert worden ist. Fotos von der Bruchstelle waren ebenfalls beigefügt. (Bl. 35 -39 BA). Das Schreiben war unterschrieben mit: „i. V. …“.
4
Mit Schreiben vom 30. Januar 2019 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass ihr Widerspruch gegen den Grundabgabenbescheid vom 2. Januar 2019 verfristet und damit der Grundabgabenbescheid bestandskräftig sei. Den von der Beklagten zudem als Antrag auf Rücknahme des Grundabgabenbescheides für die Vergangenheit ausgelegte Schreiben lehnte sie ab. Zur Begründung führte sie aus, dass nach Art. 13 Abs. 1 Nr. 3b KAG i.V.m. § 130 AO ein rechtwidriger Verwaltungsakt auch nach Unanfechtbarkeit ganz oder teilweise zurückgenommen werden könne, jedoch allein die Rechtswidrigkeit keinen Anspruch auf Rücknahme begründe. Vielmehr komme es auf die Schwere und Offensichtlichkeit des Rechtsverstoßes und darauf an, weshalb die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes erst nach Ablauf der Rechtsbehelfsfrist vom Abgabeschuldner geltend gemacht werde. Nach § 9 Abs. 1 und 2 der Beitrags- und Gebührensatzung zur Entwässerungssatzung und zur Fäkalschlammentsorgungssatzung (BGS/EWS-FES) bemesse sich die Einleitungsgebühr für Schmutzwasser nach der Wassermenge, das der öffentlichen Entwässerungsanlage von den Grundstücken zugeführt werde. Als der Entwässerungsanlage zugeführt gelte die aus den öffentlichen Wasserversorgungsanlagen bezogene Wassermenge. Diese sei auch vorliegend zugrunde gelegt worden.
5
Ein Anspruch auf Rücknahme eines bestandskräftigen Verwaltungsaktes bestehe nur, wenn dessen Aufrechterhaltung schlechthin unerträglich sei. Da bei Erlass des Grundabgabenbescheides der Beklagten nicht bekannt gewesen sei, dass ein Großteil der veranlagten Wassermenge nicht der Entwässerungsanlage zugeführt worden sei, sei kein wissentlich rechtswidriger Grundabgabenbescheid erlassen worden. Die Aufrechterhaltung des streitgegenständlichen Bescheides sei daher nicht schlechthin unerträglich, zumal die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes, dessen Rücknahme begehrt werde, nicht alleine die Annahme rechtfertigen könne, seine Aufrechterhaltung sei unerträglich. Die Beklagte gibt weiter an, sie habe in der Vergangenheit in gleichgelagerten Fällen nach Eintritt der Bestandskraft die Rücknahme des entsprechenden Grundabgabenbescheides abgelehnt. Eine Rechtsbehelfsbelehrung:war diesem Schreiben nicht beigefügt. Wegen der weiteren Ausführungen wird auf das Schreiben der Beklagten vom 30. Januar 2019 Bezug genommen (Bl. 23 f. BA).
6
Mit Schreiben vom 20. März 2019 wandte sich Herr … …, weiterer Miteigentümer des Grundstücks … …, an die Beklagte und gab an, dass die Klägerin aufgrund ihres Alters und wegen Krankheit nicht mehr in der Lage sei, derartige Vorgänge korrekt zu bearbeiten. Er bat daher nochmals um positive Entscheidung.
7
Mit Schreiben vom 25. März 2019 teilte die Beklagte Herrn … mit, dass sie ihre Einleitungsgebühr für Schmutzwasser entsprechend reduzieren würde, wenn das Wasserversorgungsunternehmen den Wasserverbrauch nachträglich verringern würde (Bl. 43 BA).
8
Nachdem die Klägerin ihren Widerspruch aufrechterhielt, legte die Beklagte den Widerspruch der Regierung … - Widerspruchsbehörde - vor (Bl. 56-58 BA).
9
Mit Schreiben vom 23. September 2019 wies die Widerspruchsbehörde die Widersprüche vom 2. Januar 2019 sowie vom 20. März 2019 zurück. Der Widerspruch gegen den Grundabgabenbescheid sei unzulässig, da er verspätet erhoben worden sei. Der Widerspruch gegen den Bescheid vom 30. Januar 2019 sei zwar zulässig, jedoch unbegründet. Auf den Widerspruchsbescheid wird Bezug genommen (Bl. 66 - 69).
10
Mit Schreiben vom 24. Oktober 2019, bei Gericht per Telefax eingegangen am selben Tag, ließ die Klägerin Klage erheben und beantragen,
- 1.
-
den Grundabgabenbescheid der Beklagten vom 22.11.2019, Kassenzeichen … in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.09.2019 hinsichtlich der Festsetzung von Schmutzwassergebühren in Höhe von 25.944,88 Euro sowie den Bescheid vom 30.01.2019 über die Ablehnung einer teilweisen Rücknahme des genannten Grundabgabenbescheides vom 22.11.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.9.2019 aufzuheben.
- 2.
-
die Zuziehung des Prozessbevollmächtigten der Klägerin im Vorverfahren für notwendig zu erklären.
11
Den Klageantrag zu 1. ließ die Klägerin mit Schriftsatz vom 14. Januar 2020 ändern (Bl. 42 f. GA). Nunmehr wird nach Richtigstellung der Daten in der mündlichen Verhandlung am 13. Oktober 2020 unter Ziffer 1. beantragt,
1. den Grundabgabenbescheid der Beklagten vom 22.11.2018, Kassenzeichen … in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.09.2019 hinsichtlich der Festsetzung von Schmutzwassergebühren in Höhe von 25.944,88 Euro aufzuheben
unter Aufhebung des Bescheids vom 30.01.2019 die Beklagte zu verpflichten, den Grundabgabenbescheid vom 22.11.2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.09.2019 hinsichtlich der Festsetzung der Gebühr für Schmutzwasser aufzuheben und den Verbrauch für den Zeitraum vom 01.08.2017 bis zum 16.07.2018 auf 150 m³ festzusetzen.
12
Zur Begründung führte die Klägerin aus, der Grundabgabenbescheid sei rechtswidrig, da er entgegen § 42 VwVfG nicht beiden betroffenen Miteigentümern zugestellt worden sei. Die Klägerin sei 78 Jahre alt und nicht mehr vollumfänglich in der Lage, wichtige von unwichtiger Post zu unterscheiden und Fristen richtig zu erfassen sowie die notwendigen Schlüsse daraus zu ziehen. Die Klägerin habe auch die Bedeutung der Widerspruchsfrist nicht richtig erkannt und den angefochtenen Bescheid erst kurz nach Ablauf der Widerspruchsfrist an Herrn … übergeben. Herr … hätte rechtzeitig Widerspruch eingelegt, wenn ihm der streitgegenständliche Bescheid bekannt gemacht worden wäre.
13
Der Widerspruch und Antrag auf Änderung des Bescheides seien begründet, da die städtische Kanalisation nicht von der Klägerin in dem Umfang der Frischwasserzufuhr in Anspruch genommen worden sei. Die Beklagte hätte auch erkennen müssen, dass es sich nicht um einen tatsächlichen und gewollten Wasserverbrauch gehandelt habe, da die übliche Verbrauchsmenge und entsprechend Abwasser seit vielen Jahren etwa 150 m³ betragen hätten, nun aber 12.844 m³ Brauchwasser abgerechnet worden sei. Das Angebot der Beklagten, dass man eine entsprechende Anpassung der Schmutzwassergebühr vornehmen werde, wenn das Wasserversorgungsunternehmen den Wasserverbrauch im Wege einer Kulanzgewährung verringern werde, zeige, dass die Beklagte sich in der Ausübung ihres Ermessens doch nicht so sehr gebunden sehe, als dass sie grundsätzlich keine Ausnahme von der Bestandskraft zuließe. Und auch in der Sache selbst sei das Ergebnis schlicht nicht hinnehmbar. Alle Beteiligten seien sich einig, dass der Wasserverbrauch nicht auf einem aktiven Bezug des Wassers und einer entsprechenden Einleitung in das Abwassersystem beruht habe. Dementsprechend sei auch im letzten Grundabgabenbescheid vom 14. März 2019 die Vorauszahlung wieder auf einen Jahresverbrauch von 150 m³ korrigiert worden. Hätte die Beklagte den Bescheid allen Beteiligten bekannt gegeben, so hätte der Sachverhalt noch im Widerspruchsverfahren gehört werden können. Da dies nicht geschehen sei, sehe sich die Klägerin nun einer existenzbedrohenden Forderung ausgesetzt. Vor diesem Hintergrund könne die Beklagte ihr Ermessen nur dahingehend ausüben, dass sie die angefochtenen Bescheide wie beantragt aufhebt.
14
Mit Schreiben vom 6. Dezember 2019 beantragte die Beklagte
15
Zur Begründung führte sie aus, die Klage sei hinsichtlich der Aufhebung des Grundabgabenbescheids vom 22. November 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23. September 2019 unzulässig. Im Übrigen sei die Klage unzulässig, jedenfalls unbegründet, da die Beklagte nicht verpflichtet sei, den Grundabgabenbescheid aufzuheben. Auf ihre Ausführungen im Schreiben vom 30. Januar 2019, im Vorlageschreiben an die Regierung vom 10. Juli 2019 sowie im Widerspruchsbezug nahm sie Bezug. Ergänzend führte die Beklagte aus, die Klägerin könne sich nicht darauf berufen, dass der streitgegenständliche Bescheid beiden Miteigentümern hätte zugestellt werden müssen. Gem. § 16 Abs. 3 BGS-EWS/FES seien mehrere Schuldner Gesamtschuldner (§ 44 AO). Die Klägerin habe demnach in Anspruch genommen werden können, § 421 BGB. Der Einwand, die Klägerin sei aufgrund ihres Alters bzw. Krankheit nicht mehr in der Lage, die Grundabgabenbescheide zu bearbeiten, sei erst nach Bestandskraft des streitgegenständlichen Bescheides vorgetragen worden. Die Klägerin werde seit 1994 als Abgabeschuldnerin geführt und ihr seien die Grundabgabenbescheide seitdem bekannt gegeben worden. Anhaltspunkte, dass die Klägerin nicht mehr in der Lage gewesen wäre, die mit der Grundabgabenveranlagung verbundenen Vorgänge zu verstehen, hätten nicht vorgelegen. Auf die weiteren Ausführungen wird verwiesen (Bl. 35-38 GA).
16
Mit Schriftsatz vom 8. Juni 2020 übersandte der Klägerbevollmächtigte eine auf dem 29. Mai 2020 datierte „Bestätigung“ von Frau … …, aus der hervorgeht, dass Frau … die bestellte Betreuerin für die Klägerin sei. Sie habe die notarielle Vollmacht, für die Klägerin vollumfänglich zu handeln. Die Klägerin habe zu Beginn des Jahres 2018 gesundheitlich stark abgebaut. Auch die „Bestätigung“ wird Bezug genommen (Bl. 69 GA).
17
Dem Schriftsatz lag zudem ein Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit der Klägerin bei, das auf den 15. Februar 2020 datiert und sich auf eine am 12. Februar 2020 bei der Klägerin durchgeführte Begutachtung stützt. (Bl. 70 - 84 GA).
18
Mit Schriftsatz vom 12. Juni 2020 bestritt die Beklagte, dass die Klägerin zum Zeitpunkt des Erlasses des streitgegenständlichen Bescheides unter Betreuung stand. Ein entsprechender Nachweis liege nicht vor.
19
Am 15. Juni 2020 wurde mündlich verhandelt. Im Nachgang zur mündlichen Verhandlung stellte der Klägerbevollmächtigte mit Schriftsatz vom 26. Juni 2020 klar, dass Frau … keine gerichtlich bestellte Betreuerin sei, sondern Bevollmächtigte aufgrund einer notariellen Vorsorgevollmacht. Des Weiteren wurde vorgetragen, dass Herr …, der weitere Miteigentümer des Grundstücks, den streitgegenständlichen Bescheid von der Klägerin erst in den letzten Tagen des Monats Dezember 2018 erhalten habe mit den Worten, dass dieser Bescheid „die Tage“ im Briefkasten gewesen sei.
20
Mit Schreiben vom 4. August 2020 teilte die Beklagte mit, dass der handschriftliche Zusatz auf dem Bescheid nicht von der Beklagten angebracht worden sei. Der streitgegenständliche Bescheid sei von der Beklagten im Rahmen einer Bescheidsaktion am 22. November 2018 erstellt worden. Dabei handle es sich um ein Massenverfahren. Das Kassen- und Steueramt der Beklagten habe Druck und Versand der Grundabgabenbescheide an ein Dienstleistungsunternehmen, die Firma …, ausgelagert. Für den Bescheidlauf 22.11.2018 könne bestätigt werden, dass eine solche Datei hinsichtlich aller im Bescheidlauf enthaltener Bescheide erstellt und an die Firma … transferiert worden sei. Die Beklagte erzeuge eine Druckdatei, die an die Firma transferiert werde. Von der Firma … würden die übermittelten Bescheide immer an dem Tag des Bescheiddatums zur Post gegeben. Dies sei von der zuständigen Sachbearbeiterin der Firma bestätigt worden. Unregelmäßigkeiten habe es an dem Tag nicht gegeben (wird näher ausgeführt).
21
Der Bescheid mit dem handschriftlichen Zusatz sei von der Klägerin beigebracht worden und dem Schreiben der Klägerin vom 2. Januar 2019 als Anlage beigefügt gewesen. Dies deute darauf hin, dass der handschriftliche Zusatz von der Klägerin stamme und der streitgegenständliche Bescheid vom 22. November 2018 der Klägerin bereits am 23. November 2018 zugegangen sei.
22
Dem Schreiben lag ein Widerspruchsbescheid der Regierung … von Januar 2020 bei, aus dem sich ergibt, dass die Beklagte einem Widerspruch gegen einen Grundabgabenbescheid in Höhe von 34.911,66 Euro nicht abgeholfen und die Regierung den Widerspruch zurückgewiesen hat. Der damalige Widerspruchsführer hatte vorgetragen, dass das Wasser aufgrund eines Wasserrohrbruchs nicht in die Entwässerungsanlage der Beklagten gelangt sei. Die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand war ebenfalls nicht gewährt worden. Auf den Bescheid sowie das entsprechende Vorlageschreiben an Regierung wird Bezug genommen (Bl. 130-134 und 135-137 GA).
23
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte sowie die Behördenakte Bezug genommen, wegen der mündlichen Verhandlung auf die entsprechenden Niederschriften.
Entscheidungsgründe
24
Die Klagen haben keinen Erfolg. Die Klage, den Grundabgabenbescheid aufzuheben (Hauptantrag, dazu unter I.) ist bereits unzulässig, der Hilfsantrag (dazu unter II.) nach in zulässiger Weise gemäß § 91 Abs. 2 VwGO erfolgter Klageänderung zulässig, aber unbegründet.
25
Soweit die Klägerin die Aufhebung des Bescheides vom 22. November 2018 begehrt, ist die Klage bereits unzulässig, weil nicht innerhalb der von § 70 Abs. 1 VwGO vorgesehenen Frist von einem Monat nach Bekanntgabe des Grundabgabenbescheides gegen diesen Widerspruch eingelegt worden ist. Der streitgegenständliche Bescheid ist daher in Bestandskraft erwachsen.
26
1. Der Bescheid wurde am 22. November 2018 zur Post gegeben. Das ergibt sich aus den von der Beklagten im Schriftsatz vom 4. August 2020 gemachten Ausführungen zum Prozess des Bescheidserlasses (Bl. 126-128 GA). Der auf dem Bescheid angebrachte Vermerk „23.11.2018“ stammt von der Klägerin selbst und dokumentiert den Zugang des Bescheides. An dieser zur Überzeugung des Gerichts feststehenden Tatsache ändert auch nichts die von Herrn … gemachte Aussage, dass die Klägerin zu ihm nach Weihnachten sagte, sie habe den Bescheid vor ein paar Tagen erhalten. Denn weder ist klar, was die Klägerin mit „vor ein paar Tagen“ meinte noch ob sie sich an den genauen Tag des Zugangs auch tatsächlich erinnerte, wogegen unter anderem die bisherigen Ausführungen der Klägerseite zum Gesundheitszustand der Klägerin sprechen.
27
2. Nach Art. 41 Abs. 2 Satz 1 BayVwVfG gilt der Bescheid als am dritten Tag bekannt gegeben. Dabei war die Bekanntgabe des streitgegenständlichen Bescheides an die Klägerin auch ausreichend, da sie als Gesamtschuldner der Beklagten die gesamte Leistung schuldet, § 16 Abs. 1, Abs. 3 BGS-EWS/FES, § 44 Abs. 1 Satz 2 AO. Die gem. § 57 Abs. 2 VwGO i.V. m. § 222 Abs. 1 ZPO i. V m. § 187 BGB am 25. November 2018 beginnende Klagefrist endete gem. § 57 Abs. 2 VwGO i.V. m. § 222 ZPO Abs. 1, 2 ZPO i.V. m. § 188 Abs. 2 BGB mit Ablauf des 27. Dezember 2018, da das Ende der Frist auf einen staatlich anerkannten allgemeinen Feiertag fiel, so dass der am 8. Januar 2019 erhobene Widerspruch verfristet ist.
28
3. Bedenken gegen die Wirksamkeit der Bekanntgabe ergeben sich auch nicht aus dem Umstand, dass für die Klägerin eine notarielle Vorsorgevollmacht besteht oder sie sich seit Januar 2020 in einem Pflegeheim befindet oder mit Erstgutachten von Februar 2020 Pflegegrad 3 seit 12/2019 (Bl. 84 GA) durch „… - …“ festgestellt wurde. Letztere Geschehnisse ereigneten sich erst mehr als ein Jahr nach der Bekanntgabe des streitgegenständlichen Bescheides. Auch die weiteren von der Klägerseite vorgebrachten Argumente lassen die Geschäftsfähigkeit der Klägerin im November 2018 und damit die Wirksamkeit der Bekanntgabe des streitgegenständlichen Bescheides unberührt.
29
Zur Bekanntgabe eines Verwaltungsaktes reicht es aus, dass die Behörde seinen Inhalt dem Adressaten willentlich zur Kenntnis bringt. Zur Kenntniserlangung bedarf es lediglich der Handlungsfähigkeit des Empfängers gemäß Art. 12 BayVwVfG, die mit seiner Geschäftsfähigkeit einhergeht (vgl. BVerwG, B. v. 11.2. 1994 - 2 B 173.93). Geschäftsunfähig ist gemäß § 104 Nr. 2 BGB, wer sich in einem die freie Willensbildung ausschließenden, nicht nur vorübergehenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet. Dagegen führt nicht einmal der vorübergehende völlige Ausschluss der freien Willensbestimmung, der nach § 105 Abs. 2 BGB der Wirksamkeit von Willenserklärungen entgegensteht, zur Geschäfts- und Handlungsunfähigkeit. Für eine vollständige Geschäftsunfähigkeit der Klägerin sind keine Anhaltspunkte vorhanden.
30
Aufgrund der Versäumung der Widerrufsfrist ist die Klage daher insoweit unzulässig.
31
Die Klage, den Bescheid vom 30. Januar 2019 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Grundabgabenbescheid vom 22. November 2018 insoweit zurückzunehmen als für die Schmutzwassergebühr ein höherer Betrag als 303 Euro festgesetzt wurde, ist zulässig aber unbegründet. Die Beklagte ist nicht verpflichtet, den Grundabgabenbescheid abzuändern.
32
Der Bescheid der Beklagten vom 30. Januar 2019 kann rechtlich nicht beanstandet werden. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Rücknahme des bestandskräftigen, wenn auch teilweise rechtswidrigen Bescheides vom 22. November 2018.
33
1. Nach Art. 13 Abs. 1 Nr. 3 b KAG i.V. mit § 130 Abs. 1 AO kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Der an die Klägerin gerichtete Bescheid vom 22. November 2018 ist teilweise rechtswidrig, da das Frischwasser aufgrund der Wasserrohrbruchs nicht in die Kanalisation eingeleitet wurde.
34
Der Bescheid ist jedoch mangels rechtzeitiger Einlegung eines Rechtsbehelfs durch die Klägerin unanfechtbar geworden. Die Frage, ob ein derartiger Verwaltungsakt zurückgenommen wird, liegt im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde. Im vorliegenden Fall kann die von der Beklagten getroffene Ermessensentscheidung, von einer Aufhebung abzusehen, gerichtlich nicht beanstandet werden (vgl. § 114 Satz 1 VwGO).
35
2. Zweck der Ermessensermächtigung in § 130 Abs. 1 AO ist es, zwischen der materiellen Gerechtigkeit einerseits und dem durch die Bestandskraft eingetretenen Rechtsfrieden andererseits eine Abwägung zu treffen. Bei der Anwendung des § 130 Abs. 1 AO über die Rücknahme eines (teilweise) rechtswidrigen bestandskräftigen Bescheides ist zunächst davon auszugehen, dass die materielle Gerechtigkeit grundsätzlich im gesetzlich vorgesehenen Rechtsbehelfsverfahren gegen den Ausgangsbescheid zu verwirklichen ist. Ist die Rechtsbehelfsfrist wie im Fall der Klägerin mangels Einlegung eines Rechtsbehelfs abgelaufen, schließt der Grundsatz der Rechtssicherheit einen Rechtsanspruch auf Beseitigung einer unanfechtbaren behördlichen Entscheidung grundsätzlich aus. Dem Interesse der Allgemeinheit an Rechtssicherheit und Rechtsfrieden kommt nach Eintritt der Bestandskraft besonderes Gewicht zu, weil durch § 130 AO die Rechtsmittelfristen nicht unterlaufen werden dürfen. Die Ablehnung eines Antrags auf Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsakts ist daher in der Regel ermessensfehlerfrei, wenn nur solche Umstände vorgetragen werden, die im Rechtsbehelfsverfahren gegen den Ausgangsbescheid hätten geltend gemacht werden können. Die hier vorgetragenen Umstände, nämlich der Wasserrohrbruch, hätten ohne weiteres bereits im Rahmen der einmonatigen Widerspruchsfrist vorgetragen werden können. Im Rahmen des § 130 Abs. 1 AO ist deshalb die Entscheidung der Behörde, einen Verwaltungsakt, dessen Fehlerhaftigkeit sich nachträglich herausgestellt hat, gleichwohl nicht zurückzunehmen, grundsätzlich vom Prinzip der Rechtssicherheit gedeckt und mit Rücksicht auf den im Abgabenrecht bedeutsamen Grundsatz der Verwaltungspraktikabilität im Regelfall zu billigen (vgl. BayVGH, U.v. 15.07.2010, Az. 6 BV 08.1087 mit weiteren Nachweisen).
36
3. Eine Ermessensreduzierung auf Null und damit ein Anspruch auf Rücknahme besteht grundsätzlich nur dann, wenn die Aufrechterhaltung des Bescheides „schlechthin unerträglich“ ist oder Umstände gegeben sind, die die Berufung der Behörde auf die Unanfechtbarkeit des Bescheides als einen Verstoß gegen die guten Sitten oder gegen Treu und Glauben erscheinen lassen. Allein die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts begründet keinen Anspruch auf Rücknahme, da der Rechtsverstoß lediglich die Voraussetzung einer Ermessensentscheidung der Behörde ist, BVerwG, U.v. 17.1.2007, Az. 6 C 32.06; BVerwG, U.v. 26. Mai 2008, Az. 8 ZB 06.2894). Umstände, die vorliegend ausnahmsweise einen Anspruch auf teilweise Rücknahme des Bescheides vom 22. November 2018 begründen, liegen nicht vor. So liegen keine greifbaren Anhaltspunkte vor, wonach die Beklagte selbst eindeutig und erkennbar von der unterstellten Rechtswidrigkeit des Bescheides ausging. Die Beklagte hat sich zulässiger Weise darauf berufen, dass die Gründe, die die Rücknahme wegen Rechtswidrigkeit rechtfertigen würden, von Anfang an bestanden und in einem - fristgerecht - geführten Rechtsbehelf vorgebracht hätten werden können. Die Beklagte wusste bei Bescheidserlass nichts vom Wasserrohrbruch. Dieser wurde ihr erst nach Bestandkraft des streitgegenständlichen Bescheides mitgeteilt.
37
4. Auch sprechen keine Anhaltspunkte dafür, dass die ablehnende Entscheidung der Beklagten auf einer Abweichung von einer in gleich gelagerten Fällen angewandten Verwaltungspraxis beruht.
38
Nach alldem kann die Entscheidung der Beklagten, der Bestandskraft des Bescheides vom 22. November 2018 höheres Gewicht beizumessen als der materiellen Gerechtigkeit, nicht beanstandet werden.
39
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Der Ausspruch über ihre vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V. mit § 709 ZPO.
40
Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 52 Abs. 3, 45 Abs. 1 Satz 3 GKG.