Inhalt

VG Augsburg, Urteil v. 16.01.2020 – Au 9 K 19.30382
Titel:

Weibliche Genitalverstümmelung in Nigeria

Normenketten:
VwGO § 113 Abs. 5 S. 1
AsylG § 3, § 4, § 34 Abs. 1
AsylG § 30 Abs. 3 Nr. 7
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
Leitsätze:
1. Die Befürchtung einer Genitalverstümmelung ist, bei Bestehen einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit, geeignet, die Zuerkennung der Flüchtlingsschutz als geschlechtsbezogene Handlung zu rechtfertigen (Rn. 23 – 26) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen der drohenden Gefahr der weiblichen Genitalverstümelung besteht nicht, wenn für die Betroffene die Möglichkeit der innerstaatlichen Fluchtalternative besteht. (Rn. 28 – 39) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nigeria, Ablehnung des Asylantrags als „offensichtlich unbegründet“ rechtswidrig, Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (verneint), keine hinreichende Gefahr der weiblichen Genitalverstümmelung (FGM), innerstaatliche Fluchtalternative, subsidiärer Schutz (verneint), Abschiebungsverbote (verneint), Furcht vor Verfolgung
Fundstelle:
BeckRS 2020, 290

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 6. März 2019 wird in Nrn. 1 bis 3 insoweit aufgehoben, als die darin ausgesprochenen Antragsablehnungen als „offensichtlich unbegründet“ erfolgt sind.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens trägt die Klägerin zu 5/6 und die Beklagte zu 1/6. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1
Die Klägerin begehrt mit ihrer Klage die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, die Gewährung subsidiären Schutzes bzw. hilfsweise die Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten nach Nigeria bzw. in einen anderen aufnahmebereiten Staat.
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Die am ... 2018 in ... (Bundesrepublik Deutschland) geborene Klägerin ist nigerianische Staatsangehörige mit Volkszugehörigkeit der Yoruba und christlichem Glauben.
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Mit Eingang des Schreibens der zuständigen Ausländerbehörde vom 10. Oktober 2018 wurde über die Klägerin auf Grund der Antragsfiktion des § 14a Abs. 2 Asylgesetz (AsylG) ein Asylantrag als gestellt erachtet. Eine Beschränkung des Asylantrages gemäß § 13 Abs. 2 AsylG auf die Zuerkennung internationalen Schutzes (Flüchtlingseigenschaft und subsidiärer Schutz) erfolgte im Verfahren nicht.
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Zur Begründung wurde für die Klägerin im Rahmen der Anhörung ihrer Eltern am 23. Januar 2019 geltend gemacht, dass der Klägerin im Falle einer Rückkehr nach Nigeria die Beschneidung drohe. Die Mutter der Klägerin sei selbst nicht beschnitten und die Eltern der Klägerin hätten nicht geplant, ihre Tochter beschneiden zu lassen. Die Gefahr der Beschneidung gehe von den Ältesten der in Nigeria verbliebenen Familie aus. Die Eltern gingen davon aus, dass sie eine Beschneidung nicht würden verhindern können. Andernfalls würden sie von der Familie verstoßen werden. Auch in der Schule würde Wert auf eine Beschneidung gelegt.
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Im Verfahren wurde ein Attest vom 28. Januar 2019 vorgelegt, aus dem sich ergibt, dass die Klägerin bisher nicht beschnitten worden sei.
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Mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) vom 6. März 2019 wurden die Anträge der Klägerin auf Asylanerkennung bzw. auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als offensichtlich unbegründet abgelehnt (Nrn. 1. und 2. des Bescheids). In Nr. 3. des Bescheids ist bestimmt, dass der Antrag auf Gewährung subsidiären Schutzes als offensichtlich unbegründet abgelehnt wird. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) liegen nicht vor (Nr. 4.). In Nr. 5. wird die Klägerin aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Folgeleistung wurde der Klägerin die Abschiebung nach Nigeria bzw. in einen anderen aufnahmebereiten Staat angedroht. Nr. 6. setzt das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung fest.
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Zur Begründung seiner Entscheidung führt das Bundesamt aus, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des internationalen Schutzes und die Anerkennung als Asylberechtigte offensichtlich nicht vorliegen. Die Klägerin sei kein Flüchtling im Sinne des § 3 AsylG. Nachdem die Mutter der Klägerin selber nicht beschnitten sei, könne nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass die Klägerin bei einer Rückkehr nach Nigeria beschnitten werden würde. Darüber hinaus hätten die Eltern der Klägerin im Rahmen der Anhörung keine konkreten Personen benennen können, die die Beschneidung praktizieren bzw. einfordern könnten.
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Der Asylantrag sei als offensichtlich unbegründet abzulehnen. Bei der Klägerin lägen die Voraussetzungen des § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG vor. Auch ein Anspruch auf die Gewährung subsidiären Schutzes bestehe nicht. Insbesondere bestehe in Nigeria kein landesweiter innerstaatlicher Konflikt im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG. Abschiebungsverbote lägen ebenfalls nicht vor. Die Abschiebung trotz schlechter humanitärer Verhältnisse könne nur in sehr außergewöhnlichen Einzelfällen als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu bewerten sein und die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) erfüllen. Die derzeitigen humanitären Bedingungen in Nigeria führten nicht zu der Annahme, dass bei einer Abschiebung der Klägerin eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Die hierfür vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) geforderten hohen Anforderungen an den Gefahrenmaßstab seien nicht erfüllt. Auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände der Klägerin sei die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung des Art. 3 EMRK durch eine Abschiebung nicht beachtlich. Individuell gefahrerhöhende Umstände seien für die Klägerin nicht geltend gemacht worden. Auch die Verletzung anderer Menschenrechte oder Grundfreiheiten der EMRK komme nicht in Betracht. Es drohe der Klägerin auch keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG führe. Die Abschiebungsandrohung sei gemäß § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG zu erlassen. Die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbotes gemäß § 11 Abs. 2 AufenthG sei vorliegend angemessen. Anhaltspunkte für eine kürzere Fristfestsetzung auf Grund schutzwürdiger Belange seien weder ausreichend vorgetragen noch lägen sie nach den Erkenntnissen des Bundesamts vor. Der Antrag der Eltern und Geschwister der Klägerin seien mit Bescheid des Bundesamts vom 4. Mai 2017 als offensichtlich unbegründet rechtskräftig abgelehnt worden.
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Auf den weiteren Bescheid des Bundesamts vom 6. März 2019 wird ergänzend verwiesen.
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Der vorbezeichnete Bescheid wurde den Erziehungsberechtigten der Klägerin mit Postzustellungsurkunde vom 12. März 2019 zugestellt.
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Die Klägerin hat gegen den vorbezeichneten Bescheid mit Schriftsatz vom 18. März 2019 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht Augsburg erhoben und beantragt,
I.
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Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise festzustellen, dass sie die Voraussetzungen des subsidiären Schutzes erfüllt, hilfsweise festzustellen, dass für sie Abschiebungsverbote nach § 60 AufenthG bestehen, hilfsweise das Einreise- und Aufenthaltsverbot aufzuheben bzw. kürzer zu befristen.
II.
13
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 6. März 2019, adressiert an die Klägerin (Gz.: ...), wird aufgehoben, soweit er der o.g. Verpflichtung entgegensteht.
14
Zur Begründung wurde auf die bisherigen Angaben der gesetzlichen Vertreter der Klägerin Bezug genommen. Überdies sei die Ablehnung des Antrags als offensichtlich unbegründet rechtswidrig. Gestützt werde die Entscheidung auf § 30 Abs. 2 Nr. 7 AsylG, da bereits die Asylanträge der Eltern der Klägerin unanfechtbar abgelehnt worden seien. § 30 Abs. 2 Nr. 7 AsylG solle von seinem Sinn und Zweck Fallgruppen erfassen, in denen ein Kind ohne eigene Verfolgungsgeschichte oder eigene Asylgründe ersichtlich keine relevanten zu prüfenden Sachverhalte besitze, die asylerheblich sein könnten. Es müsse schlechterdings evident sein, dass auch die Entscheidung des Kindes vernünftigerweise negativ ausfallen müsse. Nicht hingegen erfasst seien Fälle, in denen das Kind eigene Asylgründe vorbringen könne. Vorliegend besitze die Klägerin eigene, von den Eltern zu trennende Asylgründe hinsichtlich der Gefahr einer Genitalverstümmelung. Durch den Ausgang des Asylverfahrens der Eltern können der Klägerin keine eigenen, originären Rechte entzogen werden.
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Auf den weiteren Vortrag im Klageschriftsatz vom 18. März 2019 wird ergänzend verwiesen.
16
Die Beklagte hat dem Gericht die einschlägige Verfahrensakte vorgelegt; ein Antrag wurde nicht gestellt.
17
Auf ein von der Klägerin angestrengtes Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes (Az. Au 9 S 19.30383) wurde mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 26. März 2019 die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die in Nr. 5 des Bescheids des Bundesamts vom 6. März 2019 ausgesprochene Abschiebungsandrohung angeordnet. Auf die Gründe dieser Entscheidung wird Bezug genommen.
18
Mit weiterem Gerichtsbeschluss vom 3. Dezember 2019 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
19
Am 16. Januar 2020 fand die mündliche Verhandlung statt. Für den Hergang der Sitzung, in der die Erziehungsberechtigten der Klägerin informatorisch angehört wurden, wird auf das hierüber gefertigte Protokoll verwiesen.
20
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte, die beigezogene Akte der Eltern und Geschwister der Klägerin (Gz. des Bundesamtes; ...) und die von der Beklagten vorgelegte einschlägige Verfahrensakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Der Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte über die Klage trotz Ausbleibens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vom 16. Januar 2020 entscheiden, da die Beteiligten mit der Ladung darauf hingewiesen wurden, dass auch ohne sie verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO). Die Beklagte ist zur mündlichen Verhandlung form- und fristgerecht geladen worden.
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Die zulässige Klage hat teilweise Erfolg. Sie ist begründet, soweit die Antragsablehnung in Nrn. 1 bis 3 des mit der Klage angefochtenen Bescheides als „offensichtlich unbegründet“ erfolgt ist. Im Übrigen, insbesondere hinsichtlich der begehrten Schutzgewährungen der Klägerin, war die Klage hingegen abzuweisen.
23
1. Soweit sich die Klage gegen die Ablehnung der Schutzgewährungen als „offensichtlich unbegründet“ im Sinne des § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG wendet, ist die Klage zulässig und begründet.
24
a) Das Bundesamt durfte nicht § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG als Rechtsgrundlage für die Ablehnung des Asylantrags der Klägerin als offensichtlich unbegründet heranziehen. Nach dieser Vorschrift ist ein unbegründeter Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn er für eine nach diesem Gesetz handlungsunfähigen Ausländer gestellt wird oder nach § 14a AsylG als gestellt gilt, nachdem zuvor Asylanträge der Eltern oder des allein personensorgeberechtigten Elternteils unanfechtbar abgelehnt worden sind. Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Vorschrift liegen dem Grunde nach vor. Mit bestandskräftig gewordenem Bescheid des Bundesamtes vom 4. Mai 2017 (Gz: ...) wurden die Asylanträge der Erziehungsberechtigten und gesetzlichen Vertreter der Klägerin als offensichtlich unbegründet abgelehnt. Mit Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 17. Januar 2019 (Az: Au 7 K 17.32628) wurde die hiergegen erhobene Klage als offensichtlich unbegründet in Bezug auf den Asylantrag der Erziehungsberechtigten der Klägerin abgelehnt. Die Vorschrift des § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG steht jedoch nicht mit der Richtlinie 2013/32/EU in Einklang.
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Nach Art. 32 Abs. 2 RL 2013/32/EU können die Mitgliedsstaaten im Fall von unbegründeten Anträgen, bei denen einer der in Art. 31 Abs. 8 RL 2013/32/EU aufgeführten Umstände gegeben ist, einen Antrag als offensichtlich unbegründet betrachten, wenn dies so in den nationalen Rechtsvorschriften vorgesehen ist. Dabei ist die in Art. 31 Abs. 8 RL 2013/32/EU erfolgte Aufzählung abschließender Natur, weil Art. 5 RL 2013/32/EU bei Verfahren zur Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes lediglich die Einführung und die Beibehaltung günstigerer Bestimmungen vorsieht (vgl. VG Düsseldorf, B.v. 15.12.2015 - 5 L 3947/15 A - juris Rn. 20 ff.). Art. 31 Abs. 8 RL 2013/32/EU enthält in seiner enumerativen Aufzählung indes keine rechtliche Grundlage, auf die sich eine nationale Vorschrift wie die des § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG stützen ließe (vgl. VG Minden, B.v. 4.7.2019 - 6 L 715/19 A - juris Rn. 8 ff.; VG Minden, B.v. 30.8.2019, 10 L 370/19 A - juris Rn. 26). Aufgrund der Unvereinbarkeit mit Unionsrecht ist § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG daher nicht anzuwenden (vgl. EuGH, U.v. 22.5.2003 - C 462.99 - juris Rn. 40; EuGH, U.v. 9.3.1978 - C-106/77 - juris Rn. 21 bis 24).
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b) Die Offensichtlichkeitsentscheidung des Bundesamts ist jedoch auch im Übrigen nicht zutreffend, zumal die Klägerin im Verfahren eigene, ausschließlich ihre Person betreffende Asylgründe geltend gemacht hat. Die von der Klägerin geltend gemachte Befürchtung einer Genitalverstümmelung ist bei Bestehen einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit durchaus geeignet, die Zuerkennung der Flüchtlingsschutz als „geschlechtsbezogene Handlung“ zu rechtfertigen, § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG. Die Eltern der Klägerin haben insoweit die Befürchtung geltend gemacht, sie könnten die Beschneidung ihrer Tochter im Heimatland nicht verhindern. Hieraus ergeben sich keine Anhaltspunkte für eine rechtsmissbräuchliche Asylantragstellung. Auch gilt es insoweit bei der Frage, ob der Asylantrag der Klägerin als offensichtlich unbegründet abzulehnen ist, zu berücksichtigen, dass die Klägerin wie ihre Eltern Volkszugehörige der Yoruba ist. Nach den ins Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln wird bei dieser Volksgruppe die Beschneidung in den ersten Lebenswochen, aber auch erst im Kleinkindalter oder erst in der Kindheit vollzogen. Auch dieser Umstand lässt die vom Bundesamt ausgesprochene Offensichtlichkeitsentscheidung ohne nähere Sachprüfung als rechtswidrig erscheinen.
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2. Im Übrigen erweist sich die Klage hingegen als unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 ff. AsylG), auf Gewährung subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG) bzw. auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes (§ 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG).
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2.1 Die Klägerin besitzt keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 ff. AsylG.
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Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 - Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Eine solche Verfolgung kann nicht nur vom Staat ausgehen (§ 3c Nr. 1 AsylG), sondern auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 3c Nr. 2 AsylG) oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c Nr. 3 AsylG). Allerdings wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 AsylG).
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Die Tatsache, dass der Ausländer bereits verfolgt oder von Verfolgung unmittelbar bedroht war, ist dabei ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, wenn nicht stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass er neuerlich von derartiger Verfolgung bedroht ist. Hat der Asylbewerber seine Heimat jedoch unverfolgt verlassen, kann sein Asylantrag nur Erfolg haben, wenn ihm auf Grund von Nachfluchttatbeständen eine Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Dabei ist es Sache des Ausländers, die Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Dabei genügt für diesen Tatsachenvortrag auf Grund der typischerweise schwierigen Beweislage in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
31
Wer bereits Verfolgung erlitten hat, für den streitet die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei der Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Als vorverfolgt gilt ein Schutzsuchender dann, wenn er aus einer durch eine eingetretene oder unmittelbar bevorstehende politische Verfolgung hervorgerufenen ausweglosen Lage geflohen ist. Die Ausreise muss das objektive äußere Erscheinungsbild einer unter dem Druck dieser Verfolgung stattfindenden Flucht aufweisen. Das auf dem Zufluchtsgedanken beruhende Asyl- und Flüchtlingsrecht setzt daher grundsätzlich einen nahen zeitlichen (kausal-) Zusammenhang zwischen der Verfolgung und der Ausreise voraus (vgl. BVerfG, B.v. 12.2.2008 - 2 BvR 2141/06 - juris Rn. 20; VG Köln, U.v. 26.2.2014 - 23 K 5187/11.A - juris Rn. 26).
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Gemessen an diesen Maßstäben ist eine Verfolgung der Klägerin bei einer Rückkehr nach Nigeria insbesondere aus geschlechtsbezogenen Gründen (§ 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG) nicht hinreichend wahrscheinlich bzw. glaubhaft gemacht.
33
Zwar stellt die geltend gemachte zwangsweise Beschneidung einen asylerheblichen Eingriff dar, der vom Grundsatz her einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft begründen kann.
34
Dabei geht das Gericht nach den vorliegenden Erkenntnissen grundsätzlich davon aus, dass die weibliche Genitalverstümmelung in allen bekannten Formen nach wie vor in Nigeria verbreitet ist. Schätzungen zur Verbreitung der weiblichen Genitalverstümmelung gehen jedoch weit auseinander und reichen von 19% bis zu 50% bis 60% (vgl. dazu etwa Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria - Lagebericht - vom 21. Januar 2018, Stand September 2017, Nr. II.1.8).
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Es wird zwar teilweise von einem Rückgang der Beschneidungspraxis bzw. einem Bewusstseinswandel ausgegangen, dennoch ist die Beschneidungspraxis noch in den Traditionen der nigerianischen Gesellschaft verwurzelt. Nach traditioneller Überzeugung dient die weibliche Genitalverstümmelung der Sicherung der Fruchtbarkeit, der Kontrolle der weiblichen Sexualität, der Verhinderung von Promiskuität und der Sicherung der wirtschaftlichen Zukunft der Frauen durch eine Heirat. Angesichts des Umstandes, dass teilweise nur eine beschnittene Frau als heiratsfähig angesehen wird, kann der Druck auf die Betroffenen als auch auf deren Eltern zur Durchführung einer Beschneidung erheblich sein. Zur Erreichung der „Heiratsfähigkeit“ sind häufig gerade weibliche Familienmitglieder bemüht, die Beschneidung durchführen zu lassen und mitunter erfolgt dies auch gegen den Willen der Eltern. Übereinstimmend wird davon ausgegangen, dass die weibliche Genitalverstümmelung besonders in ländlichen Gebieten und hierbei insbesondere im Süden bzw. Südwesten und im Norden des Landes verbreitet ist. Das Beschneidungsalter variiert von kurz nach der Geburt bis zum Erwachsenenalter und ist abhängig von der jeweiligen Ethnie. Allerdings weist das Gericht auch darauf hin, dass nach der Stellungnahme „The Epidemiology of Female Genital Mutilation in Nigeria - A Twelve Year Review“ (Gerichtsakte Bl. 65-74) die Beschneidungspraxis selbst innerhalb der Ethnie der Yoruba von 2013 bis 2016 stark rückläufig ist (von 54,5 auf 45,4%).
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Aufgrund dieser Erkenntnislage in Zusammenschau mit dem Vortrag der Erziehungsberechtigten der Klägerin beim Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung vom 16. Januar 2020 steht zur vollen Überzeugung des Einzelrichters (§ 108 Abs. 1 VwGO) fest, dass bei der Klägerin eine mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eintretende Gefahr hinsichtlich der Durchführung einer Genitalverstümmelung nicht besteht. Dies gilt ungeachtet der Volkszugehörigkeit der Klägerin zur Volksgruppe der Yoruba.
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Zwar verhält es sich nach der Information des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge - Informationszentrum Asyl und Migration - Weibliche Genitalverstümmelung - Formen - Auswirkungen - Verbreitung - Asylverfahren vom April 2010 bei der Ethnie der Yoruba so, dass Beschneidungen innerhalb der ersten Lebenswoche, im Kleinkindalter oder der Kindheit vorgenommen werden. Dies schließt es aus Sicht des erkennenden Gerichts zunächst nicht aus, dass - abgestellt auf das jeweilige Lebensalter -für die Klägerin zumindest die Gefahr einer zwangsweisen Beschneidung (FGM) bei einer Rückkehr nach Nigeria besteht.
38
Das Gericht ist andererseits aber auch der Auffassung, dass es den Erziehungsberechtigten der Klägerin unschwer möglich ist, einer möglicherweise existenten Gefahr einer Beschneidung bei einer Rückkehr nach Nigeria zu entgehen. Das Gericht geht davon aus, dass die Klägerin zusammen mit ihren Eltern und ihren Geschwistern nicht zwingend darauf angewiesen ist, an den Heimatort der jeweiligen Familien zurückzukehren. Hierfür spricht insbesondere, dass die Erziehungsberechtigten der Klägerin in Nigeria in überdurchschnittlichem Maße Schulbildung genossen haben. So hat der Vater der Klägerin zumindest sechs Jahre lang die Schule besucht. Danach hat er sich als Fußballspieler betätigt. Die Mutter der Klägerin hat sowohl Primary als auch Secondary School abgeschlossen. Sie kann insgesamt einen Schulbesuch von 12 Jahren vorweisen. Danach hat sie eine Ausbildung im Bereich Modedesign absolviert. Vor ihrer Ausreise war sie zuletzt im Großhandel tätigt. Dies zugrunde gelegt besteht für die Kläger als intakte Familieneinheit mit derzeit vier Kindern unter Einschluss der Klägerin jedenfalls eine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne des § 3e AsylG. Die Kläger sind nicht verpflichtet, an ihre vormaligen Aufenthaltsorte zurückzukehren. Allenfalls an diesen vermag das Gericht die Gefahr einer möglichen Genitalbeschneidung (FGM) für die Klägerin zu erkennen. Landesweit besteht diese Gefahr offensichtlich nicht. Dem Bestehen einer innerstaatlichen Fluchtalternative im Sinne des § 3e AsylG kann auch nicht die derzeitige Familiengröße entgegen gehalten werden. Bei einer aktuellen Geburtenrate in Nigeria von 5,53 weicht die Situation der Familie der Klägerin nicht signifikant von der übriger nigerianischer Familien ab.
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Nichts anderes gilt in Bezug auf die geltend gemachte befürchtete Gesichtskennzeichnung der Klägerin als erstgeborene weibliche Tochter der Erziehungsberechtigten. Das Gericht ist insoweit der Überzeugung, dass es den Erziehungsberechtigten der Klägerin gelingen wird, die Anwendung dieses geschilderten Rituals zu verhindern. Auch insoweit ist die klägerische Familie auf die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative im Sinne des § 3e AsylG zu verweisen.
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2.2 Der beantragte (unionsrechtliche) subsidiäre Abschiebungsschutz nach § 4 AsylG kommt zugunsten der Klägerin ebenfalls nicht in Betracht.
41
Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt dabei auch die Gefahr der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG). Die Art der Behandlung oder Bestrafung muss eine Schwere erreichen, die dem Schutzbereich des Art. 3 EMRK zuzuordnen ist und für den Fall, dass die Schlechtbehandlung von nichtstaatlichen Akteuren ausgeht, muss der Staat erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sein, Schutz zu gewähren (§ 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3 c Nr. 3 AsylG).
42
Die Klägerin ist im Falle ihrer Rückkehr mit ihrer Familie nicht einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG) ausgesetzt, auch nicht wegen ihres christlichen Glaubens. Die immer wieder aufkommenden, gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen christlichen und muslimischen Gruppen, bzw. die Angriffe und Auseinandersetzung mit der Gruppierung „Boko Haram“ sind überwiegend regional begrenzt und weisen nicht die Merkmale eines innerstaatlichen Konflikts i.S. der Vorschrift und der dazu ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung auf (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 2013 -, U.v. 17.11.2011 - 10 C 13/10 -, U.v. 27. 4.2010 - 10 C 4/09 -, U.v. 14.7.2009 - 10 C 9/08 und U.v. 24.6.2008 - 10 C 43/07 - sowie B.v. 14.11.2012 - 10 B 22/12 - jeweils juris). Das Ausmaß dieser Konflikte ist in Intensität und Dauerhaftigkeit nicht mit Bürgerkriegsauseinandersetzungen, die in Nigeria (noch) nicht festzustellen sind, vergleichbar. Nach den allgemein zugänglichen Erkenntnismitteln (Tagespresse, Medien) und Erkenntnissen des Gerichts kam es zwar auch im Jahr 2017 und 2018 sehr häufig zu Anschlägen der Gruppe „Boko Haram“ und sind auch die Einsätze der nigerianischen Sicherheitskräfte mit Gewaltexzessen und willkürlichen Verhaftungen verbunden. Allerdings konzentrieren sich die Anschläge von „Boko Haram“ und die daraus folgenden Auseinandersetzungen immer noch hauptsächlich auf den Norden bzw. Nordosten Nigerias, während es im Süden und Südwesten des Landes nur vereinzelt zu Anschlägen bzw. Terrorakten gekommen ist. Eine landesweite Verübung von Terrorakten durch die Organisation „Boko Haram“ findet nicht statt (vgl. dazu: AA, Lageberichte von Nigeria vom 10. Dezember 2018, 21. Januar 2018, 26. November 2016, 28. November 2014, jew. Zusammenfassung S.5 sowie II, 1.4., vom 28. August 2013, vom 6. Mai 2012, 7. März 2011, 11. März 2010 und vom 21. Januar 2009, jeweils Ziffer II.1.4). In Nigeria findet kein Bürgerkrieg statt; Bürgerkriegsparteien sind nicht vorhanden.
43
Die Klägerin ist mit ihrer Familie daher in der Lage, diesen Konflikten durch Rückkehr in weniger gefährdete Gebiete im Sinne eines internen Schutzes (§ 4 Abs. 3, § 3e AsylG) aus dem Wege zu gehen. An dieser Stelle ist darauf zu verweisen, dass die Erziehungsberechtigten der Klägerin selbst nach ihrem eigenen Vorbringen aus dem Südwesten Nigerias (...) stammen. Selbst wenn die Kläger nicht an ihre vormaligen Aufenthaltsorte zurückkehren wollten, kommt nach Auffassung des Gerichts jedenfalls eine Rückkehr nach Abuja, aber beispielsweise auch nach Port Harcourt bzw. in das nordwestlich gelegene Owerri in Betracht.
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2.3 Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen zugunsten der Klägerin ebenfalls nicht vor.
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a) Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die schlechte wirtschaftliche Situation in Nigeria - hier leben immer noch ca. 70% der Bevölkerung am Existenzminimum und sind von informellem Handel und Subsistenzwirtschaft abhängig (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria - Lagebericht - a.a.O. Nr. I.2.) - ebenso wie die Situation hinsichtlich der verschiedenen gewalttätigen Auseinandersetzungen und Übergriffe, z.T. auch durch die Sicherheitskräfte, und die damit zusammenhängenden Gefahren (s.o. und Lagebericht a.a.O. Nr. II.2 und 3.) grundsätzlich nicht zu einer individuellen, gerade der Klägerin drohenden Gefahr führt, sondern unter die allgemeinen Gefahren zu subsumieren ist, denen die Bevölkerung oder relevante Bevölkerungsgruppe allgemein ausgesetzt ist und die gemäß § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG durch Anordnungen gemäß § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen sind.
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Der Umstand, dass im Falle einer Aufenthaltsbeendigung die Lage eines Betroffenen erheblich beeinträchtigt würde, reicht allein nicht aus, um einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK anzunehmen; anderes kann nur in besonderen Ausnahmefällen gelten, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen, wie zum Beispiel im Falle einer tödlichen Erkrankung in fortgeschrittenen Stadium, wenn im Zielstaat keine Unterstützung besteht (BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 15/12 - BVerwGE 146, 12-31, juris, Rn. 23ff m.w.N.). Im Hinblick auf die Bewertung eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK gelten dabei bei der Beurteilung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG die gleichen Voraussetzungen wie bei der Frage der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 60 Abs. 2 AufenthG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG wegen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (BVerwG, U.v. 31.1.2013 - a.a.O. - juris Rn. 22, 36).
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Auch eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben (§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG) für einen Betroffenen aufgrund allgemein für die Bevölkerung bestehender Gefahren, die über diese allgemein bestehenden Gefahren hinausgeht ist, nur im Ausnahmefall im Sinne eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen (BVerwG, U. v. 31.1.2013 - a.a.O., juris Rn. 38). Ein Ausländer kann im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die ihn im Abschiebezielstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur ausnahmsweise beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser allgemein bestehenden Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Denn nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für die Betroffenen die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Betroffenen daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der eine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren (zum Ganzen BVerwG, U.v. 31.1.2013 a.a.O., juris Rn. 38).
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b) Für derartige besondere Gefahren aufgrund schlechter humanitärer oder wirtschaftlicher Verhältnisse ist hier nichts ersichtlich. Insbesondere kann im Falle der Klägerin und ihrer Familie nicht davon ausgegangen werden, dass die schlechte wirtschaftliche Situation in Nigeria zu einem Abschiebungsverbot aufgrund schlechter humanitärer Verhältnisse führt, die im Ausnahmefall als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK qualifiziert werden könnten.
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Wie bereits oben ausgeführt, geht das Gericht davon aus, dass die klägerische Familie auch nach ihrer Rückkehr in der Lage sein wird, ihren Lebensunterhalt zu sichern. Die Erziehungsberechtigten der Klägerin haben in Nigeria einen nennenswerten Schulbesuch vorzuweisen und haben bereits erste berufliche Erfahrungen gemacht. Es kann daher nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass die Kläger auch unter Berücksichtigung der Kinderzahl von aktuell vier nach einer Rückkehr in existenzielle Not geraten werden.
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Nennenswerte gesundheitliche Einschränkungen der Klägerin sind im Verfahren nicht bekannt geworden. Entsprechende qualifizierte ärztliche Atteste wurden nicht vorgelegt. Hinsichtlich des geltend gemachten Ohrenleidens ist eine endgültige medizinische Abklärung wohl noch nicht erfolgt. Eine lebensbedrohliche Erkrankung vermag das Gericht hier zugunsten der Klägerin nicht zu erkennen. Die Klägerin muss sich insoweit auf den in ihrem Heimatland verfügbaren medizinischen Standard verweisen lassen.
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3. Die Abschiebungsandrohung einschließlich der Zielstaatsbestimmung (Nr. 5 des Bescheides) ist ebenfalls rechtmäßig. Zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung, auf den gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG abzustellen ist, sind Gründe, die dem Erlass der Abschiebungsandrohung gegenüber der Klägerin entgegenstünden, nicht ersichtlich. Die Klägerin ist nicht als Flüchtling anzuerkennen. Ihr steht auch kein subsidiärer Schutz oder ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu. Sie besitzt zudem keine asylunabhängige Aufenthaltsgenehmigung (§ 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 Abs. 1 und 2 AufenthG). Die im Bescheid festgesetzte Ausreisefrist begegnet keinen rechtlichen Bedenken (mehr). Durch den Erfolg des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO mit Gerichtsbeschluss vom 26. März 2019 (Az: Au 9 S 19.30383) wird gemäß § 37 Abs. 2 AsylG die einwöchige Ausreisefrist des § 36 Abs. 1 AsylG an die Regelung des § 38 Abs. 1 AsylG angepasst und auf 30 Tage nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens verlängert. Die Abschiebungsandrohung bleibt damit wirksam, ihr Regelungsgehalt wird lediglich kraft Gesetzes im Hinblick auf die zu gewährende Ausreisefrist modifiziert. Die Klägerin ist daher durch die im angefochtenen Bescheid bestimmte kürzere Ausreisefrist von einer Woche im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt nicht mehr beschwert. Ein Anspruch auf isolierte Aufhebung der Fristbestimmung besteht daher nicht (vgl. BVerwG, U.v. 21.11.2006 - 1 C 10.06 - juris).
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4. Gründe, die gegen die Rechtmäßigkeit der von der Beklagten festgesetzten Verfügung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes gemäß § 11 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG sprechen, liegen nicht vor.
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5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die getroffene Kostenteilung entspricht dem wechselseitigen Obsiegen und Unterliegen der Beteiligten. Gerichtskoste werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO.